ACHT
Die nächsten Tage vergingen ereignislos. Die Suche nach Goran lief auf Hochtouren, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Nicht nur Einsatzkräfte aus Leipzig waren an der intensiven Suche beteiligt, sondern Beamte aus ganz Sachsen. Alle Bemühungen schienen umsonst zu sein.
Einzig Oskar Jäger konnte die spärlichen Ermittlungsergebnisse ein wenig aufbessern. Seine mühsamen Recherchen in Berlin brachten langsam Klarheit in die verworrenen Strukturen. Das Ministerium für Staatssicherheit hatte insgesamt elf Raubvogelaufträge an seine Mitarbeiter vergeben. Alle sollten den der Republikflucht beschuldigten Fußballer Lars Ehrentraut töten. Einige hatten mit vorgeschobenen Begründungen abgelehnt, andere hatten den Auftrag zwar angenommen, waren aber selbst im Westen geblieben. Ausgeführt hatte die Order letztendlich ein Inoffizieller Mitarbeiter, der den Decknamen ›Kohlhaas‹ trug. Oskar Jäger fand heraus, dass es sich hierbei um den ehemaligen Soldaten und damaligen Kommissar der Volkspolizei Bernd Vogelsang handelte. Die Einzelheiten der Auftragsdurchführung konnte Jäger nicht mehr aufklären, weil die maßgeblichen Akten und Dateien vernichtet worden waren. Jäger fand jedoch eine Aktennotiz, auf der die Wörter ›Alkohol‹ und ›Aufblenden‹ notiert waren. ›Kohlhaas‹ hatte die Notiz selbst geschrieben. Dies war der letzte Beweis, nach dem sie lange gesucht hatten: Bernd Vogelsang hatte Lars Ehrentraut getötet.
Dieser dunkle Schatten in Vogelsangs Vergangenheit war natürlich mehr als eine schwerwiegende Belastung. Ein Hauptkommissar der Kriminalpolizei, zudem einer, der mit Führungsaufgaben betraut war, war Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Und nicht nur das: Er hatte den heimtückischen Mord an einem prominenten Sportler ausgeübt und sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht.
Kroll klappte die Akte zu. »Wenn das herausgekommen wäre, wäre der Vogelsang achtkantig aus dem Polizeidienst geflogen … wenn die ihn nicht noch verhaftet hätten!« Er dachte nach. »Das machte ihn natürlich erpressbar!«
Wiggins nickte. »Und jetzt sind wir kurz vor des Rätsels Lösung. Wir müssen …«, Wiggins machte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, »… nur noch herausfinden, wer ihn erpresst hat.«
»Die Verbindung zu Goran«, bemerkte Kroll emotionslos.
»Die Verbindung zu Goran«, wiederholte Wiggins.
Auf den ersten Blick schien es keine Beziehung zwischen Vogelsang, Ehrentraut und Goran zu geben.
»Glaubst du, Vogelsang hilft uns?«, dachte Kroll laut.
»Wie geht’s ihm eigentlich?«, fragte Wiggins.
»Die Ärzte machen sich keine Hoffnung. Sie haben ihn noch operiert, aber er will sich überhaupt nicht von der OP erholen. Er liegt auf der Intensivstation und dämmert vor sich hin. Er wird künstlich ernährt und beatmet. Sie sagen, er habe sich selbst aufgegeben. Kein Funken Überlebenswille. Er hatte eine Patientenverfügung im Portemonnaie. Wenn sich sein Zustand nicht bessern sollte, liegen bald die rechtlichen Voraussetzungen vor, die Geräte abzustellen.«
Wiggins nickte wieder. »Zurzeit können wir wohl nicht viel machen!«
»Gar nichts!« Kroll goss sich eine neue Tasse Kaffee ein. »Wir müssen diesen Goran endlich verhaften. Dann können wir den Fall zu den Akten legen.«
»Wir haben nur noch Peter Eimnot. Wir sollten dem noch mal auf den Zahn fühlen.«
»Was soll das bringen? Der hat doch nichts zu verlieren! Der wird den Teufel tun, uns weiterzuhelfen.«
Teufel ist eine gute Beschreibung, dachte Wiggins.
Kroll stand plötzlich auf und griff nach seiner Jacke. Das Untätigsein nervte ihn. »Komm! Wir statten diesem Eimnot doch einen Besuch ab. Ist immer noch besser, als Däumchen zu drehen!«
Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Den Polizisten bot sich das gleiche Bild wie bei ihrem letzten Besuch. Peter Eimnot saß in seinem spärlich eingerichteten Wohnzimmer, rauchte selbst gedrehte Zigaretten und trank Bier. Im Fernseher lief eine Talkshow. Widerwillig bat Eimnot die Polizisten, einzutreten und setzte sich in den abgewetzten Sessel. Er gab vor, desinteressiert zu sein, drehte sich abermals eine Zigarette und sah die Polizisten unfreundlich an.
»Und … was wollen Sie schon wieder?«Wiggins beschloss, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. »Wir wissen inzwischen, dass ein gewisser Hauptkommissar Vogelsang Beweismittel gefälscht hat, um Sie aus dem Knast zu holen. Eine vertauschte Leiche … ein falsches Gebiss … und wir wissen auch, warum.«
Eimnot sah demonstrativ auf den Fernseher. »Ja und? Wenn Sie das alles so genau wissen, warum kommen Sie dann zu mir?«
Kroll stand auf und schaltete den Flimmerkasten aus. »Sie haben Vogelsang erpresst, mit einem Verbrechen, das lange zurückliegt.«
Eimnot zündete sich die Zigarette an. Seiner Langeweile gab er durch ein Stöhnen Ausdruck. »Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie zu mir gekommen sind.«
»Wir dachten, es sei auch in Ihrem Interesse, nicht noch mal in den Bau zu gehen.«
Träge ließ der ehemalige Häftling seine Zigarette über den Rand des Aschenbechers rollen. »Ach, meine Herren. Sie hatten doch bestimmt ›Recht‹ auf der Polizeischule. Man kann in Deutschland nicht zweimal wegen derselben Straftat verurteilt werden. Das hat mir mein Anwalt gesagt. Ich bin rechtskräftig freigesprochen und habe sogar eine kleine Haftentschädigung bekommen. Ich bin raus aus der Nummer.«
Kroll konnte nicht abstreiten, dass Eimnot richtig lag. Wiggins kam ihm zu Hilfe. »Wahrscheinlich können Sie in der Tat nicht mehr wegen des Mordes an Annemarie Rosenthal zur Verantwortung gezogen werden. Aber wir reden noch über ganz andere Straftaten: Bestechung, Nötigung, Strafvereitelung … und natürlich der Mord an dem Schriftsteller Lachmann. Das war bislang noch nicht Gegenstand von irgendwelchen Gerichtsverhandlungen.«
Eimnot drückte die Zigarette aus. »Ich werde mit meinem Anwalt darüber reden. Aber ich verstehe immer noch nicht, was ich damit zu tun haben soll.«
Kroll stand auf und setzte sich auf die Fensterbank. »Außerdem gibt es die Verbindung zu Ihrem Freund Goran. Der hat zurzeit nichts Besseres zu tun, als sich mit dem Gesetz anzulegen. Wir hätten da zum Beispiel eine Kindesentführung.« Der Kriminalbeamte schüttelte den Kopf. »Bei Kindern ist unser Rechtsstaat ziemlich humorlos!«
Eimnot zündete sich eine neue Zigarette an. Langsam atmete er den Rauch durch Mund und Nase aus. »Ich kenne keinen Goran.« Zum ersten Mal ließ Eimnot so etwas wie eine Gefühlsregung erkennen. Aus seinem Gesicht blinzelte die blanke Schadenfreude, gepaart mit einer gehörigen Mischung aus Arroganz. »Das müssen Sie bitte mit diesem Goran selbst klären.«
Unausgesprochen blieb der Nachsatz. ›Wenn Sie ihn finden und mit ihm fertig werden.‹
»Sie fühlen sich wohl sehr sicher?«, fragte Kroll.
Eimnot fegte mit der Hand Tabakreste von seiner grauen Jogginghose. »Ach, wissen Sie, Herr Kommissar. Ich war jahrelang unschuldig im Knast. Ich sitze hier in meiner Wohnung und versuche, meine derzeitige Situation so angenehm wie möglich zu gestalten. Was interessiert mich das Leben außerhalb dieser vier Wände. Ich habe meinen Frieden geschlossen und dabei soll es auch bleiben.«
Kroll nahm abermals auf dem Sofa Platz und blickte Eimnot direkt in die Augen. »Herr Eimnot, Sie tanzen auf einem Drahtseil! Das Einzige, was Ihnen noch helfen kann, ist, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten! Sonst stürzen Sie ab!«
Peter Eimnot ging zum Fernseher und schaltete den Apparat wieder an. »War noch was?«
Für Goran war es nicht schwer herauszufinden, wo sich Krolls Wohnung befand. Vor wenigen Tagen war er ihm unauffällig vom Präsidium gefolgt. Darüber hinaus war es für ihn kein Problem, ein Türschloss zu öffnen. Das hatte er im Laufe seines Söldner- und Verbrecherlebens gelernt, das nötige Werkzeug besaß er.
Er wartete den Einbruch der Dunkelheit ab und betrat das Haus in der Tschaikowskistraße. Sein Bein schmerzte noch immer sehr und es erinnerte ihn bei jedem Schritt daran, dass da noch eine Rechnung zu begleichen war.
Die Haustür war nicht verschlossen. Goran ging die Treppenstufen hinauf, bis er vor Krolls Wohnungstür stand. Dann schaute er sich um und horchte an der Tür. Nichts war zu hören. Er zog sein Werkzeug aus der Tasche und machte sich am Schloss zu schaffen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis es sich mit einem leichten Knacken öffnen ließ. Er betrat die Wohnung, ohne das Licht anzuschalten, und sah sich um. Drei Zimmer, Küche, Bad. Nachdem Goran ausgiebig uriniert hatte, beschloss er, das Schlafzimmer aufzusuchen. Er legte sich auf das Bett und wartete. Irgendwann müsste dieser Kommissar ja zurückkommen. Wann, war ihm egal. Er hatte Zeit.
Kroll und Wiggins hatten den Rest des Tages überwiegend mit Büroarbeit zugebracht. Es hatte sich einiges angestaut, was abgearbeitet werden musste. Diesen Kampf mit den Papierbergen hasste Kroll wie die Pest und er hatte sich schon 100 Mal vorgenommen, diese Verwaltungsvorschriften zu ändern, wenn er einmal Bundeskanzler oder mindestens Justizminister werden sollte. Zum Glück hatte er Wiggins, der ihm einen Großteil der lästigen Arbeit geduldig abnahm.
Kroll blickte von einer Akte auf. »Du hast gar nichts mehr von deiner Karriere im Innenministerium erzählt. Wie hast du dich denn jetzt entschieden?«
»Es ist mir gelungen, noch eine Woche Bedenkzeit herauszuschinden. Die scheinen da ziemlich scharf auf mich zu sein, sonst wären die nicht so großzügig. Morgen ruf ich den Minister persönlich an.«
»Und …?«, fragte Kroll.
»Lass mich noch ’ne Nacht drüber schlafen. Natürlich habe ich meine Entscheidung bereits so gut wie getroffen. Ich möchte aber jetzt nicht noch mal darüber diskutieren.« Er lächelte Kroll an. »Du bist ja so oder so unzufrieden. Wenn ich hierbleibe, weil ich meine Karriere versaut habe, und wenn ich gehe, weil ich dich alleine lasse. Also was soll’s?«
»Meine Meinung kennst du. Halt dich bloß nicht für unersetzlich!« Damit wollte Kroll eigentlich nur betonen, dass Wiggins in erster Linie an sich denken und nicht auf ihn Rücksicht nehmen sollte. Er konnte seinem Partner jedoch ansehen, dass diese Bemerkung ihn getroffen hatte. »Du weißt, wie ich das meine. Ich würde dich natürlich extrem vermissen, aber denk doch bitte auch mal an dich.«
»Schon gut«, antwortete Wiggins. Er sah auf die Uhr. »Gehen wir noch ein Bier trinken, Gottschedstraße oder ins Spizz?«
Kroll schaute instinktiv auf die Uhr. »Tut mir leid, mein Freund. Ich bin heute keine angenehme Gesellschaft mehr. Ich bin einfach nur hundemüde. Ich fahr nach Hause und leg mich ins Bett. Aber morgen bin ich bestimmt wieder fit!«
Kroll parkte sein Auto in der Tschaikowskistraße. Er hatte gerade die Fahrertür abgeschlossen, als sich sein Handy meldete. Er schaute aufs Display. Liane Mühlenberg.
»Hallo, Kroll! Ich wollte mich nur zurückmelden. Ich bin wieder im Lande!«
Kroll blieb vor dem Haus stehen, um guten Empfang zu haben. »Na wunderbar. Hast du alles gut überstanden?«
»War halb so wild. Der Tag nach der OP war übel, aber sonst ging es einigermaßen. Die Schmerzen in der Brust sind schon weniger geworden. Am Anfang hat das vielleicht gezwiebelt, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Na ja«, bemerkte Kroll. »Wenn man in einen so schlanken Körper etwas reinstopft, das braucht seine Zeit.«
»Was piepst denn bei dir so ununterbrochen?«
Kroll musterte sein Handy. »Mein Akku ist gleich leer. Aber du hast noch gar nichts von dem Ergebnis deiner Behandlung erzählt.«
Lianes Stimme war überschwänglich. »Ich finde sie einfach klasse, die beiden! Es hat sich echt gelohnt! Endlich kann ich auch mal ein Kleid mit Dekolleté anziehen oder ein Oberteil mit V-Ausschnitt.« Sie machte eine kleine Pause, wurde zögerlicher. »Eigentlich musst du dich selbst von dem Ergebnis überzeugen, ich meine natürlich nicht, dass du …. also denke jetzt bitte nicht etwas Falsches von mir … ach Scheiße, Kroll. Was ich eigentlich sagen wollte … ich habe dich in dieser Woche sehr vermisst.«
Kroll wusste nicht so recht, wie er auf Lianes Worte reagieren sollte. Er versuchte, etwas Zeit zu gewinnen. »Dann muss es ja wirklich sehr schlimm gewesen sein, im Krankenhaus.«
Ihre Stimme wurde leise. »Kroll?«
»Ja?«
»Kannst du nicht einmal ernst bleiben?«
Kroll ging vor dem großen Gründerzeithaus auf und ab. »Ich werde mir Mühe geben.« Er wusste, dass Liane förmlich darauf wartete, dass er sie fragte, ob sie noch vorbeikommen wollte. Aber irgendwie brachte er die Frage nicht über seine Lippen. Er konnte schwerlich sagen, woran das lag, ob an seiner Müdigkeit oder einfach daran, dass ihm die ganze Sache zu schnell ging. Eigentlich mochte er Liane ja gerne, sogar sehr gerne, aber irgendwie konnte er eine gewisse Zurückhaltung einfach nicht beiseite schieben. Er spürte, dass er die eingetretene Stille unterbrechen musste.
»Du, Liane … hör mal …« Kroll vernahm noch einen kurzen Piep-Ton, dann wurde das Display seines Handys dunkel. Der Akku war leer.
Er steckte das Telefon in seine Hosentasche und betrat das Haus. Als er in seiner Wohnung war, schaltete er den Fernseher an. Zum Glück lief ein Fußballspiel. Einen anstrengenden Film hätte er seiner Müdigkeit nicht mehr zumuten können.
Einen Moment überlegte er, ob er Liane nicht wenigstens noch einmal aus dem Festnetz anrufen sollte, beschloss aber, einen Anruf von ihr abzuwarten. Deshalb bemerkte er nicht, dass das Kabel seines Telefons durchgeschnitten war. Kroll ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Dann ließ er sich auf sein Sofa fallen und legte die Beine hoch, während er sich das Fußballspiel ansah. Bald fielen ihm die Augen zu.
Wiggins konnte immer noch nicht glauben, dass sein Kollege die Einladung auf ein Glas Bier ausgeschlagen hatte. Das war eigentlich gar nicht seine Art. Er hatte sich so auf einen Absacker gefreut, dass er nicht unverrichteter Dinge nach Hause gehen wollte. Er entschied sich, noch im Gonzales vorbeizuschauen. Irgendjemanden würde er dort schon treffen, und wenn nicht, war es auch nicht so schlimm.
Er setzte sich an die Theke und bestellte ein großes Weizenbier mit Zitrone. Dies trank er genüsslich, während er sich das Fußballspiel ansah, das in dem Fernseher über der Theke lief. Wie so häufig war der Ton abgestellt. Aber das störte Wiggins nicht. Wenigstens ein bisschen Ablenkung, dachte er zufrieden.
»Wo ist denn heute dein Kollege?«, hörte er eine vertraute Stimme hinter sich. Sie gehörte dem Lokalreporter Günther Hirte.
»Der ist müde«, antwortete Wiggins. Er zeigte auf den freien Hocker neben sich. »Nimm doch Platz und leiste mir ein bisschen Gesellschaft.«
»Eigentlich habe ich schon genug gelöffelt«, grummelte der Reporter und ließ sich neben Wiggins am Tresen nieder. Kurzerhand bestellte er zwei Bier und zwei Tequila.
Wie gewohnt eröffnete er den Abend mit der Erzählung einer lustigen Geschichte, die sich mal wieder nicht oberhalb der Gürtellinie bewegte. »Unterhalten sich zwei Frauen, blond! Sagt die eine, du, ich habe jetzt einen Akademiker. Sagt die andere: Das ist ja supertoll! Aber was ist das überhaupt? Darauf die Erste: Weiß ich auch nicht so genau … aber die haben einen Penis! Die andere: Das ist ja supertoll! … Aber was ist das denn?«
Als die Bedienung den Tequila auf die Bar stellte, war Wiggins für einen Moment abwesend. Es erinnerte ihn schlagartig daran, dass er hier den letzten Tequila mit seiner Freundin Nicole getrunken hatte. Heute Abend war er gar nicht auf die Idee gekommen, sie anzurufen und zu fragen, ob sie sich treffen könnten. Warum hatte er nicht an Nicole gedacht? Gute Frage. Er konnte es sich nicht erklären. Jedenfalls hatte er ein schlechtes Gewissen.
Er nippte an seinem Agavenschnaps und nahm nur beiläufig wahr, dass Günther den Witz zu Ende erzählt hatte. »Weiß ich auch nicht so genau: Sieht aus wie ein Schwanz, ist nur viel kleiner!«
Wiggins war immer noch in Gedanken.
»Fandest du wohl nicht witzig?«
Wiggins drehte sich um. »Doch, entschuldige. Ich war gerade nur …«
Die Stimme des Kommentators wurde lauter. Eine Mannschaft hatte ein Tor geschossen. Kroll wurde aus seinem Schlummer gerissen und öffnete die Augen. Zuerst registrierte er in seiner Schlaftrunkenheit nicht, was er sah. Er glaubte, gegenüber die Umrisse von Goran zu erkennen, und blinzelte mit den Augen. Es war keine Täuschung. Goran saß in dem Sessel, der vor dem Sofa stand und starrte ihn an. Kroll sah ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Die grünen Augen unter dem kahl geschorenen Schädel ließen ihn diabolisch wirken.
Kroll war sofort wach. Er schreckte auf und setzte sich aufrecht hin. »Was willst du hier?«
Goran war die Ruhe selbst. »Ich dir doch gesagt, wir noch Rechnung offen haben. Zeit jetzt da! Wir jetzt hinter uns bringen.«
Kroll griff nach dem Telefon neben dem Sofa.
»Ist kaputt!«, verkündete Goran mit einem kalten Lächeln.
Kroll realisierte auf einen Schlag die Situation, in der er steckte. Er kam sich hilflos und allein vor. Gegen einen trainierten Kampfsportler wie Goran hatte er keine Chance, das war ihm klar. Immer nur reden, dachte er, immer nur reden. »Willst du dich jetzt in der Wohnung mit mir prügeln?«
Goran sah sich im Wohnzimmer um. »Deine Wohnung gut für Kampf. Ich schon in kleinere Häuser gekämpft, damals, in Krieg.« Er erhob sich und stellte sich in die Tür zum Flur. »Steh auf, auf Sofa du keine Chance!«
Kroll sah sich unauffällig nach etwas um, was er als Waffe benutzen konnte, fand aber nichts. Er stand langsam auf und ging auf Goran zu. »Warum hast du Lachmann umgebracht?«
Goran verzog keine Miene. »War Gefallen für eine Freund.«
»Bernd Vogelsang!«
»Das wichtig?«, fragte Goran gleichgültig.
»Für mich schon.«
Der Cage-Fighter lachte freudlos. »Ihr Deutschen alle gleich. Wie ihr immer sagen? Nicht dumm sterben oder so?«
»Warum tust du alles, was Vogelsang dir sagt, schreckst selbst vor einem Mord nicht zurück?«
»Ich viele Menschen getötet. Eine mehr oder weniger, egal.«
»Warum?«, wiederholte Kroll.
»Vogelsang früher bei KGB gewesen. War Speznas.«
Kroll sah Goran fragend an.
»Speznas war Spezialeinheit bei KGB. Haben gemacht Kampf gegen Terrorist und Krieg. Speznas war erste in Afghanistankrieg.«
Kroll überlegte: Das musste schon vor 1980 gewesen sein. Der Westen hatte damals die Olympischen Spiele in Moskau boykottiert.
Goran erzählte weiter. »Meine Vater damals auch Speznas. Vogelsang hat Leben gerettet bei Häuserkampf. Dafür ich in seine Schuld stehe. Soldatenehre.« Goran schob den linken Fuß nach vorne und nahm die Kampfstellung ein. Kroll tat zögerlich das Gleiche.
Wenn du überhaupt eine Chance hast, dann beim Kontern, dachte er. Er beschloss, Goran immer die erste Aktion ausführen zu lassen und hoffte auf eine günstige Gelegenheit.
Dem ersten Tritt konnte er ausweichen. Anschließend gelang es Kroll, einen Faustschlag abzublocken.
»Du gar nicht so schlecht, wie ich denken«, grinste Goran. »Aber nicht gut genug.«
Liane Mühlenberg hatte es mehrfach versucht, Kroll auf dem Festnetz zu erreichen. Ohne Erfolg. Sie überlegte lange, ob es richtig war, einfach bei ihm vorbeizufahren. Schließlich wollte sie nicht aufdringlich sein und Krolls Interesse für sie schien sich deutlich in Grenzen zu halten. Nur einmal hatte er sie im Krankenhaus in Hamburg angerufen. Das hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Aber eigentlich hatte Kroll ziemlich viel Stress. Der Fall, an dem er gerade arbeitete, war bestimmt nicht einfach. Und Stress beeinträchtigte bekanntlich den Liebestrieb. Das war wissenschaftlich erwiesen. Wahrscheinlich musste sie ihrem Angebeten nur auf die Sprünge helfen. Also setzte sie sich ins Auto und fuhr in die Tschaikowskistraße.
Sie hatte bereits zweimal an Krolls Wohnungstür geklingelt. Aber er machte nicht auf. War er etwa noch einmal weggegangen? Plötzlich kam es ihr so vor, als hätte sie ein Geräusch gehört, es klang, als wäre etwas umgefallen. Sie klingelte erneut und lauschte an der Tür. Da stimmt doch etwas nicht, dachte sie. Oder vergnügt sich Kroll gerade mit einer anderen und traut sich nicht, aufzumachen? Wieder so ein Geräusch.
In Krolls Wohnzimmer sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Nichts schien mehr an seinem Platz zu stehen. Kroll blutete aus der Nase. Die Unterlippe war aufgeplatzt. Er spürte, wie seine Kräfte nach und nach schwanden. Bei Goran schien der Kampf noch keine Spuren hinterlassen zu haben.
Beide belauerten sich in Kampfstellung. »Was soll das Ganze?«, krächzte Kroll. »Du hast jetzt deine Rache gehabt. Verschwinde doch einfach. Dann hast du zumindest einen Vorsprung.«
»Kampf auf Leben und Tod.«Dem Faustschlag, der auf ihn zuschnellte, konnte Kroll noch ausweichen. Dem Tritt, der aus der Drehung kam, nicht mehr. Gorans Ferse traf ihn direkt auf die Schläfe. Kroll spürte, dass es dunkel um ihn wurde und seine Beine wegsackten.
Als er das Bewusstsein wiedererlangte, saß Goran auf ihm und drückte ihm mit beiden Händen den Hals zu. Er bekam keine Luft mehr. Kroll sammelte seine letzten Kräfte und drehte sich mit einem festen Ruck auf den Bauch, um wenigstens Gorans Gewicht von seinen Rippen loszuwerden. Goran lockerte den Würgegriff und stand auf. Kroll faltete die Hände unter der Stirn. Er wollte seine Arme zusammenhalten. Die Arme boten immer eine Angriffsfläche für Hebel. Das wusste er. Kroll atmete tief durch, wobei er beim Ausatmen Blut ausspuckte. Ein weiterer Tritt traf ihn am Kopf. Goran setzte sich seitlich auf Krolls Rücken und versuchte, den linken Arm des Polizisten zu strecken. Kroll hielt mit aller Kraft die Hände zusammen.
Eine alte Technik aus dem Judo, dachte Kroll. Wenn Goran den Arm freibekommen würde, könnte er einen Hebel ansetzen, und dann war Kroll verloren.
Goran zerrte mit aller Kraft am Arm seines Gegners. Noch konnte Kroll dagegenhalten. Aber nicht mehr lange. Er spürte, wie seine Finger allmählich auseinander glitten.
Seelenruhig zog Goran den Arm unter Krolls Körper hervor und führte eine Streckbewegung noch oben aus. Kroll drehte sich auf den Rücken, um dem Arm mehr Freiheit zu geben. Aber es nützte nichts. Goran konnte den Hebel weiter ausführen.
»Hör auf! Du brichst mir den Arm!«, schrie Kroll. Goran schien das nicht zu interessieren.
Als der Arm brach, direkt im Ellenbogengelenk, war das knackende Geräusch deutlich zu hören. Als Kroll vor Schmerz laut aufschrie, ließ der Fighter von ihm ab und stellte sich wieder in die Tür.
Kroll kniete sich hin und bog seinen Arm nach vorne. Mit dem rechten Arm hielt er seinen verletzten Unterarm fest und drückte ihn vor die Brust.
Goran schaute auf die Uhr. »Du drei Minuten Zeit, für Verletzung. Dann Kampf weiter.«
Die Schmerzen im Arm waren unerträglich. Kroll sah sich nach etwas um, womit er seinen Arm stützen konnte. In einem Sessel lag noch der Gürtel seines Bademantels. Kroll stand auf und legte ihn sich mit dem rechten Arm um den Hals. Es gelang ihm mühsam, mit Hilfe seiner Zähne eine Schlinge zu machen und festzuknoten. Der Arm lag jetzt ruhig vor seinem Körper. Trotzdem waren die Qualen kaum auszuhalten.
Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er sah Goran an, der noch immer regungslos in der Tür stand. »Was soll das, Goran? Der Kampf ist vorbei. Du hast deine Rache genommen. Lass uns aufhören. Verschwinde! Ich kann dich eh nicht verfolgen!«
»Kampf nicht zu Ende«, erwiderte Goran in gleichgültigem Ton.
»Wovon redest du?« Kroll sah nach unten. »Der Arm ist gebrochen! Nennst du das etwa noch Kampf? Das hat doch nichts mehr mit Kämpfen zu tun! Das ist doch nur noch eine Hinrichtung!« Kroll atmete tief durch und versuchte, den gebrochenen Arm zusätzlich mit der Hand abzustützen. »Das kannst du doch auch billiger haben! Nimm doch einfach eine Handgranate und blas mich in die Luft!«
Goran interessierten Krolls Worte nicht. »Kampf geht weiter!«
Dem Kriminalbeamten blieb nichts anderes übrig, als die Aufforderung anzunehmen. Er wusste, es war vorbei. Er dachte kurz darüber nach, was er alles verlieren würde. Sicherlich nicht nur diese Auseinandersetzung, sondern auch seine Gesundheit und wahrscheinlich sogar sein Leben. Goran würde nicht aufhören, bevor er sicher war, dass Kroll ihm nichts mehr anhaben konnte. Kroll wusste einfach zu viel.
Er hielt den gesunden Arm vor das Gesicht im Bemühen, sich dadurch ein wenig Deckung zu verschaffen. Die Schmerzen im Arm spürte er nicht mehr. Ein Faustschlag traf ihn am Kinn. Abermals sackten seine Beine weg. Durch drei Rückwärtsschritte konnte er gerade so einen Sturz vermeiden. Er stützte sich mit dem rechten Arm auf der Sofalehne ab und drehte seinem Gegenüber den Rücken zu.
Der nächste Haken traf seine Leber. Er fiel auf die Seite. Das Letzte, was er noch mitbekam, war, dass Goran seinen rechten Arm zu sich zog. Dann verlor er das Bewusstsein.
Liane wartete immer noch vor Krolls Wohnungstür. Die Zeit, bis Wiggins endlich eintraf, kam ihr unendlich lange vor. Erleichtert sah sie, wie er die Treppe hoch rannte.
»Hast du einen Schlüssel?«, schrie sie panisch.
Wiggins fragte nicht, was eigentlich geschehen war. Er zog seine Dienstwaffe aus dem Halfter, kramte den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und öffnete die Tür.
»Du wartest hier!« Er stürmte ins Wohnzimmer und registrierte, wie Goran auf dem regungslosen Kroll lag und ihm den Arm verdrehte.
»Polizei! Sofort aufstehen und an die Wand! Sofort! Oder ich schieße!«
Goran schien ihn nicht zu hören. Er ließ nicht von Kroll ab. Die Kugel traf ihn in der Schläfe. Goran fiel auf die Seite. Aus der Schusswunde tropfte nur wenig Blut. Er war sofort tot.