8
Marla saß, von Kissen gestützt, auf dem Bett, ein Buch auf dem Nachttisch, den Fernseher eingeschaltet, allerdings ohne Ton, und die Wiederholung irgendeiner Realityshow über Polizisten flimmerte in dem schlecht beleuchteten Zimmer.
Und sie war unzufrieden.
Welch eine Überraschung.
Natürlich hatte sie auch nicht ihren erbärmlichen Arsch in Bewegung gesetzt und im Erdgeschoss sauber gemacht, unter dem Vorwand, irgendein neugieriger Nachbar könnte durch die Fenster spähen und sie sehen.
Was für eine Niete!
Elyse hatte gewusst, dass der Umgang mit Marla schwierig sein würde, natürlich hatte sie es gewusst! Die Frau war berüchtigt für ihre Egozentrik und wollte wie die Prinzessin behandelt werden, die sie ihrer Meinung nach von Geburt an hätte sein sollen. Aber faul war sie vorher nie gewesen. Und während der gesamten Planung des Ausbruchs hatte sie ihren Anteil geleistet. Eifrig. Beflissen. Schlau.
Jetzt aber war ihre gerissene Aggressivität anscheinend zum verschlossenen Fenster hinausgeflogen und hatte einer untätigen Langeweile und spitzen Bemerkungen Platz gemacht. »Ich dachte, du würdest früher kommen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Ich langweile mich hier zu Tode. Und fang nicht wieder damit an, dass ich hinaufgehen und Toiletten reinigen oder Böden aufwischen soll. Davon habe ich die Nase voll.«
Elyse schwieg.
Sie wusste nicht, wie lange sie das Genörgel der Frau noch ertragen würde. »Nach der Arbeit war ich noch in ein paar Geschäften und habe dir etwas zum Anziehen gekauft, als Verkleidung.«
»Du glaubst wirklich, das würde ich riskieren?«
»Jetzt noch nicht, aber bald, ja.« Elyse hatte zwei Einkaufstüten die schwindsüchtige Treppe hinunter hinter die falsche Regalwand in Marlas Zimmer geschleppt. »Schau’s dir einfach mal an.« Mit leisem Triumphgefühl nahm sie die Kleidungsstücke, Körperpolster und eine Perücke aus den Tüten, die »Marla die Schöne« in »Marla die Vogelscheuche« verwandeln sollten: Schuhe für alte Damen, eine Stützstrumpfhose und ein hässliches braunes Hauskleid, so weit geschnitten, dass Marla bequem die Körperpolster darunter anlegen konnte. Die Perückenfrisur war kurz und adrett, die Farbe war irgendwo zwischen Platinblond und Grau angesiedelt.
Angewidert betrachtete Marla die Sachen. »Du machst wohl Witze?«
Ohne Marlas Spott zu beachten, legte Elyse die einzelnen Teile der Verkleidung nebeneinander. »Nein, ich mache keine Witze. Das ist perfekt! Ich habe das alles im Secondhandshop gefunden.«
»Ja, genauso sehen die Sachen auch aus. Weißt du, vielleicht bleibe ich einfach in meinem Zimmer.«
»Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit verstecken.«
»Ich verstecke mich nicht!«, brauste Marla auf. »Ich bin nur vorsichtig. Kapierst du das nicht? Und von dem Zeug da werde ich gar nichts anziehen!« Sie lachte verächtlich über das braungraue Kleid mit Blumenmuster. »Himmel, wie es scheint, hast du nach den hässlichsten Sachen des Universums gesucht, und zwar erfolgreich!«
»Ich wollte dir nur eine Verkleidung besorgen, in der du nicht auffällst.«
»O ja, als wäre das da in diesem Jahr der letzte Schrei der Haute Couture in San Francisco! Alle Welt trägt hässlich Geblümtes und Schuhe, die aussehen wie aus den Sechzigern.« Angeekelt blickte sie auf die schlichten, flachen Laufschuhe. »Du hast wohl den Verstand verloren.«
»Du wirst ja nicht im Geschäftsviertel spazieren gehen oder im ›Vier Jahreszeiten‹ speisen«, entgegnete Elyse mit erzwungener Ruhe. »Du wirst nur im Auto sitzen, und wir wollen doch nicht, dass dich irgendwer auf der Straße erkennt, der dich im Fernsehen gesehen hat. Ich dachte, du wolltest mal raus?«
Marla schwieg.
Wieder einmal.
Sie beherrschte diesen Wechsel zwischen Passivität und Aggression aus dem Effeff, und Elyse kannte den Grund für ihr Verhalten. Sie hatte den Plan so sehr geändert, dass Marla immer noch schmollte. Sie bestrafte sie. Mit Schweigen.
Elyse griff noch einmal in ihre Tasche, und diesmal zog sie ein Sandwich vom Imbiss in der Straße, wo sie wohnte, heraus. »Das wird dir schmecken: Pute, fettarme Mayonnaise und sogar Preiselbeeren. Fast wie Thanksgiving.« Sie nahm das eingewickelte Sandwich aus der Tüte und legte es auf den Nachttisch, dazu noch eine Gurke, eine kleine Tüte Chips und eine Dose Diätlimonade.
»Du weißt genau, dass ich lieber Rindfleisch mag«, erinnerte Marla sie in diesem kalten Tonfall, der Elyse zur Weißglut brachte. Je stiller Marla wurde, desto nachhaltiger trafen ihre Worte. Oh, sie war so durchtrieben, eine Meisterin der psychologischen Kriegsführung.
»Ich dachte nur, dass du nach dem Hamburger vielleicht mal Abwechslung wolltest.« Vielleicht aber auch nicht. Marlas Minikühlschrank war angefüllt mit Salaten und Suppen in Behältern, die sie nur noch in der Mikrowelle aufwärmen musste. Auf dem Kühlschrank fanden sich Äpfel, Instantmüsli, eine Kaffeemaschine und die spezielle französische Kaffeemischung, auf der Marla bestand, es war irgendein obskurer Kaffee, den sie vor zehn Jahren immer getrunken hatte. Elyse hatte große Mühe gehabt, das Zeug aufzutreiben, und hatte Marla auch nur ein Wort des Dankes herausgebracht? Natürlich nicht.
»Probier die Sachen doch einfach mal an, und in einer Woche oder so können wir dann mal rausgehen, sobald die Polizei glaubt, du wärst in Oregon oder Washington. Ich habe einen Kerl aufgetan, der sich bereit erklärt hat, deine Gefängniskluft an irgendeiner Raststätte am I-5 abzulegen, irgendwo in der Nähe von Roseburg. Dann denken die Bullen, du wärst auf dem Weg nach Norden, willst womöglich über die kanadische Grenze. Egal wie, in San Francisco hast du dann deine Ruhe.«
Marla wirkte ausnahmsweise mal erleichtert. »Gut«, sagte sie und zeigte doch wahrhaftig endlich Interesse an dem Sandwich. »Ich bin nicht absichtlich zickig zu dir.«
Nein, das ist nun mal deine Natur, dachte Elyse, biss jedoch die Zähne zusammen und sprach die Worte nicht aus.
»Und ich schaue mich nach anderen Klamotten für dich um.«
»Muss ich denn unbedingt fett sein?«
Schon wieder stellt sie Forderungen.
»Es wäre nützlich. Niemand rechnet damit, dass du so zugenommen haben könntest. Es ist doch nur eine Verkleidung.«
»Ich bin in meinem ganzen Leben nie dick gewesen.«
»Eben.« Höchste Zeit, dass deine Selbstüberschätzung mal einen Dämpfer erfährt.
Marla stieß einen tiefen Seufzer aus, widersprach aber nicht mehr.
»Sieh mal, mit der Frisur können wir anfangen. Komm, ich schneide dein Haar ein bisschen nach.« Und zu ihrer Überraschung wehrte sich Marla nicht. »Hier, du kannst zuschauen.« Sie holte den Handspiegel, den Marla immer griffbereit haben musste, und reichte ihn der eitlen Frau, zwang ihn in ihre verkrampften Finger.
»Ich weiß nicht …«
»Bitte, Marla.«
»Aber schneid nicht so viel ab«, warnte Marla.
»Nur die Spitzen … Über die Farbe reden wir später.« Sie holte eine Schere und begann vorsichtig, die Spitzen von Marlas langen, mahagonifarbenen Locken abzuschneiden. Sie handhabte die Schere sehr behutsam, kürzte wirklich nur die Spitzen ein, steckte sich jedoch heimlich ein paar Strähnen in die Tasche. Zum Glück war Marla so sehr auf ihr Gesicht im Spiegel konzentriert, dass sie das nicht bemerkte.
Erst als Elyse sie plötzlich heftig ziepte, als hätten sich ihre Finger im Haar verfangen, um es nun mitsamt der Wurzel herauszureißen, hob Marla ruckartig den Kopf und suchte Elyses Blick im Spiegel. »Autsch!«, kreischte sie. »Was soll das? Willst du mich skalpieren?«
»Entschuldige. Es war ein Versehen«, log Elyse.
»Sei doch ein bisschen vorsichtiger, verdammt noch mal!«, zischte Marla in wütendem Flüsterton und warf Elyse einen unheilverkündenden Blick voller Misstrauen zu.
»Ich habe mich doch entschuldigt, oder?« Elyse spielte die Gekränkte. »Ich will dir nur helfen. Siehst du, wie gut das aussehen wird, wenn ich fertig bin?«
»Schön.« Kritisch beäugte sie ihr Spiegelbild, und Elyse hielt den Atem an. »Gut, erzähl mir noch mal alles über Eugenia«, verlangte sie schließlich, inzwischen ruhiger, ja, sie lächelte beinahe. Es war fast so, als hätte Elyses Aufmerksamkeit sie besänftigt.
Herrgott, die Frau hatte vielleicht ein Ego! Und Launen!
Elyse verspürte eine leise Beklemmung. Marla konnte so tödlich wütend werden. Elyse hatte Marlas Stimmungsschwankungen mit eigenen Augen gesehen. Sie nahm sich vor, gut auf sich achtzugeben. An dem Tag, als Marlas Ausbruch gelang, war sie in Hochstimmung gewesen. Marla hatte sich in einem beinahe wahnsinnigen Glückstaumel befunden; ihre Augen leuchteten grün und tief wie das Wasser der Bucht von San Francisco, ihr Lächeln wirkte geradezu ansteckend. Kein Wunder, dass die Männer sich ein Bein ausrissen, um sie zu erobern. Sie ging schon auf die fünfzig zu, doch man sah es ihr nicht an. Im Gefängnis hatte sie sich fit gehalten, und selbst mit einem Minimum an Make-up sah sie wunderschön aus. Am Tag ihres Ausbruchs hatte sie ihr Haar offen getragen, hatte das Fenster des Autos heruntergekurbelt, das sie an einer Raststätte abgeholt hatten, und trotz der Kälte und des Nebels, die in die Bucht eingefallen waren, die frische, feuchte Luft tief in ihre Lungen gesogen.
Jetzt hatte sich diese Euphorie natürlich weitestgehend verflüchtigt. Das triumphierende Glitzern, nicht zu übersehen, als Marla in einem Lieferwagen aus dem Gefängnis flüchtete, war verschwunden. Sie litt unter Verfolgungswahn. In ihrem Versteck hinter Doppelschlössern in einem dunklen Keller hatte sich der Jubel aufgelöst und einer Art Depression Platz gemacht … einer schleichenden, grüblerischen, düsteren Depression. Manchmal musste Elyse sich äußerste Mühe geben, um der Frau ein Lächeln oder auch nur ein Wort zu entlocken.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Elyse, ob es ein Fehler gewesen war, die mit Marlas Ausbruch verbundenen Risiken auf sich zu nehmen.
Tja, jetzt gab es kein Zurück mehr.
Alles war Teil ihres Plans; es ging um Geld.
Denk an das Geld.
Sie hatten geplant, Marla hier zu verstecken, und die Flucht war über Jahre hinweg vorbereitet worden. Über Jahre! Elyse durfte nun nicht alles vermasseln. Und das würde sie auch nicht.
Marla hatte versprochen, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, dann ihr Äußeres zu verändern und erst, wenn der Jagdeifer der Polizei sich ein wenig gelegt hatte, ihr Versteck zu verlassen. Doch Elyse ahnte, dass sie jetzt vom ursprünglichen Plan abweichen wollte, ungeduldig wurde.
»Ich halte es hier nicht mehr aus!«, klagte Marla.
»Ich weiß, ich weiß, aber wir haben keine Wahl. Vergiss nicht, wir haben alles so besprochen.«
»Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass es so dunkel … so einsam sein würde.«
»Ich sagte doch, du kannst nach oben gehen. Du darfst nur die Vorhänge nicht öffnen. Du solltest dich mehr bewegen, deinen Kreislauf in Schwung bringen.«
»Wie denn wohl?«, höhnte Marla. »Begreifst du denn nicht? Jemand könnte mich sehen. Ich könnte genauso gut zurück ins Gefängnis gehen!«
»Ausgeschlossen«, wehrte Elyse ab. So durfte Marla nicht denken! Nicht nach all den Risiken, die sie auf sich genommen hatte.
Marla schien ein wenig besänftigt. »Schön. Du wolltest mir erzählen, wie du die vertrocknete alte Pflaume umgelegt hast.«
»Deine Schwiegermutter«, erinnerte Elyse sie sanft.
»Eugenia.« Angewidert verzog Marla bei der Erinnerung an ihre Schwiegermutter das Gesicht. »Los, mach schon, erzähl! Hat sie dich erkannt?«
»O ja. Es war toll«, gab Elyse zu, sonnte sich ein wenig in ihrem Sieg und spürte immer noch das Prickeln der Erregung in ihren Adern. »Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah.« Elyse lächelte auf Marla herab und sagte: »Ich wünschte, du hättest sehen können, wie sie über das Geländer flog und schrie und mit einem unglaublichen Knacken auf dem Boden aufschlug. Es war so laut, es war, als ob ich es selbst am eigenen Körper spüren würde. Dann war es still, und sie sah mit leerem Blick zu mir auf. Ich weiß nicht mal, ob sie auf der Stelle tot war, aber ich habe diesen blöden kleinen Hund auf den Arm genommen, damit das Letzte, was sie vor Augen hatte, das Bild von mir war, wie ich den Hund streichelte.«
»Hast du ihn auch umgebracht?«
»Den Hund?« Elyse fuhr zurück, als wäre ihr ein grauenhafter Gestank in die Nase gestiegen. »Natürlich nicht. Ich habe ihn dagelassen, eingesperrt in einem Schrank, damit er mir nicht nachlaufen konnte, die Polizei oder sonst jemand ihn aber finden würde.«
»Ich hasse diesen Hund«, sagte Marla.
»Du hasst alles und jeden.«
»Ich war gern eine Cahill«, sagte sie mit plötzlicher Sehnsucht. »Das war noch besser, als eine Amhurst zu sein, glaub mir.«
»Wenn du meinst.« Elyse sah auf ihre Armbanduhr. »Hör zu, ich kann nicht länger bleiben. Ich muss den Schein wahren, das weißt du ja. Aber ich komme schnellstens zurück, sobald die Luft rein ist.«
»Die Luft wird niemals rein sein«, sagte Marla.
»Das weißt du nicht.«
»Klar doch.« Sie wurde wieder eklig. Wütend. Verärgert. Sie macht mehr Mühe, als sie wert ist … Doch das stimmte nicht. Marla war einen Haufen wert … ein verdammtes Vermögen. Wenn sie ihre Karten richtig ausspielten. Und das hatte Elyse vor. Abgesehen von ihrer guten Hand hatte sie auch noch ein Ass im Ärmel. Eins, von dem Marla nichts ahnte.
»Auf Wiedersehen, Marla«, sagte sie, doch die Frau würdigte sie keines Blickes. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sie sich wieder in ihren übellaunigen Schmollwinkel zurückgezogen. Herrgott, ihr Getue wurde allmählich langweilig. Pech.
Elyse wusste, was sie zu tun hatte.
Sie schob die Bücherwand wieder an ihren Platz zurück und tastete sich durch den muffigen Keller und die alte Treppe hinauf. Sie musste sich an den ursprünglichen Plan halten. Nur so konnte sie Marla bei Laune halten.
Nun, so sei es, dachte sie, schloss die Haustür ab und lief zu ihrem Taurus.
Marla wollte den Tod ihres Bruders Rory.
Also würde Elyse das eben erledigen.
Der Schwachsinnige war schon jetzt Schnee von gestern.
Cissys Konzentrationsfähigkeit war gestört. Sie konnte nicht einmal den Artikel umreißen, den sie schreiben wollte – dieser Artikel war schon seit Wochen im Computer gespeichert und bestand nach wie vor aus einer Ansammlung wirrer Notizen. Vor vier Wochen hatte sie einen neuen jungen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters interviewt, doch das war genau in der Woche gewesen, als Cissy von Larissa erfuhr und Jack aus dem Haus warf. Nicht sehr viel später, als sie versuchte, ihre Notizen auszuwerten, war ihre psychopathische Mutter aus dem Gefängnis ausgebrochen. Jetzt war ihre Großmutter in den Tod gestürzt – oder ermordet worden –, und sie, Cissy, schlug sich mit Trauer und Schuldgefühlen herum. Vielleicht sollte dieser Artikel einfach nicht geschrieben werden.
Cissy seufzte. Auf dem Festnetzanschluss wie auch auf dem Handy hatte sie wohl schon mehr als zwanzig Anrufe entgegengenommen: sämtlich kurze, einseitige Gespräche über ihre Großmutter. Familienmitglieder, einschließlich Cherise, der Cousine ihres Vaters, die sie nicht ausstehen konnte, hatten angerufen. Leute, die ihre Großmutter aufgrund ihres sozialen Engagements kannten, oder Freundinnen, mit denen Eugenia Karten gespielt oder Ausflüge unternommen hatte, sogar eine Frau aus Sacramento, die behauptete, in Vassar die Zimmergenossin ihrer Großmutter gewesen zu sein, alle möglichen Leute riefen an. Cissys E-Mail-Eingang war voller Nachfragen und Beileidsbekundungen. Heather, eine Freundin aus ihrer Schwesternschaft an der Uni, Gwen, ihre Personal-Trainerin, und Tracy, mit der sie als Schülerin geritten war – alle schickten E-Mails oder Textbotschaften per Telefon. Und dann war da natürlich noch die Presse: Zahllose Reporter waren auf der Suche nach Informationen über den Tod ihrer Großmutter, und wenn sich ihnen die Chance bot, fragten sie auch nach Marla. Deborah hatte ihr, wie versprochen, die Namen der Anwälte und Kontenführer der Cahills gemailt, was bedeutete, dass Cissy sich zudem noch mit Rechtsund Steuerfragen plagen musste. Es nahm dermaßen überhand, dass Cissy anfing, die Anrufe zu filtern und diejenigen, die sie nicht wollte, auf die Voicemailbox laufen ließ, die sie dann später abhören würde. Genauso verfuhr sie mit den E-Mails.
Es war ein verdammter Alptraum.
Und im Lauf des Nachmittags wurde es immer schlimmer. Cissy arbeitete in ihrem Homeoffice, einer kleinen Nische neben dem Fitnessraum, während Tanya eigentlich mit Beejay spazieren gehen sollte, bevor es dunkel wurde. Die Sonne stand schon tief am Himmel und lugte durch die Wolkenschleier, zum ersten Mal an diesem Tag. Wenn sie Glück hatten. Mit etwas Glück würden sie noch eine Dreiviertelstunde lang die Sonne genießen können. Da Tanya es noch nicht geschafft hatte, sich mit ihrem Sohn an die frische Luft zu begeben, beschloss Cissy, dass es höchste Zeit war, selbst mit Beejay nach draußen zu gehen. Sie schaltete den Computer aus, schob Coco zur Seite, die auf ihren Füßen gedöst hatte, stand auf und reckte sich. Sie band ihr Haar mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen, schlüpfte in ihren Jogginganzug und holte ihre Lieblingslaufschuhe aus dem Schrank. Für sich nahm sie noch ein Kapuzensweatshirt mit, dann lief sie in Beejays Zimmer, holte sein Jäckchen und eine Strumpfmütze, eine weitere Kopfbedeckung, die er verabscheute.
»Tanya, ich gehe mit Beejay spazieren, ich brauche Bewegung«, rief sie und lief eilends die Treppe hinunter.
Als sie am Fuß der Treppe angelangt war, öffnete sich die Haustür, und mit einem Schwall kalter Luft fegte ihr Noch-Ehemann ins Haus. Cissy zog auf der Stelle im Geiste die Notbremse und versuchte zu übersehen, wie gut und richtig es ihr erschien, wenn er nach seinem Arbeitstag nach Hause kam. Wie er es jeden Tag während ihrer unglückseligen Ehe getan hatte. Sie ignorierte das wehmütige Gefühl in ihrem Inneren, als er zu ihr aufsah. »Hast du vergessen, dass du nicht mehr hier wohnst?« Sie schoss einen Blick auf Tanya ab, der ihr riet zu schweigen, als sie bemerkte, dass das Kindermädchen bereits eine Erklärung oder einen Protest auf den Lippen hatte.
»Wie bitte?«, fragte er auf diese dreiste Art, die sie zur Weißglut brachte, und zog seinen Mantel aus. »Du empfängst mich nicht mit einem Martini? Keine liebende Ehefrau in der Verkleidung eines süßen kleinen französischen Stubenmädchens?«
»Oh, entschuldige bitte. Ich laufe rasch nach oben und zieh mich um«, entgegnete sie spitz.
Er lachte, und Cissy, die ihn mit Sarkasmus in die Schranken weisen wollte, spürte, wie sie innerlich schmolz. Zur Hölle mit diesem Mann.
Coco, nicht mehr so beweglich wie früher, hüpfte beschwerlich die Treppe hinunter. Als der Hündin klarwurde, dass ein Störenfried im Haus war, begann sie, Jack mit ihrer hellen Kläffstimme wild anzubellen; sie knurrte und gebärdete sich, als wäre er ein mordlustiger Einbrecher. Tanya, die nicht wusste, wohin, sagte rasch: »Ich hole Beejay«, und eilte ins Wohnzimmer.
Zu spät. Beejay, der sich mit einem Spielzeug befasst hatte, das auf Knopfdruck Tierlaute von sich gab, hatte bereits bemerkt, dass sein Vater zu Hause war. Er hatte gerade die Kuh-Taste gedrückt, und ein lautes »Muuuh« hallte durch den Raum, während er nach einem Entzückensschrei das zu erwartende »Daddy wieder da!« ausstieß. Blitzschnell kam er auf die Füße und begrüßte seinen Vater mit ausgestreckten Armen.
»Hey, Großer! Schön, zu sehen, dass du deine schlechte Laune überwunden hast.« Jack hängte seinen Mantel an den schmiedeeisernen Garderobenständer im Eingangsflur, packte seinen begeisterten Sohn und schwenkte ihn hoch in der Luft herum. Beejay strampelte mit Armen und Beinen, lachte laut und schrie: »Mehr! Mehr!«
Der Hund drehte völlig durch.
»Coco, still!«, fuhr Cissy ihn an.
Doch der Terrier hörte nicht auf sie. Als Cissy hinunter in die Eingangshalle trat, versteckte sich das Tier hinter ihren Beinen und lärmte unbeeindruckt weiter.
»Elende kleine Ratte«, zischte Tanya und sammelte ihre Sachen zusammen. »Ich schätze, Beejay ist jetzt in guten Händen, und ich kann gehen.« Sie nahm ihren Regenmantel und den Schirm vom Garderobenständer, ohne die wütende kleine weiße Hündin aus den Augen zu lassen, und sagte unwillig: »Ich komme morgen wieder.«
»Bis dann«, sagte Cissy, wenngleich sie Tanya im Geiste bereits durch ein nichtallergisches, tierfreundliches Kindermädchen ersetzte.
Jack und Beejay waren ins Wohnzimmer gegangen und spielten zusammen mit dem Tierstimmencomputer. Eine Kakophonie von Brüllen, Knurren, Wiehern, Mähen und Zwitschern brach aus, ein Ton nach dem anderen, als hätte Noah gerade den gesamten Inhalt seiner Arche in ihrem Wohnzimmer abgeladen. »Hey, wie findest du das?«, fragte Jack, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte und seinen Sohn auf dem Schoß hielt. Er drückte eine Taste, und ein lautes »Wuff! Wuff!« tönte durch den Raum.
»Wauwau!«, sagte Beejay »Wie Coco!«
»Genau wie Coco«, pflichtete Jack ihm bei, wenngleich das aufgenommene Gebell eher einen achtzig Pfund schweren Deutschen Schäferhund vermuten ließ als eine winzige Terriermischung.
Es herrschte Chaos, und Cissy, erfüllt von widerstreitenden Gefühlen, zog sich ein bisschen zurück. Durchs Fenster sah sie in der zunehmenden Dämmerung, wie Tanya in ihren verbeulten Subaru stieg, sich eine Zigarette anzündete und losfuhr. Ein Stück die Straße hinunter verschwanden die roten Heckleuchten bald hinter einer Kurve.
Ja, sie brauchte unbedingt eine neue Betreuung für ihr Kind.
Löwengebrüll dröhnte durchs ganze Haus. »Hat das Ding auch einen Lautstärkeregler?«, fragte Cissy.
»Wir mögen’s laut.«
Cissy ging zu einem Sessel und ließ sich hineinfallen. Beejay war ganz aus dem Häuschen vor Freude, seinen Vater bei sich zu haben. Natürlich war Jack ihm seit seinem Auszug wichtiger geworden. Hatte ihr Sohn den Vater bereits vermisst? Schuldgefühle lasteten auf ihrem Herzen. Sie hasste es, die Rolle der Bösen übernehmen zu müssen, und wenn sie sich mit den Augen ihres anderthalbjährigen Sohnes betrachtete, dann war sie die Böse. Sie hatte seinen Daddy rausgeworfen.
»So«, sagte sie, als das Gebrüll einen Moment aussetzte. »Kommst du aus einem bestimmten Grund?«
Während ein Elefant trompetete, erklärte Jack: »Ich wollte mich davon überzeugen, dass es dir und Beejay gutgeht.«
»Uns geht es gut.« Sie schob ihre Hände zwischen die Knie und bemerkte, dass es dunkel wurde. Zu spät für den Spaziergang. »Aber selbst wenn du gleich nach der Arbeit hergekommen bist, ist es noch ziemlich früh. Es ist noch nicht einmal siebzehn Uhr.«
»Nun ja, ich habe gute Gründe.«
»Hoffentlich überzeugende.«
»Ja.« Er sah sie ernst an. »Ich dachte mir, dass du meiner Familie wohl nicht allein gegenübertreten willst.«
»Was soll das heißen?«
»Sie wollen dich besuchen und dir ihre Hilfe anbieten. Alle. Dad, J. J. und Jannelle.«
»Du machst Witze!« Sie konnte es sich nicht vorstellen, jetzt auch nur einem der fünf J.s, wie sie sich wegen der identischen Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen nannten, zu begegnen. »Ausgeschlossen. Ich will keinen Besuch.«
»Das habe ich ihnen auch gesagt, aber du weißt ja, wie Dad ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
»Dann wehr dich, Jack! Mach dich stark! Ich will mit keinem von deiner Familie etwas zu tun haben, geschweige denn mit … O verdammt!« Sie sah im Wohnzimmerfenster Scheinwerferlicht aufflammen. »Zu spät«, sagte sie. Aus Beejays Spielcomputer zischte jetzt eine Schlange. Cissy warf ihrem Mann einen Blick zu, der Bände sprach und ihm die Schuld an allem gab, trug Coco hinüber ins Esszimmer und setzte sie in ihren Tragekäfig. »Es dauert nicht lange«, versprach sie dem Hund und drückte sich selbst im Geiste die Daumen.
Mit Beejay auf dem Arm öffnete Jack die Haustür, bevor sein Vater klingeln konnte. Wie Jack angekündigt hatte, wurde Jonathan von Jannelle, die anscheinend stinksauer war, und von J. J. – Jon Junior mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, wie cool er sich wegen dieses Besuchs fand – begleitet. Sie sahen alle recht gut aus, hatten von irgendeinem skandinavischen Ahnen den hohen Wuchs, das blonde Haar, hohe Wangenknochen und Augen in verschiedenen Blautönen geerbt.
»Oh, Liebes«, begrüßte Jacks Vater Cissy mit ausgestreckten Armen. Er drückte sie fest an sich.
»Schon gut«, sagte Cissy, die kaum noch Luft bekam.
Jonathans Gesicht wies für einen Mann von fast sechzig Jahren erstaunlich wenig Falten auf, und er hatte noch volles Haar, aschblond mit ersten grauen Fäden. Er war durchtrainiert, sonnengebräunt und wirkte fünfzehn Jahre jünger, als er wirklich war, was ihn natürlich freute. Cissy vermutete, dass allein das Alter seiner Kinder ihn daran hinderte, sich stets für jünger auszugeben.
»Mein Beileid zu deinem Verlust«, sagte er und ließ sie los. Er zog die Brauen zusammen, in seinen nordischen Augen stand unübersehbar Trauer.
»Es ist schrecklich«, sagte J. J.
Jannelle verdrehte die Augen angesichts des banalen Kommentars ihres Bruders. »Dad war der Meinung, wir sollten mal reinschauen, weißt du, Hilfe anbieten, als Familie zusammenhalten und all dieser … sentimentale Quatsch.« Sie ließ sich in einen Sessel sinken und schlug ihre langen Beine übereinander.
»Hör auf«, warnte Jack.
»Jannelle, bitte.« Ihr Vater war sichtlich gereizt. An Cissy gewandt, sagte er: »Jannelle hat im Großen und Ganzen recht, wenn man die persönlichen Bemerkungen wegstreicht. Ich weiß, es ist schwer für dich … deshalb sind wir hier.«
»Eine große glückliche Familie«, mischte Jannelle sich ein.
»Hey, wann ist die Scheidung denn endgültig?«
»Es reicht!« Die Falten an Jonathans Mund waren weiß vor Zorn.
»Ich wusste doch, dass es ein Fehler ist«, brummte J. J. und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihm über den Kragen seiner Lederjacke wuchs. Er war immer lässig cool gekleidet, wie Cissy es bezeichnete – modisch, aber nie zu elegant. Im Grunde kannte sie ihn gar nicht wirklich, wollte ihn auch nicht kennenlernen – ein weiterer männlicher Holt, dem man tunlichst aus dem Weg ging. Dann sah sie aus den Augenwinkeln, wie Jannelle wieder die Augen verdrehte. Gut, am besten ging man allen Holts ohne Rücksicht auf das Geschlecht aus dem Weg.
»Da ist ja Grandpas Junge!« Jonathan winkte Jack zu sich heran, um seinem Enkel näher sein zu können. »Wie geht’s dir, Bryan Jack?«, fragte er, doch als er Beejay aus Jacks Armen nehmen wollte, sagte dessen Sohn, eigenwillig, wie er war, laut und deutlich: »Nein, Poppa!«
»Ugh«, sagte Jannelle leise.
J. J. saß auf dem Polsterhocker, starrte ins nicht vorhandene Feuer und fühlte sich sichtlich unbehaglich.
Ja, das war eine tolle Idee, dachte Cissy müde. Doch es gab kein Entkommen. »Darf ich euch etwas anbieten? Kaffee? Ein Bier?« Sie sah Jack hilfesuchend an.
»Eigentlich wollten wir euch zum Essen einladen. Irgendetwas Einfaches. Wie wär’s mit einem Restaurant, in dem Kinder willkommen sind?«
»Meinst du McDonald’s?«, fragte Jannelle entgeistert.
»Wirklich, Dad, ich verzichte.« Sie warf ostentativ einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk.
Zwar hätte Cissy ihnen allen am liebsten empfohlen, sich schnellstens zu verabschieden und sie in Ruhe zu lassen, doch sie riss sich zusammen und sagte stattdessen: »Das ist wirklich nett, aber ich glaube, Beejay und ich, wir bleiben lieber hier.« Sie lächelte Jonathan gezwungen an, der von Anfang an so viel zum Zustandekommen ihrer Beziehung mit Jack beigetragen hatte.
»Soll mir recht sein.« Jannelle sprang auf.
»Mir auch.« J. J. hielt nicht viel von schmalzigem Familiensinn.
Ihr Vater war allerdings enttäuscht. »Kommt schon, nun sind wir schon mal hier.«
»Schon gut, Dad.« Jack trat ans Fenster. »Jannelle, das ist doch dein Mercedes. Du bist also gefahren?«
»Sieh mal an, unser Meisterdetektiv.«
»Herrgott, Jannelle, hör auf«, sagte J. J. verärgert.
»Du und J. J., ihr könntet zurückfahren. Wenn Dad noch bleiben möchte, bringe ich ihn später nach Hause.«
»Prima Idee!« Jannelle legte sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und schritt mit laut auf dem Holzboden klickenden Absätzen so schnell zur Haustür, als hätte sie Angst, dass irgendjemand es sich anders überlegen könnte. J. J., der sie eben noch hatte zum Schweigen bringen wollen, folgte ihr auf dem Fuß, knöpfte seine Jacke zu und brummte etwas wie: »Halt die Ohren steif. Es wird schon wieder. Wenigstens hat sie nicht gelitten.« Die üblichen Plattitüden, die Cissy bereits auf die Nerven gingen. Jannelle verlangte nur: »Sag mir Bescheid wegen des Begräbnisses«, dann war sie zur Tür hinaus. Wenige Sekunden später röhrte der starke Motor auf, der Mercedes setzte zurück und schoss auf die Straße.
»Tut mir leid«, sagte Jonathan, und Beejay gestattete dem alten Mann, als hätte er dessen Traurigkeit gespürt, ihn seinem Vater aus den Armen zu nehmen.
»Hi, Poppa«, sagte er und hieb dem älteren Mann auf die Schulter.
»Ja, hallo, du. Jetzt magst du den Alten doch, wie?«
Cissy erkannte Jonathans Zärtlichkeit für Beejay, die ihr doch ein wenig das Herz wärmte. Sie gab sich Mühe, ihm zu verzeihen, dass er früher ständig seine Frau betrogen hatte, dachte jedoch unwillkürlich, als sie ins Esszimmer gingen, dass Jack, wenn Jonathan treu gewesen wäre, vielleicht auch nicht über die Stränge geschlagen hätte.
Jacks Unfähigkeit, treu zu sein, ist Jacks Problem. Nicht das seines Vaters. Und auch nicht deins.
Sie befreite den kleinen Hund aus dem Tragekäfig, und nach einigen scharfen Kläffern gab Coco den Kampf auf und hüpfte in den Sessel, den Jannelle eben erst freigegeben hatte.
»Bleib du hier bei Cissy und Beejay, ich hole uns etwas zu essen«, schlug Jack vor. »Nur fünf Minuten von hier kenne ich ein tolles Thai-Restaurant.« Er warf seiner Frau einen Blick zu. »Einverstanden?«
»Warum nicht?« Cissy gab sich geschlagen. »Du kennst mich doch. Ich nehme die Dinge, wie sie kommen.«
Jack schnaubte spöttisch, ging zum Garderobenständer und griff nach seinem Mantel. »Genau, immer die Nachgiebigkeit in Person.«
Unbemerkt in den Bereich für betreutes Wohnen in dem Pflegeheim zu gelangen erwies sich als relativ einfach. Elyse gab sich als Mitarbeiterin der Kirchengemeinde aus. In der gleichen Art von Verkleidung, über die Marla sich lustig gemacht hatte, besuchte sie das Heim schon seit ein paar Wochen. Natürlich war es mit einem Code gesichert, doch es war nicht weiter schwer zu beobachten, wenn ein anderer Besucher ihn eingab, und dann die Ziffernfolge zu wiederholen. An der Rezeption saß gewöhnlich eine Frau, deren Tätigkeit sich darauf beschränkte, Stunde um Stunde auf demselben Stuhl zu sitzen. Nach siebzehn Uhr lichteten sich die Reihen des Personals ganz erheblich, da die Bürokräfte nach Hause gingen. Die Telefonanlage wurde auf den Anrufbeantworter umgestellt, der mit dem Backsteinbau nebenan vernetzt war, wo die Pflegeheimpatienten rund um die Uhr betreut werden mussten, so dass die Belegschaft stärker gefordert war.
Die Überwachungskameras waren kein Problem, und Elyse watschelte langsam den Flur entlang und begrüßte die wenigen Insassen, die ihr begegneten. Sie spürte einen durch die freudige Erregung gesteigerten Adrenalinausstoß.
Es war so weit.
Ihr letzter Besuch bei dem Behinderten.
Rory Amhurst. Marlas Bruder. Ein gesunder Junge, der als Kleinkind einen schrecklichen Autounfall erlitten hatte, von seiner eigenen Mutter überfahren wurde. Die Folge war ein bleibender Hirnschaden.
Sicher hatte Marla, die mit Rory im Auto saß, als ihre Mutter zurück ins Haus lief und den Motor für den kurzen Moment laufen ließ, nicht gewusst, was geschehen würde. Rory, noch ein Kleinkind, hatte geschrien, und die etwas ältere Marla hatte ihn daraufhin aus dem Kindersitz befreit, ihn aussteigen lassen und die Wagentür geschlossen. Als Victoria, ihre Mutter, zurückkam, merkte sie nicht, dass der Junge nicht mehr im Fond in seinem Kindersitz saß. Sie legte den Rückwärtsgang ein, trat aufs Gas und überfuhr ihr eigenes Kind, das hinter dem Wagen hockte und vermutlich eine Ameise oder sonst irgendein Insekt auf dem Pflaster betrachtete. Marla, selbst noch ein Kind, konnte keine Ahnung von den Folgen ihres Handelns an diesem Tag gehabt haben. Oder? Sie war doch sicher nicht als Kriminelle auf die Welt gekommen. So etwas gehörte ins Reich der Fiktion, oder? Dass jemand als schlechter Mensch geboren wurde?
Oder nicht?
Es änderte nichts mehr.
Jetzt wollte Marla, dass Rory starb.
Und Elyse war ihre Vollstreckerin.
Rorys Zimmer befand sich am Ende des Flurs. Als Elyse eintrat, saß er im Rollstuhl und starrte auf den Fernseher, in dem eine Wiederholung von South Park lief.
»Hi, Rory«, sagte sie zuckersüß. »Du kennst mich doch noch, oder? Mrs. Smith?«
Er nickte, grinste. Sein Blick war leer, sein Kopf noch immer ein bisschen verformt. Pech, dachte Elyse und zog mit behandschuhten Händen den Beutel mit selbstgebackenen Cookies aus ihrer übergroßen Handtasche. »Darf ich den Fernseher ein bisschen lauter drehen? Weißt du, ich höre schlecht.« Sie drehte die Lautstärke auf, um die Geräusche, die er womöglich von sich geben würde, zu übertönen, entnahm ihrer Tasche dann eine Dose Limonade und gab, während sie mit ihm fernsah, genug Valium hinein, um ein Rennpferd einzuschläfern.
Sie reichte ihm die Dose. Er lächelte dankbar und trank sie aus.
Elyses Gewissen regte sich, als er trank. Er war doch wirklich wie ein unschuldiges Kind und hatte, soweit Elyse wusste, nie jemandem etwas zuleide getan.
Doch Marla war unerbittlich.
»Der Irre muss weg, hast du verstanden!«, hatte sie leidenschaftlich verlangt. »Weißt du überhaupt, wie viel seine Unterbringung in dieser überteuerten Anstalt kostet? Und dann die Physiotherapie und die Sprachtherapie und wer weiß was sonst noch. Es ist ein vergeudetes Leben. Vergeudet. Der Tod ist eine Gnade für ihn. Wer möchte denn schon so leben?«
»Aber er scheint ganz glücklich zu sein«, wandte Elyse ein, aber Marla fixierte sie mit ihrem wütenden grünen Blick.
»Weil er es nicht besser versteht.«
»Und was schadet das?«
»Tust du es nun, oder muss ich es tun?«, fuhr Marla sie an.
»Ich werde es tun. Ohne nachzudenken. Er wird kaum Schmerzen haben … Verabreich ihm einfach Schalentiere. Du kannst sie in Cookies verstecken.«
»Schalentiere?«
»Er ist schwer allergisch gegen Schalentiere. Er wird einen anaphylaktischen Schock bekommen, und das Valium gibt ihm dann den Rest. Überzieh die Kekse nur ordentlich mit Schokoladenguss. Er isst sie, glaub mir.«
Elyse war immer noch skeptisch, als sie die Cookies buk und später einen probierte. Der Krabbengeschmack war kaum wahrnehmbar. Die Kekse schmeckten schal, aber nicht unbedingt schlecht, und mit einem dicken Schokoladengussüberzug waren sie sogar ganz gut.
»Bitte schön, Rory«, sagte Elyse, sah sich über die Schulter hinweg um und hoffte, dass keine von den Hilfskräften zufällig das Zimmer betrat. Rory verfügte über eine Fernalarmanlage, ein Gerät mit einer Ruftaste, das er um den Hals trug. Wenn er die Taste drückte, wusste das Personal, dass er Hilfe brauchte. Sie musste jegliches Risiko ihrer Nutzung ausschließen. »Komm, das da legen wir auf den Nachttisch. Du willst es doch nicht mit Schokolade vollschmieren.«
Er blickte vertrauensvoll zu ihr auf und biss in einen Keks. Ob es klappte? Schon ein einziger Cookie dürfte genug Krabbenöl und gemahlene Shrimps enthalten, um einen Krampf einzuleiten und seine Kehle zuschwellen zu lassen. Falls er ihn aufaß. Doch das war anscheinend kein Problem. Er verzehrte einen Cookie und griff bereits nach dem nächsten, als die Wirkung einsetzte. Er fing an zu zucken, und Elyse schnappte sich eilig sein Notrufgerät und legte es im Bad ab. Dann packte sie sorgfältig die restlichen Cookies wieder ein und schob sie in ihre Tasche. Angst, gemischt mit Adrenalin, schoss durch ihre Adern. In ihrem Kopf drehte sich alles, als ihr bewusst wurde, wie wenig dazu gehörte, sie jetzt zu erwischen, sie auf frischer Tat zu stellen, womit dann alles verloren wäre, wofür sie so hart gearbeitet hatte.
Rory würgte und keuchte, verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und glitt heftig krampfend zu Boden. Elyse schob seinen Rollstuhl und den Rolltisch aus dem Weg, damit seine wild fuchtelnden Arme und zuckenden Beine nicht gegen das Metall schlugen und noch mehr Lärm verursachten als die erstickten Laute, die er ausstieß. Noch einmal drehte sie die Lautstärke des Fernsehers höher. Dann trat sie hinaus in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Sie ging bedächtig weiter und wehrte sich gegen den Drang, einfach loszurennen. Stattdessen lächelte sie auf dem Weg zur Doppelglastür der Rezeption den ihr begegnenden Heimbewohnern lässig zu. Der Flur war so verdammt lang! Er schien sich bis auf die Länge eines Fußballplatzes ausgedehnt zu haben, während sie in Rorys kleiner Wohnung war.
Sie kam an weiteren Zimmern vorbei, in denen ältere, an den Rollstuhl gefesselte Patienten wie Roboter vor dem Fernseher saßen. Eine Schwester sah sie und lächelte, und Elyse, hinter starken Brillengläsern und getönten Kontaktlinsen verborgen, lächelte zurück und nickte. Die Körperpolster waren unbequem, sie schwitzte dank der dicken Schminke noch stärker als aus Angst. Nur mit Mühe konnte sie dem Drang widerstehen, sich umzusehen. Sie kreuzte die Finger und hoffte, dass die blöde Stationsschwester nicht auf dem Weg zu Rorys Zimmer war.
An der Rezeption stritt eine Hilfsschwester mit einer Frau im Rollstuhl, die sich weigerte, ihr Zimmer aufzusuchen.
Elyse schlüpfte an ihnen vorbei. Die Hilfsschwester hob kurz den Kopf und sah Elyse an, bevor sie durch die Doppelglastür in den Eingangsflur gelangte. Sie gab den Code ein, der die Tür nach draußen öffnete.
Nichts rührte sich.
Wie bitte?
Mit rasendem Herzen versuchte sie es noch einmal, und diesmal verrieten ihr ein grünes Lämpchen und ein Summen zum Glück, dass ihr fünfzehn Sekunden blieben, um die Tür zu öffnen.
Und nun zur letzten Etappe ihrer Flucht.
Das Blut rauschte ihr in den Ohren, als sie gehetzt ihrem Wagen zustrebte. Langsam. Mühsam. Als wäre sie nicht von Angst getrieben.
Schon vor der Tür entriegelte sie mit Hilfe der Fernbedienung den Wagen, und da hörte sie aus dem Gebäude einen Aufruhr, der Panik verriet.
Schnelle Schritte. Schreie.
Sie hatten Rory gefunden.
Zu früh!
Es war viel zu früh!
Sie rannte zum Wagen und drückte mit zitternden Händen die Handtasche an ihre Brust. In ihrer Eile ließ sie den Schlüsselring fallen, er rutschte zwischen die Vordersitze.
O Gott!
Der Spalt war zu schmal, sie konnte die Hand nicht hineinschieben.
Verdammt!
Da waren die Schlüssel, doch sie konnte sie nicht erreichen.
Sie saß in der Falle!
Sie konnte nicht ins Heim zurückgehen. Sie musste flüchten. Jetzt. Wenn sie Rory wiederbelebten oder den Notarzt riefen … Dann war alles vorbei. Denk nach, Elyse, denk nach. Mit wild pochendem Herzen und zitternd vor Angst versuchte sie noch einmal, ihre Hand in den engen Spalt zu zwängen, schürfte sich aber lediglich die Knöchel auf und brach einen Nagel ab. Irgendwo in der Ferne jaulte eine Sirene. Elyses Fingerknöchel bluteten, die Schürfwunden brannten.
Sie beugte sich vor, ihre Körperpolster streiften das Lenkrad, als sie den Beifahrersitz nach hinten rückte und nach den verdammten Schlüsseln angelte. Sie bekam sie noch immer nicht zu fassen.
Scheiße!
Verzweifelt hielt sie nach etwas, ganz gleich, was, Ausschau, womit sie den Schlüsselring herausziehen konnte, und entdeckte einen Kleiderbügel, auf dem das Kleid gehangen hatte, das sie im Secondhandshop gekauft hatte. Sie schwitzte wie ein Schwein, als sie nach dem Bügel griff, ihn zwischen die Sitze schob und ihn heftig atmend aus dem Handgelenk heraus drehte, so dass die Schlüssel auf die Fußmatte vor dem Beifahrersitz katapultiert wurden.
Gott sei Dank!
Blitzschnell hob sie den Ring auf, schob den Zündschlüssel ins Schloss und startete den Wagen. Der Motor sprang an, Elyse legte den Rückwärtsgang ein, wendete, und der Taurus schoss davon.
Ruhig Blut. Mach jetzt keine Dummheiten. Nicht zu scharf bremsen, nicht zu schnell fahren. Bleib ruhig.
Mit schweißnassen Händen lenkte Elyse den Taurus durch das Haupttor. Sie musste an den Straßenrand ausweichen, als ein Notarztwagen mit eingeschalteter Sirene vorbeijagte. O Gott, sie mussten sie ja gesehen haben! Jemand würde darauf kommen. Die Schwester würde zwei und zwei zusammenzählen, die Polizei rufen und …
Hör auf! Fahr einfach weiter! Weg hier. Aus der Stadt raus. Nach Süden in Richtung San Mateo. Bringe Entfernung zwischen dich und diese Anstalt. Irgendwann suchst du einen Park-and-Ride-Platz auf und tauschst die Kennzeichen aus. Suchst dir einen Taurus mit ähnlichem Kennzeichen und vertauschst sie. Dann kannst du zurück nach Hause.
Sie beruhigte sich ein wenig und blickte in den Rückspiegel. Niemand folgte ihr, kein Streifenwagen mit blitzendem Licht und heulender Sirene. Niemand, der vorbeikam, verschwendete auch nur einen Blick an sie.
Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag, als sie sich in den Verkehr auf dem Pacific Coast Highway einfädelte.
Sie war in Sicherheit.
Wenn Rory nicht schon tot war, so würde es nicht mehr lange dauern.
Marla würde sich freuen.
Vielleicht.