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Ein Begräbnis sollte nicht von Medienrummel begleitet sein.

Es müsste ein Gesetz geben, das so etwas verbietet.

Doch Eugenia Haversmith Cahills Begräbnisfeier und Beerdigung waren für die Presse weiter nichts als ein Riesenzirkus, dachte Cissy wütend, als sie am Grab ihrer Großmutter stand. Vom Meer her wehte eine steife Brise, die die Schleifen der Blumenarrangements knattern und die Dachplane des kleinen Zelts neben dem Grab flattern ließ, doch das Wetter hatte weder die Polizei noch die Reporter davon abgehalten zu kommen.

Schweine!, dachte Cissy.

Voller Trauer sah sie zu, wie der Sarg ihrer Großmutter in die Erde gesenkt wurde. Sie nahm sich vor, sich selbst eine kurze, schlichte Zeremonie auszubitten, wenn sie starb, so wie Rorys Begräbnis. Nur wenige Familienmitglieder, ein paar knappe Worte des Geistlichen, ein Gebet, ein Lied, und damit basta. Rory Amhurst war ohne viel Aufhebens unter die Erde gebracht worden.

Doch das hier war etwas anderes.

Die hundert Jahre alte Kirche, deren Gemeinde Eugenia fünfzig Jahre lang angehört hatte, war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Stimmen der hinterbliebenen Gemeindemitglieder erhoben sich in Gesang und Gebet. Ein Pastor las langatmig aus der Bibel vor, betete, sinnierte über Eugenias ehrenhaftes Leben und ihren plötzlichen gewaltsamen Tod, als Gott sie »heimrief«. Während der Zeremonie kamen Cissy die Tränen, sie wünschte sich, allein zu sein. Völlig allein. Nicht inmitten einem Meer von Freunden, Verwandten, Nachbarn und Fremden unter dem hohen Dach der Kirche stehen zu müssen, in der ihre Großmutter und ihr Großvater vor einem halben Jahrhundert getraut worden waren.

Während des Gottesdienstes war Jack an ihrer Seite gewesen, was sie als tröstend empfand, obwohl es solch eine Lüge war, solch eine betrügerische Zurschaustellung einer Ehegemeinschaft, die im Begriff war zu zerbrechen. Auch jetzt war er bei ihr, stand unter der tragbaren Markise im kalten Winterregen, als der Sarg ihrer Großmutter neben der Grabstelle ihres Mannes, Samuel J. Cahill, in die nasse Erde herabgelassen wurde. Eugenias Name, Geburtsdatum und die Worte Unsere liebevolle Mutter waren bereits in den Marmor gemeißelt – nur das Datum ihres Todes musste noch nachgetragen werden.

Ach, Gran, dachte Cissy traurig, mit schlechtem Gewissen wegen jedes schlechten Gedankens, den sie als Kind, als Halbwüchsige und als Erwachsene gegen ihre Großmutter gehegt hatte. Wegen ihres wiederholten Wunsches, ihre Großmutter möge »aus ihrem Leben verschwinden«. Aufgrund ihrer Vorliebe für ihren Enkel, zumindest zu Anfang. Aufgrund ihrer strengen Regeln und ihrer Disziplin.

Während der Wind den Regen in die Stadt trieb, setzte Cissy sich. Wieder war Jack rechts von ihr, auf ihrer anderen Seite standen ihr Onkel Nick und seine Frau mit ihrem ihr fremd gewordenen Bruder. Jacks Familie und Eugenias Freunde standen, zum Teil hinter Schirmen verborgen, um das Grab herum. Etwas abseits hielten sich die Polizisten und die Kameraleute eines Senders in der Stadt auf, die die Fahrt zu dem oberhalb der Stadt und der Bucht gelegenen Friedhof auf sich genommen hatten. Die Polizisten rechneten eindeutig damit, dass Marla auftauchte. Mehrere Detectives in Zivil hatten sich unter die Menge gemischt, und die Presseleute warteten diskret in einiger Entfernung. Sie wollten Marla, Cissys Mutter, die aus dem Gefängnis ausgebrochene berüchtigte Mörderin.

Cissy schluckte krampfhaft. Sie konnte nicht bis zum Ende der Zeremonie warten. Ihr stand zu allem Überfluss noch der Empfang im Haus bevor, wohin Freunde und Familie zu einem Imbiss und einem Drink eingeladen waren. Cissy hatte beschlossen, sie lieber in ihr eigenes Haus einzuladen, nicht in das große Haus am Hügel. Es war entschieden zu makaber, an den Schauplatz des Todes ihrer Großmutter zurückzukehren und eine Party zu feiern, und sei es auch noch so ein stilles Fest. Sie stellte sich vor, wie Sara im Geiste den Wert des Anwesens berechnete oder einer ihrer raffgierigen Verwandten sich nach dem Schmuck und den Möbeln ihrer Großmutter erkundigte. Nein, es war besser, zu ihr nach Hause zu gehen, wo Tanya Beejay betreute und Cissy sich, wenn nötig, in die tröstliche Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers zurückziehen konnte.

Der Geistliche forderte die Gemeinde auf, sich zu erheben, und sprach das abschließende Gebet. Jack ergriff Cissys Hand, während ihr Bilder von ihrer Großmutter durch den Kopf schossen: Gran als Gastgeberin von Benefizveranstaltungen, Gran, wie sie bei laut plärrendem Fernseher strickte, Gran, wie sie ihr Bridge beibrachte und unglaublich langwierige Brettspiele durchlitt, Gran, wie sie Cissy ihr erstes Pferd kaufte, einen hochbeinigen beigefarbenen Wallach, den sie auf der Ranch hielten, Gran, wie sie sich freute, als Cissys Bruder James geboren wurde.

Durch einen Tränenschleier blickte Cissy jetzt zu James hinüber. Der Kleine kam schon bald auf die Junior High School. Er bestand fast nur aus Armen und Beinen und affiger Frisur, noch ein Junge, war aber jetzt schon eins fünfzig groß. Bemüht, nicht auf seinem Platz hin und her zu rutschen, wirkte James unglücklich und verlegen in seinem dunklen Anzug und dem blütenweißen Hemd mit Krawatte, alles vermutlich extra fürs Begräbnis eingekauft. Verstohlen sah er zu ihr herüber, und sie brachte ein kleines Lächeln zustande. Er zog einen Mundwinkel hoch. Dann, als wäre ihm bewusst geworden, wie düster und ernst die Situation war, richtete James den Blick wieder auf den Sarg.

Als das letzte »Amen« gesprochen war, drückte Jack Cissy die Hand und ließ sie dann los. Cissy trat vor und warf im Nieselregen eine weiße Rose auf den Sarg ihrer Großmutter, nahm stumm Abschied und strebte dann der wartenden Limousine zu. Sie wollte nicht zusehen, wie die Erde auf den Sarg geschaufelt wurde.

Alles verschwamm vor ihren Augen, als sie zielstrebig zum Auto lief. Sie nickte lächelnd vertrauten Gesichtern zu, blieb aber nicht stehen, um mit ihnen zu reden. Dazu war zu Hause noch Zeit genug. Jetzt wollte sie nur noch schnellstens heim, wo ihr Sohn schon auf sie wartete. Sie hatte Rachelle von Joltz gebeten, die Feier auszurichten, und Tanya hütete Beejay, da er mit anderthalb Jahren Cissys Meinung nach noch zu klein war, um an einem Begräbnis teilzunehmen. Sie hatte ihn auch nicht zu der schlichten Gedenkfeier für ihren Onkel mitgenommen.

Herrje, was für eine Woche! Sie nahm im Fond der Limousine Platz, schlüpfte aus ihren Schuhen und erhob keinen Einspruch, als Jack sich zu ihr setzte. Für heute sollte Waffenstillstand herrschen; es galt nur noch, die angesetzten Programmpunkte zu überstehen.

»Es war eine schöne Feier«, sagte Jack, als der Chauffeur die schwarze Limousine auf die Straße manövrierte.

Cissy warf ihm einen Blick zu, klappte ihre kleine Handtasche auf, entnahm ihr ein kleines Röhrchen Ibuprofen und schluckte ein paar Tabletten ohne Wasser. »Unterlass bitte diese Plattitüden, ja? Davon werde ich für den Rest des Tages noch mehr als genug hören.«

Er äußerte sich nicht dazu, sah lediglich aus dem Fenster. Cissy folgte seiner Blickrichtung und bemerkte einen Mann auf einem Bagger, bereit, die Grube mit Hilfe der großen, rumpelnden Maschine aufzufüllen, sobald die Trauergäste fort waren.

Alles ging ihr auf die Nerven. Die milden Worte, die Beileidskarten, die herrlichen Gestecke – alles reduzierte sich letztendlich auf einen Bagger, der nasse Erde auf einen kostbaren Sarg schaufelte. Sie schauderte leicht bei dem Gedanken und sagte sich, dass nicht Grans oder Rorys Leiche das Wichtigste waren. Ihre Seelen hielten sich jetzt bestimmt an einem »besseren Ort« auf, wie der Geistliche behauptet hatte.

Sie hoffte es von Herzen.

Sie legte den Kopf an die Lehne des Rücksitzes, schloss die Augen und betete um genug Kraft, um die nächsten paar Stunden überstehen zu können. Es hatte fast eine ganze Woche gedauert, bis die Polizei die Leichen freigab, und dann hatte sie mit Deborah Todesanzeigen entworfen und das Begräbnis vorbereitet, zwischendurch noch Termine mit den Anwälten, Versicherungsagenten und Kontenbevollmächtigten wahrgenommen. Die Woche war unter dem Termindruck im Nu verflogen; sie hatte ihren Sohn viel zu selten gesehen, Jack dafür jedoch häufiger, als ihr lieb war.

Er hatte sich ihr ganz zur Verfügung gestellt, und sie hatte es zugelassen und wäre beinahe in die Falle gestolpert, zu glauben, dass eine Versöhnung möglich wäre. Beinahe. Sie hatten sich Essen liefern lassen, die Gestaltung der Begräbnisfeier besprochen und über Gott und die Welt diskutiert, nur nicht über die bevorstehende Scheidung. Er hatte Beejay gehütet, wenn sie Termine hatte und Tanya nicht kommen konnte, er war sogar mit seinem Sohn spazieren gegangen, damit sie den verdammten Artikel über den Bürgermeisterkandidaten fertigschreiben konnte. Er war auch zugegen, als die neue Heizungsanlage installiert und die alte abmontiert wurde. Die ganze Zeit über hatte er ihr geholfen, telefonische Beileidsbekundungen, gute Wünsche und neugierige Fragen abzuwehren. Zusammen hatten sie die Nachrichten angesehen und den Fernseher ausgeschaltet, sobald Marlas Gesicht auf dem Bildschirm erschien oder ihr Name erwähnt wurde.

Cissy hatte sich nicht bei der Polizei erkundigt, ob sie etwas Näheres über die Morde herausgefunden hatten, und selbst wenn, wäre sie zu beschäftigt und zu erschöpft gewesen, um sich damit zu beschäftigen. Doch jeden Abend prüfte sie sämtliche Fenster- und Türschlösser, Riegel und Sicherheitsvorkehrungen im ganzen Haus, manchmal dreimal, bevor sie schlafen ging.

Sie litt nicht unter Verfolgungswahn, das versuchte sie sich wenigstens einzureden. Sie war nur doppelt, dreifach vorsichtig.

Sie öffnete die Augen und sah Jack an; er lächelte zaghaft. Das war nicht dieses selbstbewusste, respektlose Grinsen, das sie lieben und hassen gelernt hatte, sondern ein sanftes Lächeln zur Bestätigung, dass er ihr an diesem Nachmittag beistehen würde.

Ihr dummes Herz machte einen schmerzhaften Satz, und wieder musste sie gegen die heißen, drängenden Tränen kämpfen. Warum ließ sie es zu, dass der Mann ihr so unter die Haut ging? Sie wandte den Blick ab, schaute durch die beschlagenen Scheiben hinaus auf die Straßen der Stadt, wo der Verkehr durch die Pfützen rollte und die Wolkenkratzer aussahen, als könnten sie die Bäuche der düsteren Wolken ritzen, die tief am Himmel hingen.

Sie fühlte sich kalt und körperlos, als ob all dieses tragische Tamtam jemand anderem widerführe.

Aber so ist es nicht, Cissy. Es ist dein Leben.

Mit dem Finger malte sie ein kleines Herz auf die beschlagende Scheibe, wischte es jedoch, erstaunt über sich selbst, rasch wieder fort, als der Wagen vor ihrem Haus anhielt.

»Mach dich auf alles gefasst«, sagte Jack. »Jetzt geht’s los.«

»Ja«, sagte sie, stieg aus und überließ es Jack, den Chauffeur zu entlohnen. Sie straffte die Schultern und trat in das Haus, das sie und Jack erst vor ein paar Jahren gekauft hatten.

Viele von den Gästen, die nicht an den Feierlichkeiten auf dem Friedhof teilgenommen hatten, waren bereits da, und zum ersten Mal kamen Cissy Bedenken, ob es wirklich klug gewesen war, ihr Heim zum Versammlungsort zu bestimmen. Die Zimmer waren jetzt schon gedrängt voll, obwohl die Leute, die dem kurzen Gottesdienst auf dem Friedhof beigewohnt hatten, noch nicht einmal eingetroffen waren. Es würde sehr eng werden. Eugenias Haus auf dem Mt. Sutro hätte die Trauergäste mit Leichtigkeit aufgenommen.

Dennoch, vielleicht zwang diese Enge die Gäste, sich früher zu verabschieden, was ihr nur recht sein konnte.

Sie setzte ein Lächeln auf, das sich so falsch anfühlte, wie es war, und ließ die üblichen Floskeln über sich ergehen. »Tut mir so leid wegen deiner Großmutter« und »wenn ich irgendetwas für dich tun kann, melde dich« oder »Eugenia, sie war eine so starke Persönlichkeit. Ich weiß noch, wie sie einmal …«

Als sie schließlich das Wohnzimmer hinter sich gelassen hatte und im Esszimmer angelangt war, hatte sie das Gefühl, Bloomingdale’s am letzten Wochenende vor Weihnachten überstanden zu haben.

Diedre und Rachelle arbeiteten in der Küche, zogen Platten voller Horsd’œuvres aus Kühlschrank, Mikrowelle und Backofen, um sie dann auf Silbertabletts zu arrangieren. Beejay hielt ein Schläfchen, Tanya trug die gefüllten Tabletts ins Wohnzimmer und brachte die leeren zurück in die Küche, während sich Rosa und Paloma unter die Gäste mischten und Wein, Servietten und Häppchen anboten. Kekse, Kuchen und Torten standen auf einer Anrichte bereit. Scharen von Frauen hatten Leckereien gebracht. Diese Frauen hatten sofort die Schürzen umgebunden und für die Trauergäste zu backen und zu kochen begonnen, sobald sie von dem Todesfall in der Familie erfahren hatten. Das Angebot war umwerfend, es reichte von feinen Pralinen aus der Konfiserie bis zu selbstgebackenem Apfelkuchen und mächtigen, hohen Torten.

»Weißt du nicht, dass du allein vom Anschauen fünf Pfund zunimmst«, sagte eine leise Stimme zu Cissy.

Sie drehte sich um und sah Gwen, ihre Personal-Trainerin, die gerade aus ihrer knielangen, schwarzen Strickweste schlüpfte. Gwen war es zu verdanken, dass Cissy nach der Schwangerschaft die überflüssigen Pfunde wieder losgeworden war. Ihr Haar war dunkel, stufig und zottig geschnitten, ihr durchtrainierter Körper steckte in einem hautengen schwarzen Kleid, ihre Miene war nüchtern. »Ich habe dich schon lange nicht mehr beim Sport gesehen, aber du siehst toll aus. Wenn ich es mir recht überlege, darfst du dir wohl doch ein Stück Torte gönnen. Anscheinend hast du abgenommen.«

»Ein bisschen. Aber ich habe keinen Hunger. Vielleicht später.«

»Und wie geht es dir?« Gwens dunkle Augen waren voller Mitgefühl.

»Ich lebe.«

»Das wird wieder besser«, sagte Gwen und tätschelte ihre Schulter. »Geh nur, unterhalte dich mit deinen Gästen. Wir sprechen uns später.«

»Danke.«

Gwen umarmte sie kurz und tröstlich, griff sich ein Shrimpkanapee und entdeckte Jack, der neben dem Tisch mit den Fotos und Trophäen stand, einer Dokumentation des Lebens ihrer Großmutter. Sie ging zielstrebig auf ihn zu. Im Schein der Kerzen vor diesem Ehrentisch, den Cissy und Deborah in der vergangenen Woche so hastig zusammengestellt hatten, begann Gwen ein Gespräch mit Jack, und ihr eben noch so ernster Gesichtsausdruck machte einer beinahe fröhlichen Miene Platz.

Kannte Jack Gwen überhaupt? Cissy war nicht sicher. Sie besuchte das Fitnessstudio, in dem Gwen sonst arbeitete. Aber so lebhaft, wie Gwen jetzt mit Jack redete, war sie fast sicher, dass sie einander kannten.

Lass es, warnte Cissy sich selbst. Du lässt dich von ihm scheiden, hast du das vergessen? Wieso interessieren dich seine Bekanntschaften? Außerdem befindest du dich auf Grans Begräbnisfeier. Reiß dich zusammen.

Trotzdem gingen ihr Gwen und Jack nicht aus dem Sinn, während sie mit einigen Damen aus dem Bridgeclub ihrer Großmutter redete, lauter Frauen über siebzig mit wachen Augen, die aufrichtig traurig darüber waren, eine gute Freundin und »skrupellose« Mitspielerin verloren zu haben.

Cissy bewegte sich durch das Gedränge von Gästen, die sich entweder aus den Kannen im Essbereich Kaffee oder Tee einschenkten oder Gläser, gefüllt mit Wein, von einem Tisch in der Ecke nahmen. Deborah, die vom Friedhof zurück war, hatte das Kommando übernommen und sorgte dafür, dass Speisen und Getränke nicht ausgingen. Sie nahm den Eintretenden die Mäntel ab und gab sie an Lars weiter. Die Fenster beschlugen, Gläser klirrten, der Geruch von brennenden Kerzen und frisch gebrühtem Kaffee zog durch die Räume. Das ganze Stimmengesumm wirkte wie eine Rauschstörung in Cissys Kopf.

»Schläft Beejay noch?«, fragte sie Tanya, als das Kindermädchen mit einem leeren Tablett vorbeikam.

Tanya nickte. Feine Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Nackenknoten gelöst. Sie wirkte gehetzt und nervös, und Cissy konnte es ihr ausnahmsweise nicht verübeln. »Ich habe eben noch nach ihm gesehen. Er war gerade eingeschlafen, als die ersten Gäste kamen. Er war so müde, dass er bestimmt noch eine Stunde schläft.«

»Gut. Und Coco?«

Tanya verzog ärgerlich das Gesicht. »Ist in ihrem Tragekäfig in Ihrem Büro.« Sie musste die Stimme heben, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen. Immer mehr Gäste trafen ein, der Lärmpegel erhöhte sich stetig. Jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wurde, flackerten die Kerzen, doch die kühle Luft war angenehm, denn im Hausinneren stieg die Temperatur dank der neuen Heizung in Verbindung mit der Körperwärme so vieler Menschen.

Tanya belud ein Tablett mit kleinen Blätterteigpasteten, die mit Pilzen gefüllt waren, während Diedre auf einem weiteren Tablett orientalische Hühnchenspieße um eine Schale mit Erdnusssoße arrangierte. Währenddessen belud Rachelle die Glasteller einer dreistöckigen Servierplatte mit mundgerechten Sandwichhappen.

Unter »Hallo« und »Schön, Sie zu sehen« und »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind« arbeitete Cissy sich zur Treppe vor und bemerkte Jack, der Mäntel, Schirme und Handtaschen einsammelte. Mit zwei Lederjacken und einem Schal beladen folgte er ihr die Treppe hinauf und warf die Sachen auf den stetig wachsenden Mantelhaufen auf Cissys Bett.

»Ist etwas dabei, was dir gefällt?«, fragte er. »Damit könnten wir bei eBay ein Vermögen machen.«

»Ich dachte, Lars kümmert sich um die Garderobe.«

»Er schaffte es nicht mehr allein. Eugenia hatte eine Menge Freunde.«

»Mehr, als ich ahnte. Ich hätte diese Veranstaltung besser im Gemeindesaal abhalten sollen«, sagte sie, »aber der war für einen Hochzeitsempfang reserviert, und in Grans Haus wollte ich nicht einladen.« Seit dem Tag nach dem Tod ihrer Großmutter hatte sie das große Haus nicht mehr aufgesucht.

»Wir schaffen das schon«, beruhigte Jack sie. Er sah ihr in die Augen, und sein Blick war so ernst, so besorgt, dass sie ihm beinahe geglaubt hätte. Dass sie beinahe geglaubt hätte, es gäbe noch eine Chance für sie beide.

Er ist ein Windhund, Cissy. Wie sein Vater. Genauso wie sein Bruder. Das weißt du doch. Lass dich nicht wieder einwickeln.

»Ich habe gesehen, wie du mit Gwen geredet hast.«

»Gwen Crandall? Die Trainerin.«

»Meine Trainerin.«

»Ja, deine Trainerin.«

»Woher kennst du sie?«

Er sah sie streng an, als könnte er nicht glauben, dass sie über so etwas sprachen, noch dazu zu diesem Zeitpunkt. »Ich habe sie kennengelernt, als ich für einen Artikel über Sportclubs in der Innenstadt in verschiedenen Fitnessstudios recherchiert habe. Ihr Club wurde erwähnt. Erinnerst du dich? Wir haben Boxclubs nur für Männer mit den Ausdauertraining-Einrichtungen für Frauen und den Sportangeboten von Hotels und Privatclubs verglichen.« Er hielt inne, dann sagte er: »Ich hoffe, du fragst mich aus den Gründen, die ich vermute.«

»Sie ist sehr schön.«

»Aha. Ich kenne viele schöne Frauen.«

»Tja …« Sie wandte sich ab, kam sich ziemlich dumm vor.

»Wir werden ja nicht mehr lange verheiratet sein.«

»Ach, zum Teufel!« Plötzlich packte er sie. Riss sie einfach in seine Arme und küsste sie so wild, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie keuchte und versuchte, ihn von sich zu stoßen.

»Lass mich los!«

»Willst du das wirklich?«

»Ja!«

Sie spürte, wie ihr die Tränen, die sie den ganzen Tag über bekämpft hatte, in die Augen sprangen, und sie wischte sie wütend ab. Jack war dreist genug, sie auf die Wange zu küssen und in seine Arme zu ziehen. »Ach, Cissy«, seufzte er in ihr Haar. »Warum gibst du dich so verdammt unerbittlich? Warum lässt du niemanden an dich heran, lässt nicht zu, dass jemand dich liebt?« Sie stieß ein leises Schluchzen aus und verachtete sich dafür. »Warum denkst du, du hättest es nicht verdient?«

Sie hatte die Finger in seine Jackenaufschläge gekrallt und hielt sich an ihm fest, als gälte es ihr Leben. Entsetzt ließ sie ihn los. Sie sah zu ihm auf und schüttelte den Kopf. »Das siehst du völlig falsch, Jack. Ich weiß, dass ich es verdiene, geliebt zu werden. Und ich will auch geliebt werden. Von einem Ehemann, der mir treu ist. Die Art von Liebe wünsche ich mir. Die Liebe, die ewig währt. Ich weiß, wir haben überstürzt geheiratet, in einer billigen Zeremonie in einer Kapelle, bei der man sich fragen musste, ob die Trauung überhaupt legal war, aber das, was ich dort gesagt habe, meinte ich ernst. Jedes Wort dieses Gelöbnisses habe ich ernst gemeint, und ich dachte – hoffte –, du hättest es auch.«

»Habe ich. Ich meine es auch jetzt noch ernst.«

»Dann hast du allerdings eine merkwürdige Art, es zu zeigen!«, sagte sie und löste sich von ihm. Der Tag bot ihr ohnehin schon mehr als genug emotionales Auf und Ab; herzzerreißende Szenen mit ihrem treulosen Ehemann fehlten ihr gerade noch.

»Cissy.«

»Nein, Jack«, sagte sie mit Nachdruck. »Jetzt nicht. Nicht heute.«

»Dann lass uns doch um Himmels willen wenigstens einen Waffenstillstand schließen. Nur für heute. Du verdächtigst mich nicht, alles zu vögeln, was sich bewegt, und ich versuche nicht, dich eines Besseren zu belehren. Was hältst du davon?«

Cissy holte tief Luft. »Ach … es ist mir gleich.«

»O nein, Cissy. Es ist dir ganz und gar nicht gleich. Du willst es nur nicht zugeben.«

»Versuch nicht, mich zu analysieren.«

»Dann such du nicht ständig nach Gründen, mich zu hassen.«

»Ich suche nicht …«

»Seit über einem Monat sammelst du Vorwürfe gegen mich, und, nur damit du es weißt, ich habe nicht mit Larissa geschlafen. Es war knapp, ja, das gebe ich zu. Aber ich habe es nicht getan, und weißt du, warum nicht?«, wollte er wissen. »Weil ich dich liebe.«

Damit stapfte er davon und ließ sie zitternd, mit den Tränen kämpfend, stehen. Sie wünschte, sie hätte es wenigstens für einen kurzen Moment gewagt, ihm zu glauben. Warum nicht, Ciss? Warum gibst du ihm nicht noch eine Chance?

Bemüht, ihre Fassung wiederzugewinnen, ging sie zum Zimmer ihres Kindes und rechnete halb damit, dass Jack zurückkam. Doch er kam nicht, und sie war enttäuscht und erleichtert zugleich.

Warum lässt du niemanden an dich heran, lässt nicht zu, dass jemand dich liebt?

Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach. Glaubte er das wirklich?

Sie trat an das Kinderbett aus Holz und sah ihren Sohn friedlich schlafen, die Augen mit den unglaublich langen Wimpern geschlossen, die Wangen rosig.

Wenn sie ihn nur ansah, verflog ein wenig von ihrer Traurigkeit. Sie umfasste die oberste Gitterstange und lächelte auf ihren Sohn herab. Leise wisperte sie: »Ich liebe dich«, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür halb hinter sich. Sie war schon fast bei der Treppe angelangt, als sie etwas hörte, sich umdrehte und den langen Flur mit den vielen halb geöffneten Türen entlangsah.

Ihr Herzschlag geriet ins Stolpern.

Hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet?

Du bist einfach mit den Nerven am Ende. Rechnest immer mit dem Schlimmsten.

Sie ging noch einmal zurück, um nach Beejay zu sehen, obwohl sie wusste, dass ihm nichts fehlte, war sie doch erst Sekunden vorher in seinem Zimmer gewesen. Natürlich schlief er, und niemand war im Raum.

Wie merkwürdig.

Noch immer nicht beruhigt, schritt sie weiter den Flur entlang und schob die Tür zum Gästezimmer auf. Es war leer, das Bett unberührt. Auf der anderen Seite des Flurs befanden sich der Fitnessraum und ihr kleines Büro, und dort fand sie, wie Tanya gesagt hatte, Coco in ihrem Tragekäfig vor, einen Napf mit Wasser neben ihrem zottigen kleinen Körper. Das Hündchen wedelte mit dem Schwanz und blickte erwartungsvoll durch den Maschendraht der Käfigtür zu ihr auf. »Alles wird gut«, sagte Cissy und entschied, dass der Terrier die Ursache des Geräuschs gewesen war.

Sie betrat das Bad, warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken und verzog das Gesicht angesichts ihres Spiegelbilds. Rote Augen, verwischte Wimperntusche, vom Regen glattes, strähniges Haar. So rasch wie möglich frischte sie ihr Make-up auf. Mit einem feuchten Tuch wischte sie die verschmierte Mascara ab, legte den Kopf in den Nacken und träufelte Augentropfen ins untere Lid. Sobald die roten Äderchen im Weißen ihrer Augen langsam verschwanden, legte sie wasserfeste Wimperntusche auf, fuhr sich mit pinkfarbenem Lipgloss über die Lippen und stäubte etwas Rouge auf ihre blassen Wangen. Zum Schluss knetete sie etwas Haargel in ihre schlaff gewordenen Locken. Das Ergebnis war etwas zwischen einem Grunge-Rocker aus den Achtzigern und jemandem, der gerade aus unruhigem Schlaf erwacht war, aber es musste reichen.

Im Grunde rechnete ja jeder damit, dass sie an diesem Tag schlecht aussah. Sie musste nur noch ein paar Stunden durchhalten.

Im Flur stieß sie beinahe mit Lars zusammen, der einen Arm voller hoffentlich unechter Pelzmäntel heraufschleppte. Sie wich ihm aus und ging nach unten. Auf halber Treppe entdeckte sie Jack. Lächelnd, ein Glas Wein in der Hand, unterhielt er sich mit einer Frau, die mit dem Rücken zur Treppe stand. Unvermittelt spannten sich Cissys Nackenmuskeln an. Dieses wellige kastanienbraune Haar würde sie überall als das von Larissa White erkennen.

Sie fühlte, wie alles Blut aus ihren Wangen wich, und stieg die letzten paar Stufen herab.

Was um alles in der Welt hatte Larissa hier zu suchen?

»Die Frau hat Courage«, sagte eine Stimme, als Cissy im Erdgeschoss angelangt war. Sie drehte sich um, sah ihre Schwägerin Jannelle am Fuß der Treppe stehen und an ihrem Weinglas nippen. Auch Jannelle beobachtete, was zwischen Jack und Larissa vorging. »Man sollte seinen Ehemann anpissen, verstehst du, wie ein Hund, zur Markierung des Reviers.«

»Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, hast du eine Bemerkung über meine bevorstehende Scheidung fallengelassen. Ich brauche also kein Revier mehr zu markieren«, erinnerte Cissy sie kalt. Wenn irgendwer als Musterbeispiel für eine Oberzicke gelten konnte, dann war es ihre Schwägerin.

Jannelle zog eine Braue hoch. »Touché. Ich sollte wohl lieber meinen Fuß aus dem Fettnäpfchen ziehen und mir noch ein Glas Wein holen.«

»Tu das«, antwortete Cissy gereizt. Aber da dieses Haus nun mal ihr gehörte und Jack immer noch ihr Mann war, griff sie selbst nach einem Glas Wein und ging selbstsicher auf Jack und Larissa zu.

Larissa sah Cissy an, und ihr Lächeln verlosch. »Es tut mir so leid«, sagte sie, während Cissy sich fast der Magen umdrehte. »Weißt du, ich habe oft mit deiner Großmutter in Cahill House zusammengearbeitet, und sie … sie war eine so großartige Person.«

Cissy nickte.

»Ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen.«

»Ach ja?«

Cissys kühler Tonfall schien Larissa zu verunsichern. »Tja, bis später«, sagte sie zu beiden, indem sie Jack noch einen Blick zuwarf.

Cissy trank einen großen Schluck von ihrem Chardonnay, dem Getränk ihrer Großmutter, der Abstinenzlerin, zu den seltenen Anlässen, wenn sie schwach wurde und einen Schluck Alkoholisches zu sich nahm.

»Ich wusste nicht, dass sie kommen wollte«, sagte Jack.

»Merkwürdig, findest du nicht?«

»Sie kannte Eugenia wirklich.«

»Darum geht es nicht, Jack, das wissen wir beide. Die letzte Ehre erweisen.« Sie schnaubte verächtlich. »Das hätte Larissa in der Kirche tun können. Sie kam her, um eine Erklärung abzugeben.«

»Worüber?«

»Über dich«, sagte sie und trank noch einen Schluck. »Sie steckt ihr Revier ab.«

»Das ist Unsinn«, sagte er, blickte Larissa jedoch nach, als sie die Treppe hinaufeilte, um ihren Mantel zu holen.

»Glaube ich nicht.« Cissy sah Doktor und Mrs. Yang näher kommen und nahm die Gelegenheit wahr, um das Gespräch abzubrechen, das sich zu einem Streit auszuwachsen drohte.

Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor all diesen Leuten.

Eine hitzige Diskussion musste eben noch warten, doch sie war froh zu sehen, wie Larissa in die Ärmel ihres langen Ledermantels fuhr, sich den Schal um den Hals wickelte und zur Haustür ging.

Jack schien sie nicht zu bemerken, nicht einmal, als sie innehielt, um sich über die Schulter hinweg nach ihm umzuschauen. Statt seines Blicks begegnete sie Cissys. Sie ließ sich nicht einmal zu einem Lächeln, Winken oder Abschiedsgruß herab, sondern öffnete einfach die Tür und ging nach draußen.

»Gut, dass sie weg ist«, sagte Cissy leise, ohne zu bemerken, dass Sara neben sie getreten war.

»Ich kann es nicht fassen, dass sie den Mut hatte, hier aufzukreuzen. Was sollte das?« Sara nippte an ihrem Drink und blickte zur Tür. »Weißt du, ich habe diese Qual zwei Mal durchgemacht. Meine beiden Ex-Männer konnten die Finger nicht von anderen Frauen lassen. Aber keine von diesen Frauen hätte es je gewagt, in meinem Haus aufzutauchen.« Noch einmal sah sie auf die geschlossene Tür. »Und das ist gut so. Hätten sie es getan, dann hätte ich sie umgebracht.«