2
Sie konnte es nicht fassen, dass sie es tatsächlich durchgezogen hatte!
Adrenalin prickelte in ihren Adern.
Als die alte Frau sie schließlich angesehen hatte, wäre sie fast durchgedreht, doch irgendwie hatte sie dann doch die innere Kraft gefunden, ihren Plan auszuführen.
Jetzt hämmerte ihr Herz wie wild, während die Scheibenwischer gegen den Regen kämpften. In ihrem Siegestaumel fiel es ihr schwer, den Fuß vom Gaspedal ihres Taurus zu nehmen. Einen Strafzettel wegen zu hoher Geschwindigkeit, die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen, das konnte sie sich nicht leisten. Nicht jetzt.
Beruhige dich. Du kannst das alles später auskosten …
Ihre Finger in den Handschuhen umklammerten das Lenkrad, doch sie konnte den Nervenkitzel des Tötens und jenes Moments, bevor sie die Frau über das Geländer stieß, dieses präzisen, herrlichen Moments des Erkennens, als Eugenia Blickkontakt zu ihr aufnahm, nicht ganz aus ihrem Bewusstsein verbannen, nicht einmal für einen Augenblick.
In diesem Bruchteil einer Sekunde war Eugenia Haversmith Cahill klargeworden, dass sie im Begriff war, ihrem Schöpfer gegenüberzutreten, dass sie ihrem Tod ins Auge sah. Dennoch hatte die alte Hexe wohl nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Wahrscheinlich hatte sie noch geglaubt, dass Zeit blieb zu reden, zu drohen, sich freizukaufen.
Pech gehabt.
Sie grinste vor sich hin, schaltete das Gebläse ein, das warme Luft gegen die Innenfläche der beschlagenen Windschutzscheibe blies, was die Feuchtigkeit aufsaugte, während sie auf die Heckleuchten des sportlichen kleinen BMW blickte, der vor ihr dahinraste. Mit röhrendem Motor fuhr er Slalom im dichten Verkehr. Nur zu, du Idiot, dachte sie. Hol dir deinen Strafzettel.
Sie dachte an das Entsetzen der alten Frau, als sie übers Geländer stürzte. Oh, Eugenia hatte sich gewehrt, hatte geschrien, doch sie hatte sich nicht retten können. Ihr kleiner Körper war auf dem Marmorboden aufgeschlagen, und das Krachen der Knochen war ein ekelerregendes, befriedigendes Geräusch.
Jetzt schaltete sie das Radio ein und summte einen alten Sheryl-Crow-Song mit. Ohne das Tempolimit zu verletzen, überquerte sie die Brücke über das nachtdunkle Wasser der Bucht und folgte dem stetigen Fluss der Heckleuchten nach Oakland hinein.
Immer noch im Bann eines gewissen Verfolgungswahns sah sie ab und zu in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass sie nicht verfolgt wurde.
Sie durfte nicht erwischt werden. Noch nicht. Nicht, solange noch so viel zu tun, so viel zu erreichen war. Sie blinzelte gegen das grelle Licht der Scheinwerfer im Spiegel und entdeckte nichts Außergewöhnliches, kein rotierendes rotblaues Licht als Hinweis darauf, dass ein Streifenwagen sie verfolgte.
Du liebe Zeit, kein Mensch verfolgt dich! Kein Mensch weiß, was du getan hast.
Bleib ruhig!
Du hast es durchgezogen! Und die Bullen … die sind Schwachköpfe.
Vergiss das nicht.
Auf der Ostseite der Bucht angelangt, fuhr sie in nördlicher Richtung nach Berkeley und wurde bereits ein wenig ruhiger. Sie lockerte ihren Griff um das Lenkrad und fühlte sich nicht mehr so durchgedreht, ängstlich oder berauscht. Sie atmete zur Beruhigung tief durch und durchfuhr die Vorstädte in Richtung Wildcat Canyon, wo die dichte Besiedlung zu Bungalows und stillen, von Bäumen gesäumten Straßen wechselte. Ein letztes Mal, bevor sie in die Straße zu ihrem kleinen, gemieteten Haus einbog, sah sie in den Rückspiegel. Sicherheitshalber bog sie noch ein paar Mal rechts ab und behielt den Rückspiegel im Auge. Dann, in der Gewissheit, nicht verfolgt zu werden, fuhr sie rückwärts in die enge Straße hinter dem Drei-Zimmer-Häuschen hinein, das sie unter falschem Namen angemietet hatte. Sie dachte daran, wie sie der Maklerin ihre gefälschten Papiere vorgelegt und sich vor Angst in die Unterlippe gebissen hatte, überzeugt davon, dass die Frau bei näherem Hinsehen den gefälschten, in Oregon ausgestellten Führerschein erkennen würde. Stattdessen reichte sie ihr nach kurzem Tippen auf ihrer Computertastatur zur Bestätigung der Liquidität und der Berufslaufbahn der Elyse Hammersley, zuletzt wohnhaft in Gresham, Oregon, und nach dem Empfang eines Bankschecks ihr, Elyse Hammersley, die Schlüssel. Wunderbar! Inzwischen betrachtete sie sich selbst als Elyse. Nun, sie war Elyse. Warum auch nicht? Es war perfekt!
Leise in sich hineinlachend, fuhr sie die Zufahrt hinauf. Der Bungalow hatte den typischen Nachkriegsgrundriss, zwei kleine Schlafzimmer, ein Bad, einen Wohnbereich, ein Durchgangszimmer als Esszimmer, eine winzige Küche und eine Treppe, die zu dem für sie wichtigsten Teil des Hauses führte: zum Keller. Mit speziellen Einrichtungen. Der Keller war es, der dieses Haus, das sich ansonsten nicht von den anderen in diesem Wohnblock unterschied, interessant machte. Er war perfekt für ihre Bedürfnisse.
Jetzt jedoch musste sie ihrem frisch eingezogenen Gast gegenübertreten.
Marla Amhurst Cahill.
Oder, wie sie die Frau, der sie beim Ausbruch geholfen hatte, gern bezeichnete: Marla, die Vermisste, oder Marla, die Flüchtige. Was sie ihrer reizbaren neuen Mitbewohnerin natürlich niemals offen sagen würde.
Die Wochen vor dem Ausbruch waren nervtötend gewesen; sie hatten über diverse Parteien miteinander Kontakt gehalten. Nicht ein einziges Mal hatte sie Marla im Gefängnis besucht. Nicht ein Mal hatte sie sie angerufen. Diejenigen, die Botschaften überbracht hatten, wussten nichts von ihrem Plan, kannten nicht einmal ihren Namen. Elyse fühlte sich sicher in ihrer Anonymität. Um das Glück nicht herauszufordern, kreuzte sie jedoch trotzdem die Finger und wappnete sich für die bevorstehende Konfrontation.
Obwohl sie den Ausbruch über zwei Jahre hinweg geplant hatten und obwohl alles reibungslos vonstattengegangen war, war Marla, wie gewöhnlich, nicht zufrieden gewesen. Manchmal fragte sich Elyse, ob es die Sache wirklich wert war.
Aber natürlich! Es geht um Millionen! Vergiss das nicht!
Sie warf sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter, stieg aus dem Wagen und schloss ihn ab. Nervös wie eine Katze sah sie sich nach allen Seiten um, spähte in die Ecken der Garage, auf die Mülltonne, über die langgezogene Veranda hinweg und rechnete beinahe mit einem Hinterhalt von FBI-Agenten, die ihre Dienstmarken aufblitzen ließen und Waffen auf sie richteten.
Dreh jetzt nicht durch! Du hast es geschafft.
Sie huschte den überwucherten Betonweg entlang zur hinteren Veranda, wo sich eine mittlerweile kahle Clematis strohig am Fallrohr emporrankte. Sie hantierte mit ihrem Schlüsselbund, bis sie endlich den gewünschten Schlüssel fand und ins Schloss schob.
Klick.
Der Schlüsselbund klimperte, als sie zitternd vor Nervosität den Schlüssel fürs zweite Schloss erwischte, ihn drehte und ein wenig hin- und herbewegte, bis der uralte Riegel mit metallischem Knirschen zurückfuhr. Mit der Schulter schob sie die klemmende Tür auf und wurde von einem muffigen, abgestandenen Geruch empfangen. Sie nahm sich vor, irgendeinen Lufterfrischer zu besorgen, denn das Häuschen war acht Monate lang unbewohnt gewesen. Vielleicht konnte sie sogar Marla dazu bewegen, ihren Hintern hochzukriegen und zu Lysol und Mopp zu greifen. Es war zwar nicht so, dass Marla in dem großen Haus nicht auch solche Arbeiten verrichtet hätte, aber sie fühlte sich immer noch verfolgt und hatte Angst, dass jemand sie sehen könnte.
»Ich gehe nie wieder zurück«, hatte sie Elyse anvertraut.
»Nie im Leben. Vorher müssten sie mich umbringen.«
Und Elyse glaubte ihr.
Sie schloss die Tür hinter sich ab und warf ihre Ledertasche, der sie einen weißen Beutel entnahm, auf den Treppenabsatz. Eine halbe Treppe höher befand sich die Küche, wo ein undichter Wasserhahn tropfte und eine altmodische Wanduhr die Sekunden ihres Lebens zählte. Doch was sich dort oben abspielte, interessierte sie nicht. Vielmehr vergewisserte sie sich noch einmal, dass beide Schlösser verriegelt waren, und stieg dann die knarrende Treppe hinab in den muffigen, stets feuchten Keller. Die Decken waren so niedrig, dass ein hochgewachsener Mann sich unter den Balken ducken musste, und in den dunklen Ecken der Balkendecke hatte sie zahlreiche Spinnennetze gesehen.
Obwohl das Haus für ihre Zwecke perfekt war, verursachte es ihr jetzt eine Gänsehaut.
Vorbei an einer verrosteten Waschmaschine und einem Trockner näherte sie sich der hinteren Wand des feuchten Raums. Die war jedoch nicht das, was sie zu sein schien. Im Lauf des letzten halben Jahrhunderts hatte einer der Hausbesitzer an einem Ende des Kellers eine Mauer gezogen und so Raum für einen verborgenen Weinkeller geschaffen. Was an sich sonderbar war, denn der Keller war viel zu feucht, um hier das richtige Klima für irgendetwas Trinkbares schaffen zu können.
Allerdings benutzte sie den geheimen Raum ja auch nicht zur Lagerung ihrer Lieblingsflaschen Pinot gris, Chardonnay oder Merlot.
Diese Wand mit ihren verstaubten Regalen und der verborgenen Tür war das perfekte Versteck, wenn nicht für kistenweise Wein, dann doch zumindest für eine Ausbrecherin aus einem Gefängnis, dem es an Sicherheitsvorkehrungen mangelte.
Darauf bedacht, nicht zu viel Lärm zu machen, für den Fall, dass Marla schlief, klopfte sie leise an die Regalwand. Marla war offenbar erschöpft von der anstrengenden Planung und Ausführung ihrer Flucht.
Elyse wartete einen Moment und zog dann einen verborgenen Hebel. Mit einem Klick hob sich der Riegel, und ein Teil der Regalwand ließ sich in den kleinen Raum dahinter schieben.
Sie flüsterte: »Hey, hier bin ich«, und schlüpfte in das fensterlose Zimmer, das im Augenblick nur vom flackernden bläulichen Schein des Fernsehbildschirms und von einer kleinen Nachttischlampe erhellt wurde. Der Raum war kahl: Es gab keine Bilder an den Wänden, die Einrichtung bestand lediglich aus einem Sessel, einem Bett, einem Nachttisch und der Kommode, auf der der Fernseher stand.
Marla hob nicht einmal den Kopf zur Begrüßung.
O Gott, sie war schlechter Laune.
Toll.
Die Euphorie nach der gelungenen Flucht hatte sich offenbar gelegt. »Willst du das wirklich ansehen?«, fragte Elyse, als sie sah, dass im stumm geschalteten Fernseher eine beliebte Realityshow lief.
Wortlos bedachte Marla sie mit einem Blick, der alles sagte. Im Gefängnis hatte Marla offenbar eine Sucht nach allen möglichen schrägen Fernsehsendungen entwickelt. »Mir gefällt das. Es ist Eskapismus«, hatte sie mit der Andeutung eines Lächelns gesagt, hinter dem die alte, gerissene Marla für einen Moment zum Vorschein kam.
»Okay, wie du willst. Aber ich dachte, du wolltest gern mal hier raus.«
»Und wohin?«
»Nach oben.«
»Jemand könnte mich sehen«, sagte sie in einem Tonfall, als spräche sie mit einer Schwachsinnigen.
»Du kannst die Vorhänge geschlossen lassen, aber es wäre doch zumindest nicht so …«
»Wie in einer Zelle?«, fragte Marla, ohne die Lippen zu bewegen.
»Ja. Wie in einer Zelle. Morgen besorge ich Reinigungsmittel, dann machen wir sauber. Etwas Mobiliar ist ja schon vorhanden.«
Marla schnaubte verächtlich, und ihr Blick schweifte zurück zu einer in einem fensterlosen Haus eingesperrten Gruppe. Tja, das konnte Marla wohl gut nachvollziehen.
»Sieh mal, ich habe dir was zu essen mitgebracht.« Elyse hielt ihr eine weiße Papiertüte entgegen. »Ein Hamburger, ich habe ihn besorgt, bevor ich zum Haus fuhr. Tut mir leid, dass er schon kalt ist, aber hinterher wollte ich nicht mehr anhalten.«
»Zum Haus?« Plötzlich war Marlas Interesse erwacht, wogegen der Hamburger sie offenbar nicht im Geringsten reizte.
»Ja, das Haus. Auf dem Mt. Sutro.« Sie trat näher an den Sessel heran, beugte sich herab und flüsterte in Marlas Ohr:
»Heute Abend habe ich Eugenia umgebracht. Wie wir es geplant haben. O Gott … es war … perfekt. Sie hat mich sogar erkannt, die alte Hexe.«
»Du hast Eugenia umgebracht? Als Erste?« Marla ignorierte die Tüte in ihrem Schoß und sah Elyse wütend an.
»So hatten wir es nicht geplant.«
»Hey! Die Gelegenheit war günstig, okay? Und ich habe sie beseitigt. Ich verstehe nicht, welchen Unterschied es macht, wann oder wie sie sterben, solange sie eben sterben!«
»Du kleine …«
»Lass es«, warnte Elyse. »Ich habe für dich meinen verdammten Hals riskiert, da könntest du wenigstens Interesse zeigen oder ›danke‹ sagen oder ›gut gemacht‹, aber nein. Hör gut zu, versuch nur nicht, mich kleinzumachen. Das lasse ich mir nicht gefallen.«
»Wir sind ganz schön reizbar, wie?«, knurrte Marla.
»Ja, sind wir. Wir beide!«
Marla nahm sich zusammen. »Schon gut«, sagte sie gedehnt. »Ich wollte dich nicht anfahren. Ich bin es nur so verdammt satt, hier eingesperrt zu sein.«
»Das wird sich bald ändern.«
»Nicht bald genug.«
Elyse schob sich frustriert das Haar aus dem Gesicht. Das Problem mit Marla war ihre verdammte Launenhaftigkeit. »Hör zu, es tut mir leid. Ich hätte es dir sagen sollen, aber ich musste rasch handeln, als ich hörte, dass Eugenia allein zu Hause sein würde. Verdammt, es ist eben nicht so einfach, verstehst du?«
»Für mich ist es auch nicht einfach. Ich war schließlich im Gefängnis, und jetzt … jetzt sitze ich hier fest.«
»Du wusstest, dass du dich für eine Weile bedeckt halten musst.«
Marla runzelte die Stirn, widersprach jedoch nicht, Gott sei Dank. »Ich glaube, ich brauche nur etwas Zeit, um mich einzugewöhnen.«
»Ja, nun, ich auch. Mach schon, iss etwas und schau fern …«, sie warf einen Blick auf die Mattscheibe, »… was immer das hier für eine Sendung sein mag.«
»Hausarrest.«
»Perfekt.«
Marla lachte über die darin enthaltene Ironie.
»Ich komme wieder. Morgen oder übermorgen, wann immer ich mich freimachen kann, dann bringe ich die Sachen mit, die wir zu deiner Tarnung brauchen. Und dann kannst du es wagen, wieder auszugehen. Wie findest du das?«
»Schon besser«, stimmte Marla zu. Die Fernsehshow wurde durch irgendeine Bierwerbung unterbrochen. »Wenn du das nächste Mal kommst, achte darauf, dass das Essen wenigstens noch lauwarm ist.«
»Klar.«
Als Elyse ging, fragte sie sich, warum sie sich überhaupt mit dieser Zicke abgab.
Wegen des Geldes, hast du das vergessen? Das Cahill-Vermögen? Du musst sie nur noch eine kleine Weile ertragen. Sie ist dein Fahrschein zum Reichtum.
Aber du hast recht: Sie ist eine Zicke ersten Grades.
Damit musst du leben.
Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als Cissy ihren achtzehn Monate alten Jungen suchte. Bitte, ihm darf nichts passiert sein. Bitte!
»Beejay? Schätzchen? Wo bist du?« Angst pochte in ihren Schläfen, Dutzende grauenhafter Szenarien rasten an ihrem inneren Auge vorbei, während Cissy das Grundstück ihrer Großmutter absuchte. Ihr Blick streifte das Gestrüpp, forschte in der Dunkelheit. Mit Macht setzte der Regen wieder ein.
Und wenn sie ihn nicht fand?
Wenn er irgendwie durch die Gitterstäbe des Tors geschlüpft war?
Er war so klein … so unschuldig.
Lieber Gott, lass ihn gesund und wohlbehalten sein!
»Beejay?«
Wo blieben die verdammten Bullen? Die konnten helfen!
Zwei Tage lang hatten sie hier herumgelungert und nun … Gott sei Dank! Sie sah die ersten rotierenden, rot und blau blitzenden Lichter am Fuß des Berges. Das Sirenengeheul kam näher, und im selben Moment erspähte sie ihren kleinen Jungen, der unter einer Azalee kauerte. »Oh, Beejay.« Sie stapfte durch die kalten Pfützen im Garten, zog ihn in ihre Arme und drückte ihn fest an sich. Er war schmutzig. Klammerte sich an sie. Und weinte. Die Mütze hatte er sich schief über ein Ohr gezogen, das Bändchen lag wie eine Schlinge um seinen Hals. Sie knüpfte es auf und zog ihm die Mütze vom Kopf. Er war in Sicherheit. Wohlbehalten. Sie atmete diesen besonderen Beejay-Duft tief ein und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.
»Angst«, sagte er und zitterte in ihren Armen.
»Ich hatte auch Angst, Schätzchen.« Sie küsste seinen inzwischen nassen Scheitel und presste ihn an sich. Bei der Vorstellung, dass sie ihn hätte verlieren können, brannten Tränen in ihren Augen. »Aber jetzt ist alles wieder gut. Mommy ist bei dir. Alles wird wieder gut!« Sie ging zum Torpfosten, tippte auf der elektronischen Tastatur den Code ein, und als das Tor sich öffnete, röhrte der erste Polizeiwagen – ein alter Cadillac mit der Signallampe auf dem Dach – den Berg herauf, hielt in merkwürdigem Winkel auf der Straße an und blockierte die Zufahrt. Der zweite Wagen, ein Streifenwagen, fand einen Parkplatz an der engen Straße. Dahinter quälten sich ein Feuerwehrauto und ein Notfallwagen die kurvenreiche schmale Straße herauf.
»Die Helfer in der Not«, sagte Cissy zu ihrem Sohn, obwohl das schlachtschiffartige erste Fahrzeug ein ungutes Gefühl in ihr hervorrief. Es brachte Erinnerungen zurück, die sie nicht wollte, Erinnerungen an eine andere schlimme Zeit in ihrem Leben, vor zehn Jahren, an die grauenhaften Vorfälle, die ihre Mutter ins Gefängnis brachten.
Als der erste Polizist auf der Fahrerseite des Cadillacs ausstieg, sank ihr Mut. Er brauchte ihr nicht seine Dienstmarke vorzuweisen oder seinen Namen zu nennen. Sie kannte ihn, denn Detective Paterno hatte die Ermittlungen geleitet, deren Ergebnisse ihre Mutter dann ins Gefängnis gebracht hatten. Sein Jagdhundgesicht wies mehr Falten auf, und sein dichtes Haar war stärker von Grau durchzogen, doch ansonsten hatte er sich, wie sein Wagen, wenig verändert.
»Sie sind Cissy«, sagte er.
»Ja. Das ist mein Sohn, Beejay oder Bryan Jack. Kommen Sie. Hier entlang.« Sie sah an Paterno vorbei, auf die Sanitäter. »Vielleicht besteht noch die Chance, Gran wiederzubeleben«, sagte sie, und in ihrem Herzen blühte ein wenig Hoffnung auf, obwohl sie ziemlich sicher war, dass sie zu spät kamen. Beejay fest im Arm, als hätte sie Angst, ihn noch einmal zu verlieren, lief sie hastig den Plattenweg her auf zur Haustür. Paterno und seine Partnerin, eine große, männlich wirkende Frau mit schlichter Brille und Kurzhaarschnitt, folgten ihr auf den Fersen, die Sanitäter und Feuerwehrleute ein paar Schritte hinter ihnen.
»Warten Sie hier«, sagte Paterno und wies auf eine Bank auf der Veranda, während seine Partnerin, die sich als Janet Quinn vorstellte, durch die offene Tür ins Haus trat. »Himmel, was ist denn hier passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht hier, als sie stürzte … O Gott.« Cissy schluckte heftig, drückte Beejay fest an die Brust und wiegte sich vor und zurück.
»Mama traurig«, sagte Beejay, und sie nickte.
»Sehr traurig.«
»Mama weint?«
»Oh, vielleicht.« Sie lächelte unter Tränen und küsste sein Köpfchen. Sie schirmte ihren Sohn vor der offenen Tür ab und versuchte, auch selbst nicht ins Foyer zu blicken. Sie hatte schon genug gesehen.
Die Erste-Hilfe-Kräfte, ein Mann und eine Frau, stürmten mit ihrer Ausrüstung an ihr vorbei.
»Vorsicht. Es könnte der Schauplatz eines Verbrechens sein«, sagte Paterno, als sie eintraten.
»Kapiert, Detective«, sagte die Sanitäterin. »Treten Sie zurück. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen. Ach, zum Teufel … sie ist tot.«
Cissys Hoffnung erlosch.
»Es bleibt uns nichts mehr zu tun, als sie in den Leichensack zu stecken«, bemerkte der Sanitäter so emotionslos, dass Cissy nach Luft schnappte. Es ging hier schließlich um ihre Großmutter! Nicht um irgendeine unbekannte, von niemandem beanspruchte, ungeliebte Leiche! Die Frau, über die sie redeten, war Eugenia Cahill, eine kleine, spitzzüngige, freche Frau, die Firmen geleitet, Bridge gespielt und im Vorstand von … Ach Gott, was zählte es schon, in welchen Vorständen sie gesessen hatte? Sie war tot.
»Kein Hinweis auf gewaltsames Eindringen«, sagte Quinn.
»Wir prüfen, ob Raub ein Motiv sein könnte.«
Cissy, immer noch auf der Veranda, wandte sich von dem Drama ab, das sich im Hausinneren abspielte. Die Szene war unwirklich, und Cissy, ihren Sohn im Arm, sah zu, wie der Regen vom Nachthimmel fiel, und wurde sich zum ersten Mal und mit aller Klarheit dessen bewusst, dass sie ihre Großmutter nie wieder lebend sehen würde. Sie kämpfte blinzelnd gegen den erneut drohenden Tränenstrom an. Ihre Beziehung war nicht gerade liebevoll gewesen, vielmehr hatten sie sich, als sie als Teenager noch hier lebte, reichlich oft zermürbende, zähe Kämpfe geliefert, doch sie hatte Eugenia geliebt, und abgesehen von einem Onkel und einer Tante in Oregon und einem weiteren Onkel in einer Anstalt war Eugenia ihre einzige Verwandte. Und sie war ganz gewiss, neben ihrem Halbbruder James, ihre engste Verwandte.
Abgesehen von Marla. Hast du sie vergessen? Deine Mutter? Die verdammte ausgebrochene Strafgefangene. Sie musst du mitzählen.
Und was ist mit Jack?
Sie wollte jetzt nicht an ihren Mann, diese Zecke, denken. Als sie doch noch einen Blick ins Foyer riskierte, sah sie, wie die Sanitäter den Kopf schüttelten. Cissy schluckte krampfhaft. Seit dem Augenblick, als sie Eugenia gesehen hatte, wusste sie, dass die alte Dame tot war, doch die Bestätigung ihrer Vermutung traf sie so viel härter.
Paterno kam nach draußen. »Ihre Großmutter …«
»Ich weiß schon.« Innerlich zitterte sie, doch es gelang ihr einigermaßen, die Ruhe zu bewahren. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, trotzdem versuchte sie, sich auf den Detective mit dem nüchternen Gesicht und den dunklen Augen zu konzentrieren. »Aber warum … Warum sind Sie gleich gekommen? Na ja, Sie arbeiten in der Mordkommission, dachte ich.« Bevor er noch antworten konnte, hatte sie schon begriffen. »Oh, ich verstehe. Es hat mit meiner Mutter zu tun, nicht wahr?«
»Wir müssen sie finden.«
Sie schauderte, als sie an Marla Amhurst Cahill in Freiheit dachte. Wenngleich Cissy keine voreiligen Schlüsse ziehen wollte, erschien es ihr doch als zu viel des Zufalls, dass ihre Großmutter ausgerechnet ein paar Tage nach Marlas Ausbruch die Treppe hinuntergestürzt war.
Ihre Mutter war clever. Gerissen. Aber hierherzukommen wäre pure Dummheit gewesen. Die Polizei hatte vom Tor aus das Haus beschattet … Oder nicht? Gestern noch hatte ihre Großmutter sich darüber beklagt, aber wo steckten die Polizisten jetzt?
Eiseskälte breitete sich in ihrer Magengrube aus.
»Warum hat es so lange gedauert, bis Sie hier waren? Ich dachte, das Haus würde beschattet. Gran sagte, ein paar Detectives säßen an der Straße in ihrem Wagen.«
»Ja, ein Wagen war hier«, gab er zu. »Aber die Beamten sind abberufen worden. Es wurde eine Schießerei gemeldet, ein Stück die Straße hinunter.«
»Zur gleichen Zeit, als meine Großmutter die Treppe hinunterstürzte?«, fragte sie fassungslos. Ein Zufall? Ihre Großmutter stirbt kurz nach Marlas Flucht, und genau zu dieser Zeit werden die Beamten, die das Haus bewachen sollen, plötzlich abberufen? »Haben Sie die Beteiligten erwischt?«
Paternos langes Gesicht verriet nichts. »Noch nicht.«
»Das heißt, es ist gerade erst passiert?«
»Vor etwa einer Stunde.«
»Vor einer Stunde.« Ihr Herz klopfte heftiger, je mehr Zufälle zusammentrafen. »Gran ist noch nicht lange tot. Sie war … war«, Cissys Stimme brach, »… sie war noch warm, als ich nach einem Puls getastet habe …«
»Wie sind Sie ins Haus gekommen?«
»Ich besitze einen Schlüssel«, erklärte Cissy matt. Es war schwer zu verkraften.
Paterno sah Beejay an. »Wollen Sie nicht lieber im Wagen warten? Wo es warm und trocken ist? Es könnte sein, dass wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen müssen, und das Haus gilt zunächst einmal als Tatort.«
»Sie ist die Treppe hinuntergestürzt. Wo ist da ein Verbrechen?« Doch Cissy hatte längst begriffen, was er andeuten wollte, und der Gedanke, dass ihre Mutter damit zu tun haben könnte, drehte ihr fast den Magen um. Das konnte doch nicht sein. Und doch stand sie da, mit weichen Knien und dem Gefühl, ein außerkörperliches Erlebnis zu haben.
»War jemand bei ihr im Haus?«, fragte Paterno und begleitete sie von der Veranda herunter.
Auf dem Weg zum Wagen lief ihr der Regen in den Nacken. »Nein … Das heißt, ich glaube nicht.« Bei ihrem Acura angekommen, begann Beejay in ihren Armen zu quengeln, und sie flüsterte ihm liebevoll zu: »Schon gut, Schätzchen. Schschsch.«
Paterno öffnete ihr die Fahrertür, und eine Wolke von Tomaten-, Oregano- und Knoblauchduft schlug ihr entgegen. Sie schob den Fahrersitz nach hinten, um mehr Beinfreiheit zu haben, und setzte sich, das Kind auf dem Schoß, hinters Steuer, während Paterno auf der Beifahrerseite einstieg und mit einem Fuß versehentlich auf dem Deckel des Pizzakartons landete.
Zu spät zog er den Fuß zurück. »Tut mir leid.«
»Macht nichts.« Im Moment war ohnehin alles egal. Cissy war wie betäubt. Abgesehen von ihrem Baby war ihr alles gleichgültig.
Zum Glück gefiel Beejay sein Platz hinterm Steuer; er spielte Autofahren und patschte mit seinen kleinen Händen auf das Lenkrad.
Die Füße zu beiden Seiten des lädierten Pizzakartons, saß Paterno da und zog einen Stift und ein kleines Notizbuch aus seiner Jackentasche. »Sie wollten Ihrer Großmutter das Abendessen bringen?«
Sie nickte. »Ich besuche sie eigentlich jeden Sonntag, weil sie dann allein ist. Ich bringe immer etwas zu essen mit, etwas, das sie mag, richte es für sie an, und dann sehen wir zusammen fern, irgendeine Show, Sie wissen schon, mit Coco …« Sie unterbrach sich und hob ruckartig den Kopf.
»Wo ist der Hund?«
»Was?«
»Gewöhnlich ist Gran am Sonntag allein, bis auf Coco. Ihr kleiner weißer Schoßhund, den sie über alles liebt. Ich habe den Hund im Haus nicht gesehen, und das ist schon äußerst merkwürdig. Grandma nimmt Coco überall mit hin. Sie sind praktisch unzertrennlich.« Sie ließ den Blick über das Grundstück schweifen, als hätte der Hund irgendwie durch die Tür entwischen können.
»Wir werden ihn finden«, sagte Paterno und notierte etwas in seinem Büchlein. Er berührte ihren Arm. »Sie sagten … Sie sehen dann fern …«
»Heute Abend sollte es Pizza geben, weil ich spät dran war …« Cissy senkte den Blick auf die zertretene weiße Schachtel und konnte nicht glauben, dass sie sich noch vor weniger als einer halben Stunde Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie ihrer Großmutter erklären sollte, dass sie keine Zeit gehabt hatte, selbst etwas zu kochen, weil ihre Großmutter das lieber mochte als Pizza zum Mitnehmen von Dino. Jetzt saß sie mit einem Bullen, dem sie nicht traute, in ihrem Auto, und ihre Großmutter war tot. Sie räusperte sich, versuchte klar zu denken. »Wie auch immer, gewöhnlich sind wir drei allein. Grandma, Beejay und ich. Deborah, die Frau, die als Gesellschafterin gilt, ist dann nicht dabei; hm, verstehen Sie, sie ist eigentlich keine ›Pflegerin‹.« Cissy zeichnete mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. »Auf eine Pflegerin würde Gran sich nie einlassen, wohl aber auf eine Gesellschafterin. Deborah hat sonntags und montags frei, und das Hausmädchen, Paloma, macht gegen fünf Uhr nachmittags Feierabend, soviel ich weiß. Elsa, die Köchin, arbeitet nur montags bis freitags, es sei denn, Gran hat Gäste … und … und, ach ja, Lars, der Chauffeur, arbeitet bis, ich weiß nicht … fünf, sechs Uhr ungefähr? Außer, wenn Grandma ihn braucht, dann sprechen sie sich ab.« Sie versuchte, alles genau auf die Reihe zu bekommen, wusste jedoch, dass sie wirres Zeug redete. »Also, dann sehen wir uns irgendeine stumpfsinnige Show an und … und … ach, zum Teufel.« Sie fing wieder an zu weinen und wischte sich, wütend auf sich selbst, angewidert die Tränen von den Wangen.
»Mommy?«, fragte Beejay und drehte den Kopf, um sie anzusehen.
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Alles in Ordnung mit Mommy.« Eine himmelschreiende Lüge. »Dürfen wir jetzt fahren?«, fragte sie den Detective gerade in dem Moment, als das Fahrzeug der Spurensicherung einfuhr und die Blockierung der Zufahrt vervollständigte. Schlimmer noch, durchs offene Tor sah sie, wie einige Nachbarn draußen auf der Straße standen und sich unter den weitläufigen Ästen einer großen Eiche zusammendrängten. Cissy stöhnte auf und stöhnte erneut, als ein Übertragungswagen den Berg hinaufdröhnte und ein paar Häuser entfernt in zweiter Reihe einparkte. »Es wird ja immer schöner.«
»Ich kann Sie nach Hause bringen. Leider dauert es aber noch ein bisschen. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir eine Liste der hier Beschäftigten geben könnten, also Namen und Adressen.«
»Ich habe so etwas nicht, aber Gran besaß so eine Liste. Ich kann Ihnen nur ein paar Telefonnummern geben, die ich in meinem Handy gespeichert habe, Deborahs und Lars’. Die restlichen kenne ich nicht, ich habe wohl aber die Adressen von einigen ihrer Freunde zu Hause auf meinem Computer.«
»Ich brauche alles, was Sie finden können.«
Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche, scrollte durch ihr Telefonbuch und rasselte die gefragten Nummern herunter. »Deborah Kraft, hier ist sie.« Sie nannte die Nummer. »Und Lars Swanson; ich weiß genau, dass ich seine Nummer gespeichert habe, denn er fährt manchmal auch Beejay und mich.« Und sie gab ihm auch diese Nummer. »Paloma heißt mit Nachnamen Perez, und ich … ich glaube, sie wohnt in Oakland. Ihr Mann heißt Estevan. Und ein Mädchen namens Rosa hat seit Jahren immer mal wieder für Gran gearbeitet. Sie heißt mit Nachnamen Santiago. Ich weiß nicht, wo sie wohnt, aber ich glaube, Gran bewahrt ihr Adressenverzeichnis in der Bibliothek auf. Beim Telefon. Auf Karteikarten, nicht im Computer … Sie hat ihren PC nur selten benutzt.« O Gott, sie faselte schon wieder.
»Wir sehen nach. Danke.«
»Können wir jetzt fahren?«
»Jetzt noch nicht, aber bald. Versprochen«, sagte er ernst.
»Ich bin in ein paar Minuten zurück, dann können wir hier Schluss machen, und wenn ich noch Fragen an Sie habe, rufe ich an oder komme zu Ihnen, oder Sie kommen ins Präsidium, falls das einfacher ist.«
»Mehr kann ich Ihnen jetzt wirklich nicht sagen – und ich muss unbedingt mit meinem Sohn nach Hause.«
»Ja, natürlich. Ich beeile mich.« Paterno stieg aus und wandte sich jemandem zu, der gerade aus dem Fahrzeug der Spurensicherung ausstieg. Gemeinsam gingen sie raschen Schritts den Pflasterweg entlang, auf dem es mittlerweile von Polizisten und Sanitätern wimmelte. Auf keinen Fall wollte sich Cissy von dem Detective heimfahren lassen. Sie mussten sich halt etwas einfallen lassen, um die Zufahrt frei zu bekommen. Im Augenblick jedoch saß sie wohl fest, was sie maßlos ärgerte. »Okay, Schatz«, sagte sie zu Beejay »Ich kann nichts dagegen tun. Wir zwei sind allein. Wie wär’s, wenn wir im Auto essen?«
»Ich fahre.«
»Mhm. Später.«
Beejay fing an zu nörgeln, als sie ihn von ihrem Schoß hob, doch sie ignorierte den bevorstehenden Wutanfall, schnallte ihn auf dem Beifahrersitz an, entnahm dem Handschuhfach ein paar zusätzliche Servietten und öffnete den Pizzakarton.
Sie reichte ihm ein kleines Stück, und schon hörte er auf zu schreien. Gestern noch hätte sie um ihre Ledersitze gefürchtet. An diesem Abend wurde ihr bewusst, dass so etwas nicht wichtig war. Verschmierte Tomatensoße oder Mozzarellakäse ließen sich abwischen. Ihre Großmutter würde sich nie wieder über Flecken beklagen können.
Während Beejay eine Peperoni von seinem Pizzastück nahm und sie eingehend betrachtete, bevor er sie sich in den Mund schob, blickte Cissy durch die regenfleckige Windschutzscheibe auf das alte Haus. Seine Backstein- und Ziegelmauern erhoben sich drei Stockwerke über der unterirdisch gelegenen Garage, sie waren flankiert von Rhododendren, Azaleen und Farnen, die jetzt den Regen auffingen und im Wind schaukelten. Die Fenster im Erdgeschoss und im ersten Stock waren beleuchtet – warme Lichtflecke, die das Grauen im Hausinnern leugneten. Sie hob den Blick zum zweiten Stock und dem Erker ihres früheren Zimmers, des Orts, an dem sie den Großteil ihrer trübsinnigen Teeniejahre verbracht hatte.
Damals hatte sie das Leben in der Stadt gehasst, war lieber auf der Ranch gewesen. Das hatte sich natürlich geändert. Vielleicht hätte Cissy wieder hier einziehen sollen, wie ihre Großmutter vorschlug, als sie Jack rausgeworfen hatte. Doch Cissy hatte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben wollen. Und außerdem beherbergte dieses alte, weitläufige Haus keine allzu guten Erinnerungen für sie.
Jetzt war Gran tot.
Ihre Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen. Ihr gesamtes Leben schien auseinanderzubrechen. Ihre Mutter war aus dem Gefängnis ausgebrochen, ihre Großmutter tot, ihr Mann … Ach, an ihn wollte sie gar nicht denken. Sie sah ihr Kind an, das zufrieden auf der Peperoni herumkaute, und brach ein Stückchen von der Käsekruste ab. Sie reichte es Beejay; er ergriff es eifrig und zerquetschte es dann in seiner kleinen Faust.
Sie war so in Gedanken verloren, dass sie nicht bemerkte, wie ein Schatten am Wagen vorbeistrich und jemand durch das Fenster der Fahrertür spähte, bis mit den Knöcheln an die Scheibe geklopft wurde. Sie fuhr zusammen und drehte sich so hastig um, dass der Rest der Pizza um ein Haar auf dem Steuerrad gelandet wäre. Jack Holt sah sie an.
»Himmel!«, sagte sie mit klopfendem Herzen und fügte dann leise hinzu: »Tja, Beejay, sieh mal, wer da gekommen ist.« Sie konnte es nicht glauben. »Daddy ist hier.«