16
Wir arbeiten schnell, ohne nachzudenken. Ich tausche mein kariertes Hemd gegen ein schwarzes T-Shirt und suche eine Jeans, einen schwarzen Rollkragenpulli und eine marineblaue Mütze für Wildgirl heraus.
Dann hole ich mein altes Fahrrad aus der Garage. Es ist verstaubt und voller Rostflecken, aber ansonsten sieht es in Ordnung aus. Während Wildgirl die Reifen aufpumpt, die Kette ölt und die Reflektoren abreißt, packe ich ein paar Sachen aus der Garage in meinen Rucksack: eine Taurolle, eine Plane, Gummiseile, eine Zange, Klebeband, eine Eisenstange. Ich schnappe mir Dads altes Angelmesser und wickele es in einen Lappen.
Es ist, als würde ich mir selbst dabei zusehen, wie ich all das mache. Ich darf nur nicht nachdenken, sonst gehen mir die Nerven durch. Der Plan war, dass Wildgirl nach einem Blick auf Blakes Narben ganz schnell einen Rückzieher machen würde, aber sie hat nicht mal mit der Wimper gezuckt.
Aus der Küche nehme ich mir eine Tüte Mini-Schokoriegel, die ich vor Monaten von einem Kumpel bekommen habe, nachdem ich ihm geholfen hatte, seine neue Bleibe zu streichen. Ich stehe nicht mehr auf Süßes. Ich packe die Schokoriegel in eine Plastiktüte, dann schütte ich ein Glas italienische Kräuter dazu, um den Geruch zu übertünchen.
Blake bleibt im Haus – wenn es mit dem Gnom schiefläuft, will ich nicht, dass sie auf der Straße ist –, und Wildgirl nimmt Blakes Rad. Wir müssen den Sattel etwas höher stellen, aber abgesehen davon passt es gut. Als wir losgehen, schläft Blake schon auf dem Sofa, die Arme über dem Kopf verschränkt.
Wir drehen ein paar Proberunden in der Einfahrt, dann sausen wir auf die verlassene Straße.
Ich bin seit Jahren nicht Rad gefahren. Ich weiß nicht mehr, wann Paul und Thom und ich damit aufgehört haben. Wir müssen ungefähr fünfzehn gewesen sein, als es plötzlich total uncool wurde, auf einem Fahrrad gesehen zu werden. Jetzt, wo Wildgirl nicht mehr in meinem Haus rumgeistert, Sachen anfasst und Fragen stellt, kann ich wieder aufatmen. Aber hundertprozentig glücklich bin ich nicht über das, was wir vorhaben. Wir haben die Sache nicht gründlich genug durchdacht.
»Ich fühle mich wie mit zwölf!«, ruft Wildgirl. Ihre Tasche schaukelt am Lenker. Sie flattert mit den Armen wie ein Vogel, während sie um einen Verkehrskreisel fährt, bis mir schwindelig wird. Ich wollte sie überreden, die Handtasche zu Hause zu lassen, aber sie hat mich angeguckt, als hätte ich gesagt, sie soll sich einen Arm abschneiden. Sie hat darin herumgekramt und als Kompromiss eine Flasche Wasser, ein zerlesenes Buch, einen MP3-Player und eine Sonnenbrille herausgenommen. Nichts konnte sie dazu bringen, die Ukulele dazulassen, vor allem als sie feststellte, dass sie in die Tasche passte.
»Nicht so laut«, mahne ich. Sie benimmt sich, als wollte sie extra auffallen.
Jetzt müssten wir noch in dem Chill-out-Room im Little Death sitzen, unsere Gesichter nah beieinander, wir beide die einzigen Menschen auf der Welt. Stattdessen spielen wir Räuber und Gendarm in den Seitenstraßen. Klar will ich das Feuerzeug wiederhaben, aber es ist nicht alles nur schwarzweiß, wie Wildgirl denkt. Das ist keine leichte Entscheidung. Ich könnte Blake in Gefahr bringen, und vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, das Feuerzeug zurückzubekommen, ohne in Orphanville einzubrechen. Aber darüber haben wir gar nicht erst nachgedacht. Wildgirl sagt, ich soll mich von anderen Leuten nicht so plattwalzen lassen. Dabei hat sie genau das gerade mit mir gemacht.
Wir biegen nach rechts in den Oleander Crescent ein, eine breite Straße mit Zuckerbäckerhäusern, die auf verdorrten Rasenflächen stehen. Sie stehen gleich um die Ecke, aber durch den Blick auf den Fluss sind sie doppelt so viel wert wie mein Haus. Ein leichter Nebel schwebt über dem Boden, die Straße wirkt wie ein verlassenes Filmset. Manchmal sehe ich bei mir in der Gegend wochenlang niemanden auf der Straße.
Wildgirl fährt jetzt langsamer. Eine einsame Straßenlaterne verlängert die Schatten unserer Fahrräder, sodass sie aussehen wie Spinnen, die in unserem Kielwasser schwimmen.
»Wer wohnt da?«, fragt Wildgirl in das Schweigen hinein und zeigt auf die Herrenhäuser.
»Die meisten stehen leer.« Die reichen Leute im Oleander Crescent gehörten zu den Ersten, die Shyness verlassen haben. Die meisten besaßen andere Häuser, in die sie sich flüchten konnten: Strandhäuser oder Mietobjekte in anderen Vororten.
»Warum zieht da niemand ein?«
»Sie sind durch bewaffnete Sicherheitsdienste oder Elektrozäune geschützt. Die Eigentümer hoffen, dass sich die Lage eines Tages ändert und sie zurückkehren können. Verkaufen kann man die Häuser sowieso nicht. Keiner, der halbwegs bei Trost ist, würde hier was kaufen.«
»Wohnen Paul und Thom in der Nähe?«
»Was wird das, Frage und Antwort?« Das kommt schärfer raus als beabsichtigt.
»Wenn es ein Geheimnis ist, brauchst du es mir nicht zu sagen.«
Ich lenke ein, damit keine Kluft zwischen uns entsteht. »Wenn wir aus dieser Geschichte lebend rauskommen, zeig ich dir ihr Haus. Es lohnt sich.«
Wildgirl lässt sich nicht auf eine Diskussion darüber ein, ob wir das hier überleben oder nicht. Ihr reicht es, dass die Kidds etwas Unrechtes getan haben. Sie hat so ein fanatisches Glitzern in den Augen. Den Blick kenne ich von Seelenrettern und Sozialarbeitern.
Wildgirl wird davonkommen. Ich nicht. Selbst wenn sie uns heute Nacht nicht erwischen, muss ich immer damit rechnen, dass die Kidds mich später schnappen.
Der Oleander Crescent schlängelt sich bergab bis zum Fluss. Ich trete fester in die Pedale. Jetzt geht es steil hinab in die nächste Kurve – hier sind wir als Kinder mit Kettcars runtergedüst. Ich umfasse die Bremsen und stelle mich schon mal darauf ein, am Ende der Talfahrt über den Bordstein zu springen. Ich warne Wildgirl nicht. Wenn wir das hier durchziehen wollen, muss sie so was packen.
Härter als gedacht stoße ich auf den Bordstein und fliege fast vom Rad. Ich ziehe am Lenker, um mich auf dem Sattel zu halten. Wir sausen durch einen schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Mein Hinterrad schert auf dem Kies aus und ich kann knapp einem Zaun ausweichen, während ich versuche, das Eiern zu kontrollieren.
Am Ende des Durchgangs warte ich auf Wildgirl, aber sie konnte fast die ganze Zeit mithalten. Hinter den Herrenhäusern rechts und links von uns verläuft der unbefestigte Weg, den Blake uns empfohlen hatte. Er führt die ganze Zeit bis nach Orphanville am Fluss entlang.
»Scheiße!« Wildgirl setzt einen Fuß auf den Boden, um das Gleichgewicht zu halten. Ihre Schultern heben und senken sich. Mit der Mütze fächelt sie sich Luft zu. »Ich bin echt unfit.«
»Du fährst doch gut.« Bei dem Bordstein hat sie nicht gezögert und sie versteht was von Fahrrädern. Ich hätte nicht gedacht, dass Blake und sie sich darüber verbrüdern würden. Ich fühle mich auf meinem immer noch etwas fremd. Der Lenker ist zu niedrig und die Pedale sind lächerlich klein. Zu Fuß wäre ich unwesentlich langsamer.
»Es sieht uns doch keiner, oder?«, fragt Wildgirl.
»Nicht wenn wir uns geschickt anstellen.«
»Nein, ich meine, es sieht mich doch keiner in diesen Klamotten, oder?« Angewidert betrachtet sie ihr Outfit.
Ich fasse es nicht, dass das ihre Hauptsorge ist, bevor wir uns in feindliches Gebiet begeben. Der schwarze Rolli kann ihren sagenhaften Körper nicht verbergen, aber ich bin nicht in der Stimmung für Komplimente. »Du siehst okay aus. Glaub ich jedenfalls.«
Sie zeigt mir den Stinkefinger. Hab ich wohl verdient.
»Dann fahren wir diesen Weg jetzt bis zum Ende?«
Unten am Fluss war ich nicht mehr, seit ich die Schule abgebrochen habe. Früher war das Ufer dicht bewaldet, aber heute ist da nur noch ein Labyrinth aus abgestorbenen Büschen und Bäumen. Der Mond steht hoch am Himmel und scheint auf den glatten, glänzenden Fluss, der sich wie ein Band durch die Landschaft schlängelt. Er führt mehr Wasser als in meiner Erinnerung. Vor uns liegt eine Holzbrücke.
»Ich weiß was Besseres. Komm hier lang.«
Mein Rad zittert unter den unebenen Brettern der Brücke. Wir fahren etwas anders als geplant. Meine alte Schule, St. Judes, liegt auf der anderen Seite des Flusses. Dort gibt es genau so einen Weg. Fast fünf Jahre lang war das mein täglicher Schulweg.
Der Weg ist weiter vom Flussufer entfernt und nicht beleuchtet. Ich trete in die Pedale. Entgegen Wildgirls Behauptung, sie sei nicht in Form, hält sie mit.
Wir fahren in eine Senke, kahle Zweige greifen nach uns. Ich halte mir einen Arm schützend vor das Gesicht, bis es wieder bergauf geht. Der Mond spendet genug Licht, um in alle Richtungen zu sehen: rechts die steile Böschung bis zum schwarzen Fluss, links die silbrige, sanft abfallende Ebene und vor uns die Lichter von Orphanville. Ich senke den Kopf und trete kräftiger.
»Fahr mal langsamer!«, ruft Wildgirl. »Ich will sehen, wo wir hinfahren.« Mit ihrer zurückgeschobenen Mütze sieht sie einer radelnden Elfe jetzt verblüffend ähnlich.
Sofort drosseln wir das Tempo, bis wir kaum noch schnell genug sind, um uns aufrecht zu halten. Keuchend kommt Wildgirl zu Atem, während sie die Hochhäuser vor uns betrachtet. Aus der Ferne wirkt Orphanville massiv und majestätisch, die Lichter glänzen wie Pailletten an den Gebäuden. Oben auf einem der Hochhäuser flackert etwas orange – da macht wohl jemand ein Lagerfeuer.
Wildgirl fährt näher heran und umfasst meinen Lenker. Ich greife nach ihrem und so fahren wir weiter, durch unsere gekreuzten Arme verbunden.
»Ich hätte gedacht, spätestens jetzt würde ich Angst haben.«
»Hätte ich auch von dir gedacht.« Ich genieße das Gefühl, wie ihr Arm gegen meinen drückt, gleichzeitig ärgert es mich, dass ich mich von ihr so beeinflussen lasse. Ich habe Thoms Worte aus dem Little Death wieder im Ohr. So eine Gelegenheit willst du dir entgehen lassen, nur weil eine scharfe Braut ein bisschen nett zu dir ist?
Die toten Bäume stehen jetzt dichter und verdecken Fluss und Ebene. Ein paar Mal bilde ich mir ein, aus den Augenwinkeln Gestalten im Gebüsch zu sehen, Schuljungen in weinroter Uniformjacke. Doch wenn ich hinschaue, ist niemand da. Wenn hier einer die Panik kriegt, bin ich es. In manchen Ecken von Shyness verstärken sich Träume und Erinnerungen, und so muss es hier, auf diesem Weg am Fluss, auch sein. Ich frage mich, ob Wildgirl das wohl spürt.
Ich muss einfach weiterreden. »Wie kommt es, dass du dich so gut mit Fahrrädern auskennst?«
»Als Kind war ich ein halber Junge. Mike und ich sind überall mit dem Rad hingefahren. Wir sind so lange am Strand entlanggeradelt, wie wir konnten, Kilometer um Kilometer, ganz allein. Ganze Tage blieben wir verschwunden.«
Mein Griff um ihren Lenker wird fester. Inzwischen sind wir ein ganz gutes Tandem. Auf eine radelnde Elfe kann ich kaum länger sauer sein.
»Wer ist Mike?«
»Er war mein bester Freund. Er hat in der Wohnung unter uns gewohnt.«
»Warum war?«
»Er ist weggezogen, als ich zwölf war.«
Ich lockere den Griff ein wenig. Jetzt geht es wieder ein Stück bergab und wir werden schneller. Wenn wir auf diesem Weg bleiben, kommen gleich die Überreste eines Autohauses, danach ein paar Sportplätze und dann sehen wir die Türme von St. Judes.
»Ist das die Brücke, die Blake meinte?« Als Wildgirl in die entsprechende Richtung zeigt, schwanken unsere Räder heftig. Ich lasse los, wir driften auseinander.
Über den Fluss zu unserer Rechten wölbt sich zwischen zwei großen Felsen eine Holzbrücke. Jemand hat Gesichter daraufgesprüht. Wir müssen jetzt direkt hinter Orphanville sein. Ich zische ab und komme am Fuß der Brücke schlitternd zum Stehen. Als Wildgirl bremst, ist hinter mir eine Staubwolke.
Die Brücke ist verfallen, fast jede dritte Planke fehlt. Auf der einen Seite ist das Geländer ganz abgebrochen.
»Sieht so aus, als ob wir da zu Fuß drüber müssen.«
Ich springe vom Fahrrad und hebe es hoch, sodass die Stange auf meiner Schulter liegt. Lauter Holzsplitter liegen am Ufer unter uns herum. Der Mond hat sich hinter einer Armada von Wolken versteckt. Alles ist dunkel und still.
Ich stehe nah am Rand der Brücke, dort, wo sie am stabilsten aussieht, und halte mich mit der freien Hand an dem Restgeländer fest. Wildgirl macht es genauso. Die Brücke ist so stark gewölbt, dass ich nicht sehen kann, was uns auf der anderen Seite erwartet.
Wir haben den Scheitelpunkt gerade überschritten, als unter der Brücke drei Gestalten hervortreten.
Das ist gar nicht gut.
Wildgirl lässt ihr Rad los und geht wie in Trance weiter. Ich halte das Rad fest, bevor es umfällt.
Sämtliche Muskeln in meinem Körper spannen sich an, zu allem bereit.