SIEBEN
Den ersten Termin des Tages hatten Kroll und Wiggins bei Staatsanwalt Reis zur Lagebesprechung.»Die Tochter von Annemarie Rosenthal?« schrie Reis. »Das ist doch völlig unmöglich. Wie besoffen war diese Liane eigentlich? Was hat die euch noch alles erzählt?«
»Wir waren alle ziemlich besoffen«, bestätigte Wiggins. »Aber warum sollte Liane das erfinden? Davon hat sie doch nichts.«
Staatsanwalt Reis und die Polizisten waren seit vielen Jahren ein Team. Ihre Zusammenarbeit war geprägt von bedingungslosem Vertrauen und gegenseitiger Wertschätzung. Jeder wusste, dass er sich auf den anderen verlassen konnte. An dem Staatsanwalt schätzten Kroll und Wiggins ganz besonders, dass er sich immer schützend vor seine Mitarbeiter stellte, was bei Krolls Ermittlungsmethoden, die manchmal recht unkonventionell ausfielen, durchaus erforderlich war. Deshalb brauchten sie im persönlichen Gespräch auch nicht auf irgendwelche Etikette Rücksicht zu nehmen und konnten ungezwungen alles ansprechen.
Der Staatsanwalt sah Kroll an. »Kann es sein, dass die dich beeindrucken wollte? Hatte die noch was vor, du weißt schon, was ich meine.«
Kroll hob die Hände. »An dem Abend bestimmt nicht. Da war mit mir mit Sicherheit nichts mehr los!«
»Sei nicht so bescheiden, Kroll«, frotzelte Wiggins. »Die hatte dich auf dem Kieker.«
Reis hakte nach. »Also, Kroll, was ist?«
Kroll stand auf und setzte sich auf die Fensterbank. »Wir hatten seit Längerem den Verdacht, dass Liane die Tochter von Annemarie Rosenthal ist, die damals auf dem Rücksitz saß.« Er zeigte mit dem Finger auf sein Auge. »Denkt doch nur mal an die Lasernarbe hier. Warum wurde sie entführt? Dafür kann es doch nur eine Erklärung geben!« Er sah Wiggins und den Staatsanwalt abwechselnd an. Die warteten auf weitere Erklärungen.
»Wir hatten mal einen interessanten Fall, als ich noch im Betrugsdezernat war. Picasso hat nach dem zweiten Weltkrieg Stiere gemalt. Ganz einfache Zeichnungen. Kohlestift auf Papier. Und dann war da ein pfiffiger Kunststudent aus Leipzig, der ist einfach in ein Antiquariat marschiert …« Kroll ging zum Bücherregal des Staatsanwaltes und nahm sich wahllos ein Fachbuch heraus, schlug es auf und sah den Staatsanwalt an. »Sehen Sie, die erste Seite ist immer ganz weiß.«
Der Staatsanwalt begriff, worauf Kroll hinauswollte. Er duzte die Polizisten, obwohl die beim Sie geblieben waren. Das hatte sich im Laufe der Zeit so eingeschliffen. »Ich kann mir denken, was du meinst. Der Student hatte sich also ein Buch aus dem Jahre 1945 besorgt und einen Stier im Picassostil auf die erste Seite gemalt.«
Kroll nickte. »Ihr werdet lachen! Der hat erzählt, seine Oma hätte das Buch auf einem Flohmarkt in Malaga gekauft. Ein Interessent hat das Bild prüfen lassen und die haben nur das Alter des Papiers und den Malstil untersucht. Das Bild wurde für echt befunden und der kleine Kunststudent hat eine ordentliche Summe dafür einkassiert. Die ganze Sache ist erst aufgeflogen, als weitere Untersuchungen angestellt wurden, die offensichtlich gründlicher waren.«
»Nette Geschichte«, bemerkte der Staatsanwalt. »Aber was hat das alles mit unserem Fall zu tun?«
»Kommt ihr mit auf den Südfriedhof?«, fragte Kroll. »Ich könnte ein wenig frische Luft gebrauchen.«
»Ich auch«, konstatierte Wiggins und sah den Staatsanwalt an.
Der lächelte seine Mitarbeiter an. »Ich habe zwar gestern nichts getrunken, aber wenn ihr meint, wir sollten die Unterhaltung an der frischen Luft fortsetzen, was soll’s.« Er schloss die vor ihm liegende Akte. »Also gut. Fahren wir!«
Der Leipziger Südfriedhof lag im Schatten des Völkerschlachtdenkmals. Wegen der vielen berühmten Persönlichkeiten, die dort begraben wurden, überwiegend Kaufleute, Politiker und Künstler, wurde die Grabstätte auch Père Lachaise des Ostens oder Leipziger Montmartre genannt. Ein Spaziergang über den Südfriedhof vermittelte dem Besucher eher den Eindruck, durch ein Museum zu wandeln als über eine Begräbnisstätte. Gerade die reichen Kaufleute hatten nicht an ihrer letzten Ruhestätte gespart und übertrumpften sich gegenseitig mit prächtigen Skulpturen und kolossalen Wandgräbern.
Die Polizisten und der Staatsanwalt hatten den Friedhof am Haupteingang betreten und gingen gesetzten Schrittes in östliche Richtung, an den Wandgräbern vorbei zum Krematorium.
Staatsanwalt Reis hatte durchaus nichts gegen den kleinen Spaziergang einzuwenden, er wurde jedoch langsam ungeduldig, weil er an die Arbeit dachte, die er am heutigen Tage noch vor sich hatte. »Also, nicht dass die Herren meinen, ich wüsste die frische Luft oder gar diesen schönen Friedhof nicht zu schätzen, aber ich habe leider noch kein Wochenende.«
Kroll beschloss, seine Begleiter nicht länger auf die Folter zu spannen. Sie bogen in den nächsten Weg auf der linken Seite ab und kamen zu den vielen Gräbern, in denen die normalsterbliche Bevölkerung Leipzigs begraben war. Grabstein drängte sich dicht an Grabstein, die meisten schwarz und poliert.
»Als der Prozess wegen des Mordes an Annemarie Rosenthal eröffnet wurde, war sie seit circa einem Jahr tot. Sie wäre 43 Jahre alt geworden.« Er beschrieb mit dem Arm einen Halbkreis über den Gräbern. Wenn Liane die Tochter von Annemarie Rosenthal ist und die Untersuchungen im Labor das nicht bestätigt haben, gibt es dafür nur eine logische Erklärung.«
»Das Material, mit dem der Abgleich gemacht wurde, ist vertauscht worden«, führte Wiggins den Satz zu Ende.
Kroll nickte. »Wir haben das Gebiss aus der Asservatenkammer dem Labor gegeben.« Er sah wieder über die Gräber. »Ich glaube, es ist nicht besonders schwer, eine passende Leiche zu finden. Jeder Tote hat sozusagen seine Visitenkarte direkt über die Erde gestellt. Geschlecht, Geburtsdatum, Todestag – alles ist ganz einfach abzulesen!«
»Du meinst also, die Leichen wurden vertauscht?«, fragte Staatsanwalt Reis skeptisch.
»Nicht jeder Friedhof wird so gut bewacht wie der Leipziger Südfriedhof«, entgegnete Wiggins emotionslos.
Als sie wieder ihr Büro im Präsidium betraten, sah Kroll zunächst mit einem leichten Schrecken den Aktenstapel, der sich auf seinem Schreibtisch angehäuft hatte. Er ignorierte ihn und ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen. Schwungvoll legte er die Füße auf die Tischplatte. Er rieb sich die Augen. »Also. Brainstorming! Was wissen wir? Wir wissen, dass Liane die Tochter von Annemarie Rosenthal ist. So weit, so gut! Wenn das stimmt, und das DNA-Ergebnis richtig ist, hat jemand die Leichen vertauscht. Aber warum? Was soll das bringen?«
Wiggins sah seinen Kollegen ungläubig an. Er konnte nicht einschätzen, ob Kroll wirklich nichts wusste oder ob er einfach nur ein temporäres Brett vor dem Kopf hatte. »Denk doch nur an die Bissspuren auf Eimnots Arm! Die haben die …«, Wiggins malte mit den Fingern beider Hände Gänsefüßchen in die Luft, »… Leiche von Annemarie Rosenthal exhumiert und festgestellt, dass der Abdruck des Gebisses nicht identisch war.«
Kroll stand auf und haute mit der flachen Hand auf den Tisch. »Mensch, Wiggins! Man kann doch nicht so einfach zwei Leichen vertauschen?«
Wiggins zuckte mit den Achseln. »Aber was ist daran denn so schwer? Grab auf, alte Leiche raus, neue Leiche rein, Grab zu!«
»Wer ist denn so skrupellos?«
Wiggins musste nicht lange überlegen. »Goran mit Sicherheit!«Kroll ging zum Fenster und sah hinaus. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er wusste genau, was jetzt als nächstes an die Tagesordnung kommen würde. Deshalb sprach er das Thema von selbst an. »Der Abdruck des Gebisses ist noch nicht alles.«
Wiggins sagte keinen Ton.
Kroll drehte sich um und sah in den Raum. »Das Blut auf der Bluse von Annemarie Rosenthal war nicht von Eimnot!«
»So die unerschütterlichen Ergebnisse aus dem Labor«, stellte Wiggins trocken fest.
»Die Bluse, die untersucht wurde, lag in unserer Asservatenkammer«, überlegte Kroll laut.
Wiggins hatte den Platz hinter seinem Schreibtisch nicht verlassen und beobachtete den Kollegen, der jetzt im Büro auf und ab ging.
»Also nehmen wir einmal an, dass die Leichen vertauscht wurden … was wir bislang nur vermuten … dann kann das ja nur einen Sinn haben, nämlich die Täterschaft von Eimnot zu vertuschen.«
Wiggins führte Krolls Satz zu Ende. »In diesem Fall muss man konsequent sein. Da reicht der Leichentausch nicht aus, man muss außerdem eine kleine Austauschaktion in der Asservatenkammer durchführen.« Kroll nickte. »Die Bluse mit Eimnots Blut müsste entfernt und eine Bluse mit anderem Blut hineingeschmuggelt werden.«
»Und wer könnte das alles prima hingekriegt haben?«, fragte Wiggins schon fast provozierend.
Weil Kroll nicht reagierte, gab Wiggins die Antwort selbst. »Dein guter alter Ausbilder Vogelsang, der von Anfang an mit dem Fall beschäftigt war und sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat!«
Kroll hob beide Hände in die Luft. »Aber das sind doch alles nur Vermutungen! Wo sind die Beweise? Woher wissen wir, dass tatsächlich die Leichen vertauscht wurden?«
Wiggins saß immer noch gelassen auf seinem Schreibtischstuhl. »Das mit dem Leichentausch war doch deine Idee.«
Kroll fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Ideen, Vermutungen. Das ist doch alles viel zu dünn!« Er ging auf Wiggins zu. »Wo ist die Verbindung zu Goran? Wo die zu Ehrentraut? Und nicht einmal zu Vogelsang haben wir eine auffällige Beziehung, außer dass der im Altenheim von Lachmann wohnt, aber das kann auch Zufall sein.« Wiggins antwortete in einer ruhigen und gelassenen Art, die Kroll langsam auf die Nerven ging, weil er sie als arrogant empfand. »Ich finde, es passt bereits eine ganze Menge zusammen. Vogelsang hat sich mit Lachmann getroffen und uns das auch noch verheimlicht. Warum denn bloß? Und der Lachmann hat auch Frau Kuttner besucht. Mensch, Kroll! Der hat die alte Geschichte wieder aufgerollt. Und das wurde Vogelsang vermutlich zu heiß und deshalb musste Lachmann sterben!«
»Gut!« Kroll tat so, als würde er sich geschlagen geben. »Wo ist bitteschön der Zusammenhang zwischen Vogelsang und Ehrentraut?«
»Dein alter Ausbilder war der Raubvogel. Er war wahrscheinlich im Westen auf Ehrentraut angesetzt, er hat ihn bestimmt auf dem Gewissen!« Jetzt stand Wiggins auf. »Und ich möchte alles darauf wetten, dass Vogelsang auf dem Foto zu sehen ist, das Senta Kuttner dem Lachmann gegeben hat.«
»Dann bring mir doch endlich Beweise!«, schrie Kroll verärgert. »Was macht eigentlich unser Kollege in Berlin? Schaukelt der sich nur die Nüsse?« Kroll verließ das Büro und knallte die Tür zu.
Wiggins setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und sichtete die Schreiben, die sich dort angesammelt hatten. Der erhoffte Bericht aus Berlin befand sich genauso wenig darunter wie das Foto von der Tribüne. Er wollte gerade gehen, als sein Telefon klingelte.
»Sekretariat Minister Hassemer. Herr Hauptkommissar, darf ich Sie mit dem Minister verbinden?«
Wiggins verdrehte genervt die Augen. »Aber natürlich, gerne.«
Der Minister begann das Gespräch in seiner gewohnt lässigen Art. »Na, mein lieber Herr Wiggins, wie geht es Ihnen denn heute so?«
»Wir versuchen immer noch, den Mörder des Schriftstellers Willi Lachmann zu fangen. Aber so richtig weiter sind wir da noch nicht gekommen.«
Minister Hassemer wurde sofort ernst. »Hinter dem Fall ist die Presse her wie der Teufel hinter der Seele. Es wäre wirklich nicht schlecht, wenn Sie bald Ergebnisse liefern könnten.«
Wiggins nickte. »Wir tun unser Bestes. Aber das ist nicht einfach. Der Täter hat nicht viele Spuren hinterlassen.«
»Sie machen das schon, Herr Kommissar, da bin ich mir ganz sicher … aber weshalb ich überhaupt anrufe. Haben Sie sich bereits entschieden wegen des Jobs in Dresden?«
Wiggins war erstaunt. »Aber Sie haben mir doch gesagt, ich hätte eine Woche Bedenkzeit.«
»Ja, ja, ich weiß … aber der MP macht jetzt ordentlich Druck. Die ganze Sache wird hier ziemlich hoch gehängt.«
Wiggins war es überhaupt nicht recht, in dieser Angelegenheit jetzt auch noch unter Druck gesetzt zu werden. Außerdem wollte er die Sache erst einmal mit Kroll besprechen und er zweifelte daran, hierzu innerhalb der nächsten Tage Gelegenheit zu finden. Natürlich wollte er aber gleichzeitig die Geduld des Ministers nicht überstrapazieren. »Ich denke, ich kann Ihnen in zwei Tagen Bescheid geben.«
»Also gut!«, beschied der Minister. »Ich erwarte morgen Ihren Anruf.« Damit legte er auf.
»Arschloch«, fluchte Wiggins leise. Er legte kurz den Hörer auf die Gabel und versuchte im Anschluss, den Kollegen Oskar Jäger in Berlin zu erreichen.
»Hallo, Oskar, du hast lange nichts mehr von dir hören lassen.«
»Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Und in meinem Fall ganz besonders mühsam«, stöhnte Jäger. »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für eine Sisyphusarbeit ist. Du kramst nur in alten Akten und musst Klinken putzen ohne Ende. Und glaube nicht, dass dich hier jeder mit offenen Armen empfängt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, stimmte Wiggins ihm zu. »Aber wir kommen hier auch nicht so richtig weiter. Es muss eine Verbindung zwischen dem Fußballer Ehrentraut und Vogelsang geben … und noch eine von Vogelsang zu diesem Goran.«
»Ich hoffe, ich kann euch morgen mehr sagen. Ich bekomme heute Nachmittag noch weitere Akten, die ich extra angefordert habe, zumindest hat man mir das zugesagt, was allerdings nicht allzu viel bedeutet. Aber seien wir mal optimistisch. Ich tu in Berlin, was ich kann, darauf könnt ihr euch verlassen!«
»Das weiß ich doch, Oskar!«, beruhigte ihn Wiggins. »Aber wir haben hier jede Menge Druck. Die Presse ist immer noch an dem Fall dran und in Dresden werden die hohen Herren auch schon ungeduldig.«
»Also nichts Neues«, scherzte Jäger.
»Mach’s gut, Oskar. Bitte melde dich, sobald du was Neues für uns hast.«
»Mach ich, Wiggins, bis morgen.«
Der pensionierte Polizist Bernd Vogelsang saß in einem Sessel in seinem Zimmer in der Herbstvilla und löste Kreuzworträtsel. Er schien mit nichts Besonderem beschäftigt zu sein. Eine Tageszeitung lag zerlesen auf seinem Bett.
Vogelsang schien von Krolls Besuch nicht besonders überrascht zu sein. »Hallo, Kroll, was kann ich für dich tun? Kann ich dir etwas anbieten?«
Kroll kam gleich zum Thema. »Große Scheiße, Bernd! Große Scheiße!«
Sein ehemaliger Ausbilder sah ihn verständnislos an. »Was ist passiert?«
Kroll ließ sich auf das Bett fallen und fuhr sich müde durch die Haare. »Es ist kein Zufall, dass ich heute allein hier bin. Inzwischen bin ich wohl der Einzige im ganzen Präsidium, der glaubt, dass du nichts mit dem Tod von Willi Lachmann zu tun hast!«
Vogelsang stellte wie in Zeitlupe seine Teetasse auf das Tischchen zurück. »Ist das so, Kroll?«
»Na ja, zumindest alle, mit denen ich zu tun habe. Wiggins allen voran und der Staatsanwalt treibt auch die Ermittlungen in deine Richtung …«
»Das meine ich nicht, Kroll«, unterbrach ihn Vogelsang mit ruhiger Stimme. »Ich frage mich, ob es tatsächlich stimmt, dass du an meine Unschuld glaubst?«
Kroll stand auf, ging zum Fenster. Er schaute in den Garten und beobachtete, wie ein Gärtner auf einem Rasentraktor seine Kreise zog. Mit der Antwort zögerte er. Für Vogelsang ein wenig zu lange.
»Ich glaube, dass … du nichts mit der Sache zu tun hast!«
»Danke, Kroll. Das ist mir sehr wichtig.« Der pensionierte Polizist goss sich Tee nach. »Lass uns in aller Ruhe die bisherigen Fakten analysieren. Was spricht denn überhaupt alles gegen mich?«
»Wir sind uns sicher, dass die Leiche von Annemarie Rosenthal vertauscht wurde, und zwar vor ihrer Exhumierung für das zweite Gerichtsverfahren gegen Eimnot. Die haben bei dem DNA-Test im Wiederaufnahmeverfahren einfach die falsche Leiche untersucht.«
Vogelsang konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Das ist jetzt aber wirklich eine kühne Behauptung. Wer ist denn bitte schön darauf gekommen?«
»Eigentlich das Labor. Wir haben die genetischen Merkmale von Liane Mühlenberg mit dem Gebiss in der Asservatenkammer verglichen, das angeblich von Annemarie Rosenthal stammen soll. Und das Ergebnis war eindeutig. Die beiden sind nicht verwandt!« Kroll machte eine kleine Pause, um Vogelsang Gelegenheit für eine Reaktion zu geben. Der tat ihm den Gefallen aber nicht.
»Und …?«
»Wir wissen aber definitiv, dass Liane Mühlenberg Rosenthals Tochter ist. Also wurde ein falsches Gebiss verwendet und weil das wiederum von der exhumierten Leiche stammt, muss jemand die Leichen vertauscht haben.«
Vogelsang nickte nachdenklich. »Verstehe, aber was habe ich damit zu tun?«
»Dieser Leichentausch würde nur dann Sinn machen, wenn auch Schritt zwei gemacht wird!« Abermals wartete Kroll auf eine Reaktion seines Gegenübers. Der hatte sich aber offensichtlich vorgenommen, seinen ehemaligen Schützling die ganze Geschichte allein erzählen zu lassen.
»Wenn der Leichentausch erforderlich war, um Eimnot zu entlasten, musste jemand in die Asservatenkammer gegangen sein und die Bluse mit dem Blut ausgetauscht haben.«
Vogelsang richtete sich in seinem Rollstuhl auf. »Und das soll ich gewesen sein. Aber warum denn? Ich hatte doch überhaupt keinen Grund.«
Kroll wurde verlegen. Es war ihm unangenehm, seinen alten Ausbilder zu verdächtigen, zumal er nicht den geringsten Beweis hatte. Er zuckte mit den Schultern. »Frag doch meine Kollegen. Ich halte das alles für Quatsch!« Er sah auf die Uhr. »Ich muss eh gleich gehen.«
Vogelsang wurde unruhig. Er fuhr mit seinem Rollstuhl neben Kroll, der immer noch am Fenster stand. »So viel Zeit hast du noch. Was denken deine Kollegen?«
Kroll war das Thema zwar unangenehm, trotzdem war er dankbar für die Gelegenheit, Bernd Vogelsang direkt mit den Vorwürfen konfrontieren zu können. »Es ist sicher, dass Lachmann wegen des Todes von Lars Ehrentraut, dem Fußballer, recherchiert hat.« Kroll atmete tief durch. »Die Kollegen glauben, dass du damit etwas zu tun hast.«
Vogelsang fuhr wieder an sein Tischchen zurück und lachte unmotiviert auf. »Aber das macht doch keinen Sinn! Selbst wenn wir einmal unterstellen würden, dass ich etwas mit dem Tod von diesem Ehrentraut zu tun habe, was natürlich dummes Gerede ist, ich kenne den nicht einmal, würde es vielleicht noch Sinn machen, Lachmann zu beseitigen. Aber warum sollte ich dann Eimnot helfen? Haben sich die lieben Kollegen darüber einmal Gedanken gemacht?«
Kroll lächelte freudlos. »Du weißt doch, wie das ist, Bernd. Wenn du nur wenige Spuren hast, musst du halt da ermitteln, wo es geht.«
Vogelsang goss sich erneut Tee ein. »Schöner Rechtsstaat. Dass ich das noch mal erleben muss. Verdächtig des Mordes, der Strafvereitelung und was weiß ich noch alles. Dabei sitze ich hier nur im Rollstuhl, in einem Altenheim, und warte, dass meine Uhr endlich abläuft.«
Kroll ging zur Tür und drückte die Klinke herunter. »Ich muss los, Bernd. Ich gebe dir Bescheid, wenn es etwas Neues gibt!«
Liane Mühlenberg öffnete die Wohnungstür und lächelte Kroll an. »Ich hoffe, ich war gestern nicht zu aufdringlich.«
Kroll erwiderte ihr Lächeln. »Kein Problem. Ich hoffe, ich war gestern nicht zu besoffen.«
Sie begrüßten sich mit einem Kuss auf die Wange. Liane ging in die Küche und Kroll folgte ihr.
»Ich habe gerade frischen Kaffee aufgesetzt.«
Sie setzten sich an den Küchentisch. »Heute Mittag fahre ich nach Hamburg. Morgen früh kann ich in dieser Privatklinik einchecken und morgen Mittag liege ich unter dem Messer.«
Krolls Blick fiel automatisch auf ihren Busen, der sich unter ihrer weiten Bluse nur andeutungsweise abzeichnete. »Bist du sicher, dass du das durchstehst? Ich meine so ganz alleine.«
Liane stellte die Kaffeebecher auf den Tisch. »Das krieg ich schon irgendwie hin. Außerdem bleibt mir eh nichts anderes übrig. Es war schwierig genug, überhaupt diesen Termin zu bekommen. Offensichtlich lässt sich die halbe Welt in Hamburg den Busen vergrößern.«
Kroll hob seine Kaffeetasse hoch, ganz so, als würde er ihr zuprosten. »Ich wünsch dir auf jeden Fall alles Gute und drück dir die Daumen.« Dann musste er lachen. »Und natürlich sind wir ganz gespannt auf das Ergebnis.«
»Ich werde allen rechtzeitig Bescheid geben und Eintrittskarten am Cospudener See verkaufen.«
»Aber für gute Freunde gibt es doch sicherlich eine Privatvorstellung, oder?«, protestierte Kroll.
»Lass dich überraschen«, antwortete Liane mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Kroll wollte die Zeit vor Lianes bevorstehender Abreise noch nutzen, um ihr ein paar Fragen zu stellen. »Dass du die Tochter von Annemarie Rosenthal bist, hat uns natürlich alle überrascht. Da wären wir nie draufgekommen.«
Liane schien das Thema nicht angenehm zu sein. Sie zuckte nur mit den Achseln, stand vom Küchentisch auf und kramte im Küchenschrank herum. Kroll hatte den Eindruck, dass sie ihn nicht ansehen wollte. Er hakte trotzdem nach. »Dann warst du ja ebenfalls im Auto, als das Verbrechen verübt wurde. Warum hast du uns das nicht früher erzählt?«
Liane wühlte immer noch im Küchenschrank. Ihre Bewegungen waren ruckartig. »Retrograde Amnesie!«
»Bitte was?«
»Das ist der medizinische Fachbegriff für einen vollständigen, auf einen bestimmten Zeitraum begrenzten Gedächtnisverlust. Da ist nichts zu machen. Glaub mir, an mir hat sich schon ein Haufen Wissenschaftler versucht: Ärzte, Psychologen, Psychiater, Hypnotiseure und was weiß ich noch alles. Ich kann mich einfach nicht mehr an die Vorkommnisse von damals erinnern.« Sie drehte sich um und sah Kroll wieder an. »Und glaub mir, das ist besser so.«
Kroll nickte und schlürfte seinen Kaffee. »Tut mir leid, wenn dir das zu nahe geht. Aber es gehört einfach zu meinem Job, auch unangenehme Fragen zu stellen.« Liane tat so, als würde sie das alles nicht mehr interessieren. »Ist doch kein Problem. Allerdings gibt es dazu nicht mehr zu sagen. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Punkt aus!«
Kroll überlegte, ob es etwas bringen würde, die Zwangsadoption noch einmal zur Sprache zu bringen. Der Klingelton seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken.
Er vernahm die beunruhigte Stimme einer Schwester aus der Herbstvilla. »Unser Bewohner Bernd Vogelsang hatte vor einer knappen Stunde einen Herzinfarkt. Wir haben sofort die Rettung informiert. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Universitätsklinik, Liebigstraße.«
Kroll war sprachlos. Die Schwester beendete die kleine Pause. »Er hat Ihre Adresse und Rufnummer für Notfälle hinterlassen.«
»Meine Rufnummer?«, fragte Kroll erstaunt.
»Er hat keine Verwandten mehr«, antwortete die Schwester mit entschuldigender Stimme.
»Vielen Dank. Ich melde mich.«
Für einen Moment überkam Kroll sein schlechtes Gewissen. Sein alter Kollege Bernd Vogelsang hatte seine Nummer bestimmt schon vor vielen Jahren, wahrscheinlich sogar bei seinem Einzug in die Herbstvilla, hinterlegt. Mit Sicherheit war er davon ausgegangen, dass Kroll ein wenig mehr Zeit für ihn aufbringen würde. Er hatte ihn enttäuscht.
Als er in der Uniklinik anrief, erfuhr er, dass Bernd Vogelsang unmittelbar auf die Intensivstation gebracht worden war und dort weiter untersucht werde. Derzeit würde überlegt, ob und wann er operiert werden müsse. Vermutlich sei ein Bypass unumgänglich. Kroll wurde gebeten, einige nützliche Dinge wie Waschzeug und Schlafanzug vorbeizubringen.
Nachdem Kroll aufgelegt hatte, wandte er sich wieder in Richtung Liane. »Ich muss leider los.«
»Ist etwas passiert?«
»Bernd Vogelsang hatte einen Herzinfarkt.« Kroll schüttelte gedankenversunken den Kopf. »Ist schon komisch, gerade, bevor ich zu dir gefahren bin, war ich noch bei ihm. Da war er völlig ruhig, völlig unaufgeregt. Und jetzt das « Er stand auf und küsste Liane auf die Wange. »Noch mal alles Gute. Ich melde mich spätestens morgen, versprochen.«
Sie hielt ihn am Arm fest und gab ihm einen Kuss auf den Mund. »Bitte vergiss mich nicht. Ich brauche auch ein bisschen Unterstützung.«
Vogelsangs Zimmer in der Herbstvilla war nicht anzusehen, dass sich dort vor wenigen Stunden ein Notfall abgespielt hatte. Das Bett war frisch gemacht. Auf dem Tischchen stand immer noch die Kanne Tee mit der Tasse. Bernd Vogelsangs Rollstuhl lehnte sorgfältig zusammengeklappt an der Wand. Feuchte Spuren auf dem Boden verrieten, dass das Zimmer vor Kurzem gereinigt wurde. Möglicherweise hatte Vogelsang während der Herzattacke noch etwas fallen gelassen oder seinen Harndrang nicht mehr kontrollieren können.
Kroll sah sich im Zimmer um. Alles war penibel ordentlich aufgeräumt. Er fragte sich, ob das an Vogelsang oder an dem Personal in der Herbstvilla lag. Er setzte sich aufs Bett, genau auf die Stelle, wo er vor gut zwei Stunden schon einmal gesessen hatte. In den letzten Tagen war Kroll zwar öfter hier gewesen, er hatte jedoch nie die Gelegenheit gehabt, den Raum auf sich wirken zu lassen. Die Arbeit hatte beharrlich alles andere verdrängt. Was war das für eine Kammer? Hübsch, groß, hell mit einem netten Blick in den Garten. Zweifellos das Beste, was Seniorenheime weit und breit zu bieten hatten. Aber wie hatte Vogelsang sich ausgedrückt? Ich sitze nur im Rollstuhl in einem Altenheim und warte, dass meine Uhr endlich abläuft. Irgendwie war es bedrückend, sich an einem Ort aufzuhalten, von dem man wusste, es ist die letzte Station vor dem Finale. Ohne Familie, ohne Freunde und als einzige Kontaktadresse ein ehemaliger Kollege, der sich nicht blicken lässt.
Die Tür öffnete sich und eine Schwester kam herein.
Kroll hatte das Gefühl, seine Anwesenheit rechtfertigen zu müssen. »Das Krankenhaus hat mich gebeten, Herrn Vogelsang Waschzeug und Schlafanzüge zu bringen. Wie geht es ihm?«
»Er wird gerade untersucht. Die Ärzte wissen noch nicht, ob sie ihn operieren können.«
Kroll lächelte gequält.
»In dem Alter ist das nicht mehr so einfach. Mehr weiß ich leider auch noch nicht.« Die Schwester presste die Lippen zusammen. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Vielen Dank, ich such nur die Sachen fürs Krankenhaus zusammen und bin dann schon wieder verschwunden. Das schaff ich schon allein.«
Sie nickte Kroll kaum merklich zum Abschied zu und schloss die Tür.
Kroll sah sich im Zimmer um und versuchte, sich für zu sammeln. Er öffnete die Schranktür. Die Schlafanzüge waren kaum zu übersehen. Sie lagen frisch gebügelt und ordentlich zusammengefaltet in dem oberen Fach des Schrankes. Er nahm den Stapel und legte ihn aufs Bett. Für einen Moment hielt er inne. Eigentlich war seine Aufgabe so gut wie erledigt. Das Waschzeug würde er mit Sicherheit schnell im Bad finden. Es machte also keinen Sinn, weiterhin in den Sachen seines ehemaligen Kollegen zu suchen. Zudem empfand er es als nicht besonders anständig, die Gunst der Stunde zu nutzen, während Bernd Vogelsang mit dem Leben kämpfte. Aber die Versuchung war einfach zu groß. Zu viele offene Fragen rankten um seinen früheren Ausbilder. Und außerdem, dachte Kroll, wenn ich jetzt ein wichtiges Beweismittel finden würde, wäre das als sogenannter Zufallsfund sogar verwertbar. Letztlich war es die beruhigende Legalität, die sich zumindest plausibel darstellen ließe, die ihn ermunterte, sich weiter umzusehen. In den oberen Fächern der Schrankes waren noch weitere Kleidungsstücke untergebracht, Pullover, T-Shirts, Unterhemden, Socken, Unterwäsche und lange Unterhosen. Kroll führte seine Hand behutsam unter jedes Teil und tastete den Bereich darunter ab. Es war aber nichts Auffälliges zu finden.
Er schaute sich den Rest des Schrankes an. An der Kleiderstange hingen Anzüge, Jacketts und sorgfältig gebügelte Oberhemden. Unten, auf dem Bodenbrett des Schrankes, standen mehrere Schuhkartons in verschiedenen Größen. Kroll öffnete jeden einzelnen und untersuchte ihn sorgfältig, indem er die Schuhe und das Papier, das sich zwischen und in den Schuhen befand, herausnahm. Auch dort befand sich nichts Verdächtiges. Kroll schloss die Schranktür und legte sich auf den Boden, um unter den Schrank zu gucken. Anschließend streifte er mit seiner Hand die Rückwand des Möbels ab. Nichts Besonderes.
Erneut sah er sich im Raum um. Sein Blick blieb am Nachttischchen seines ehemaligen Ausbilders hängen. Kroll dachte nach. Eine Durchsuchung dieses Bereiches war sicherlich auch im Nachhinein nicht mehr mit einem Zufallsfund bei der Suche nach einem Schlafanzug zu rechtfertigen. Aber vielleicht nach einer Zahnbürste oder Medikamenten? Er sah kurz zur Tür, dann öffnete er die obere Schublade des Nachttischchens. Darin fand er tatsächlich Medizin in allen möglichen Formen, die ihn nicht näher interessierte. Weiterhin entdeckte er eine Taschenlampe, Taschentücher und ganz unten den Playboy mit Katarina Witt aus dem Jahre 1998. Kroll musste schmunzeln.
Er öffnete die kleine Tür des Tischchens, ein Schuhkarton kam zum Vorschein. Er nahm ihn heraus, setzte sich aufs Bett und öffnete gespannt den Deckel. Lauter Fotos quollen ihm entgegen, überwiegend SchwarzWeiß-Aufnahmen, deren Glanz schon matter wurde und die an den Rändern ausfransten. Kroll nahm einige Fotos aus der Schachtel und betrachtete sie genauer. Nahezu auf jedem von ihnen war Vogelsang zu sehen, meist in der Uniform der Nationalen Volksarmee. Ein Bild, das relativ weit oben lag, erweckte Krolls Aufmerksamkeit ganz besonders. Es war auf der Tribüne eines Fußballstadions aufgenommen worden, offenbar unmittelbar vor der Siegerehrung.
Kroll schloss den Karton, um ihn wieder in das Nachttischchen zu legen. Er zögerte. Das Bild, das er sich zuletzt angesehen hatte, war für die weiteren Ermittlungen von großer Wichtigkeit. Aber es gab juristische Probleme. Seine heimliche Schnüffelei würde ihm jeder halbwegs sattelfeste Verteidiger um die Ohren hauen. Und was sollte er Vogelsang sagen, wenn sein alter Ausbilder wieder aus dem Krankenhaus zurückkam? Er hatte hinter seinem Rücken spioniert, als er mit dem Leben rang. Kroll hielt inne. Er nahm das Foto heraus und steckte es zwischen die Schlafanzüge. Sein Gewissen beruhigte er mit dem Argument, dass er das Foto ja wieder zurücklegen könnte, bevor Vogelsang wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Das würde ja sicherlich ein paar Wochen dauern. Und dann waren sie vielleicht schon weiter und er konnte auf offiziellem Wege einen Durchsuchungsbefehl beantragen.
Er ging ins Bad, holte das Waschzeug und fuhr ins Revier.
Wiggins empfing ihn mit einem schlechten Gewissen. »Tut mir leid, Kroll, wenn ich vorhin …«»Ist gut«, unterbrach ihn Kroll. »Schau dir lieber mal das Foto an. Das habe ich in Vogelsangs Nachttischchen gefunden.«
Wiggins musterte seinen Kollegen ungläubig. »Hast du etwa …«
»Zufallsfund!«, raunzte Kroll. »Jetzt komm schon her.« Er holte die Aufnahme von der Tribüne heraus und zeigte auf eine Person, die unauffällig zwischen den Zuschauern saß. »Das ist Bernd Vogelsang!« Während Wiggins das Bild betrachtete, lief Kroll aufgeregt hin und her.
Wiggins lehnte sich zurück. »Wir können sicher sein, dass Frau Kuttner uns bestätigen wird, dass sie dieses Foto Willi Lachmann gegeben hat.«
»Und jemand hat es für Vogelsang aus Willis Wohnung geholt …«, führte Kroll den Gedanken seines Partners fort.
»… unmittelbar nach dessen Ermordung!«, ergänzte Wiggins.
Kroll ging zum Fenster und sah hinaus. »Bernd Vogelsang hat den Fußballer Ehrentraut auf dem Gewissen. Und Lachmann hat das herausgekriegt!«
»Alles andere ergäbe keinen Sinn«, bestätigte Wiggins.
Kroll ging zu seinem Schreibtisch, griff nach der Wasserflasche, die dort stand, und führte sie zum Mund. »Und deshalb musste Lachmann sterben.« Er setzte sich an seinen Schreibtisch und massierte sich die Stirn. »Aber wieso Eimnot? Was hat der Mord an Annemarie Rosenthal mit der ganzen Geschichte zu tun?«
Wiggins zuckte mit den Achseln.
»Was macht die Fahndung nach diesem Goran?« »Wie vom Erdboden verschluckt«, bemerkte Wiggins lakonisch. »Dieser Arzt, Dr. Dankner, hat ihn zuletzt gesehen. Das ist auch schon alles.«
Plötzlich sprang Kroll auf und rannte aus dem Büro. »Moment, ich hab da eine Idee«, rief er Wiggins noch zu, bevor die Tür hinter ihm zuknallte. Er stürmte die Treppen hinunter bis in den Keller des Präsidiums, in dem sich die Asservatenkammer befand. Die Aufsicht über die Beweisstücke führte Jupp, der seit einigen Jahren pensioniert war, jedoch nicht von seiner Arbeit lassen konnte und seine Dienste weiterhin als ›Freier Mitarbeiter im Justizdienst‹ anbot. Eine sinnvolle Aufgabe für den alleinstehenden Rentner und eine willkommene Sparmaßnahme für den öffentlichen Haushalt.
Jupp saß an seinem staubigen Schreibtisch und löste Kreuzworträtsel. Wie immer trug er seinen blauen Kittel über der abgewetzten hellen Cordhose. Als er Kroll sah, leuchteten seine Augen. Jupp war dankbar für jede Abwechslung, und über Krolls Erscheinen freute er sich ganz besonders, weil der sich für gewöhnlich ein wenig Zeit für eine Unterhaltung nahm und nicht so gestresst oder gar herablassend war wie viele andere Kollegen.
Kroll legte seine Hand auf die Schulter des alten Mannes. »Na, Jupp, immer noch auf der Suche nach des Rätsels Lösung?«
Der Hüter der Asservatenkammer hielt das Rätselheft in die Höhe und machte ein ernstes Gesicht. »Mit ein wenig Glück gewinne ich eine Lamadecke und zwei Flaschen Vita Buerlecithin. In meinem Alter braucht man so etwas.«
Kroll riss Jupp die Zeitung aus der Hand und sah sich das Rätsel genauer an. »Redensart für ›Zum Veräppeln brauch ich keinen anderen‹?«
»›Verarschen kann ich mich selbst!‹«, lachte Jupp.
Kroll lehnte sich an ein Regal an. »Und, mein Lieber, sonst geht’s dir gut? Oder bringt dich der Stress langsam um?«
Der Rentner schaute besorgt drein. »Ist hart an der Grenze. Aber mit meinem ausgeglichenen Chi kriege ich das schon hin.«
»Hast du beim letzten Kreuzworträtsel auch noch ein Buch über Buddhismus gewonnen?«
»Nein, das war beim Bingo im Seniorencafé.«
Kroll lachte über die Schlagfertigkeit des Pensionärs und vor allem über seine Gabe, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Er fragte sich für einen kurzen Moment, warum Jupp nie geheiratet hatte, kam dann aber doch zum Anlass seines Besuches. »Ich brauche mal wieder dein legendäres fotografisches Gedächtnis.«
»Du brauchst mich nicht zu loben, Kroll. Ich helfe dir auch so. Das weißt du doch.« Er lächelte schelmisch. »Ich hab doch eh nichts Besseres zu tun.«
Kroll schnippte mit den Fingern und hielt den Zeigefinger in die Höhe. »Wo liegen das Gebiss und die Bluse von Annemarie Rosenthal?«
Jupp verdrehte gelangweilt die Augen. »Fach TD 211.3R.27. Von hier aus das dritte Regal, ziemlich in der Mitte, zweites Fach von oben. Sonst noch was?«
Während Kroll zu dem beschriebenen Regal ging, öffnete Jupp seine Schreibtischschublade und holte eine Flasche Himbeergeist sowie ein Pinchen heraus und stellte es auf die Tischplatte.
»Willst du auch einen Kurzen?«, rief er in Richtung Kroll.
»Ne, lass mal. Ich habe noch einen langen Tag vor mir!«, rief Kroll zurück.
»Wer nicht will, der hat schon«, murmelte Jupp vor sich hin und schenkte sich ein Schnäpschen ein.
Kroll legte die durchsichtigen Plastiktüten mit Bluse und Gebiss vor Jupp hin. »Wer war alles an diesen Sachen dran?«
Jupp zuckte mit den Schultern und trank sein Glas in einem Zug leer. »Der ermittelnde Beamte, wer sonst.«
»Vogelsang!«
Der Pensionär nickte.
»Und wann zuletzt?«, fragte Kroll.
Jupp überlegte einen Moment und antwortete zögerlich: »Das war irgendwie komisch. Der Fall war eigentlich schon lange abgeschlossen und dieser Eimnot saß hinter Gittern. Da kam der Vogelsang zu mir und hat die Sachen noch mal mitgenommen.«
»Wann genau war das?«
»Weiß ich nicht genau. Ist schon ein paar Jährchen her. Zwei oder drei vielleicht.«
Kroll gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. Jupp war ein netter und anständiger Mensch. Allerdings hörte seine Intelligenz schlagartig nach dem Lösen eines Kreuzworträtsels auf. Aber er war ohne Frage der Letzte, dem Kroll irgendwelche Vorwürfe machen würde oder gar Schwierigkeiten bereiten wollte. Er sah Jupp mit einem besänftigenden Blick an.
»Eine Quittung gibt es nicht, oder?«
Der Freie Mitarbeiter im Justizdienst sah zu Boden. »Würde ich bei dir doch auch nicht verlangen.«
Kroll verabschiedete sich und ging zurück in sein Büro.
Wiggins hetzte ihm auf dem Flur entgegen. »Kannst du mir mal sagen, wo du gewesen bist? Ich hab dich überall gesucht!«
Kroll sah Wiggins fragend an. Der zog ihn am Ärmel Richtung Ausgang. »Die Fahndung hat Goran aufgespürt! Der sitzt im McDonald’s, Innenstadt!«
Sie liefen durchs Treppenhaus. »Reis ist informiert! Er hat die Einsatzleitung übernommen. Goran sitzt oben in der ersten Etage. Das McDonald’s ist brechend voll!«
»Scheiße!«, fluchte Kroll.
Sie verließen das Präsidium und rannten zum Auto. »Ich will da keinen Uniformierten sehen, weiß Reis Bescheid?«
»Der ist ja nicht doof!«, schrie Wiggins, während er die Autotür öffnete.
Der Weg vom Präsidium in die Fußgängerzone der Leipziger Innenstadt war nicht weit. Sie verzichteten auf Blaulicht und Sirene, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ich muss mich im Hintergrund halten«, erklärte Kroll. »Goran kennt mein Gesicht.«
Wiggins nickte und gab Kroll dessen Dienstwaffe. »Die habe ich dir mitgebracht, kann bestimmt nicht schaden.« Dann tastete er instinktiv nach seiner Waffe, die im Halfter unter seinem Jackett steckte.
Sie stellten den Wagen neben der Thomaskirche ab. Das Schnellrestaurant lag um die Ecke. Goran konnte den Dienstwagen nicht sehen.
Staatsanwalt Reis erwartete sie neben dem Haupteingang von McDonald’s. Sein Blick war sorgenvoll. »Da drin ist der Teufel los, als gäbe es in Leipzig keine andere Wirtschaft. Wir müssen alles tun, um eine Panik zu verhindern. Die Sicherheit der Gäste hat oberste Priorität.«
Kroll nickte. »Der riecht einen Bullen auf 20 Meter Entfernung!«
»Ist mir klar«, antwortete Reis. »Deshalb haben wir keine Fahrzeuge in der Fußgängerzone. Ein Zugriff im Restaurant ist viel zu gefährlich. Wir müssen ihn beim Rausgehen erwischen. Das ist unsere einzige Chance!«
»Wie viel Personal haben wir hier?«, fragte Kroll.
»Zwei Mann sind drinnen und sondieren die Lage.« Reis deutete auf eine Gruppe von acht Personen, die zehn Meter entfernt stand. »Diese Kollegen sind vom SEK. Sie werden den Zugriff durchführen, sobald Goran das Lokal verlässt. Das muss reichen. Mehr können wir nicht riskieren.«
Kroll atmete tief durch. Er war alles andere als beruhigt. Spätestens seit dem Aufeinandertreffen in der alten Brauerei wusste er, dass Goran eine tickende Bombe war: ein ausgebildeter Kampfsportler, rücksichtslos und brutal. Sein eigenes Leben schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren.
Goran saß an einem kleinen Tisch am Fenster und aß die restlichen Pommes Frites, die er in Ketchup tauchte. Er war unruhig. Andauernd sah er aus dem Fenster und drehte sich um. Sein rechter Fuß trommelte unaufhörlich auf den Boden.
Die beiden Beamten, die sich im McDonald’s befanden, hatten sich im Erdgeschoss etwas zu essen gekauft, der Einfachheit halber ein Menü mit Getränk. Die orangefarbenen Tabletts vor sich hertragend, gingen sie vorsichtig die Treppe hinauf. Auch für sie war das alles andere als ein Routineeinsatz. ›Lasst euch bloß nicht anmerken, dass ihr Polizisten seid!‹‹, hatte der Staatsanwalt gesagt. Wenn das immer so einfach wäre.
Eine Horde grölender Schulkinder rannte die Treppe hinunter. Zwei Kinder rempelten einen der Beamten an. Sein Tablett wackelte, der Colabecher zappelte hin und her, fiel aber nicht herunter. Der Polizist atmete tief durch. Gerne hätte er sich den Schweiß von der Stirn gewischt, hatte aber keine Hand frei. Sie gingen nach oben.
Als sie das Obergeschoss erreicht hatten, blieben sie einen Moment stehen und taten so, als würden sie einen freien Platz suchen. Sofort erkannten sie Goran. Ihre Blicke trafen sich aber nicht. Glücklicherweise wurde direkt hinter Goran gerade ein Tisch frei. Die Beamten gingen den Gang entlang. In wenigen Sekunden würden sie ihn passieren.
»Im Nachhinein frage ich mich, ob es richtig war, zwei männliche Beamte in das Schnellrestaurant zu schicken«, zweifelte Reis draußen. »Vielleicht ist das doch zu offensichtlich. Zwei Männer! Ein Mann und eine Frau wären sicherlich unauffälliger gewesen!«
Kroll zuckte mit den Achseln. »Was soll’s. Ich denke, das ist momentan eh egal!«
Der vordere Beamte im Restaurant war jetzt auf einer Höhe mit Goran, keinen halben Meter von ihm entfernt. Seine Arme wurden steif vor Aufregung. Das Tablett fing leicht an zu zittern, sodass der Colabecher wackelte. Goran drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen. Der Polizist beschleunigte seinen Schritt und ging auf den freien Tisch zu.
Der andere Beamte spürte, wie sich unzählige Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten. Im Schneckentempo ging er hinter seinem Kollegen her, das Tablett fest umklammert. Goran hatte einen Kaffeebecher in beide Hände genommen und die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt. Sein Blick schien über den Becherrand durch den ganzen Raum zu wandern, wie der Leuchtkegel einen Scheinwerfers.
Der Polizist traute seinen Augen nicht, als ein kleiner Junge auf sie zugerannt kam und sich zwischen ihnen hindurchdrängte. Ein Arm berührte das Tablett, die Cola fiel zu Boden.
»Kannst du nicht besser aufpassen, du Blödmann!«, schrie ihm der Beamte mit bebender Stimme hinterher. Der Junge drehte sich auf dem Treppenabsatz kurz um und zeigte lachend den Mittelfinger.
Eine Mitarbeiterin des Restaurants kam schnell mit einem Eimer und einem Aufnehmer zu Hilfe.
»Das ist mir wirklich sehr unangenehm, aber …«
»Kein Problem!«, erwiderte sie. »Sie können mir glauben, ich habe hier schon Schlimmeres erlebt als eine umgekippte Cola.«
Während des Gespräches mit der Angestellten hatte der Polizist sich einen Moment vorgebeugt. In diesem winzigen Augenblick wurde der obere Trägergurt seines Waffenhalfters sichtbar. Nur ein Stückchen Kunstleder, nicht mehr.
Aber Goran war es nicht entgangen. Ruhig ließ er seine rechte Hand unter die Tischplatte gleiten. Links hielt er noch immer den Kaffeebecher und beobachtete den Raum. Das Klappmesser, das er aus seinem Stiefelschaft holte, versteckte er in der flachen Hand. Dann stellte er den Kaffeebecher auf den Tisch und legte die Hände zusammen, als würde er beten. Erneut sah er sich um.
Von hinten kam ein Mädchen auf ihn zu, das er auf circa 13 Jahre schätzte. Sie wollte die leeren Verpackungen ihrer Mahlzeit entsorgen.
Goran stand auf und ging zu dem Mädchen, das gerade sein Tablett in den Container geräumt hatte. Die Polizisten beobachteten gespannt die Szene. Sie hatten keine Möglichkeit, von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen. Dazu war das Lokal zu voll. Auch konnten sie Goran nicht überwältigen. Nicht nur, dass er inzwischen zu weit entfernt stand, er wäre ohnehin mit beiden fertig geworden. Die Beamten sollten die Lage nur im Auge behalten. Die Truppe vom SEK stand unten vor der Tür.
Mit einem Mal ging alles ganz schnell. Goran legte von hinten seinen linken Arm um den Hals des Mädchens und zog es ruckartig nach hinten. Mit der rechten Hand drückte er ihm ein Messer an den Hals. »Alle raus hier!«, brüllte er. »Alle raus, sonst ist Kleine tot!«
Das Mädchen brachte keinen Ton heraus. Sie konnte nicht einmal schreien. Ihre Stimme war erstickt.
Die Polizisten erhoben sich ebenfalls und gingen auf Goran zu.
Plötzlich rannte ein Junge, er mag ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, auf Goran zu. »Lass meine Schwester in Ruhe, du Schwein!«
Ein gezielter Tritt von Goran beendete die Aktion. Der Junge fiel mit voller Wucht vor die Wand und starrte Goran mit verzweifelten Augen an.
Der Beamte, der Goran am nächsten stand, hielt seinen Ausweis in die Höhe. »Polizei! Alle raus hier! Alle raus. Keine Panik.«
Fluchtartig verließen alle Gäste die obere Etage. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis nur noch der Profiboxer, das Mädchen und die beiden Beamten im Restaurant waren.
»Gib auf, Goran! Das hat doch keinen Sinn! Das Lokal ist umstellt. Du kommst hier sowieso nicht mehr raus. Lass das Mädchen laufen. Du machst doch alles nur noch schlimmer!«
Goran verzog keine Miene. »Ich gebe nie auf. Ich bin Soldat.« Er deutete eine knappe Kopfbewegung in Richtung Treppe an. »Raus hier! Ihr auch! Ich meine es ernst!«
»Lass doch wenigstens das Kind laufen!«, flehte ihn der Polizist an.
»Raus!«
Die Polizisten gingen zur Treppe.
»Moment!«, schrie Goran, als sie die Treppe erreicht hatten. »Ich brauche Waffe. Aber langsam, mit zwei Fingern nehmen, auf Boden legen und mit Fuß zu mir schießen.«
Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drückte er das Messer weiter an den Hals des Kindes. Ein dicker Blutstropfen trat hervor und lief die Klinge herunter. Das Mädchen war immer noch gelähmt vor Angst.
Kroll und Wiggins konnten sich denken, warum die Gäste der oberen Etage auf einmal fluchtartig das Restaurant verließen. Die Kommissare waren bemüht, gemeinsam mit den SEK-Männern das Erdgeschoss zu räumen. Es dauerte nicht einmal zwei Minuten, bis das Lokal vollständig leer war. Nur noch Goran und das Mädchen befanden sich im Obergeschoss.
Jetzt bestand für die Polizei kein Grund mehr, unauffällig im Hintergrund zu bleiben. Reis hatte den Eingangsbereich großzügig mit dem rot-weißen Absperrband von der Fußgängerzone abgetrennt. Uniformierte Polizisten hielten die Schaulustigen, die sich inzwischen in beachtlicher Anzahl eingefunden hatten, höflich, aber bestimmt auf Abstand.
Die beiden Einsatzkräfte, die die Lage im Restaurant beobachten sollten, brauchten nicht viele Worte, um Reis den Ernst der Lage zu vermitteln.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte der Staatsanwalt und trat mit voller Wucht vor eine neben ihm stehende Mülltonne. Kroll hatte ihn noch nie so emotional erlebt. Reis war eigentlich die Ruhe selbst und verlor nie die Beherrschung. Aber diese Situation schien alle Grenzen zu sprengen.
»Ihr verdammten Idioten!«, herrschte er die Beamten an. »Ich habe gesagt, dass ihr euch im Hintergrund halten sollt! Und was macht ihr? Kann mir mal einer erklären, wie der Typ euch erkannt hat? Das war so dilettantisch wie … was weiß ich noch was! Da ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Morgen rede ich mit eurem Vorgesetzten und jetzt macht euch bloß aus dem Staub!«
Die Polizisten ließen sich mit dem Staatsanwalt auf keine Diskussion ein. Betreten räumten sie das Feld.
Kroll wartete einen Moment, bis er den Eindruck hatte, dass sich der Staatsanwalt wieder beruhigt hatte, und ging auf ihn zu.
»Verdammt, Kroll! Der hat ein junges Mädchen in seiner Gewalt.« Im gleichen Atemzug war der Staatsanwalt bemüht, sich zu sammeln. »Wir müssen jetzt ruhig bleiben! Bloß nicht die Nerven verlieren. Ich habe bereits unsere Psychologin Frau Dr. Holzmann informiert. Sie müsste jeden Moment hier eintreffen!«
»Bei Goran kann uns kein Psychologe weiterhelfen«, sagte Kroll. Er konnte ein sarkastisches Lachen nicht unterdrücken.
»Was schlägst du vor?«, fragte Staatsanwalt Reis.
»Ich geh rein und rede mit ihm.«
Der Staatsanwalt nickte zögerlich.
Kroll betrat das Restaurant. Als er wenige Meter von der Treppe entfernt war, schrie er in Richtung Obergeschoss: »Mein Name ist Hauptkommissar Kroll! Ich würde gerne mit Ihnen reden.«
»Deine Stimme ich kenne. Haben wir schon gesehen?«
Kroll wollte die Frage nicht beantworten. Er wollte nicht, dass Goran sich an ihr letztes Treffen in der Brauerei erinnerte. Das würde die Situation nicht entspannen.
Goran stellte sich vor die Treppe. Das Mädchen hielt er wie ein Schild vor seinen Körper.
»Ah! Mein Gegner aus alte Brauerei. Gut, dass du da bist. Wir haben eh noch Rechnung offen!«
»Gib auf, Goran! Das Lokal ist umstellt. Du kommst hier nicht mehr raus.«
»Ha! Ha! Ha!« Es war ein bitteres Lachen, das Kroll entgegenschlug. »Weißt du, wie oft ich von feindliche Soldaten war eingekreist? Schon 100 Mal habe ich gehört diesen Spruch. Und ich immer noch am Leben!«
Kroll versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Du bist Soldat, Goran. Gehört es zu deiner Ehre, wehrlose Mädchen als Geisel zu nehmen? Lass die Kleine laufen. Nimm mich, ich bin Bulle! Das zählt doch mindestens genauso viel!«
Abermals das bittere Lachen. »Wir haben Krieg! Keine Regeln und keine Ehre. Hundert gegen einen. Ist das etwa fair?«
Kroll wartete einen Moment. »Was willst du? Wie stellst du dir das jetzt vor? Wie soll es weitergehen?«
»Guck mal, was ich habe hier!«
Ein Gegenstand in der Größe eines Tennisballs flog über die Treppe und landete direkt vor Krolls Füßen. Kroll erschrak, als er die Handgranate erkannte. Mit einem zweiten Blick stellte er jedoch fest, dass der Zündungsring noch nicht gezogen war.
»Ich gehe nie ohne Reisetasche aus Haus«, schallte es von oben. »Ich habe noch ganze Menge davon! Und du glaube nicht, dass ich an Leben hänge. Ich wollte immer in Krieg sterben … und wenn heute ist, dann heute. Tod von Zivilisten gehört dazu!«
Kroll war nicht mehr fähig, rational zu denken. Alles, was er sagte, entsprang einer eigenartigen Spontanität. Er konnte nur hoffen, dass er keinen Fehler machte. »Der Krieg ist lange vorbei, Goran! Das Mädchen hat niemandem etwas zuleide getan und es ist bestimmt nicht dein Feind. Lass sie laufen. Ich komme unbewaffnet hoch und du kannst mich in Gefangenschaft nehmen. Du hast doch die Waffen! Wir spielen nach deinen Regeln!«
Es vergingen zwei lange Minuten, in denen sich nichts regte. Kroll wurde bewusst, dass er schon lange kein Lebenszeichen mehr von dem Mädchen gehört hatte. Aber das Kind musste am Leben sein. Eine tote Geisel war Gorans Todesurteil. Das wusste er bestimmt.
Endlich wurde die Stille unterbrochen. »Wir beide machen unsere Kampf später! Hier nicht, und nicht heute!«
»Was willst du?«, fragte Kroll.
Wieder Stille.
»Ich brauche Hubschrauber!«
Kroll war sich nicht sicher, ob er sich verhört hatte. »Einen Hubschrauber? Bist du wahnsinnig? Wo soll der denn landen?«
Gorans Antwort folgte prompt. »Direkt vor Tür. Oder glaubst du, ich will noch machen Marathon?«
»Der kann hier doch nie im Leben landen. Zwischen den Häusern etwa? Dafür ist doch gar kein Platz!«
»Ihr schafft das. Nehmt eine kleinen. Die Pilot soll Hubschrauber vor Tür stellen und aussteigen. Und: Motor anlassen!«
Kroll kehrte zurück in die Fußgängerzone, wo Reis ihn aufgeregt erwartete. Neben ihm standen ein Mann und eine Frau, denen die Verzweiflung deutlich anzusehen war.
»Das sind die Eltern von dem Mädchen«, erklärte der Staatsanwalt.
Kroll sah in die verweinten Augen der Mutter. »Ihrer Tochter geht es gut. Zumindest was man unter diesen Umständen gut nennen kann. Sie ist wohlauf und körperlich unversehrt.« Beim Reden fiel Kroll auf, dass er den Gesundheitszustand des Mädchens gar nicht beurteilen konnte, weil er es nur kurz gesehen hatte. Er wollte den Eltern jedoch etwas Beruhigendes sagen.
»Ich gehe da jetzt rein und hole unsere Tochter raus«, verkündete der Vater entschlossen.
Kroll versuchte ihn zu besänftigen. »Sie müssen uns vertrauen. Wir kennen den Täter. Er ist bewaffnet. Jede unüberlegte oder überstürzte Handlung könnte das Leben Ihrer Tochter gefährden. Wir müssen jetzt alle Ruhe bewahren.«
Der Vater des Mädchens nickte und nahm seine Frau in den Arm.
Kroll spürte, dass die Unruhe des Mannes sich noch nicht gelegt hatte. »Ich verspreche Ihnen, wir werden Ihre Tochter heil herausbringen.«
»Ich nehme Sie beim Wort, Herr Kommissar.«
Kroll ging mit dem Staatsanwalt zur Seite. »Er ist bewaffnet und verfügt über Handgranaten. Wie viele, weiß ich nicht, aber bestimmt eine ganze Menge. Er hat eine Reisetasche dabei … sagt er zumindest.«
»Scheiße!«, fluchte Reis. »Das hat uns gerade noch gefehlt!«
»Es kommt noch schlimmer. Er will einen Hubschrauber. Der soll direkt vor der Tür landen.«
»Der will was? Ist der jetzt völlig verrückt geworden? Und das mitten in der Fußgängerzone?«
Kroll bemühte sich, sachlich zu bleiben. »Wir haben Piloten, die kriegen das hin.«
»Und dieser Goran? Kann der überhaupt so ein Ding fliegen?«
»Da bin ich mir ziemlich sicher«, antwortete Kroll. »Der war lange beim Militär und hat das dort bestimmt gelernt.«
Reis atmete tief durch. »Kommt gar nicht infrage! Der fliegt doch nicht mit einem Mädchen und einer Tasche voller Handgranaten durch Leipzig.«
Kroll sah den Staatsanwalt an. »Haben wir eine andere Wahl? Außerdem könnten wir den Helikopter leicht verfolgen. Den kann man nicht einfach so verstecken.«
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie die Rotorengeräusche des Hubschraubers hören konnten. Wenige Sekunden später konnten sie ihn sehen. Unmittelbar vor der Landung wirbelte er jede Menge Dreck auf und die Polizisten hielten sich schützend die Hände vor die Augen.
Der Pilot kletterte aus dem Hubschrauber und ließ den Motor laufen. Der Lärm war unerträglich, jede Unterhaltung schien ausgeschlossen. Kroll ging zurück in das Restaurant. Als er die Tür schloss, wurden die Motorengeräusche ein wenig gedämmt.
Er beugte sich über das Treppengeländer und schrie hinauf: »Goran! Der Hubschrauber ist da!«
»Fein gemacht. Ich komme in fünf Minute mit Mädchen runter. Ich will nirgendwo Bulle sehen. Vor allem Du nicht, Kroll. Wir sehen uns später, mit wenige Publikum dabei.«
»Ist gut. Wir hauen ab.«
»Warte!«, hielt ihn Goran auf. »Du und die andere gehst jetzt zu Gewandhaus. Und nette Jungs von SEK, die vor Tür stehen, nehmst brav mit. Und wenn ihr vor Brunnen steht, macht ihr hübsche Foto und schickt es an Nummer von die Kleine …« Er gab Kroll die Handynummer des Mädchens. »Und wenn ich Bild von euch habe, geh ich in Hubschrauber. Alles klar?«
»Alles klar«, wiederholte Kroll.
Er ging hinaus und erklärte Staatsanwalt Reis die Situation, was nur durch ein Brüllen ins Ohr möglich war.
»Der hat auch an alles gedacht!«, brüllte der Staatsanwalt zurück. Er winkte die Beamten des SEK zu sich und sie gingen schnellen Schrittes die Grimmaische Straße hinauf in Richtung Augustusplatz.
»Was haben Sie veranlasst?«, fragte Kroll den Staatsanwalt.
»Natürlich wird ein zweiter Hubschrauber diesem Goran folgen. Nicht auf Sichtweite, aber wir haben ihn natürlich auf dem Radar. Der Hubschrauber wird die Einsatzfahrzeuge am Boden dirigieren und auf dem Laufenden halten. Selbstverständlich haben wir einen Notarztwagen im Einsatz.«
Sie waren gerade auf Höhe der Nikolaikirche, als die Rotorengeräusche wieder lauter wurden. Für einen Moment konnten sie den Helikopter zwischen den Häuserzeilen sehen.
»Das mit der MMS können wir uns jetzt wohl schenken«, bemerkte Kroll. Alle rannten zum Augustusplatz, wo Reis bereits drei Einsatzfahrzeuge hinbeordert hatte.
Goran war ein wenig überrascht, dass er das Fliegen noch nicht verlernt hatte, obwohl er schon lange nicht mehr in einem Hubschrauber gesessen hatte. Anfänglich flog er noch ein bisschen wackelig, er hätte fast mit einem Rotorblatt das Dach des Karstadt-Gebäudes gestreift. Aber nach einer kurzen Phase des Eingewöhnens ging es erstaunlich gut. Ist doch wie Fahrradfahren, dachte er. Das verlernt man nie. Er sah zu dem Mädchen, das neben ihm auf dem anderen Sitz saß. Das Kind war völlig verstört. Er vermutete, dass es unter Schock stand. Na wenn schon! So machte es wenigstens keine Zicken.
Er flog den Hubschrauber bewusst niedrig, sein Höhenmesser zeigte nie mehr als 900 Fuß an. Er orientierte sich an der B2 und steuerte in Richtung Süden. Bald mussten die ehemaligen Braunkohletagebaugebiete, die inzwischen große Seenlandschaften geworden waren, vor ihm auftauchen. Er bewegte den Steuerknüppel nach links und steuerte auf den Markkleeberger See zu. Er verringerte seine Höhe, bis er nur noch etwa zehn Meter über der Wasseroberfläche war. Dann stellte er den Autopiloten ein.
Kroll und Reis waren in ständigem Funkkontakt mit den Piloten, die Goran verfolgten. Mehrere Polizeiwagen und ein Notarztwagen folgen ihnen. Staatsanwalt Reis war bemüht, jede Sekunde unterrichtet zu sein. »Wo sind sie gerade?«
Die Antwort des Piloten war undeutlich, aber verständlich. »Wir halten jetzt konstant einen Abstand von 6.000 Fuß. Das sind circa zwei Kilometer. Das Zielobjekt hat gerade den Markkleeberger See erreicht und bewegt sich weiter Richtung Süden. Er verliert an Höhe. Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat.«
Reis sah Kroll ratlos an. »Ein technischer Defekt kann nicht vorliegen. Die Dinger werden andauernd gewartet.«
»Scheiße …« Panik klang in den Worten des Piloten mit. »Wir haben ihn nicht mehr auf dem Radar.«
»Fliegt sofort hin!«, schrie Kroll.
»Oh Gott! Das ist ja …!« Die Stimme des Piloten zitterte. »Nur noch Feuer! Die sind … abgestürzt. Das gibt es doch nicht.«
Reis brüllte ins Mikrophon. »Was ist passiert? Was ist passiert?«
»Ich sehe nur noch Feuer. Ein einziger Feuerball … oh Gott …«
Reis konnte sich nicht mehr beruhigen. »Wo, verdammt noch mal, wo zum Teufel ist das passiert?«
Die Stimme des Piloten hatte sich einigermaßen gefestigt. »Zwei Kilometer hinter der A38. Wir versuchen zu landen!«
Kroll alarmierte die Feuerwehr. Die Absturzstelle war anhand der Rauchschwaden schnell zu finden.
Die Einsatzwagen fuhren so nah heran, wie es ging. Als die Rauchschwaden zu dicht wurden, hielten sie den Wagen an und rannten heraus. Sie liefen weiter, bis die schwarze Wand aus Rauch so dicht wurde, dass sie keinen Meter mehr sehen konnten. Das Brennen in den Augen bemerkten sie genauso wenig wie das Husten und die Atemnot.
Reis griff Kroll an die Schulter. »Wir müssen umdrehen. Hier können wir jetzt nichts mehr tun.«
Sie gingen zurück und konnten mühsam erkennen, dass Feuerwehrleute in feuerfesten Anzügen und einer Flasche auf dem Rücken an ihnen vorbeiliefen. Als sie wieder einigermaßen atmen und sehen konnten, husteten sie die schwarzen Rußpartikel aus. Erst jetzt bemerkten sie, dass sie pechschwarz aussahen und ihre Kleidung angekokelt war.
»Wir können nichts mehr machen!«, wiederholte sich Reis. »Das müssen jetzt die Kollegen von der Feuerwehr schaffen!«
Sie schleppten sich zurück zu den Einsatzfahrzeugen, die mit blinkendem Blaulicht auf sie warteten.
Ein Sanitäter kam ihnen entgegen und wollte sie in den Rettungswagen lotsen. Sie lehnten ab und stützten sich auf der Motorhaube eines Polizeiwagens ab.
»Was ist hier nur passiert?«, röchelte der Staatsanwalt.
Kroll war noch nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Er dachte nur an die Handgranaten, die Goran bei sich hatte.
Wiggins, der in einem anderen Einsatzwagen zum Absturzort gelangt war, kam auf sie zu. »Wir lassen die ganze Umgebung absuchen. Am besten, wir fahren jetzt ins Präsidium. Wir müssen eh warten, bis die Rettungskräfte sich melden.«
»Was ist mit den Eltern?«, fragte Kroll.
»Wir haben zwei Psychologen hingeschickt. Unsere besten Leute.«
»Ich bleibe hier!«, widersprach Kroll. »Ich kann jetzt nicht im Büro rumsitzen und Däumchen drehen!«
Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Feuerwehrmänner wieder vor ihnen auftauchten. Kroll und Reis kamen ihnen entgegen. Wiggins rannte über die Autobahn in Richtung See. Der Einsatzleiter nahm seine Maske ab. Sein Gesicht war rot und schweißgebadet. »Wir konnten bis zum Wrack vordringen, oder zumindest zu dem, was davon übrig ist. Mit Sicherheit hat es eine riesige Explosion gegeben. Das kann nicht allein durch den Absturz passiert sein. Da war noch was ganz anderes im Spiel.«
»Die Handgranaten«, flüsterte Kroll.
Der Einsatzleiter schaute ihn erstaunt an. »Genau so sieht das aus. Als habe da eine Bombe eingeschlagen.«
»Haben Sie Leichen gefunden?«, fragte Staatsanwalt Reis.
Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf. »Nein, aber das hat nichts zu bedeuten bei dieser Explosion und«, er sah sich um, »diesen Sichtverhältnissen. Es wird Tage dauern, bis die Kollegen mit dem Gelände fertig sind.«
»Können wir noch etwas tun?«, wollte Kroll wissen.
Der Einsatzleiter schüttelte den Kopf und ging. »Beten!«
Ein aufgeregter Wiggins kam auf sie zu. »Es gibt vielleicht doch noch ein bisschen Hoffnung. Mehrere Badegäste am See wollen gesehen haben, dass etwas aus dem Hubschrauber gefallen ist. Der Beschreibung nach könnten das ein oder zwei Personen gewesen sein …« Wiggins hielt einen Moment inne. Er wollte noch anfügen, dass sicherlich alle wüssten, was von derartigen Zeugenaussagen zu halten sei, verkniff sich aber die Bemerkung, weil er seine schlimmsten Befürchtungen nicht noch untermauern wollte.
Der Staatsanwalt nahm sein Handy in die Hand. »Ich werde veranlassen, dass sofort alle verfügbaren Kräfte eingesetzt werden. Wir werden Taucher in den See schicken, Hubschrauber bis zum nächsten Morgen suchen lassen, die Hundestaffel muss her und die Kollegen sollen jeden Bürger aus Markkleeberg und, wenn es sein muss, den umliegenden Orten befragen. Wir dürfen jetzt nichts unversucht lassen. Haben wir ein Foto von dem Mädchen?«
Wiggins nickte.
»Also, meine Herren! An die Arbeit!«
Kroll wandte sich an seinen Partner. »Ich geh schnell duschen. Wir treffen uns im Büro.«
Bernd Vogelsang lag auf der Intensivstation des Krankenhauses und starrte an die Decke. Er hatte starke Schmerzen in der Brust. In wenigen Minuten würden sie ihn in den Operationssaal schieben. Ob er dort wieder lebend herauskommen würde und wenn, in welchem Zustand er sich dann befand, war völlig offen. Das hatten ihm die Ärzte bereits in dem Aufklärungsgespräch gesagt. Zwei Bypässe müssten gelegt werden. Nicht gerade eine Kleinigkeit in seinem Alter.
Er begann, über sein Leben nachzudenken. Seine Kindheit, seine Jugend, seine Schule, seinen Beruf, die DDR, die Wiedervereinigung, das neue Leben nach der Wende, sein Aufstieg, sein Fall, seine Krankheit und sein baldiges Ende.
Was hatte er nur falsch gemacht? Natürlich wäre es im Nachhinein klüger gewesen, sich nicht mit der Stasi einzulassen. Aber hatte er damals überhaupt eine Wahl gehabt, hatte es eine ernsthafte Alternative gegeben? Natürlich gab es immer andere Möglichkeiten, sich zu entscheiden. Aber was wären die Konsequenzen gewesen?
Warum nur musste dieser Autor in seiner Vergangenheit rumwühlen? Ausgerechnet der Lachmann, in dessen Haus er die letzten Tage seines Lebens verbringen wollte. Der hatte wirklich gründlich gearbeitet. Hatte mehr herausbekommen als alle Behörden zusammen, die ihn natürlich unter die Lupe genommen hatten. Wie hatte das nur passieren können?
Aber eigentlich hatte das ganze Unheil viel früher begonnen. Er hätte sich nicht mit diesem ganzen Gesindel einlassen sollen. Vogelsang traten Tränen in die Augen. Es war schon verrückt. Diese eine dumme Geschichte mit dem Fußballer hatte sein ganzes Leben versaut. Danach gab es nur noch Lügen, Lügen und nochmals Lügen. Eine zweite Lüge, um die Lüge davor zu vertuschen. Aber irgendwann reichten die Lügen nicht mehr. Es war nicht mehr mit Worten getan. Taten mussten folgen. Und diese zogen wieder Taten nach sich.
Er konnte es sich nicht richtig erklären, aber irgendwie machte sich bei ihm ein Gefühl der Erleichterung breit. Jetzt war die Zeit der Lügen endlich vorbei. Gerne hätte er bereits vorher reinen Tisch gemacht. Aber die Chance hatte man ihm ja auch nicht gegeben. Verdammter Teufelskreis.
Die Kommissare saßen an ihren Schreibtischen und warteten. Sie warteten auf ein Zeichen, auf den erlösenden Anruf, auf irgendeine neue Information. Inzwischen war die Dämmerung angebrochen und die Taucher hatten ihre Suche aufgeben müssen. Bis dahin hatten sie nichts gefunden. Das war zumindest schon mal ein gutes Zeichen.
Kroll war unruhig. Er trommelte mit dem Bleistift auf den Tisch, lief im Raum auf und ab oder raufte sich die Haare. »Haben wir etwas falsch gemacht, Wiggins? Vielleicht war es ein Fehler, Goran diesen Hubschrauber zu geben!«
»Was hätten wir denn sonst tun sollen in dieser Situation? Nicht auf seine Forderungen eingehen? Das wäre doch unverantwortlich gewesen!«
Kroll rieb sich die Augen. »Diese verdammte Warterei! Wie schrecklich muss das für die Eltern sein.« »Die Psychologen sind noch bei ihnen.« »Das wird jetzt auch nicht viel nützen.« Er trat mit
dem Fuß vor den Schreibtisch. »Können wir denn gar nichts tun?«»Wir können nur hier sitzen bleiben und warten«, stöhnte Wiggins.
Kroll stand auf und ging zum Fenster. »Ich habe den Eltern versprochen, dass ich ihnen das Kind zurückbringe!«
Wiggins überlegte einen Moment. Auf Krolls letzte Bemerkung hatte auch er nicht die passende Antwort parat. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das Mädchen noch lebt. Was soll denn sonst aus dem Hubschrauber herausgefallen sein? Der wirft doch keinen Ballast ab.«
Kroll zuckte mit den Achseln.
Staatsanwalt Reis kam herein und unterbrach ihre Gedanken. »Gibt’s bei euch was Neues?«
Die Polizisten verneinten.
»Die Taucher mussten ihre Arbeit abbrechen, aber das wisst ihr ja schon. Lampen helfen bei so einer Suchaktion nicht viel. Die Helikopter fliegen jetzt mit Infrarotkameras. Die Befragung ist in vollem Gange. Die Hundestaffel sucht das Gebiet unmittelbar um den See ab. Hauptaugenmerk sind der Süden und Osten, da kann man am unauffälligsten untertauchen. Ein Rentnerehepaar, das auf einer Parkbank saß, will tatsächlich gesehen haben, dass ein Mann und ein Kind vollständig bekleidet aus dem See gestiegen sind. Die Beschreibung könnte auf Goran passen. Es gibt also Hoffnung!«
»Wo könnten die sich versteckt haben?«, überlegte Wiggins. »Dieser Goran ist wie ein Geist. Der verschwindet und taucht wieder auf, wann er will. Wie ein Gespenst. Außerdem kennt er alle Tricks.«
Der Staatsanwalt strebte auf die Bürotür zu. »Ich geh zurück in die Einsatzleitung. Die Kollegen machen heute erst mal eine Nachtschicht und dann sehen wir weiter!«
Das Telefon auf Krolls Schreibtisch klingelte. Der Staatsanwalt hielt inne, um zu erfahren, ob es etwas Wichtiges ist.
Kroll nahm ab. Am anderen Ende war Gorans Stimme zu vernehmen. »Hallo, Kroll. Ich hoffe, mit schöne Hubschrauber du hast keine große Schrecken gekriegt. Schade um kleine Spielzeug, aber ich hatte noch Termin mit Kind.«
Kroll winkte kräftig mit der freien Hand. Staatsanwalt Reis kam leise auf seinen Tisch zu.
»In Krieg wir sind aus doppelte Höhe gesprungen. Aber war ich nicht allein!«
»Wo ist das Kind, Goran?«
»Ach, Kroll. Was du immer denken! Ich Soldat und nicht Kindermörder. Vorhin habe nur Spaß gemacht, wegen Angst machen. Habe Ehre. Würde nie kleine Kind Haar krümmen. Habe viele Kinder sehen sterben in mein Leben. Keine schöne Anblick. Aber mit dir noch Rechnung offen! Mädchen hat damit nichts zu tun.«
»Wo ist das Kind?«, wiederholte Kroll.
Goran sprach mit ruhiger Stimme. »Hektik nicht gut, Kroll. Ich jetzt auf dein Angebot zurückkommen!«
»Welches Angebot?«
»Mein Gott, du vergesslich. Vor paar Stunden du mir angeboten, du gegen Mädchen eintauschen. Oder Angebot jetzt ungültig?«
Kroll blickte kurz den Staatsanwalt an. »Natürlich steht das Angebot noch. Wo soll ich hinkommen?«
Goran stieß ein lautes Lachen aus. »Du dich wieder beruhigen. War nur Test. Natürlich habe besser erledigen Sachen, als mir Bulle an Hals hängen. Außerdem du guter Kämpfer. Das mir jetzt anstrengend!«
»Wo ist das Kind, Goran?«, fragte Kroll zum dritten Mal.
»Ihr wirklich blöd. Wofür Geld kriegen? Draußen Hubschrauber fliegen. Tausend Polizeiauto und ganze Armee von grüne Männer. Und ich nur alte Dame besucht. Und da auch Mädchen. Manchmal du leicht machen.«
Kroll wurde langsam ungeduldig. Er wollte Goran jedoch nicht reizen. Wenn der den Hörer auflegte, würden sie nie herausbekommen, wo die Geisel war .
»Wir machen kleine Spiel«, schlug Goran vor.
»Was für ein Spiel?«, fragte Kroll irritiert.
»Kind in Wohnung von alte Frau. Hat keine Mann. So sie gesagt. Habe auch gesehen keine Mann. Gibt doch nicht viele Wohnung nur mit alte Frau.«
Kroll war bemüht, sich seine Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. »Sag uns doch einfach, wo das Mädchen ist.«
»Würde gerne«, erwiderte Goran betont freundlich. »Aber ich nicht kennen Gegend. Und Name von Straße nicht wichtig. Musste meine Arsch retten.«
»War irgendetwas in der Nähe, woran man sich orientieren könnte?«
»Bin schnell. War nicht Zeit.«
»Wo bist du vorbeigelaufen?«
Goran schien einen Moment zu überlegen. »Pferde auf Wiese. Dahinter Hauptstraße.«
»Wachauer Straße«, flüsterte Kroll.
»Ich in kleine Straße. Haus neben Haareschneiden.«
»Ich weiß, wo das ist!«, zischte Kroll zu den anderen. »In der Gegend gibt es nur einen Friseur!«
Gorans Stimmung schien gut zu sein. »Bis bald, Kroll. Wir uns sehen!«
Kroll legte auf und rannte zu dem Stadtplan, der an der Wand hing. Er zeigte auf Markkleeberg »Seine Beschreibung trifft auf die Heinrich-Heine-Straße zu!«
Reis eilte zum Telefon. »Ich schicke einen Streifenwagen und einen Notarzt hin, für alle Fälle. Und wir machen uns jetzt ebenfalls auf den Weg.«
Die Fahrt dauerte gute fünfzehn Minuten. Es war das Haus rechts neben dem Friseurgeschäft. Das hatten die Beamten vor Ort schnell herausgefunden. Das Mädchen und die alte Dame waren mit Handschellen an die Heizung gekettet. Zwei Beamte waren gerade damit beschäftigt, die Fesseln zu lösen. Der Notarzt kam den Polizisten und dem Staatsanwalt entgegen. »Beide Personen sind in körperlich guter Verfassung, zumindest den Umständen entsprechend. Das Mädchen sollte sich jedoch zur Sicherheit einmal gründlich untersuchen lassen.«
Kroll nickte dem Arzt zum Dank kurz zu und ging zu dem Mädchen. Es saß vor der Heizung und rieb sich die Handgelenke.
»Hallo, Stefanie! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh wir sind, dich zu sehen.«
Das Kind verzog keine Miene. Weder ein Lächeln noch ein Ausdruck von Erleichterung oder eine andere Regung war auf seinem Gesicht zu erkennen. Es sah Kroll nur verständnislos an. »Sind meine Eltern da?«
»Die haben sich ganz große Sorgen gemacht und warten schon auf dich. Weißt du was? Du wirst jetzt mit einem Polizeiwagen nach Hause gefahren und ruhst dich erst einmal aus.«
Stefanie nickte. Ein Polizeibeamter nahm sie bei der Hand und verließ mit ihr den Raum.
Kroll ging zu der Bewohnerin der Wohnung, die sich mittlerweile auf einen Stuhl gesetzt hatte. Sie sah Kroll fragend an. »Können Sie mir erklären, was los war? Ich dachte zuerst, hier läuft ein Film.«
Kroll ergriff ihre Hand, die auf dem Tisch lag. »Ich glaube, Sie haben sich wunderbar verhalten. Wir sind sehr erleichtert. Vielen Dank. Der Mann, der Sie heute überwältigt hat, ist ausgesprochen gefährlich. Wir sind schon lange hinter ihm her, aber mit der Geisel konnte er uns entkommen.«
Die Hausbesitzerin fiel ihm ins Wort. »Das glaub ich sofort, dass der nicht ungefährlich ist. Wer nimmt denn sonst ein Kind als Geisel? Und dann diese Tätowierungen. So was hat doch kein normaler Mensch!«
Kroll hielt immer noch ihre Hand. »Können Sie mir bitte sagen, wie das alles passiert ist?«
Die alte Dame lachte bitter auf. »Ich war draußen und habe die Einfahrt gefegt. Ich hab an nichts Böses gedacht und mit einem Mal stand dieser Kerl auf einmal vor mir. Mit dem Mädchen. Beide platschnass. Das Messer am Hals habe ich sofort gesehen. Der Mann war tüchtig nervös … er hat mich angeschrien, ich solle sofort mit ihnen in die Wohnung, sonst würde ein Unglück passieren. Dann sind wir reingegangen, erst ich und die beiden hinterher. Wir mussten uns vor die Heizung knien und er hat uns mit den Handschellen festgebunden.« Sie holte tief Luft. Die Erinnerung an das Geschehene schien ihr Probleme zu bereiten. Kroll sah sich um, ob der Arzt noch in der Nähe war, aber der hatte das Haus schon verlassen.
Kroll drückte ihre Hand fester. »Ganz ruhig. Es ist alles vorbei. Wir müssen jetzt nicht weiterreden. Kein Problem. Wir können auch später noch mal wiederkommen oder morgen, wenn Sie sich besser fühlen.«
Die Frau atmete konzentriert mit geschlossenen Augen. Sie legte ihre andere Hand auf Krolls Handrücken. »Es geht schon wieder. Einen Moment bitte. Mein Herz ist nicht mehr das allerbeste.« Sie schaute zum Regal. »Dort drüben ist meine Medizin, Weizenkorn. Ich bräuchte jetzt einen Doppelten!«
Kroll ging zum Regal und goss ihr großzügig ein Glas ein. Sie trank den Schnaps mit beiden Händen und stellte das Glas ab.
»Geht’s jetzt besser?«, erkundigte sich Kroll.
Sie nickte. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja … also, eigentlich war ich fast fertig. Er hat uns den Mund zugeklebt und ist ziemlich schnell gegangen.« Plötzlich brach sie in Tränen aus. »Ich hatte so eine Angst um das Kind. Ich bin doch nur eine alte Frau … aber das Mädchen! Zum Glück kamen bald Ihre Kollegen.«
»Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert? Sie sollten jetzt besser nicht alleine sein.«
Die alte Dame nickte. »Meine Tochter und mein Schwiegersohn kommen bestimmt vorbei. Kein Problem.«
Kroll lächelte sie an. »Und gleich kommen noch ganz viele Beamte von der Spurensicherung. Das lässt sich leider nicht vermeiden.«
Sie lächelte zurück. »Das ist kein Problem. So habe ich wenigstens noch etwas Abwechslung. Ich lass Sie aber nicht gehen, bevor Sie nicht ein Körnchen mit mir getrunken haben!«
Kroll wurde ernst. »Aber nur unter einer Bedingung. Mein junger Kollege dort drüben darf nicht leer ausgehen. Ich glaube nämlich, der könnte jetzt auch einen gebrauchen.«
Sie beugte sich vor und flüsterte Kroll ins Ohr. »Ist doch kein Problem! Die Körnchen gehen bei mir nie aus!«
Den Abend verbrachten Kroll und Wiggins auf der Terrasse des Operncafés und ließen die Ereignisse der letzten Tage noch einmal Revue passieren. Der Mord an Willi Lachmann stand unmittelbar vor der Aufklärung. Goran war der Täter, da konnten sie sich sicher sein. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die fehlenden Puzzlesteine der Hintergründe zusammensetzen würden. Sie waren glücklich und erleichtert, dass das Mädchen unversehrt befreit werden konnte.
Wiggins bestellte zwei Kräuterschnäpse mit Eis und Zitrone, dazu zwei Weizenbiere. Er wurde nachdenklich. »Sag mal, Kroll. Ich weiß, du bist nicht besonders ängstlich, aber dieser Goran hat dir jetzt bereits mehrfach mit einer Abrechnung gedroht. Hast du keine Angst? Ich glaube nämlich, das war nicht nur so dahergesagt!«
»Was soll ich denn machen? Natürlich ist mir dieser Typ körperlich überlegen. Aber soll ich denn nur noch mit Polizeischutz herumlaufen?«
Wiggins nippte an seinem Weizenbier. »Ich mach mir halt ein paar Sorgen.«
Kroll prostete ihm zu. »Was soll’s! Zur Not hab ich ja noch euch!« Er ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, wie recht er mit seiner Bemerkung haben sollte.
Der letzte Satz von Kroll rief bei Wiggins Unbehagen hervor. Er hatte das leidige Thema lange genug vor sich hergeschoben. Jetzt musste er es endlich einmal zur Sprache bringen. Der Minister wollte schließlich morgen eine verbindliche Aussage von ihm haben.
Kroll bemerkte, dass sein Partner plötzlich still geworden war. »Was ist los, Wiggins? Du sagst ja gar nichts mehr.«
Wiggins sah Kroll an. »Ich muss noch etwas mit dir besprechen. Es ist mir sehr wichtig, deine Meinung zu hören.«
»Dann mal raus mit der Sprache.«
Wiggins drehte mit seinem Bierglas Kreise auf dem Tisch. »Also …«, er räusperte sich kurz. »Ich habe ein neues Jobangebot, direkt von Hassemer, dem Staatsminister des Inneren. Er möchte, dass ich diese neue Leitstelle zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität übernehme.«
Kroll sah Wiggins ungläubig an. »Hast du dich beworben?«
Wiggins schüttelte den Kopf. »Bist du verrückt? Ich wurde sozusagen geheadhuntert. Der Minister hat mich direkt angesprochen. Offensichtlich bin ich der Einzige in unserem Laden, der vernünftig Englisch kann.«
Kroll nickte anerkennend. »Wow, vom Minister persönlich! Das passiert einem auch nicht alle Tage!«
Wiggins trank sein Bier aus. »Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll. Der Job ist natürlich attraktiv, aber …«
Kroll unterbrach seinen Kollegen. »Lass mich raten. Du kriegst mehr Kohle, hast geregelte Arbeitszeiten, musst dich nicht auf der Straße prügeln, bist hinter einem sicheren Schreibtisch!«
Wiggins nippte gedankenversunken an dem fast leeren Bierglas. »Aber wenn ich das gar nicht will? Ich komm mit meiner Kohle hin, ich brauche keine geregelten Arbeitszeiten. Und ich fühle mich wohl auf der Straße, auch wenn man mir das nicht immer ansieht. Und was wird aus dir? Ich kann dich doch nicht einfach alleine lassen.«
Kroll überhörte diese Bemerkung. Er wurde ernst. »Du musst den Job annehmen. Das weißt du genau! Oder glaubst du etwa, der Minister kommt jetzt jeden Tag mit einem neuen Job?«
»Kroll, ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausgedrückt habe. Ich arbeite gern mit dir, und der Rest ist doch nicht so wichtig. Meinst du, es macht mehr Spaß, in Dresden die Ledersessel vollzufurzen?«
Kroll wiegelte ab. »Jetzt hör doch auf! Das ist doch alles andere als ein dämlicher Bürojob. Du bist an der internationalen Kriminalität dran, arbeitest grenzüberschreitend und vor allem … du betrittst absolutes Neuland. So einen Job gab es doch bislang noch gar nicht, du kannst nur gewinnen.«
»Aber du würdest mich vermissen, oder?«
Kroll prostete seinem Kollegen zu. »Aber klar, das weißt du doch! Und ich bin mir auch bewusst, dass ich so einen Partner wie dich nicht wieder bekomme. Aber du weißt genauso gut, dass es absoluter Blödsinn wäre, eine solche Entscheidung von mir abhängig zu machen. Das wäre doch einfach nur falsch. Du musst das machen, was für dich das Richtige ist. Für mich geht das Leben weiter, keine Sorge.« Kroll lächelte. »Ab und zu sollte man auch mal an sich denken … und nicht immer nur an die anderen! Das steht schon in der Bibel: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
Wiggins nickte nachdenklich und hielt es für angebracht, das Thema zu wechseln. »Weißt du eigentlich, wie es Liane Mühlenberg gerade geht?« Kroll musste lächeln. »Die ist in Hamburg und lässt sich neue Möpse machen!«
Wiggins musste derart heftig lachen, dass er Mühe hatte, sein Bier im Mund zu behalten. »Und alles wegen dir?«
»Ich warte erst mal das Ergebnis ab«, bemerkte Kroll trocken.