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Das Letzte, was Cissy im Moment brauchte, aber wirklich das Allerletzte, war eine Konfrontation mit ihrem Ex-Mann in spe. Widerwillig ließ sie das Fenster herunter. Mit einem Schwall regenfrischer Luft nahm sie einen Hauch von seinem Aftershave wahr, der eine Menge unerwünschter Erinnerungen weckte. So aufgewühlt sie auch war, bemerkte sie doch den leichten Bartschatten auf seinem ausgeprägten Kiefer und die laserartige Intensität seiner blauen Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Blöde Frage. »Sehe ich so aus?« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, das Weinen zu unterdrücken. »Nein, nichts ist in Ordnung. Überhaupt nichts.« Sie wollte nicht zusammenbrechen, nicht in seiner Gegenwart. »Gran ist … sie ist … Jack, sie ist tot.« Ihre Stimme brach beim letzten Wort, und sie hätte sich dafür treten mögen.
»Ciss«, sagte er leise, und das ging ihr so nahe, dass sie sich abwenden musste.
»Daddy!« Beejays Ärmchen fuhren in die Höhe, als könnte er so seinen Vater zwingen, durchs Fenster zu greifen und ihn auf den Arm zu nehmen. Marinarasoße verschmierte sein Gesicht, die Konsole und den Sitz.
»Wie geht’s dir, Großer?«, fragte Jack, und Beejay fuchtelte wild mit den Armen. Jack ging rasch um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür, löste ungeachtet der Fett- und Marinaraspuren an seinem Sohn den Sicherheitsgurt und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. »Wie siehst du denn aus?«, fragte er, den Jungen auf dem Schoß, und Beejay, der Verräter, lachte und zeigte seine dreizehn Zähne.
»Daddy!«, sagte Beejay wieder und strahlte vor Freude. Cissys Kopf drohte zu explodieren.
»Tut mir leid wegen Eugenia.« Jack berührte ihre Schulter, und sie verkrampfte sich.
Er wirkte aufrichtig, aber er hatte schon immer gern die Rolle des aufmerksamen Freundes, romantischen Verlobten oder liebevollen Gatten gespielt, wenn ihm danach war.
Sie nahm ihm das Theater nicht ab. Sie kannte ihn zu gut und wusste, wie erbärmlich leicht er sie einwickeln konnte. Doch selbst jetzt, in ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen, empfand sie diese lächerliche Mann-Frau-Anziehung, die immer Teil ihrer Beziehung gewesen war. Zum Teufel mit seinem offenen Kragen, dem dichten, wirren Haar, den Grübchen, die auftauchten, wenn er lächelte. Das Problem war, dass Jack Holt besser aussah, als gut für ihn war. Als gut für sie war. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich nie mit ihm hätte einlassen dürfen. Als sie ihn auf der Benefiz-Party für Cahill House, einem Heim für ledige Mütter, das ihre Familie vor Jahren gegründet hatte, zum ersten Mal sah, hatte er sie fasziniert. Und damit war sie dem Untergang geweiht gewesen. Sie hatte gespürt, dass er der einzige annähernd respektlose Mensch in dem ganzen verdammten Ballsaal war, der einzige Mensch außer ihr selbst, der diese spießige Angelegenheit auch sterbenslangweilig fand.
Auch nachdem Jacks Vater sie miteinander bekannt gemacht hatte, war Cissy Jack noch aus dem Weg gegangen. Sie diente auf dem Fest nur ihre Zeit ab. Er jedoch erkannte bald, dass sie nicht allzu begeistert war, und versuchte immer wieder, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Zuerst blieb sie kühl, musste dann aber schließlich doch über seinen trockenen, selbstironischen Humor lachen. Am Ende hatte sie sogar mit ihm geflirtet, worauf er natürlich gern einging. Sie waren von der verdammten Party geflüchtet und hatten eine Affäre begonnen, die ein kurzes Techtelmechtel hätte sein sollen, dann jedoch ein paar Monate später in einer Blitzheirat in Las Vegas mit dem Versprechen ewiger Liebe endete.
Welch ein Witz!
Ein Fehler von immensen Ausmaßen.
Abgesehen von Beejay.
Ihr Sohn war das Einzige an ihrer unglückseligen Ehe, das die seelische Qual wert war. Wenn Jack auch ein lausiger Ehemann war, so schien er sein Kind doch über alles zu lieben. Diese Liebe war offensichtlich gegenseitig, und das Einzige, was ihr an der Trennung und der bevorstehenden Scheidung missfiel, war die Tatsache, dass Beejay nicht mit seinem Vater unter einem Dach aufwachsen würde.
»Was ist passiert?«, fragte Jack mit gerunzelten Brauen. Sein blondes Haar war dunkel vom Regen.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Ich glaube, Gran ist die Treppe hinuntergestürzt. Vielleicht ist sie gestolpert, oder sie hatte eine Herzattacke. Merkwürdig ist nur, dass sie sonst immer den Lift nahm. Ich habe sie nie auf der Treppe gesehen. Die zog sie überhaupt nicht in Betracht. Also wie …?« Mit einem Seufzer lehnte sie sich in den Sitz zurück und kämpfte gegen die übermächtigen Schuldgefühle.
»Ich hatte mich verspätet. Die Heizung hat den ganzen Tag verrücktgespielt, und ich bekam keinen Handwerker, weil ja Wochenende ist. Und dann war Beejay, ganz anders als jetzt, plötzlich unglaublich quengelig. Nichts konnte ihn zufriedenstellen. Nichts … na ja, dir gelingt es jetzt ja augenscheinlich.«
Jack grinste sie an.
»Also wartete ich auf den Pizzaservice, fuhr dann etwa eine Stunde später als gewöhnlich los, und … und …« Vor ihrem inneren Auge sah sie den zierlichen, zerschundenen Körper ihrer Großmutter auf dem Fliesenboden liegen, den Kopf mit dem kurzen Haar in einer Blutlache. Cissy wurde flau im Magen. »Und als ich hier ankam, fand ich sie im Foyer auf dem Boden. Ich wusste gleich, dass sie tot war, rief aber trotzdem den Notarzt und …« Sie biss die Zähne zusammen. »Ich glaube, wenn ich früher hier gewesen wäre, zur vereinbarten Zeit … Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht würde sie noch leben.«
»So darfst du nicht denken, Ciss. Es ist nicht deine Schuld. Und das weißt du auch.«
Sie nickte knapp, wehrte sich gegen den Ansturm von Emotionen.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal, und als er jetzt über ihren Nacken strich, zuckte sie nicht zurück.
Wenigstens für ein paar Minuten hätte sie gern die Augen geschlossen, den Schmerz verdrängt und sich von jemandem, und sei es Jack, trösten lassen. Nur, bis sie sich wieder zusammenreißen konnte.
»Darf ich dich heimfahren?«
»Die Zufahrt ist blockiert.« Sie blinzelte ein paar Mal in rascher Folge, wischte mit dem Finger die Tränen unter ihren Augen fort und warf einen Blick aus der beschlagenen Heckscheibe. Der Lieferwagen der Spurensicherung, Paternos Fahrzeug, die Feuerwehr und mehrere Streifenwagen mit rotierendem Licht standen hinter ihr und versperrten nach wie vor die Zufahrt und die Straße. Noch mehr Menschen hatten sich am Tor eingefunden – sie erkannte zwei Nachbarn, einen Jogger und jemanden, der mit seinem Hund Gassi ging –, sie standen alle wie vorhin unter den ausladenden kahlen Ästen der alten Eiche jenseits der Straße. Ihre Gesichter wirkten geisterhaft im wässrig blauen Licht der flackernden Straßenlaterne, über die ihre Großmutter sich stets beschwert hatte.
»Mein Wagen steht weiter hinten«, sagte Jack. Er lächelte sie in der Dunkelheit schwach an. »Wir können fliehen.«
Wie Marla, dachte sie, sprach es aber nicht aus.
»Ich glaube, Paterno will noch einmal mit mir sprechen.«
»Der Typ von der Mordkommission? Der deine Mom eingebuchtet hat?«
»Genau der.«
Jack kniff die Augen zusammen. Die Fenster des Wagens beschlugen immer mehr. »Aber ich dachte, er hätte die Stadt verlassen. Was zum Teufel tut er hier? Was hat er mit dieser Sache zu tun?«
»Ich weiß es nicht.« Die Kopfschmerzen, gegen die Cissy schon den ganzen Tag ankämpfte, nahmen zu, pochten nun in ihrem Hinterkopf. Neuerdings hatte Jacks Nähe diese Wirkung auf sie.
»Aber das Morddezernat? Mord? Himmel, was ist hier los?« Sein Kinn wirkte kantig.
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht.« Sie hob eine Schulter, bemerkte, dass er sie immer noch berührte, und richtete den Blick vielsagend auf seine Hand.
Jack verstand den Wink, zog die Hand zurück und nahm Beejay auf den Arm, der noch immer vergnügt an seinem zerquetschten Stück Pizza mümmelte. Auf dem Schoß seines Vaters war das Kind zum ersten Mal an diesem Tag glücklich, wirklich glücklich. Toll. Cissy wollte nicht an die Zukunft denken.
»Ich schaffe dich hier raus.«
»Ich kann allein auf mich achtgeben.«
Er bat sie mit einem Blick, doch vernünftig zu sein, und ihr wurde bewusst, dass sie wahrscheinlich völlig verstört aussah, mit verlaufener Wimperntusche unter den Augen, regennassem Haar und Kummerfalten im Gesicht.
»Es dauert nur einen Moment.« Er schickte sich an, aus dem Wagen zu steigen.
»Augenblick noch«, sagte sie, widerstand jedoch dem Drang, nach seinem Arm zu greifen. »Wie bist du so rasch hierhergekommen?«
»Ich habe dich gesucht. Ich habe mehrmals angerufen, aber du hast dich nicht gemeldet. Ich weiß, dass du sonntagabends immer hier bist, und wollte dich überraschen.« Zum ersten Mal seit seinem Auftauchen lag eine gewisse Schärfe in seinen Worten, die mehr waren als nur lässige Konversation.
»Was war denn so immens wichtig, dass du mich beim Abendessen mit Gran stören wolltest?«
»Nicht stören«, korrigierte er. »Ich wollte euch Gesellschaft leisten.«
»Gesellschaft leisten?« Sie bedachte ihn mit einem kalten Blick.
Er biss die Zähne noch ein wenig fester zusammen, und sein eindringlicher Blick schien sich in den ihren zu bohren. »Weil ich heute Bescheid bekommen habe.«
Ihr Magen verkrampfte sich. Natürlich. »Die Scheidungsunterlagen.«
»Ja. Die Scheidungsunterlagen«, sagte er reichlich bitter. Er strich sich das feuchte Haar aus den Augen, und in seiner Wange zuckte ein Muskel, wie immer, wenn er wütend war.
Sie verzog das Gesicht. »Und du hast gedacht, es wäre eine gute Idee, in Eugenias Gegenwart darüber zu sprechen?«
»Ich denke, dass die Sache insgesamt keine gute Idee ist«, sagte er und legte die Hand wieder auf den Türgriff. »Ich rede jetzt mit Paterno und versuche, dich von hier wegzubringen.«
»Jack, mach keine Dummheiten.«
»Zu spät«, knurrte er, stieg aus, knallte die Wagentür zu und lief den Weg zur Haustür hinauf. Sie sah ihm durch die Windschutzscheibe nach. Er sollte sich lieber nicht einmischen. Sie hätte es nicht zulassen dürfen, und sie sollte auch keinesfalls registrieren, wie sich sein wohlgeformter Hintern beim Laufen auf seiner Khakihose abzeichnete. Verdammt noch mal, sie hatte ihn schon immer attraktiv gefunden, selbst jetzt, während ihre Großmutter tot im Foyer lag. Sie schniefte laut und gestand ihrem Sohn: »Deine Mom ist völlig durchgeknallt.« Sie tippte ihn auf die Nase. »Verrat’s niemandem, okay? Das ist unser kleines Geheimnis.«
»Geheimnis.« Er nickte und blickte aus dem Fenster. »Wo ist Daddy hin?«
»Er muss etwas erledigen, kommt aber gleich zurück.«
»Kommt gleich zurück.«
»Mhm.« Sie sah ihr Gesicht flüchtig im Rückspiegel und zog eine Grimasse. Die Frau, die ihr aus dem Glas entgegenstarrte, war völlig verunstaltet. Stufiges Haar mit eingefärbten Strähnchen klebte nass an ihrem Kopf, ihre Augen waren gerötet, ihre Nase geschwollen, die Wimperntusche verlaufen und das Make-up verwischt. Lipgloss war nicht mehr erkennbar, die Haut war fleckig vom Weinen, hinzu kamen noch ein, zwei Pickel. Mist. Sie sah zum Fürchten aus.
Und Gran ist tot.
Sie spürte einen Kloß im Hals.
Sie wollte nur noch nach Hause. Und zwar nicht mit Paterno und seinen verdammten Fragen und misstrauischen Augen, auch nicht mit Jack, der die Fähigkeit hatte, sich wieder tief in ihr Herz zu mogeln. »Hilf mir«, flüsterte sie, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte, sich nicht darüber zu ärgern, dass Jack, wie es seine Art war, glaubte, dass er das Recht dazu hätte, mit der Polizei zu sprechen, als wäre er noch ein Familienmitglied. Konnte er nicht einfach verschwinden? Sie hatte an diesem Abend schon einen schweren Schock erlitten und musste sich mit dem Gedanken abfinden, dass ihre Großmutter tot war.
Tot!
Ihre Augen begannen erneut zu brennen.
Was wollte Jack denn hier, warum führte er sich auf wie ein Ritter in strahlender Rüstung, tauchte hier auf, als läge ihm ihre Familie auch nur im Entferntesten am Herzen? Welch ein Witz! Nichts hätte sie lieber getan, als einen kurzen Moment lang zu glauben, dass Jack sie tatsächlich liebte und ihr Kraft geben würde. Das war natürlich eine unsinnige und in höchstem Maße alberne Vorstellung.
Jack Holt mochte ja vieles sein, aber niemals eine starke Schulter zum Anlehnen. Sie wollte den Fehler nicht wiederholen, es nicht riskieren, sich noch einmal auf ihn zu verlassen. Cissy schniefte laut, sah dann aber, dass Beejay sie betrachtete und daraufhin sein Gesichtchen zum Weinen verzog. Sie unterdrückte die Tränen. »Hey, kleiner Mann, willst du das etwa noch essen?«, fragte sie, öffnete seine Finger und nahm ihm das zerquetschte Pizzastück aus der Hand. Er schüttelte den Kopf, und sie wischte die Käse- und Soßenreste von seinen dicken Fingerchen. »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich will weg hier.«
»Nach Hause!«, verlangte Beejay, während sie versuchte, ihm die Soße vom Gesicht zu entfernen, wodurch sich die Gegend um seinen Mund rötlich verfärbte.
»Na klar, Großer. So bald wie möglich.« Sie ließ den Motor an und drehte die Heizung auf. »So bald wie möglich.«
»Der Ehemann. Auf zwei Uhr«, warnte Quinn, nahezu ohne die Lippen zu bewegen. Sie und Paterno hielten sich noch im Foyer des massiven alten Hauses auf, hockten beide neben Eugenias Leiche. Quinn jedoch hatte kurz den Kopf gehoben und zur offenen Haustür hingesehen.
Paterno erkannte Jack Holt ebenfalls, den Herausgeber und Besitzer von City Wise, einem Käseblatt über San Francisco, der jetzt auf ihn zukam.
Das fehlte noch. »Was will der denn hier?«
»Wer weiß? Vermutlich hat ihn die Frau hergerufen.«
»Ich fange ihn ab.« Mit einem leisen Knacken im Knie richtete Paterno sich auf und ging zur Tür, um Holt den Eintritt zu verwehren. »Tut mir leid, es handelt sich hier womöglich um einen Tatort.«
»Verstehe. Ich bin Jack Holt, Cissy Cahills Ehemann.«
»Detective Paterno.« Sie waren einander nie begegnet, doch Paterno hatte Holts Foto oft genug gesehen, entweder lächelnd auf den Hochglanzseiten seiner Zeitschrift oder in den Lokalzeitungen, die sein verwegenes Konterfei in jedem Bericht über irgendeine Benefizveranstaltung brachten.
Jack Holt, circa fünfunddreißig, war eindeutig stadtbekannt, gehörte zu denen, die sehen und gesehen werden wollen. Ob im Smoking oder in lässiger Golfmontur, für Paternos Geschmack war der Kerl zu glatt. Jetzt allerdings schien er nur ein besorgtes Familienmitglied zu sein, das im Regen stand, Entschlossenheit und Trauer in den scharfen Zügen.
Holt holte tief Luft. Er blickte an Paterno vorbei und sah vermutlich flüchtig die tote Frau. Ein schmerzlicher Zug huschte über sein Gesicht.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Paterno.
Holt nahm den Detective wieder ins Visier. »Ich möchte meine Frau und mein Kind nach Hause bringen. Mein Wagen steht an der Straße, ist nicht zugeparkt wie ihrer. Ich kann sie später wieder herfahren, vielleicht morgen, damit sie den Acura abholt, wenn Sie hier fertig sind.«
Dagegen war nichts einzuwenden. »Das dürfte kein Problem sein, aber ich muss ihr vielleicht trotzdem noch ein paar Fragen stellen.«
Holt presste die Lippen zusammen. »Ich verstehe nicht, was Sie noch von ihr wollen. Cissy ist mit unserem Sohn zu einem allwöchentlichen Abendessen mit ihrer Großmutter hergekommen.« Holt spähte an Paterno vorbei auf die geschundene Leiche am Boden und verzog leicht das Gesicht, und Paterno fragte sich, ob der Mann vielleicht doch mehr zu bieten hatte, als er zuerst gedacht hatte. »Cissy hatte sich verspätet und fand Eugenia am Fuß der Treppe. Dann hat sie die Polizei und den Notarzt alarmiert. Das ist alles.«
Der Ton des jüngeren Mannes gefiel Paterno überhaupt nicht. Seine Geduld war schon jetzt arg strapaziert. »Ich stelle nur ein paar Fragen. Versuche, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich bin sicher, Ihre Frau versteht, dass wir wissen wollen, was Mrs. Cahill zugestoßen ist. Und um das zu klären, werde ich wahrscheinlich noch einmal mit Ihnen und Ihrer Frau sprechen müssen.« Er trat hinaus auf die Veranda. »Sagen Sie mir zum Beispiel doch gleich, wo Sie heute Abend waren. Sie waren verflixt schnell zur Stelle.«
»Weil ich bereits auf dem Weg hierher war. Um Cissy zu sehen …« Jeder Muskel in Holts Körper spannte sich an. »Moment mal«, sagte er und kniff die Augen zusammen, während es hinter seiner Stirn arbeitete. Die Temperatur auf der Veranda schien noch einmal um fünf Grad zu sinken, der Regen gurgelte in der Dachrinne und rauschte durchs Fallrohr. »Eugenia ist gestürzt. Sie ist gestolpert, hat das Gleichgewicht verloren und ist die Treppe hinuntergestürzt.« Er warf noch einen Blick ins Hausinnere und schätzte anscheinend wortlos die Entfernung zwischen der Leiche der alten Dame und der Treppe ab. »Sie glauben doch nicht, dass jemand nachgeholfen hat?« Während er diese Frage aussprach, bedachte er Paterno mit einem durchdringenden Blick.
»Genau das wollen wir herausfinden.«
»Sie arbeiten im Morddezernat«, bemerkte Holt tonlos.
»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Wie gesagt, die Ermittlungen laufen noch.« Paterno wollte im Moment nichts preisgeben. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als wäre die alte Frau gestolpert und die geschwungene Treppe hinuntergestürzt, wobei sie sich das Genick gebrochen hatte, aber wer wusste das heutzutage schon so genau? Eugenia Cahill war eine reiche Frau. Die Cahills hatten einige finanzielle Höhen und Tiefen durchlebt, doch es war kein Geheimnis, dass ihr Vermögen solide war und sich augenblicklich rasend schnell vermehrte. Doch die Familie hatte zu ihrem Leidwesen auch ihre verrückten Mitglieder. Zum Beispiel Marla Amhurst Cahill. Es erschien als zu großer Zufall, dass Eugenia keine zweiundsiebzig Stunden nach dem Gefängnisausbruch ihrer mordlustigen Schwiegertochter Marla tot am Fuß der Treppe gefunden wurde.
Paterno legte seine Stirn in Falten. Der Gedanke daran, dass Eugenias Schwiegertochter tatsächlich ausgebrochen war, lag ihm schwer im Magen. Er hatte sich vor Jahren mehr als ein Bein ausgerissen, um Marla einzubuchten, und nun war sie erst kürzlich, aufgrund von Überbelegung und ihrer vorbildlichen Führung als Strafgefangene, in eine Anstalt mit geringeren Sicherheitsvorkehrungen überführt worden.
Welch ein Fehler! Es würde ihn nicht verwundern, wenn ein gewisser Teil des Cahill-Vermögens als Schmiermittel zur Ausführung dieses kleinen Manövers verwendet worden wäre. Innerhalb von zwei Jahren nach ihrem Transfer hatte Marla es geschafft, aus diesem als Sicherheitsverwahrung getarnten Country Club auszubrechen. Paterno war nicht sonderlich überrascht gewesen, doch es ärgerte ihn maßlos. Trotz all seiner Jahre als Gesetzeshüter würde es Paterno äußerst schwerfallen, noch einmal eine so berechnende, mordlustige Hexe wie Marla Cahill aufzuspüren. Seiner Meinung nach hätte sie für den Rest ihres Lebens im Hochsicherheitstrakt eingesperrt bleiben müssen.
Doch jetzt befand sie sich wieder auf freiem Fuß.
Und ihre Schwiegermutter, die Hüterin des Familienvermögens, war eines schnellen, verfrühten Todes gestorben. Zufall?
Ausgeschlossen, verdammt noch mal.
Paterno gab nun mal nicht viel auf Zufälle.
Schon gar nicht im Zusammenhang mit den Cahills.
Allerdings wollte er sich im Augenblick weder mit Jack Holt noch mit sonst jemandem beschäftigen. Nicht, bevor er nicht ein bisschen mehr Beweismaterial gesammelt hatte. Außerdem war Holt von der Presse, und momentan wünschte Paterno sämtliche Reporter weit fort von diesem Tatort. »Bringen Sie Ihre Frau nach Hause«, gab er Jack sein Einverständnis. »Falls ich noch etwas brauche, rufe ich an. Und hier …« Er griff nach seiner Brieftasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie Holt. »Falls sie mich kontaktieren will, erreicht sie mich unter einer dieser Nummern, einschließlich meiner Handynummer.«
»Okay.« Holts Miene war immer noch finster. »Falls es hier um Mord geht, wollen wir das wissen. Unverzüglich.«
»Klar.«
Holt drehte sich um und lief durch den Regen. Seine Schuhsohlen klatschten auf den nassen Beton. Er umrundete eine Kamelie, streifte mit der Schulter eine fast verwelkte Blüte, und ein paar rote Blütenblätter schwebten zu Boden.
Paterno sah ihm nach und fragte sich unwillkürlich, ob Holt Cissy Cahill aus Liebe oder aus Geldgier geheiratet hatte. Das war das Problem, wenn man Millionen in Aktien, Immobilien oder bei der Bank angelegt hatte: Immer war irgendjemand hinter einem Stück vom Kuchen her. Man konnte nie sicher sein, ob man jemandem etwas bedeutete, weil man ihn faszinierte und er einen wirklich liebte, oder ob die Attraktivität nur in der Anzahl von Nullen auf dem Kontoauszug bestand.
Geldgier hatte schon ein paar andere Menschen im Umfeld der Cahills das Leben gekostet.
Er nahm sich vor, auch Holt zu überprüfen. Telefonregister, sagte er sich, konnten sehr aufschlussreich sein. Ebenso Quittungen von Kreditkarten und der Kontostand. Falls die alte Dame wirklich ermordet worden war. Er blickte durch die offene Tür auf die Leiche der zierlichen Frau, die in mancher Hinsicht wirkte wie ein aus dem Nest gefallenes Küken. Zu ihren Lebzeiten hatte man Eugenia Cahill nicht unterschätzen dürfen. Hochintelligent und eindeutig die Matriarchin, hatte sie die Familie mit eiserner Faust und unfassbarer Willenskraft befehligt.
War sie unglücklich gestürzt?
Oder handelte es sich um Mord?
Angesichts der Tatsache, dass Marla Cahill auf freiem Fuß war, setzte er auf Letzteres.
Cissy entdeckte Jack, der auf ihren Wagen zueilte, und kurbelte das Fenster herunter. »Was ist los? Können wir fahren?«
»Die Ermittlungen laufen noch. Sie sind nicht sicher, was deiner Großmutter zugestoßen ist, und sie sind vorsichtig, nur für den Fall, dass es kein Unfall war.«
»Kein Unfall?«, wiederholte sie, und ihre schlimmsten Befürchtungen gewannen wieder die Oberhand.
»Noch steht überhaupt nichts fest«, sagte er. Er stand im Regen, die Schultern seines Hemds waren durchnässt, es tropfte aus seinem Haar, und die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Cissy sah ihn an. Mord? »Ausgeschlossen … niemand würde Gran umbringen wollen«, widersprach sie, doch hatte sie nicht tief im Inneren auch schon in Erwägung gezogen, dass Eugenia vielleicht nicht einfach nur gestürzt war? Die Flucht ihrer Mutter. Die Beschattung durch die Polizei. Detectives von der Mordkommission im Haus. Das alles sprach für die schlichte Tatsache, dass irgendwer hinter dem Tod ihrer Großmutter stecken musste. Sie zitterte innerlich, Widerspruch auf den Lippen, den sie jedoch nicht aussprach.
»Paterno hat mir grünes Licht gegeben. Ich kann dich nach Hause fahren.«
Cissy wollte nicht mit Jack fahren, doch sie musste fort von hier, fort von dem unheimlichen alten Haus, in dessen Foyer die Leiche lag, dessen Zimmer sämtlich dunkle Geheimnisse verbargen. Jetzt waren die Fenster aller Stockwerke hell erleuchtet, als wäre eine Riesenparty im Gange, während stattdessen Polizisten, Fotografen, Kriminalisten und Gott weiß wer sonst noch durch die Zimmer schwärmten, in denen sie einen so großen Teil ihres Lebens zugebracht hatte.
»Komm schon, ich werde ja pitschnass. Fahren wir.«
Ein Lieferwagen von der Gerichtsmedizin fuhr langsam bis zum Ende der Zufahrt vor und fand einen Parkplatz zwischen den anderen, willkürlich auf der regennassen Straße verstreut abgestellten Fahrzeugen. Eine Reporterin, die ihr Mikrofon schwang wie eine Waffe, sprang aus einem Ü-Wagen und rannte, kaum dass der Fahrer des Lieferwagens einen Fuß aufs Pflaster gesetzt hatte, auf ihn zu.
Voller Entsetzen sah Cissy, wie jemand, vermutlich der Assistent des Leichenbeschauers, rasch ein kleines Interview gab.
»Stell dich schon mal auf ›Kein Kommentar‹ ein«, riet Jack ihr, und sie dachte daran, dass auch er einmal bei einer Zeitung gearbeitet hatte und nicht nur kurz nach dem Collegeabschluss in Los Angeles, sondern auch in der Gegend von San Francisco den heißesten Storys nachgejagt war. Jetzt hatte er bereits die Beifahrertür geöffnet und löste den Sicherheitsgurt seines Sohnes. »Komm, Großer, wir fahren nach Hause.«
Beejay, der Verräter, fuchtelte mit den Händchen und lächelte seinen Vater unschuldig an, der, wie es aussah, zufällig der liebste Mensch auf der Welt für ihn war.
Zwar war Cissy nicht eben versessen auf ein längeres Zusammensein mit Jack, doch sie hatte wohl keine Wahl. Und, so unwahrscheinlich es klingen mochte, Jacks Gesellschaft war entschieden weniger belastend als die des Detectives. Sie belud sich mit Handtasche, Wickeltasche und dem unansehnlichen Pizzakarton. Gemeinsam suchten sie sich ihren Weg durch die Barrikade aus Notfallwagen und Polizeifahrzeugen. Kaum waren sie auf der Straße angelangt, als auch schon die Reporterin, die den Assistenten des Leichenbeschauers belagert hatte, auf sie zustürzte.
»Miss Cahill!« Cissy hörte die Reporterin ihren Namen rufen, ignorierte sie aber. »Können Sie uns sagen, was los ist? Wer ist tot? War es Mord?« Die Frau holte kaum Luft, und Cissy drängte sich dicht hinter Jack und Beejay weiter, ohne in das blendende Licht des Strahlers zu schauen, den einer der Mitarbeiter des Senders hochhielt, und ohne die Kamera zu beachten, die, wie sie wusste, jede ihrer Bewegungen aufzeichnete. »Hat Ihre Mutter, Marla Cahill, mit dieser Sache zu tun?«
Cissy kochte vor Wut und musste sich auf die Zunge beißen, um nichts zu sagen, während sie ungeduldig darauf wartete, dass Jack endlich seinen Jeep aufschloss.
»Haben Sie nach dem Ausbruch schon etwas von Marla Cahill gehört?«
Das Türschloss des Jeeps klickte. Cissy öffnete die Beifahrertür und brachte dadurch beinahe den Kameramann zu Fall.
»Weg da!«, schrie Jack über das Verdeck seines Wagens hinweg. »Kein Kommentar!«
Cissy schlug die Tür zu, während die Kamera noch surrte, und schnallte sich mit zitternden Fingern an. Auf diesem Platz hatte sie schon hundertmal gesessen, und trotzdem war es ihr unangenehm, hier zu sitzen, stur geradeaus zu schauen, beim Versuch, nicht den Blicken von Nachbarn und Gaffern zu begegnen, die sich auf der Straße angesammelt hatten. Alles war so eigenartig. Nicht nur wegen des grotesken Medienrummels: Überall standen Polizeifahrzeuge, Funkgeräte krächzten. Und nicht nur, weil ihre Großmutter tot in dem großen alten Haus lag. Auch ihre Beziehung zu Jack war eigenartig.
Sie seufzte. Seit ihrer Trennung fand eine gewisse Aufteilung in »dein« und »mein« statt. Während es vorher ganz natürlich war, alles zu teilen, und sie niemals das geringste Problem damit gehabt hatte, sein Auto zu fahren, seinen Laptop zu benutzen, seine Zahnbürste »auszuleihen« oder eines von seinen Hemden als Nachthemd zu tragen, galten jetzt andere Regeln. Der gemeinsame Kontakt zu ihrem Kind, die Aufteilung der Besitztümer, die Wochentage, an denen sie Beejay sehen durften, alles war jetzt in Juristendeutsch niedergeschrieben und wurde mit Misstrauen beobachtet.
Jack schnallte Beejay im Kindersitz fest und schlug die Tür zu. Dann lief er ums Auto herum und setzte sich hinters Steuer. »Die Presse«, sagte er mit gespielter Empörung und schob den Schlüssel ins Zündschloss. »Ein Haufen Geier.« Er lächelte sie voller Selbstironie an, denn sie wussten beide, dass er als freier Mitarbeiter für ein Lokalblättchen und dann als ausgebildeter Reporter gearbeitet hatte, bevor er auf die Idee kam, City Wise zu erwerben, sein jüngstes Unternehmen, und auch die Zeitschrift, für die Cissy Beiträge schrieb.
Sie kannte sich viel zu gut aus mit Storys, Schlagzeilen und Standpunkten, und all das passte ihr nicht, wenn plötzlich ihre Familie im Mittelpunkt journalistischer Leidenschaft stand.
Jack löste die Lenkradsperre und die Handbremse des Jeeps und fuhr los. Der Geländewagen schoss den steilen Abhang mit seinen schmalen, kurvenreichen Straßen hinunter, und Cissy, der nicht bewusst war, dass sie den Atem angehalten hatte, stieß einen langen Seufzer aus. »Gott sei Dank«, flüsterte sie.
»Ja, ein Glück, dass wir da rausgekommen sind.«
Das war sogar noch stark untertrieben. Sie massierte sich die Schläfen und wagte einen Blick in Jacks Richtung. Mit kantigem Kinn, die Hände so fest ums Lenkrad gekrampft, dass seine Fingerknöchel beinahe weiß waren, völlig aufs Fahren konzentriert, schien er nicht zu bemerken, dass sie sein Profil betrachtete, während die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge bläuliches Licht ins Innere des Jeeps schickten und ihr kurze, beinahe stroboskopartige Blicke auf seine scharfen Züge gewährten. Tiefliegende Augen, hohe Wangenknochen, ein markiges Kinn und dichtes Haar, das im Sommer blonde Lichter bekam. Fehlten nur noch Stetson und Westernstiefel, und er hätte Hollywoods Inbegriff des modernen Cowboys sein können. Er hatte etwas an sich, das von Rebellion und Unabhängigkeit kündete, Eigenschaften, die sie an einem Mann reizten … und die sie jetzt als Ehefrau abstießen. Hatte er sich verändert? Oder hatte sie sich verändert?
Natürlich war es dumm von ihr gewesen, sich so schnell und so heftig in ihn zu verlieben. Er war kein Mann zum Heiraten. Sie hatte es gewusst. Alle Warnzeichen waren da gewesen, direkt vor ihren Augen, und sie hatte jedes einzelne ignoriert. Sie hatte gespürt, dass er ein eingefleischter Junggeselle war, ein Mann, der seine Freiheit wollte, ein Workaholic, der den Großteil seiner Zeit mit seiner Arbeit zubrachte und alles daransetzte, den Erfolg und die Beliebtheit seiner Zeitschrift voranzutreiben. Er hatte mit dem Internet gearbeitet statt dagegen, als es die Auflagen bedrohte, und war stets den Entwicklungen einen Schritt voraus gewesen.
Man bezeichnete ihn als skrupellosen Verleger, rabiat und halsabschneiderisch in seinem Verhalten gegenüber Konkurrenten, schlauer als die meisten.
Und ihr hatte das alles sehr gefallen.
Bis er die Grenze übertrat.
Jetzt saß er am Lenkrad und steuerte den Jeep bergab in den Finanzdistrikt. Als sie auf die Stanyan Street einbogen, wehte ihr wieder der vertraute Duft seines Aftershaves in die Nase, und sie rief sich stumm zur Ordnung, weil sie sich nur allzu gut daran erinnerte, wie dieser Duft und dieser Mann sie erregt hatten. Schon am selben Abend, als sie ihn kennenlernte.
Cissy – noch auf dem College und beschäftigt mit der Frage, was zum Teufel sie aus ihrem Leben machen sollte – nahm auf Betreiben ihrer Großmutter an der Benefizveranstaltung für Cahill House teil. Sie hatte geplant, sich nur kurz in dem spießigen alten Hotel am Nob Hill blicken zu lassen, Eugenias Bedürfnis nach »Familiensolidarität« zu befriedigen, und sich dann schnell wieder aus dem Staub zu machen. Zwar hielt Cissy Cahill House für eine gute Sache, doch sie sah darin keinen Anlass, sich mit den Wichtigtuern vom Vorstand gemein zu machen oder Smalltalk mit den Mitgliedern der verschiedenen Stiftungen zu halten, die das Haus finanzierten.
Wie langweilig!
Was sie nicht erwartet hatte, als sie den prächtigen Ballsaal mit den Kristalllüstern, dem gemusterten Teppich und dem unglaublichen Blick auf die Bucht betrat, war Jack Holt mit bereits gelöstem Krawattenknoten, aufgekrempelten Hemdsärmeln und vom ständigen Raufen verwirrtem Haar, dazu der Duft dieses frischen Aftershaves. Einen Drink in der Hand, ein selbstsicheres Lächeln im kantigen Gesicht und ein respektloses Glitzern in den Augen, die bemerkenswert blau leuchteten, wagte er es, ihr im Vorbeigehen zuzuzwinkern – als ob sie beide ein Geheimnis teilten.
Ein Glücksritter, dachte sie und schrieb ihn ab.
Im Lauf des Abends lief sie ihm noch ein paar Mal über den Weg, und jedes Mal entdeckte sie irgendetwas Interessantes an ihm, doch erst, als sein Vater, Jonathan Holt, der ihre Großmutter kannte, sie einander vorstellte, ging er ihr richtig unter die Haut.
Vielleicht wäre sie, wenn sie sich nicht noch in der Genesungsphase nach ihrer komplizierten Beziehung mit Noah Chandler befunden hätte, dem künftigen Anwalt, den sie von der USC kannte, nicht auf Jacks Charme hereingefallen, doch es war nun einmal Tatsache, dass sie auf der Suche nach etwas oder jemand anderem war. Nach jemandem mit Ecken und Kanten, mit dem sie Spaß haben konnte.
Dass Noah sich mit einer Juristin traf, einem klugen, schönen Mädchen aus L. A., die Cissy kannte und die, wie sie ahnte, mehr als freundschaftliches Interesse für ihn aufbrachte, tat ein Übriges. Sie wusste, dass das Mädchen es auf ihn abgesehen hatte, wenngleich Noah, der immer das Unschuldslamm spielte, es abstritt und sogar so weit ging, Cissy Verfolgungswahn vorzuwerfen.
Es ist die Hölle, immer recht zu behalten, dachte Cissy und schnaubte innerlich.
Ein paar Tage nach den Abschlussprüfungen machten sie und Noah endgültig Schluss. Ein paar Tage darauf war Cissy wieder in San Francisco und lernte Jack kennen mit seinem Grübchenlächeln und den sexy Augen. Er tanzte mit ihr, trank mit ihr und riss im Flüsterton Witze über die »Leichen« auf der Party. Letztendlich zog er sie mit seinem Charme völlig in seinen Bann – und ihr das leuchtend rote Kleid aus.
Und nach dieser Nacht war es noch nicht vorbei. Was als heißer One-Night-Stand anfing, explodierte in einer unglaublichen, berauschenden Affäre, die vor einem Altar in einer dieser kleinen Kapellen in Las Vegas vor völlig Fremden als Trauzeugen besiegelt wurde. Folge dieses spontanen Durchbrennens war ein prächtiger Sohn und eine Ehe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt schien.
Cissy schüttelte die Erinnerungen ab. Welchen Sinn hatte es schon? Sie blickte aus dem Fenster und beobachtete zu den Tönen eines alten Rocksongs aus dem Radio, wie die Scheibenwischer gegen die dicken Regentropfen kämpften. Wie ein glitzerndes Lichtermeer lag die Stadt vor ihnen, und hinter dem leuchtenden Gittermuster erstreckte sich das tintendunkle Wasser der Bucht bis zum jenseitigen Ufer, wo auch wieder Lichter funkelten wie Diamanten.
An diesem Abend hatte sie jedoch kein Auge für die Schönheit dieses Anblicks.
Sie fühlte sich innerlich leer. Betäubt. Sie kannte kein Leben ohne ihre Großmutter mit den Glacéhandschuhen und der eisernen Faust, konnte sich nicht vorstellen, wie es jetzt nach Eugenias Tod aussehen würde. In mancher Hinsicht würde es einfacher sein, bestimmt aber auch weniger festgelegt. Eugenia Cahill war eine Autokratin mit unbeugsamen Regeln gewesen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jack schließlich.
»Nein.«
»Es tut mir leid, Ciss.«
»Ich weiß.« Sie blinzelte die frischen Tränen weg. Mit seinem dicken Fell konnte sie sich abfinden, sogar mit seiner Wut, aber nicht mit seiner Freundlichkeit, nicht, wenn keine Chance zu einer Versöhnung bestand, was für sie nun mal beschlossene Sache war. »Ich muss immer daran denken, dass sie vielleicht nicht gestürzt wäre, wenn ich mich nicht verspätet hätte, wenn ich bei ihr gewesen wäre.«
»Du glaubst, sie ist gestürzt?«
»Ja, natürlich«, sagte sie und leugnete erneut ihre finstersten Ängste.
»Warum ist dann der Kerl von der Mordkommission gekommen?« Jack trommelte nervös mit den Fingern auf dem Lenkrad und fuhr durch Haight-Ashbury und am Buena Vista Park vorüber. Er trat auf die Bremse, als ein Fußgänger rechtswidrig die Fahrbahn überquerte, und sagte dann: »Paterno und seine Partnerin tauchen nicht einfach so zum Spaß an einem Tatort auf.«
»Es ist wegen meiner Mutter«, erklärte Cissy düster. »Seit ihrem Ausbruch wimmelt es bei uns von Polizisten. Als ob Marla zu mir oder zu Gran gelaufen käme! Das ist schlicht und einfach Blödsinn. Sie ist klug genug zu wissen, dass die Polizei dort auf sie wartet.«
»Du hast also nichts von ihr gehört?«
Jack glaubte, Marla hätte sich bei ihr gemeldet? Sie bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick. »Bist du wahnsinnig?«
»Es wäre doch normal, wenn sie dich sehen wollte. Vielleicht sogar James.«
»Sie weiß nicht, wo er sich aufhält«, sagte Cissy und stellte sich ihren Bruder vor, der mittlerweile fast elf war und bei Tante und Onkel in Oregon untergebracht war. »Ich vermute, dass sie schnellstens das Weite sucht. Sich nach Mexiko absetzt. Oder nach Kanada.«
»Dazu braucht sie Papiere. Ausweise.«
Cissys Blick verriet, was sie von seiner Naivität hielt. »Sie ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Ich schätze, sie findet eine Möglichkeit, der Polizei aus dem Weg zu gehen und sich gefälschte Papiere zu beschaffen. Wenn sie es vor ihrer Verhaftung nicht konnte, dann hat sie es jetzt bestimmt gelernt. Ein paar von ihren ›Freundinnen‹ im Knast kennen sicher draußen irgendwelche Leute, die ihr jedes gewünschte Dokument besorgen.«
»Ohne Hilfe und ohne Geld kriegt sie keine Papiere.«
»Tja, von mir bekommt sie keines von beidem«, versicherte Cissy mit Nachdruck. »Und ich glaube, die Polizei ist der Ansicht, dass sie mit einem Komplizen zusammenarbeitet.«
»Wer soll das sein?«
»Das ist die Millionen-Dollar-Frage«, antwortete sie. Diese Frage stellte sie selbst sich immer wieder, seit sie von Marlas Ausbruch wusste. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihr freiwillig helfen würde.«
»Sie wurde nicht von allen gehasst.«
Das mag stimmen, dachte sie, als sie die letzte Abzweigung vor ihrer Straße nahmen. Ihre Mutter hatte immer Horden von Menschen angezogen. Nicht nur schöne, auch reiche. Aber ob die ihr bei der Flucht geholfen hatten? Das passte nicht unbedingt zu den Personen, mit denen sie shoppen oder zum Tennis gegangen war.
Jack lenkte den Jeep in die Zufahrt vor der Garage, und es war eine gewisse Erleichterung für Cissy, endlich zu Hause zu sein. Waren wirklich erst knapp drei Stunden vergangen, seit sie sich ahnungslos auf den Weg zu ihrer Großmutter gemacht hatte? In dieser kurzen Zeitspanne hatte sich ihr Leben unwiderruflich verändert. Sie stieg aus dem Geländewagen und raffte ihre Sachen zusammen, während Jack Beejay ins Haus trug und ihn in seinen Hochstuhl setzte.
Alles wirkte so normal.
Die kleine Kernfamilie.
Doch das war nicht so. Sie durfte sich nicht dazu verführen lassen zu denken, dass zwischen ihr und ihrem Mann noch das alte Vertrauen herrschte, das sie sich bei der Eheschließung gelobt hatten. Wenn es auch völlig normal wirkte, dass Jack in ihrer Küche stand, durfte sie doch nicht vergessen, dass jetzt alles anders war. Für immer. Es versetzte ihr einen kleinen Stich im Herzen, den sie jedoch ignorierte.
Bevor ihr Mann anfing, sich bei ihr allzu heimisch zu fühlen, sagte Cissy: »Ich denke, ich komme jetzt allein zurecht. Danke.«
Er sog die Mundwinkel ein. »Bitte nicht, Ciss«, warnte er. »Was soll ich nicht?«
»In die Rolle der zickigen Ex-Frau verfallen. Du weißt schon, stets die Stacheln aufgestellt und dazu fähig, mit allem allein fertig zu werden, ganz gleich, welches Trauma sie gerade durchstehen muss.«
»Aber ich kann es. Mit allem allein fertig werden.«
»Auch mit dem Mord an deiner Großmutter?«
»Sei nicht so eklig.«
Er senkte den Kopf, nahm die Rüge hin. »Ich will nur den Tatsachen ins Gesicht sehen.«
Sie warf einen Blick auf ihren Sohn, und ihre Stimme wurde weicher. »Lass uns jetzt nicht darüber reden, okay? Die kleinen Ohren hören eine ganze Menge, Jack. Vielleicht solltest du einfach nach Hause fahren.«
»Hier bin ich zu Hause.«
»Nicht mehr. Und ich bin müde. Es war eine harte Woche.« Sie legte ein Stück Pizza auf das Tablett von Beejays Hochstuhl und goss etwas Milch in seinen Trinklernbecher. »Sei schön vorsichtig damit«, ermahnte sie ihren Sohn, und er, seinem Vater so ähnlich, grinste verschmitzt, fasste den Becher am Griff und schwenkte ihn hin und her, so dass Milch an die Wand, auf den Boden, aufs Tablett und auf Cissy spritzte.
Wunderbar.
»Das hatte ich befürchtet. Du hast gerade deinen letzten Trumpf verspielt, Freundchen.«
Sie nahm ihm den Becher ab, und er schickte sich an zu quengeln, doch sie lenkte ihn mit seinem Lieblingsspielzeug ab. Ein kleines Gummiauto ohne bewegliche Teile. Es hatte keinerlei Funktion, sah allerdings Jacks Jeep bemerkenswert ähnlich.
»Daddy Auto!«, krähte er fröhlich und konzentrierte sich auf den Gummijeep. Cissy tupfte ihren Pullover mit einem Geschirrtuch ab und säuberte Tisch und Hochstuhl. Sie hob den Blick zu Jack und sah, dass er ein Lächeln unterdrückte. »Sprich’s nicht aus«, warnte sie, deutete mit dem Finger auf ihn und ließ versehentlich den Wischlappen fallen. »Mist.« Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, Jack bückte sich ebenfalls, und beinahe wären sie mit den Köpfen aneinandergestoßen. »Ich hab ihn!« Sie wischte die vergossene Milch vom Boden auf und ging dann hinaus auf die vormalige Veranda, die jetzt zu einem Wintergarten umgebaut war. Dort öffnete sie eine Schranktür und warf den Lappen in die Wäscheklappe, von der aus eine Art Rutsche ihn in den Keller beförderte.
Als sie in die Küche zurückkam, hatte Jack zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank genommen. »Die habe ich bei meinem Auszug vergessen«, sagte er und hob die Kronkorken ab. Er reichte Cissy eine Flasche, tippte mit dem Hals seiner Flasche gegen ihre und sagte: »Auf bessere Zeiten.«
Ein Teil von ihr wollte streiten und ihn aus dem Haus werfen, ein anderer Teil jedoch riet ihr, es an diesem Abend gut sein zu lassen. Sie brauchte keinen Streit. Vermutlich zeichneten sich bereits vielerlei Kämpfe am Horizont ab. Widerwillig schenkte sie ihm ein versöhnliches Lächeln.
»Amen«, flüsterte sie. »Auf bessere Zeiten.«
Sie setzte die Flasche an die Lippen, hielt aber inne, als ihr ein scheußlicher Gedanke durch den Kopf schoss.
Wenn dieser Tag schon der beste wäre?
Wenn von jetzt an alles nur noch schlimmer werden würde? Sie trank einen großen Schluck, während ihr Sohn mit seinem Spielzeugauto auf das Tablett seines Hochstuhls hämmerte.
Tja, das wären schöne Aussichten.