14
Die Tür wurde zugeschlagen.
Cissy war der Blick auf ihre Mutter verwehrt.
Es konnte nicht sein! Marla hätte es nie gewagt, hierherzukommen! Ausgeschlossen.
Was dann, Cissy? Bildest du dir Dinge ein? Beschwörst du ihr Bild herauf, obwohl du weißt, dass sie hier nirgends sein kann?
Auf Beinen wie Pudding rannte sie die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Es goss in Strömen, der Regen gurgelte in den Fallrohren und bildete Pfützen auf dem Boden.
Cissy trat von der Veranda. »Mom!«, schrie sie. »Verdammt noch mal, Mom, wo bist du?«
Doch ihre Stimme verhallte im Wind.
Sie sah keinen Menschen, hörte keine eiligen Schritte.
Es war, als wäre ihr ein Geist erschienen und sofort wieder verschwunden.
Nein!
Sie wusste, was sie gesehen hatte. Verdammt, wenn sie doch wenigstens ihr Handy noch hätte! Sie folgte dem Weg bis hinters Haus, durchsuchte Garten und Gestrüpp, konnte in der zunehmenden Dunkelheit aber niemanden entdecken. Nicht beim Spalier, nicht im Obstgarten, nicht … Sie bemerkte die Schaukel, die an ihrem verrottenden Holzrahmen sanft hin und her schwang. Die alten Ketten knarrten kaum hörbar.
Der Wind?
Oder hatte Marla auf der Flucht in die Ketten gegriffen?
»Mom!«, schrie sie noch einmal, doch statt einer Antwort hörte sie nur das leise Rauschen des Verkehrs hügelabwärts, das Rascheln der Fichtenzweige im Wind, das Prasseln des Regens.
Sie drehte sich um und betrachtete das alte dreistöckige Haus mit den längs unterteilten Fenstern, die dunkel und bedrohlich wirkten.
Voller Entschlossenheit stapfte sie zurück zur Vorderseite des Hauses. Hier war niemand. Himmel, war alles nur Einbildung gewesen? Hatte das Gerede über die Flucht ihrer Mutter ihr letztendlich doch so zugesetzt? Hatte sie, Cissy, nach den Morden an Rory und ihrer Großmutter den Verstand verloren? Sie hatte keine Angst vor ihrer Mutter. Würde nie Angst vor ihr haben. Marla war weiß Gott nicht die liebevollste Mutter der Welt, das bestimmt nicht, und Cissy hatte sehr unter ihrer Vernachlässigung gelitten, doch Angst vor ihrer Mutter hatte sie nicht. Wer auch immer Eugenia und Rory umgebracht haben mochte, Marla Amhurst Cahill war es nicht. Sie glaubte es einfach nicht.
Aber was zur Hölle war denn gerade geschehen?
Ohne eine Antwort zu finden, verschloss sie die Haustür, drückte die Klinke herunter, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich abgeschlossen war, und ging den gepflasterten Weg zurück zu ihrem Wagen. Unentwegt behielt sie die dunklen Ecken und schauerlichen Schatten im Auge, die nassen, zitternden Pflanzen, die dunklen, geschützten Winkel an den äußeren Eckpunkten des Hauses.
Doch sie sah nirgends eine flüchtende Frau, hörte keine raschen Schritte, kein hastiges Atmen.
Marlas Erscheinung war verschwunden, so unvermittelt, wie sie aufgetaucht war.
Cissy war allein.
Fröstelnd rieb sie sich die Arme und bemerkte jetzt erst, wie ihr der Regen den Nacken herunterlief. Hatte sie wirklich ihre Mutter gesehen?
Oder hatte sie aufgrund ihrer überreizten Nerven halluziniert, ein Bild heraufbeschworen, das sie insgeheim zu sehen wünschte?
»Du spinnst«, sagte sie zu sich selbst, als sie ins Auto stieg. Drinnen fiel ihr der Duft auf, ein schwacher Hauch von einem Parfüm, das sie aus ihrer Kindheit kannte, das Parfüm, das ihre Mutter immer getragen hatte.
»Nein«, sagte sie und kämpfte mit den Tränen, wehrte sich gegen den Gedanken, dass sie im Begriff sein könnte, den Verstand zu verlieren. »Du wirst mich nicht behelligen, du Hexe, hörst du? Ich lasse es nicht zu!« Ihre Mutter war nicht im Auto gewesen. Und das Tor zum Grundstück war geschlossen. Verriegelt. Marla hatte es nicht geöffnet.
Cissy drückte die Taste der Fernbedienung, legte den Rückwärtsgang ein und wartete, während die alte Mechanik des Tors ächzte und klickte. Doch die Torflügel rührten sich nicht. Sie drückte die Taste noch einmal. Hörte wieder dieses Klicken und Ächzen der Mechanik. Im Spiegel bemerkte sie eine geringfügige Bewegung des massiven schmiedeeisernen Tors, als versuchte es vergeblich, sich zu öffnen.
»Was soll das?« Entrüstet stieg Cissy aus dem Wagen und untersuchte das Tor. Jemand hatte einen verrosteten Schraubenzieher tief ins Schloss getrieben und damit die Mechanik verklemmt.
Der Schraubenzieher war bei ihrer Ankunft noch nicht dort gewesen, denn da hatte sich das Tor problemlos öffnen lassen.
Das Blut drohte Cissy in den Adern zu gefrieren.
Als sie ihre Mutter sah, hatte es sich nicht um eine Geistererscheinung gehandelt.
Sie hatte sich den Parfümduft nicht eingebildet.
Marla Cahill war zurückgekehrt.
Cherise Favier warf einen Blick auf das Display, bevor sie den Anruf entgegennahm. Wenn Donald sich nicht in der Stadt aufhielt, wie es seit der gestrigen Mittagspredigt der Fall war, ließ sie größere Vorsicht walten, wenn jemand anrief oder an der Tür klingelte, sogar wenn sie selbst ausging. Sie hatte zwar keine Angst, das eigentlich nicht, doch in den Jahren ihrer Ehe hatte sie aufgehört, einfach Cherise zu sein. Sie und Donald waren wie zwei Hälften eines Ganzen. Sie war es gewohnt, ständig mit ihm zusammen zu sein, Teil von etwas Besonderem, etwas, das größer war als sie.
Sie war gern verheiratet.
Sie hatte immer verheiratet sein wollen, und dieses Mal war sie nicht bereit aufzugeben. Aller guten Dinge sind drei, besagte das Sprichwort, und sie würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um für immer Mrs. Donald Favier zu bleiben.
Ihr Leben war ein einziges Chaos gewesen, bevor sie Donald kennenlernte, und sie würde ihn niemals wieder loslassen. Jetzt wohnte sie in einem großen Haus, das ihnen natürlich von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wurde. Es war sogar noch größer als das letzte, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, was nur ein weiterer Beweis dafür war, wie sehr die Pfarrkinder ihren Mann liebten.
Trotzdem fühlte sie sich manchmal einsam, denn ihre Kinder, alle drei auf dem College, riefen selten an und besuchten sie kaum.
Sie warf also jetzt einen Blick auf das Display, sah, dass Cissy die Anruferin war, und hätte sich beinahe nicht gemeldet, nicht nach der hässlichen Szene bei ihr zu Hause nach der Begräbnisfeier. Grundgütiger! Cissy hatte sich aufgeführt, als verlangte Cherise mehr, als ihr zustand! Alle wussten, dass das nicht recht war, alle wussten, dass ihr Vater und seine Nachkommenschaft von Cissys niederträchtigem Großvater über den Tisch gezogen worden waren.
Sie griff nach dem Hörer. »Hallo?«, meldete sie sich, als wüsste sie nicht, wer am anderen Ende der Leitung war.
»Hi, Cherise, hier spricht Cissy«, antwortete eine heisere nasale Stimme, und gleich darauf folgte ein heftiger Hustenanfall. »Entschuldige. Ich glaube, ich habe eine Kehlkopfentzündung, zu viel geredet oder was auch immer. Wer weiß?« Es klang, als fiele es Cissy wirklich schwer, auch nur zu flüstern.
»Oh. Ich hoffe, dir geht’s bald wieder gut«, sagte Cherise. Sie verstand nicht recht. Cissy rief sie sonst nie an. Wirklich nie. Und sie rief bestimmt nicht nur an, um sich mit ihr zu unterhalten. Sie musste etwas damit bezwecken.
»Hör mal, es tut mir leid, wegen neulich. Ich wollte nicht so gemein zu dir sein. Ich war nur überreizt, verstehst du? Außer mir wegen Gran und so. Ich möchte es wiedergutmachen.«
Das klang erfreulich in Cherise’ Ohren, doch noch war sie misstrauisch. Sie kannte Cissy, solange sie denken konnte, und die Jüngere war nicht der Typ, der kapitulierte oder sich rasch anders besann. »Tatsächlich?«
»Ja … Na ja, ich weiß nicht. Ich dachte nur, wir sollten mal miteinander reden, und ich verspreche dir, ich flippe dieses Mal nicht aus.«
Das klang schon besser. Typisch Cissy. »Wann?«
»Wie wär’s mit heute Abend? Ich kann den Babysitter bestellen.«
»Hm, ja … Donald ist nicht zu Hause. Er hat ohnehin vor, die ganze Familie mal zu einem Abendessen an einem Tisch zu versammeln.«
»Ich dachte eigentlich eher, dass du und ich uns allein treffen sollten. Ohne Jack und Donald, denn die sind ja keine echten Cahills.«
»Ich treffe keine Entscheidungen, ohne mich mit Donald abgesprochen zu haben.«
»Wer spricht von Entscheidungen? Ich will mir nur anhören, was du zu sagen hast, aber wenn du nicht interessiert bist, bitte schön, dann tut es mir leid, dass ich dich belästigt habe.«
»Nein! Ich meine, natürlich können wir uns treffen. Heute Abend, das passt mir gut«, stimmte Cherise hastig zu. Ihre Gedanken waren ihrer Zunge schon weit voraus. Sie konnte es sich nicht leisten, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen. Sie hatte ein komisches Gefühl bei der Sache, konnte aber nicht sagen, warum. Möglich, dass Cissy etwas im Schilde führte. Aber was? »Um welche Uhrzeit?«
»Entscheide du.«
»Wie wär’s so gegen sieben?« So konnte sie vorher noch Donald anrufen, ihm berichten, was anstand, und sich von ihm raten lassen, wie sie Cissy am besten behandelte.
»Ich komme zu dir. Falls dir irgendwas dazwischenkommt, ruf mich auf meinem Handy an. Ich bin den ganzen Tag nicht zu Hause.«
»Okay, deine Nummer habe ich gespeichert«, sagte Cherise.
»Prima.« Cissy legte auf, und nur, um ganz sicherzugehen, rief Cherise sie gleich noch einmal an.
»Hallo?«, meldete Cissy sich mit unverändert heiserer Stimme.
»Ach, Cissy, ich wollte nur wissen, ob du überhaupt den Weg zu uns kennst. Hast du unsere Adresse?«
»Gran hatte sie, und ich habe ihren Filofax. Auf den Computer hat sie sich nie verlassen wollen.«
Das klang einleuchtend. Dennoch wünschte Cherise, Donald wäre zu Hause und nicht in Sacramento mit einer Gruppe, die eine Mission in Mexiko plante. Im Grunde sollte sie einfach nein sagen und darauf bestehen, dass Cissy wartete, aber so wankelmütig, wie das Mädchen war, wusste Cherise, dass sie rasch handeln, das Eisen schmieden musste, solange es heiß war. »Schön, prima, wir sehen uns dann.« Sie legte auf, und dann rief sie, weil sie sich immer noch unsicher fühlte, Cissy zu Hause an, wo Tanya sie informierte, dass Cissy noch für längere Zeit außer Haus sein würde.
Alles schien zusammenzupassen. Wozu also diese Unruhe?
Cherise redete sich selbst gut zu. Wie es aussah, ließen Cissys Schuldgefühle ihr endlich doch keine Ruhe mehr. Schön, dachte Cherise lächelnd, während sie im Wohnzimmer die Kerzen anzündete, wie sie es täglich bei Einbruch der Dämmerung tat. Dadurch wirkte das Haus so viel gemütlicher. Dann schickte sie ein paar Gebete zum Himmel – ein Dankgebet und eines für Donalds Sicherheit. Alles in ihrem Leben schien sich zum Besseren zu wenden.
Warum war sie trotzdem so nervös?
»Sie glauben, Ihre Mutter war hier?«, fragte Paterno. Cissy Holt hatte vom Haus ihrer Großmutter aus angerufen und geschworen, sie hätte ihre Mutter gesehen. Paterno hatte keine Sekunde gezögert. Er war sogleich zu dem Anwesen am Mt. Sutro gefahren, wo Cissy, die Arme um den Oberkörper geschlungen, ihn im Wohnzimmer erwartete, nur ein paar Schritte entfernt vom Foyer, wo sie die Leiche ihrer Großmutter gefunden hatte.
Er hatte schon zahlreiche Mordschauplätze erlebt, hatte verstümmelte, blutüberströmte Leichen gesehen, war Zeuge unglaublichster Brutalität geworden, die ein Mensch einem anderen zufügte. Doch noch nie hatte er das Böse so deutlich gespürt wie in diesem Haus, diese unglaubliche Brutalität in Form einer Ahnung von kaltem, berechnendem Psychoterror.
Das war es, was hier geschah.
Marla terrorisierte sie mit voller Absicht.
Und das ärgerte ihn maßlos, mehr noch als der Kratzer an seinem Wagen … oder mindestens genauso sehr. Er war immer noch wütend auf das Arschloch, das seinen geliebten Caddy verunstaltet hatte.
Cissy hatte ihm eine groteske Geschichte erzählt – wie sie ins Haus kam, glaubte, allein zu sein, und dann Marla Cahill an der Haustür gesehen hatte. Sie war fast schon überzeugt gewesen, sich alles nur eingebildet zu haben, bis sie dann den Parfümduft in ihrem Wagen roch und den Schraubenzieher im Schloss des elektronisch gesteuerten Tors sah.
Im Schein seiner Taschenlampe sah Paterno sich um. Er hatte den Schraubenzieher als Beweisstück in einem Plastikbeutel verstaut und auf dem Boden nach Fußabdrücken gesucht, doch der Regen hatte so ziemlich alles weggespült. Er fragte sich, warum Marla das Wagnis eingehen sollte, hierherzukommen. Hatte sie geglaubt, sich hier verstecken zu können? Warum hatte sie nicht mit Cissy gesprochen? Und warum hatte sie den Aufzug in den ersten Stock geschickt?
Das alles ergab keinen Sinn.
Er rief Quinn an, und sie beschlossen, die Kriminaltechniker kommen und nach Spuren suchen zu lassen. Irgendwann tauchten dann Tallulah Jefferson und Roger Billings, einer ihrer Kollegen, auf. Sie nahmen sich das ganze Haus vor, stäubten auf der Suche nach Fingerabdrücken die Haustür ein, suchten noch einmal nach Fußabdrücken und sammelten alles ein, was womöglich als Beweisstück dienen konnte. Sie stäubten sogar Cissys Auto ein und saugten es ab, in der Hoffnung, dort auf Hinweise zu stoßen.
»Ist Ihnen sonst noch etwas Merkwürdiges aufgefallen?«, fragte Paterno.
»Alles erscheint mir … sonderbar«, gestand Cissy. Inzwischen war es dunkel, der Regen hatte aufgehört, doch das Wasser floss immer noch den Hügel herab in den Gully mitten auf der Zufahrt. »Ich habe ein paar Dinge verlegt.«
»Zum Beispiel?«
Sie wirkte verlegen. »Nichts Wertvolles. Mein Handy, einen silbernen Becher, den Gran Beejay zur Geburt geschenkt hat, und … oh, und meine Haarbürste. Aber ich vermute, dass sich alles noch irgendwo im Haus befindet. Am Tag der Trauerfeier waren so viele Leute dort. Da können schon ein paar Sachen verlegt worden sein.«
»Ihr Handy?«
»Es war ausgeschaltet. Ich dachte, es wäre in meiner Handtasche, aber vielleicht ist es herausgefallen. Alles andere war noch da. Ich habe nachgesehen. Kreditkarten, Ausweis und Bargeld. Alles war dort, wo es hingehört. Nur das Handy fehlte. Ich habe die Nummer angerufen, in der Hoffnung, dass jemand es gefunden hat und sich meldet, aber es schaltet gleich auf Voicemail. Und niemand ruft zu Hause auf dem Festnetz an, obwohl unsere Nummer im Telefonbuch meines Handys aufgelistet ist, für den Fall, dass jemand es findet und mich anrufen möchte. Das ist wirklich lästig, glauben Sie mir. Denn ich habe sämtliche Nummern im Telefonbuch des Handys gespeichert.«
»Sie glauben, jemand hat es gestohlen?«, fragte er noch einmal, bemüht, die Situation zu verstehen.
Sie wandte den Blick ab, sah über den eisernen Zaun hinweg auf die tiefer gelegene Seite des Grundstücks zur Stadt hin, wo durch eine Nebelbank Lichter blinkten. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, gestand sie. »Im Moment ist mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt.« Seufzend sah sie auf die Uhr und sagte: »Ich muss mich jetzt wirklich beeilen. Die Babysitterin wartet schon seit einer Viertelstunde auf mich.«
»Okay. Aber benachrichtigen Sie mich, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
»Mach ich«, versprach sie, und zum allerersten Mal hatte er das Gefühl, dass sie ihm vertraute.
Cissys Nerven waren zum Zerreißen gespannt, ihre Hände umklammerten das Lenkrad, als hätte sie Angst, es loszulassen. Sie folgte den Heckleuchten eines Geländewagens den Mt. Sutro herab auf die Stanyan Street.
Seit dem Tod ihrer Großmutter verlor sie zunehmend die Kontrolle über ihr Leben. Um sie herum starben Menschen. Dinge verschwanden. Sie hatte das Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, und jetzt auch noch das hier … ihre Mutter. Ergab das etwa einen Sinn?
»Nein«, sagte sie laut, und als sie vor einer Ampel halten musste, dachte sie an die bevorstehende Scheidung und ihre eigene Zerrissenheit deswegen. Hatte Jack tatsächlich eine Affäre mit Larissa gehabt? Belog er sie, ohne mit der Wimper zu zucken, oder war, wie er versicherte, wirklich »nichts passiert«? War es überhaupt wichtig, ob er mit ihr geschlafen hatte oder nicht, oder reichte es nicht schon, dass er die Nacht in der Wohnung der Rothaarigen verbracht hatte?
Seit diesem katastrophalen Vorfall hatte sie nahezu jede Frau, die sie kannte, im Verdacht, ihren Mann verführen zu wollen. »Das ist verrückt«, sagte sie zu sich selbst. Als sie in den Rückspiegel sah, blickten ihr ihre eigenen schmerzerfüllten Augen entgegen. Angstvolle Augen. Ein gehetzter Blick. O Gott, verlor sie den Verstand? Sie spürte, wie sie innerlich zitterte, und biss die Zähne zusammen. Reiß dich am Riemen, Cissy!
Sie umfuhr den Buena Vista Park und bog auf die Haight Street ein. Jetzt würde sie nach Hause fahren, mit Beejay spielen, ihm Abendbrot zubereiten, ihn baden. Sobald er im Bett war, würde sie sich ausziehen, ihre Sorgen von sich werfen und sich in der Badewanne in heißem, parfümiertem Wasser aalen. Sie würde ihre Lieblings-CD in den CD-Player schieben, Kerzen anzünden und sogar einen Schluck Wein trinken. Sich verwöhnen. Zu sich zurückfinden.
Sie würde nicht an ihre Mutter denken, nicht an die Morde, ihren untreuen Mann, die verschwundenen Gegenstände. Nein, sie würde sich entspannen und den Stress abschütteln.
Zu Hause angekommen, drückte sie die Taste der Fernbedienung und fuhr in die Garage. Sie schleppte ihre Tasche und den Laptop ins Haus und rief »Hallo«, hörte jedoch keine aufgeregten Trippelschritte, kein feines Stimmchen, das freudig rief: »Mommy ist da!« Kein Kinderlachen. Kein wildes Gebell von Coco. Im Haus war es still wie in einem Grab.
O nein!
»Hallo?«, rief sie noch einmal. Ihr Puls beschleunigte sich. Dann entdeckte sie Tanya draußen auf der dunklen Terrasse. Sie zog gegen den Wind die Schultern hoch, hielt sich ihr Handy ans Ohr, und als sie sich auf Cissys Ruf hin umdrehte, beendete sie hastig ihren Anruf und klappte das Handy zu.
Sie trat ins Haus und sagte: »Im Haus habe ich einen unglaublich schlechten Empfang.«
»Wo ist Beejay?«
»Jack hat ihn abgeholt.«
»Was?«
»Ich sagte: Jack …«
»Ich weiß, was du gesagt hast, aber ich verstehe es nicht«, fiel Cissy ihr ins Wort. »Ich dachte, du wüsstest, dass Beejay nicht …«
»Mit seinem eigenen Vater gehen darf?« Tanya sah sie an, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.
»Hat er den Hund auch mitgenommen?«
»Ja, Gott sei Dank.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Er hat angerufen und mir gesagt, dass ich mich nicht ums Abendessen zu kümmern brauche. Dann hat er Beejay und den blöden Hund abgeholt. Vor zehn Minuten sind sie aufgebrochen.«
»Aber …«
»Ich konnte dich nicht anrufen«, betonte Tanya. »Und du kommst spät.«
»Ich … hatte Probleme, mit denen ich nicht gerechnet habe.«
»Klar.« Sie zog die Mundwinkel ein. »Hör mal, ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst. Warum, das weiß ich allerdings nicht. Ich mache meine Arbeit gut, aber dir ist es nie gut genug, nicht wahr? Es ist, als hättest du von Anfang an beschlossen, mich zu hassen. Vermutlich hat es etwas damit zu tun, dass Jack mich eingestellt hat und du sauer auf ihn bist. Wie auch immer, mir ist es egal, ich kündige.«
»Du kündigst?«
»Ich warte nicht, bis du mich feuerst. Ich weiß, dass du mit dem Gedanken spielst, also bringen wir es einfach hinter uns. In gewisser Weise ist es wirklich schade, denn ich mag Beejay sehr. Jack ist auch ganz prima, aber du und ich« – sie wedelte mit der Hand von sich zu Cissy und zurück –, »wir kommen einfach nicht miteinander klar.«
Cissy fiel dazu nichts ein.
Tanya griff bereits nach ihrem Mantel, der im Eingangsflur am Garderobenständer hing. »Ruf die Erzieherinnenschule an; dort haben sie Mädchen, die auf der Suche nach einem Job sind.« Sie schob die Hände in die Ärmel ihres Regenmantels und stülpte sich die Kapuze über den Kopf. »Vergiss nicht zu erwähnen, dass du einen Hund hast. Der kann durchaus zum Problem werden. Und … wenn ich schon mal dabei bin, Ratschläge zu verteilen, solltest du vielleicht mal einen Psychologen aufsuchen. Ich weiß, du hast eine Menge durchgemacht, aber ich finde, du solltest mit jemandem darüber reden und deinen Frust nicht an mir auslassen.« Damit ging sie zur Tür hinaus und schlug sie hinter sich zu.
Cissy stand mitten im Flur.
Was war gerade passiert?
Das Kindermädchen hatte ihr gekündigt?
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und stieg die Treppe hinauf. Ein entsetzlicher Gedanke schoss ihr in den Kopf.
Wenn Tanya nun lügt? Wenn Jack gar nicht da gewesen war? Wenn Beejay gar nicht bei ihm war? Es war verrückt zu glauben, das Kindermädchen hätte etwas zu verbergen. Warum hätte sie dann auf Cissy warten sollen?
Wer sagt denn, dass sie gewartet hat? Vielleicht hast du sie erwischt, bevor sie aufbrach. Vielleicht ging es in dem hastigen Telefongespräch auf der Terrasse um etwas in dieser Richtung?
Ausgeschlossen. Sie hatte wahrscheinlich nur wegen eines neuen Jobs telefoniert. Mach nicht aus einer Mücke einen Elefanten.
Cissy griff nach dem schnurlosen Telefon und gab rasch Jacks Handynummer ein. Es klingelte einmal. Zweimal. »Los, mach schon, melde dich.« Es klingelte zum dritten Mal. Cissy ging ans Fenster zur Straße und blickte in die schwarze Nacht hinaus. Da draußen war niemand, Tanya war längst fort. Ihr Auto stand nicht mehr auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es klingelte zum vierten Mal. »Jack, komm schon!«, schrie sie beinahe, als sich mit einer Reihe von Klickgeräuschen die Voicemail einschaltete. Nervös tippte sie mit dem Fuß auf und wartete, dass die Computerstimme sie anwies, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen. »Jack, ich bin’s, Cissy. Ist Beejay bei dir? Ich bin zu Hause, und ich hatte einen schrecklichen Tag, und Tanya sagte …«
Scheinwerferlicht leuchtete die Straße hoch. Das Fahrzeug kam näher, fuhr bis zur Zufahrt, dann fiel das Licht auf die Mauer, als Jack einbog. Wie der Blitz rannte Cissy nach draußen. »Ist Beejay bei dir?«, fragte sie, als Jack an der Fahrerseite ausstieg.
»Hat Tanya dir nicht Bescheid gesagt?« Er sah sich um und sagte: »Ach, verdammt, sie ist gegangen! Ich habe ihr gesagt …«
»Nein, nein. Sie hat es mir ausgerichtet … Sie war hier. Es ist meine eigene Schuld, dass ich so ausflippe. Ich hatte einen höllischen Tag!« Sie hatte bereits den Rasen überquert und öffnete die hintere Tür des Jeeps. Ihr Sohn sah sie mit großen Augen an.
»Hi, Mommy!«, sagte er und strampelte aufgeregt mit den Beinchen.
Sie schnallte ihn los, hob ihn aus dem Kindersitz und drückte ihn an sich. Er legte seine kleinen Arme um ihren Nacken.
»Du hast mich vermisst.«
»O ja, Schätzchen, Mommy hat dich schrecklich vermisst.«
»Ganz schrecklich«, wiederholte er. Jack holte zwei weiße Beutel aus dem Jeep, die nach Knoblauch, Tomatensoße und Käse dufteten.
»Vom Italiener«, sagte er, »und eindeutig keine Pizza. Und du hattest einen schlimmen Tag?«
Vor ihrem inneren Auge sah Cissy wieder Marla an der Tür. »Du wirst es nicht glauben«, sagte sie leise, während sie über den Rasen zur immer noch offenen Haustür schritten.
»Versuch’s.«
»Später, wenn Beejay schläft.«
»Können Wein und Scampi Primavera dich aufheitern?« Ihr Magen knurrte. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Jack sah sie an und fragte: »Ciss …?«
»Ja. Wein und Scampi Primavera.« Sie lächelte ihn zittrig an.
»Wir haben außerdem noch schön altmodische Spaghetti und Fleischklöße und Caesar-Salat.«
»Perfekt.«
»Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.«
Er griff nach ihrer Hand, und sie ließ es zu. An diesem Abend brauchte sie seine Kraft. Wenn sie es auch später vielleicht bereuen würde, beschloss sie doch, dass sie gemeinsam Abendbrot essen und ein Glas Wein trinken konnten. Sie würde die Vorhänge zuziehen. Nach einem Blick hinüber zu Saras Haus hätte sie schwören können, dass ihre Nachbarin durch die Jalousien spähte. Als Jack die Tür hinter ihnen schloss, fiel ihr flüchtig die Straßenlaterne auf der anderen Straßenseite ins Auge, und sie fragte sich, ob die Person, die sie kürzlich am Abend gesehen hatte, wohl zurückkommen würde.
Oder war sie nur eine Vorspiegelung ihrer wilden unberechenbaren Phantasie gewesen?
Sie hielt Beejay auf dem Arm, hörte, wie Jack den Riegel vorschob, und sagte sich, dass sie jetzt auf ein paar Stunden ihr Bewusstsein vor all ihren Ängsten verschließen konnte. An diesem Abend wollte sie mit ihrem Mann Chianti trinken, mit ihrem Sohn Spaghetti essen und Stunden später vielleicht Jack anvertrauen, was sie an diesem Tag im Haus ihrer Großmutter erlebt hatte.
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben an dem Schraubenzieher, der im Schloss des Tors zu Eugenia Cahills Haus steckte, Haare gefunden, die Cissy Holt gehören könnten?«
»Ganz recht«, ließ Tallulah Jefferson Paterno vom Labortelefon aus wissen. »Wir haben Haarproben von ihr vom Tatort im Haus der Cahills. Unter dem Mikroskop entsprechen sie in Farbe und Struktur den am Schraubenzieher gefundenen. Allerdings kann ich erst ganz sicher sein, wenn ich den DNA-Test durchgeführt habe, und das dauert. An beiden Proben befanden sich Follikel, deshalb werde ich die Leute vom Labor um Eile bitten, aber es wird trotzdem Wochen dauern.
»Es ist also nur eine auf Sachkenntnis gestützte Vermutung?«, fragte Paterno und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der protestierend ächzte.
»Auf große Sachkenntnis. Auf die einer Promovierten«, erinnerte sie ihn, und er hörte ihrer Stimme an, dass sie lächelte.
»Ja, ja, ich weiß«, sagte er. »Unsere Abteilung kann froh sein, Sie zu haben und so weiter.«
»Unbedingt. Ich muss jetzt aufhören. Ich dachte nur, Sie würden es wissen wollen.«
»Genau.«
Sie legte auf. Er kratzte sich am Kinn und hörte das Schaben seiner Fingernägel an seinem Fünf-Uhr-Bartschatten. Wie waren Cissy Holts Haare an den Schraubenzieher geraten? Warum sollte sie das Schloss außer Betrieb setzen und dann die Polizei rufen?
Um sie an der Nase herumzuführen?
Oder drehte sie durch?
Er war der Meinung, dass sie wirklich kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen konnte … Doch es konnte auch ein Trick sein. Vielleicht, um die Ermittlungen zu sabotieren? Indem sie vorgab, ihre Mutter gesehen zu haben, was gar nicht stimmte?
Wollte sie die Polizei auf eine falsche Spur lenken?
War Marla längst fort, über die Grenze, und Cissy steckte hinter den Morden?
Sein Sodbrennen meldete sich zurück, und er sagte sich, dass er unbedingt bald mal wieder zum Arzt gehen sollte, doch im Moment hatte er zu viel zu tun, um in einem Wartezimmer herumlungern zu können. Er öffnete seine Schreibtischschublade, kramte zwischen Bleistiften, Büroklammern, Kulis und Gummibändern und fand ein Röhrchen Magentabletten. Es war fast leer. Toll. Mit einer Hand schob er sich die letzten zwei Tabletten in den Mund, mit der anderen warf er das leere Röhrchen in den Müll.
Was gewann Cissy Holt, wenn sie die Wahrheit verdrehte?
Einen größeren Anteil am Vermögen der Familie?
Sicherheit für ihre Mutter?
Einen Sündenbock für ihre eigenen Verbrechen?
Er warf einen Blick in die aufgeschlagenen Akten vor ihm. Zwei Leichen. Rory Amhurst und Eugenia Cahill, und nur eine Frau, nämlich Marla Amhurst Cahill, war das Bindeglied zwischen ihnen.
Cissy Holts Mutter.
Paterno entschied, dass es an der Zeit war, Cissys privilegiertes Leben etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
Wer wusste schon, was da zum Vorschein kommen würde?
Cherise legte auf.
Sie war allein in ihrem neuen Haus, stand mitten in der Küche und wusste nicht, was sie tun sollte.
Sie hatte drei Nachrichten auf Donalds Handy und eine in seinem Hotelzimmer hinterlassen, doch er hatte noch nicht zurückgerufen. Zweifellos steckte er tief in den Verhandlungen über die Mission, die die Kirche in einem kleinen mexikanischen Dorf einrichten wollte. Trotzdem hoffte sie auf seinen Anruf, betete, dass er sich meldete. Er war ein so guter, lebenskluger Ehemann, und sie verließ sich mehr auf ihn, als gut für sie war. Ihre Ehe hatte auch schwere Zeiten hinter sich, aber im Grunde erlebte doch wohl jedes Ehepaar nicht nur Gutes, sondern auch Krisen. In letzter Zeit jedoch war das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Mann gut. Oder?
Stell ihn nicht in Frage! Lerne, ihm zu vertrauen.
Vielleicht hatte Gott oder der Reverend selbst aus diesem Grund entschieden, dass sie keinen Antwortanruf erhalten sollte. Damit sie eigene Entscheidungen traf, selbst stark war.
Es passte ihr überhaupt nicht, dass alle Welt sie für schwach hielt, dass ihre vorangegangenen drei Ehen als Beweis für ihre Unfähigkeit gewertet wurden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. So war es nicht. Sie konnte es durchaus. Sie wollte es nur nicht. Sie war gern verheiratet, liebte es, Teil eines Paars zu sein, brauchte das Gefühl, die Hälfte eines massiven Ganzen zu sein. In den wenigen Monaten ihres Singledaseins zwischen zwei Ehen hatte sie sich stets verloren gefühlt. Ohne Boden unter den Füßen. Als müsste sie auf offenem Meer ertrinken.
Doch Reverend Donald hatte sie gerettet, sie hatten geheiratet und diese perfekte Verbindung ins Leben gerufen. Nun ja, beinahe perfekt. Und deshalb wollte sie mit ihm reden, um ihm zu sagen, dass sie absolut sicher war, Marla in einem silberfarbenen Auto in der Nähe des Cahill-Anwesens gesehen zu haben, an dem Cherise häufig vorbeikam. Sie war eine Straße beim Universitätskrankenhaus entlanggefahren, das an das Grundstück angrenzt. Dort hatte sie eindeutig Marla gesehen, die ein bisschen unstet fuhr. Zumindest glaubte sie, dass es Marla gewesen war. Sie hatte nur einen flüchtigen Blick auf sie erhascht, als der silberne Taurus an ihr vorbeischoss, doch die Frau am Steuer, die Marla Amhurst Cahill wie aus dem Gesicht geschnitten war, hatte im Vorbeifahren zu ihr hinübergeschaut. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Blick erkennend in Blick geruht, dann nahm der Taurus eine Kurve und verschwand aus Cherise’ Blickfeld. Cherise war so erschrocken, dass sie beinahe gegen die Bordsteinkante gefahren wäre. Ihr war keine Zeit geblieben, sich das Kennzeichen zu notieren. Eilig hatte sie gewendet, doch als sie die besagte Kurve in der sich schlängelnden Straße erreichte, war der Taurus weit und breit nicht mehr zu sehen gewesen.
Und jetzt überlegte sie, ob sie die Polizei anrufen sollte.
Zuerst jedoch musste sie mit ihrem Mann sprechen und seinen Rat einholen. Wenn er sich doch endlich melden würde!
Sie griff nach dem Zerstäuber auf dem Kaminsims und sprühte die Blätter eines Philodendron ein, der in seinem Kübel zwischen dem Fenster und ihrem Klavier stand. Wenn Donald wollte, dass sie stark war, gut. Wenn Gott der Herr wollte, dass sie eigene Entscheidungen traf, dann würde sie es tun.
Abgesehen von der Begegnung mit Marla hätte Cherise gern auch noch andere Dinge mit ihrem Mann besprochen. Es war einfach so, dass sie wirklich nicht wusste, wie sie mit Cissy verfahren sollte. Das Mädchen war ein Pulverfass, das jederzeit in die Luft gehen konnte. Da musste Cherise behutsam vorgehen, sich bei ihr und dem Jungen einschmeicheln, sie daran erinnern, dass sie alle zu einer immer stärker schrumpfenden Familie gehörten.
Auch dieser Gedanke machte Cherise nervös. Sie stellte den Zerstäuber zurück auf den Sims, rückte die glitzernden Spangen zurecht, die ihr Haar aus dem Gesicht hielten, und musterte sich im Spiegel über dem Kamin. O weh, sie wurde alt. Ihr Gesicht wies erste Falten auf, dunkle Flecken auf der Haut musste sie mit Make-up überdecken, ihre Zähne benötigten mal wieder ein Bleaching, und immer mehr graue Fäden durchzogen ihre blonden Locken. Sie war immer noch dünn, doch ihr Körper wurde langsam schlaff. Voller Unbehagen ging sie zum Barschrank, in dem sie eine Flasche Gin aufbewahrte. Sie nahm nur selten Alkohol zu sich, doch an diesem Abend, tja, musste sie sich ein bisschen Mut antrinken. Sie goss einen ordentlichen Schuss Gin in ein Glas.
»Bitte, Donald, ruf an!«, sagte sie ins leere Haus hinein, ein im südkalifornischen Stil gebautes Eigenheim mit drei Schlafzimmern, rotem Ziegeldach und goldfarben verputzten Wänden. Sie füllte ihr Glas mit einem Schluck Tonic Water auf, ging in die Küche und gab eine Limonenspalte und drei Eiswürfel hinzu. Den Blick nach draußen gerichtet, fragte sie sich, ob sie das Richtige tat. Sie erwog sogar, eines der Kinder anzurufen, entschied sich jedoch dagegen. Seit Weihnachten hatte sie nur einen einzigen Anruf von ihnen erhalten, und da ging es um Geld.
Natürlich.
Undankbare Kinder.
Sie hatte den Verdacht, dass ihre beiden Ältesten sich völlig von Gott losgesagt hatten. Ihr Mann in seiner liebevollen Art war der Meinung, dass sie zurückfinden würden, wenn ihre Zeit gekommen sei. Sollten sie sich selbst entscheiden. Gott würde sie führen. Sie selbst war dahin gehend nicht so sicher. Sie fürchtete vielmehr, dass sie ihr schwer verdientes Geld für Bier und Gras, vielleicht sogar für Ecstasy und Psilos verschwendeten. Lieber Gott, sie wusste doch, auf welch abschüssigen Weg Drogen führten, und die Vorstellung, dass ihre Kinder damit experimentierten, versetzte sie in Todesangst. Und in Wut.
»Tja«, sagte sie und trank vorsichtig einen kleinen Schluck. Hmm. Noch ein Schluck, und der kühle Gin rann angenehm durch ihre Kehle.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und begann, sich zurechtzulegen, was sie sagen, wie sie mit Cissy warm werden würde. Schließlich war das Mädchen kaum mehr als ein Kind, gerade mal Mitte zwanzig. Cherise würde schon mit ihr fertig werden. Noch ein größerer Schluck, schon spürte sie die Wärme in ihrem Blut.
Es war fast so weit.
Sie schloss die Augen.
Sie wartete darauf, dass ihre Muskeln sich lockerten.
Hörte eine Bodendiele knarren.
Sie riss die Augen auf. Niemand war im Haus. Und die Katze konnte ein solches Geräusch wohl kaum verursachen, oder? »Patches?«, rief sie und sah sich nach der mehrfarbigen Katze um. »Komm, Kätzchen, Kätzchen … Ach, um Himmels willen, wo steckst du?«
Sie bog in den Flur ab und spähte in die dunkle Eingangshalle, wo die Katze sich gern unter einem antiken Tischchen versteckte, auf dem die Familienbibel aufbewahrt wurde. »Du ungezogenes Ding … Oh!« Sie blieb wie erstarrt stehen. Panik erfasste sie.
In der Dunkelheit stand eine Frau. Eine Frau, die mit einer Schusswaffe direkt auf Cherise’ Brust zielte.
Cherise ließ ihr Glas fallen. Es schlug auf dem Fliesenboden auf, zerbrach, dass die Scherben flogen, der Gin spritzte, und die Eiswürfel hüpften.
»Kein Wort«, befahl die Frau in zischendem Flüsterton, der Cherise’ Blut gefrieren ließ. »Nicht ein Wort.«
Cherise erstickte einen Schrei.
Was konnte sie tun? Sie bewahrte Pfefferspray in ihrer Handtasche auf, doch das half ihr jetzt nicht. Sie konnte davonlaufen, doch es gab nirgends ein Versteck. Sie konnte …
Die Frau trat aus der Dunkelheit heraus, und im ersten Moment glaubte Cherise, sie wäre verrückt geworden.
»Marla?«, flüsterte sie fassungslos. Sie verlor beinahe die Kontrolle über ihre Blase, als sie den grausamen Gesichtsausdruck ihrer Angreiferin sah. Bis auf die flüchtige Begegnung früher am Tag hatte Cherise die Frau ihres Cousins seit zehn Jahren nicht gesehen, aber diese Frau … Herrgott, sie sah Marla so ähnlich. »Bitte nicht. Hab Erbarmen … Wir sind verwandt … Bitte … O Gott … Nein!«
»Mhm. Du hast mich wohl nicht verstanden«, sagte Marla. Sie verzog die Lippen zu einem hässlichen Grinsen.
Bevor Cherise noch ein Wort hervorbringen konnte, feuerte die Frau aus nächster Nähe. Cherise fiel nach hinten; sie taumelte gegen einen kleinen Tisch.
»Ssss!« Die Katze, die sich hinter einer Kübelpflanze versteckt hatte, fauchte laut, machte einen Buckel und huschte in die Küche.
Cherise stürzte zu Boden. Ihr Kopf schlug heftig auf den mexikanischen Fliesen auf.
Schmerz explodierte hinter ihren Augen.
Etwas unangenehm Heißes breitete sich in ihrem Unterleib aus.
Ihre Angreiferin trat an sie heran und richtete die Waffe auf sie. »Du elende, geldgierige Hexe. Hoffentlich fährst du jetzt zur Hölle.«
Marla? Warum? Nein … nein … nicht Marla …
Während es um sie herum dunkler wurde, sah Cherise, wie die Mörderin im Eingangsflur etwas Weiches, Schwebendes zu Boden gleiten ließ, bevor sie aus der offenen Haustür schlüpfte.
Warum?, fragte sie sich sinnloserweise, wohl wissend, dass sie es nicht mehr rechtzeitig zum Telefon oder sonst wohin schaffte. Sie spürte, wie sie verblutete.
Ich sterbe … O Gott, Donald, ich sterbe … Du sollst wissen, dass ich dich liebe … Ich … liebe … Dunkelheit schlug über ihr zusammen. Sie war gnädig, und Cherise gab sich ihr hin.
Bitte, lieber Gott, nimm meine Seele zu dir.