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Während Wildgirl fortgeht, verklingt das Geräusch, das sie macht, als sie unmelodisch an ihrer Ukulele zupft. Ich warte, bis ich ihre Glitzerjacke nicht mehr sehen kann. Dann wende ich mich zur Grey Street. Als ich ein gutes Stück am Diabetic vorbei bin, muss ich nur einmal über die Straße, dann bin ich auf der PanwoodSeite.
Auf der Grey Street ist nicht viel los. Die einzigen Leute, die ich sehe, sind in der Bäckerei und legen Brote auf große Metalltabletts. Ich bleibe kurz stehen und schaue mir die Wegbeschreibung an, die Paul mir geschickt hat. Als ich den richtigen Straßennamen entdecke, biege ich ab. Da erspähe ich über den Zickzackdächern die ersten Anzeichen der Dämmerung.
Meine Knie werden weich und ich bereue es, dass ich Wildgirl nicht mitgenommen habe. Vielleicht schaffe ich es doch nicht allein. Als ich die Hand in die Tasche stecke, spüre ich Papier an den Fingern.
Ich lehne mich an den Zaun und lese den Brief. Sie hat eine verschnörkelte, unordentliche Schrift.
Lieber Wolfie,
ohne dich hätte ich wohl nie meine wahre Berufung als
Ukulelespielerin erkannt und weder die unangenehme Entdeckung gemacht, dass Piraten nicht
besonders gut küssen können, noch die angenehme, dass Wolfboys es
umso besser können.
Das war ja vielleicht eine Nacht.
Ich bin wohl kaum diejenige, die gute Ratschläge erteilen sollte, aber wenn du mich nach meiner Meinung fragen würdest, dann würde ich sagen: Vertrag dich mit Ortolan. Es würde ihr viel bedeuten. Und für dich wäre es auch nicht schlecht.
Ende des Vortrags. Ach ja, GEH DEN KIDDS AUS DEM WEG.
Ende des Vortrags.
Diese Nacht hat nur uns gehört, dir und mir.
Der Brief ist mit NIA xx unterzeichnet und unten in die Ecke ist eine Telefonnummer hingekritzelt.
Ich stecke den Brief sorgfältig zurück in die Tasche und wickele ihn um das Feuerzeug. Jetzt bin ich bereit.
Mit jeder Sekunde wird der Himmel heller. Mandarinenfarbene Wolkenstreifen am Horizont. Während ich mitten auf der Straße laufe, schaue ich hinter mich, auf Shyness, und sehe nichts als blutunterlaufene Nacht. Ich frage mich, ob es Ortolan genauso geht wie mir und sie extra hier wohnt, um in Grams Nähe zu sein.
Vor der schmalen zweistöckigen Ladenfront bleibe ich stehen. Der Name, ›Vögel im Winter‹, hängt als Lichterkette im Schaufenster. Um das Erdgeschoss herum zieht sich ein Wellblechdach, darüber ist im ersten Stock ein Fenster. Dort hocken Ortolan und ein kleines Mädchen mit Trinkbechern und einer Decke. Ortolan hat mich schon die Straße herunterkommen sehen. Ich merke, dass ich keine Ahnung habe, was ich zu ihr sagen soll.
Ich winke.
Das kleine Mädchen winkt übermütig zurück, dann verschwindet es vom Fenster. Als ich auf den Gehweg wechsele, steht Ortolan auf.
Die Ladentür ist blutrot gestrichen, darüber hängt ein dolchförmiges Schild. Hinter der Tür höre ich aufgeregte Schritte. Das Schloss klickt, dann wird die Tür mit Schwung nach innen aufgerissen.
Das kleine Mädchen trägt einen himmelblauen Schlafanzug mit weißen Schäfchenwolken drauf. Sie hat einen Pagenschnitt, wie Ortolan, und sieht mich mit sehr ernsten, sehr blauen Augen an. Dann lächelt sie schüchtern und macht die Tür noch weiter auf.
»Guten Morgen«, sagt sie.