VIER

Als Kroll am nächsten Morgen das Büro betrat, warteten Wiggins und der Kollege Oskar Jäger schon auf ihn.

»Hör dir doch mal an, was der Oskar zu erzählen hat«, begrüßte ihn Wiggins.

Kroll ging zum Kaffeeautomaten und füllte seinen Pott mit dem Bild des Leipziger Weihnachtsmarktes. »Schieß los!«

»Vielleicht ist das alles nur Quatsch!«, versuchte Jäger, die Sache herunterzuspielen. »Ich hatte nur gestern Abend noch so eine fixe Idee. Mir ist halt die Sache mit der Zwangsadoption nicht aus dem Kopf gegangen. Ich musste die ganze Zeit an deine Ausführungen in der Mitarbeiterbesprechung denken. Ehrlich gesagt, es war wirklich nur so ein spontaner Einfall.«

»Erzähl schon«, wurde Kroll ungeduldig. »Wir tappen doch eh noch völlig im Dunkeln. Schlimmer werden kann es auf gar keinen Fall.«

Jäger machte eine Pause und sah die Kommissare abwechselnd an. Er räusperte sich. »Also … ich habe mir gestern die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen, ob hinter der Zwangsadoption von diesem kleinen Mädchen nicht noch mehr stecken könnte, zum Beispiel persönliche Befindlichkeiten.«

»Persönliche Befindlichkeiten?«, wiederholte Kroll ungläubig. »Von wem?«

»Vermutlich ist die ganze Sache wirklich zu fantasievoll. Ich denke, ich mach mit meinen Recherchen weiter.«

Wiggins wurde energisch. »Du bleibst gefälligst hier und erzählst Kroll deine Geschichte!«

Oskar Jäger räusperte sich erneut, was er immer tat, wenn er verlegen war. »Also … es ist doch allgemein bekannt, dass Erich Mielke ein großer Fan des Fußballvereins FC Dynamo Berlin war. Alle guten Fußballer aus der DDR mussten dort spielen. Der Verein stellte fast den kompletten Nationalkader. Fußballer, die dort spielen ›durften‹, mussten dies von Amts wegen als große persönliche Ehre empfinden!« Jäger machte wieder eine rhetorische Pause. Kroll forderte ihn mit einer Geste auf, fortzufahren. »Umgekehrt war es für Mielke natürlich eine unvorstellbar große persönliche Kränkung, wenn ein Fußballer, der durch Mielkes Gnaden nach Berlin geholt wurde, den Verein wieder verließ oder sogar in den Westen floh. Dies ist, so weit ich weiß, auch nur einmal vorgekommen, nämlich 1981. Mielke musste nicht nur die Schande ertragen, dass ein Fußballspieler, den er persönlich unterstützt und gefördert hatte, in das kapitalistische Ausland abgehauen war, nein, die Fans im Stadion hatten auch regelmäßig die Anonymität der Masse genutzt, um ihren Protest gegen das System kundzutun. Bei Spielen waren monatelang hämische Sprechchöre wie ›Wo ist Ehrentraut‹ zu hören.«

Kroll stellte seine Tasse auf den Schreibtisch. »Ich verstehe immer noch nicht.«

»Der Ehrentraut ist 1981 nach einem Fußballspiel der Nationalmannschaft in München im Westen geblieben. Von dort ist er nach Bremen übergesiedelt und hat beim SV Werder gekickt. Zwei Jahre später starb er unter ganz mysteriösen Umständen.«

Kroll wurde neugierig, obwohl er noch immer nicht abschätzen konnte, was das mit dem Mord an Willi Lachmann oder mit dem Fall Annemarie Rosenthal zu tun hatte. »Und was waren das für mysteriöse Umstände?«

»Ehrentraut starb bei einem Autounfall. Er wurde mit seinem Wagen in einem Straßengraben gefunden. In seinem Blut konnten über drei Promille festgestellt werden. Das Eigenartige daran ist nur, dass Ehrentraut an diesem Abend, nur wenige Stunden vor dem Unfall, auf einer Vereinsfeier war. Und er hatte dort keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken. Das haben viele Zeugen übereinstimmend ausgesagt. Überhaupt hat er ohnehin nie etwas getrunken. Der war durch und durch Sportler. Und selbst wenn er sich nach dem Verlassen der Feier hemmungslos zugeschüttet hätte, hätte in der Kürze der Zeit nie ein Blutalkohol von über drei Promille anfluten können. Das wäre medizinisch gesehen gar nicht möglich.«

»Du vermutest also, dass der lange Arm der Stasi den Ehrentraut auf dem Gewissen hat?«, fragte Kroll nachdenklich.

»Das denke nicht nur ich. Das gilt als gesichert. Nur beweisen kann es keiner, weil sämtliche Unterlagen, die sich mit dem Fall Ehrentraut befassen, verschwunden sind.« Oskar Jäger stand auf und ging durch den Raum. Seine anfänglichen Zweifel waren wie weggewischt. Mit jedem weiteren Wort, das er über den Fall berichtete, steigerte sich seine eigene Überzeugung von seiner Theorie. »Es ist doch völlig klar und wird von niemandem mehr in Zweifel gezogen, dass die Stasi prominente Überläufer auch im Westen weiterhin verfolgt hat. Davon berichten doch viele ehemalige Sportler und Trainer. Ich könnte dir unzählige Beispiele nennen …«

»Ich weiß, ich weiß«, wiegelte Kroll ab. »Aber wenn dieser Ehrentraut in den Straßengraben gefahren ist, wie soll die Stasi das angestellt haben?«

»Der Autounfall des berühmten Fußballers war natürlich das Thema im Westen. Unzählige Experten wurden zu dem Fall befragt. Und nicht wenige sind der Auffassung, dass es für die Alkoholkonzentration im Blut von Ehrentraut nur eine medizinische Erklärung geben kann, nämlich dass ihm der Alkohol direkt in die Adern gespritzt wurde.«

Kroll wirkte immer noch nachdenklich. »Aber war das nicht viel zu riskant? Ich meine, nicht jeder, der besoffen Auto fährt, fährt in den Graben. Warum haben die den nicht einfach erschossen? Das wäre doch viel sicherer gewesen.«

Oskar Jäger wiegelte ab. »Aber das hätte doch viel zu viel Aufsehen erregt. Man wäre sofort darauf gekommen, wer den Mord begangen hat. Das wollte die DDR nicht. Sie wollte international nicht als Mörderstaat dastehen. Nein, alle ›Auslandseinsätze‹ der Stasi wurden äußerst diskret abgewickelt und dazu gehörte vor allem, eine unauffällige Beseitigung der Opfer: Vergiftungen, radioaktive Verstrahlungen … oder eben Unfälle.«

»Aber …«, versuchte Kroll einzuhaken, doch Jäger ließ sich jetzt nicht mehr aufhalten. »Die Stasi hatte eine Technik, die man ›Verblenden‹ nennt. Ein entgegenkommender Autofahrer wird an einer unübersichtlichen, kurvenreichen Stelle geblendet, meist mit dem Fernlicht.« Er zuckte mit den Achseln. »Stell dir vor, du hast drei Promille im Blut und siehst auf einmal nichts mehr …«

Wiggins beobachtete Kroll aus den Augenwinkeln, er war neugierig, ob ihn die Erzählungen interessieren. »Und wie wurde ihm der Alkohol gespritzt?«

Jäger war ratlos. »Das kann man natürlich nur vermuten. Sie müssen ihn irgendwann nach der Vereinsfeier angehalten haben. Vermutlich unter einem Vorwand. Vielleicht hatten die einen Unfall vorgetäuscht und Ehrentraut hielt an um zu helfen.«

Kroll wusste immer noch nicht, was er von der Geschichte halten sollte. »Ich bin mir nicht sicher, ob uns das alles weiterhilft …«

Jetzt unterbrach ihn Wiggins. »Denk doch an die Abkürzung L.E. Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass das Leipzig heißt. Der vollständige Name des Fußballers ist Lars Ehrentraut.« Wiggins stand auf und ging auf Kroll zu. »Und denk an die Zwangsadoption der kleinen Amelie Rosenthal. Das war eine Bestrafung für die Flucht des Vaters. Außerdem wusste dein ehemaliger Ausbilder Vogelsang, dass Amelies Vater definitiv rübergemacht hatte. Und er hat auch gesagt, dass es Gerüchte gab, er sei ein berühmter Sportler gewesen. Das passt wie die Faust aufs Auge!«

Kroll musste einräumen, dass an der Theorie durchaus etwas dran sein könnte. Seine Zweifel waren jedoch nicht beseitigt. »Amelie die Tochter von Ehrentraut? Ich weiß nicht, vielleicht ist das ja alles nur Zufall. Außerdem ist das schon lange her.«

»Wir müssen der Spur nachgehen!«, forderte Wiggins eindringlich.

Kroll dachte laut nach. »Auf dem USB-Stick stand Eimnot, L.E., AGMS und Goran. Also, selbst wenn wir einmal unterstellen, dass L.E. die Abkürzung von Lars Ehrentraut ist, was hat das mit Eimnot zu tun? Der hat doch mit Sicherheit nie in der BRD gelebt und bei der Stasi war der bestimmt auch nicht.«

Für einen Moment kehrte Ruhe ein. Auch Wiggins musste einräumen, dass das Argument seines Kollegen nicht von der Hand zu weisen war.

Kroll unterbrach das Schweigen. »Bleib da dran, Oskar. Wir müssen dieser Spur nachgehen! Alles andere wäre fahrlässig. Fahr nach Berlin und dreh da jeden Stein um. Rede mit Leuten, die wissen, wie die Auslandsabteilung der Stasi gearbeitet hat. Lass dir alles erklären und schnüffle noch mal in den Archiven der Birthler-Behörde und im Senat herum. Ich möchte aber, dass du dich nicht nur auf die Akten Ehrentraut stürzt, sondern dich auch um die Zwangsadoptionen kümmerst.« Oskar Jäger war erfreut. »Bin schon weg, Chef!«

»Wenn wir den nicht hätten …«, bemerkte Wiggins, als die Tür wieder zugefallen war.

Kroll nickte. »Ich bin froh, dass ich die ganze Recherchescheiße nicht machen muss! Aber jetzt sollten wir vielleicht in die Gegenwart zurückkehren.«

»Wie meinst du das?«, fragte Wiggins.

»Ich meine, dass der Tod von Willi Lachmann vielleicht gar nichts mit dieser Datei zu tun hat. Vielleicht ist es ja viel banaler! Eifersucht, Konkurrenzkampf oder was weiß ich.«

»Was schlägst du vor?«

»Heute ist der letzte Tag der Buchmesse. Wir sollten uns da noch ein bisschen umhören, bevor die alle wieder weg sind.«

Sie waren gerade aufgestanden, als Staatsanwalt Reis ihr Büro betrat. In der Hand hielt er ein Bündel Tageszeitungen. »Habt ihr gelesen, was heute so alles in der Zeitung steht?«

Kroll und Wiggins betrachteten die Überschriften der Zeitungen, die Reis sorgfältig auf dem Schreibtisch ausgebreitet hatte. Je nach Anspruch des jeweiligen Blattes war die Titelstory mehr oder weniger reißerisch. Aber der Tenor war immer der gleiche: Willi Lachmann wurde wegen seines nächsten Romans ermordet.

Der Staatsanwalt wurde ironisch. »Ich zeige euch das nur, damit ihr genau wisst, in welche Richtung ihr ermitteln müsst. Scheint ja ziemlich eindeutig zu sein!«

»Woher weiß die Presse das?«, murmelte Wiggins. »Ich fürchte, unsere Freundin Liane ist in letzter Zeit zu vielen Journalisten begegnet«, antwortete Kroll. Er sah den Staatsanwalt an. »So sicher sind wir uns da allerdings nicht. Das ist eine Spur, aber …«

Reis hob abwehrend die Hände. »Später. Ich muss in zehn Minuten im Landgericht sein.«

Kroll legte die Tageszeitungen zusammen und stopfte sie in den Papierkorb. »Komm, Wiggins, wir gehen auf die Buchmesse!«

Einem Bauchgefühl folgend, gingen die Polizisten zunächst in die Messehalle 4. Liane Mühlenberg saß abermals am Stand des Schröder-Verlages und unterhielt sich angeregt. Sie erkannte die Polizisten, die sie anzusteuern schienen, und brach abrupt ihr Gespräch ab. Sie kam den Kommissaren auf halbem Weg entgegen und strahlte sie freundlich an.

»Hallo, ihr zwei. Trinken wir einen Kaffee in der Cafeteria?«

Die korpulente Bedienung stellte freudlos einen schwarzen Kaffee, ein Wasser und eine Cola Light auf den runden Tisch. Liane kostete den Kaffee und verzog das Gesicht. »Entweder die haben eine gute Mikrowelle oder die Bohnen wurden noch mit einer Kogge angeschifft.« Sie schob die Tasse beiseite.

Kroll probierte seine Cola und stellte fest, dass sie keine Kohlensäure enthielt. »Ich vermute, die kam mit demselben Schiff aus Amerika!«

Wiggins hob sein Glas in die Höhe. »Ihr müsst eben stilles Wasser nehmen, damit kann man nichts falsch machen.«

»Das stimmt«, bemerkte Kroll. »Das Wasser im Waschraum hat immer die gleiche Qualität.« »Was treibt euch auf die Buchmesse?«, fragte Liane.

»Uns würde zum Beispiel interessieren, warum du in letzter Zeit so viel mit dem Schröder-Verlag plauderst. Schließlich sind doch alle Manuskripte von Willi Lachmann veröffentlicht worden, bis auf das eine, das verschwunden ist.«

Liane überlegte kurz, ob sie noch mal an dem Kaffee nippen sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Ihr seid ganz schön neugierig.«

»Das ist leider unser Job«, bedauerte Wiggins.

»Ich dachte, euer Job ist, einen Mörder zu finden.«

Kroll hatte keine Lust, den Sinn seiner Fragen zu diskutieren. »Wenn das so ein großes Geheimnis ist, wollen wir dich natürlich nicht in Verlegenheit bringen.«

»Schon gut.« Liane Mühlenberg wurde ein wenig verlegen. »Ich habe wirklich keine Geheimnisse. Es ging um zwei Dinge: Zum einen wollen die, dass ich eine Biografie über Willi schreibe. Und zum anderen will ich auch etwas von denen. Ich habe nämlich noch keine Lust, in den Ruhestand zu gehen. Ich würde gerne als Lektorin arbeiten, vor allem mit jungen, noch unbekannten Autoren.«

»Warum nicht mit den alten?«, fragte Wiggins.

Liane winkte ab. »Den Stress tu ich mir nicht an. Bei denen hast du mit jeder Zeile mehr Diskussionen als in allen Talkshows zusammen. Nein, es müssen noch junge Leute sein, die froh und dankbar sind und vor allem konstruktiv mit Kritik umgehen können. Da liegt auch meine Stärke. Wenn ich euch Willis ersten Roman vor meinem Lektorat zeigen würde, würdet ihr mit den Ohren schlackern.«

»Und wie läuft es mit dem Schröder-Verlag?«, wollte Kroll wissen.

»Gut! Das liegt natürlich daran, dass die unbedingt die Biografie machen wollen. Da habe ich natürlich eine sehr starke Verhandlungsposition.« Sie lächelte provozierend. »Und verhandeln kann ich ziemlich gut!«

Wiggins nickte anerkennend. »Das wird den Herren Gutbrot und Eigenrauch aber gar nicht gefallen. Die haben sich doch bestimmt auch schon Gedanken über eine Biografie von Willi Lachmann gemacht.«

Liane musste nicht lange überlegen. »Bei Eigenrauch bin ich mir gar nicht so sicher. Ich glaube, der ist einfach nur froh, dass das Kapitel Lachmann und Zeitraub zu Ende ist und er sich wieder in aller Ruhe auf seine Teppichflieger konzentrieren kann. Der Gutbrot hat mich natürlich angesprochen und gefragt, wie es aussieht. Dem kam die Idee mit der Biografie schon, als ich an so was noch gar nicht gedacht habe.«

»Und …?«, fragte Kroll.

»Ich konnte den blöden Kerl eigentlich noch nie leiden. Und wenn ich die Leichenfledderei sehe, die der zurzeit betreibt, wird mir immer noch ganz übel. Nein, mit dem mach ich definitiv keine Geschäfte mehr. Der soll die aktuellen Titel abrechnen und damit ist gut. Außerdem will ich ja ins Lektorat … und das bestimmt nicht bei Herrn Gutbrot. Eher würde ich mich erschießen.«

»Davon war der aber nicht begeistert«, hakte Kroll nach.

Liane zuckte mit den Schultern. »Mir doch egal!«

Das Klingeln von Krolls Handy unterbrach ihr Gespräch. Kroll drückte auf die grüne Taste und erfuhr von einem Kollegen der SOKO, dass Gutbrots Alibi geplatzt war. Der Zeitraub-Verlag hatte am Tattag tatsächlich eine Lesung in Auerbachs Keller abgehalten, Gutbrot hatte die Veranstaltung jedoch schon um 19.30 Uhr verlassen. Dies konnten mehrere Zeugen bestätigen. Der Fußweg von Auerbachs Keller zur Pfeifenstube betrug höchstens 15 Minuten. Gutbrot hätte also genug Zeit gehabt, zur Tatzeit vor dem Pfeifen- und Tabakladen zu sein, in dem Willi Lachmann seine ganz private Lesung veranstalten wollte.

Kroll beendete das Gespräch mit Liane Mühlenberg. »Ich glaube, wir müssen jetzt schnell zum Stand des Zeitraub-Verlages.« Dort angekommen, teilte man den Polizisten mit, dass Elmar Gutbrot zum Völkerschlachtdenkmal gefahren sei, er wollte sich dort mit jemandem treffen. Um wen es sich dabei handelte, wussten seine Mitarbeiter jedoch nicht.

Das 91 Meter hohe Denkmal, das an die entscheidende Schlacht der Befreiungskriege im Jahre 1813 erinnerte, in der Kaiser Napoleon eine empfindliche Niederlage gegen die Österreicher erlitten hatte, stand vor ihnen wie ein Fels in der Brandung. Bereits von Weitem waren die mächtigen Krieger zu erkennen, die seit nunmehr fast 100 Jahren von der oberen Außenseite des Denkmals aus Wache hielten.

Kroll und Wiggins gingen auf das Monument zu, wobei sie stets die Menschen in ihrer Nähe beobachteten. Gutbrot entdeckten sie nicht. Sie betraten zunächst die Krypta, die zum Gedenken an die über 100.000 Soldaten errichtet wurde, die während der Völkerschlacht zu Leipzig gefallen oder verwundet worden waren. Die acht Schicksalsmasken, deren brechende Augen den nahenden Tod der gefallenen Soldaten verkörpern, schienen die Besucher nicht zu beachten. Eine angenehme Kühle umgab die beiden Hauptkommissare.

»Lass uns mal nach oben auf die Aussichtsplattform fahren!«, schlug Wiggins vor. »Heute hat man einen tollen Ausblick. Im Anschluss können wir das ganze Denkmal systematisch von oben nach unten durchkämmen.«

Elmar Gutbrot lehnte in luftiger Höhe über der Brüstung und betrachtete gedankenversunken die Stadt. Kroll und Wiggins stellten sich neben ihn, der eine links, der andere rechts, und sahen gleichfalls in Richtung Innenstadt.

Gutbrot schien die unerbetene Gesellschaft nicht zu stören. »Ich komme für gewöhnlich hierher, wenn ich in Leipzig bin. Dieser ganze Ort ist wie ein Roman: Vor dir das pulsierende Leben, unter dir das blutige Schlachtfeld, drum herum die Geschichte von Krieg und Frieden und über allem liegt der Geruch des Todes!«

»Klingt deprimierend«, bemerkte Kroll.

»Ich weiß jetzt auch, warum diese elenden Nazis hier waren. Du findest zu deinen Füßen alle Stimmungen, die man für eine verworrene Ideologie braucht: die Helden, die Opfer, den Kampf, den Sieg, die Treue, den Glauben, das Blut, die Ehre, den Tod, die Unterwerfung, das Schicksal.«

»Hier finden noch immer zu viele Menschen ihr persönliches Schicksal«, ergänzte Wiggins. »Das Denkmal ist leider auch bei Selbstmördern sehr beliebt.« Gutbrot ließ sich nicht aus seiner nachdenklichen Stimmung reißen. »Mors est quies viatoris, finis est omnis laboris. Der Tod ist die Ruhe des Wanderers – er ist das Ende aller Mühsal. Der Tod. Wem gehorcht er wohl? Wem steht er zu Diensten?«

»Manche Menschen glauben wohl, dass der Tod geeignet sei, ihren persönlichen Interessen zu dienen«, bemerkte Kroll. »Meist ein großer Irrtum. Aber ich würde gern zur Sache kommen: Herr Gutbrot, Sie haben uns nicht die Wahrheit erzählt, was Ihr Alibi angeht. Sie haben Auerbachs Keller um 19.30 Uhr verlassen. Sie hatten genug Zeit, Lachmann zu töten.«

Gutbrot schien diese Neuigkeit nicht zu beeindrucken. Er wirkte immer noch abwesend. »Warum sollte ich Lachmann umbringen? Wir schlachten jetzt eine tote Kuh aus, die wir gerne noch viele Jahre gemolken hätten.«

Wiggins drehte sich um und sah Gutbrot an. »Zum Beispiel, weil wir von Frau Mühlenberg erfahren haben, dass Sie die Kuh, wie Sie es nennen, ohnehin nicht mehr lange gemolken hätten. Weder Herr Lachmann noch Frau Mühlenberg waren offensichtlich an einer weiteren Zusammenarbeit mit dem ZeitraubVerlag interessiert. Die Biografie kriegt ja auch jemand anderes.«

Gutbrot lachte bitter. »Die Wege dieser Herrin sind unergründlich. Was soll das Ganze? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich ein Mörder bin!«

Kroll wurde ungeduldig. »Glaubensfragen gehören in die Kirche. Ich will einfach wissen, wo Sie wirklich waren, Herr Gutbrot!«

Der Verleger drehte sich um und lehnte mit dem Rücken an die Brüstung. »Ich war im Wasserturm.«

Der Wasserturm war ein großes Bordell in Leipzig an der Straße Richtung Taucha. Die Polizisten wussten genau, dass es nahezu unmöglich war, das Alibi zu hinterfragen. Der Wasserturm war das mit Abstand größte erotische Etablissement in Leipzig und Umgebung, in dem unzählbar viele Prostituierte arbeiteten. Zu Messezeiten herrschte sicherlich Hochbetrieb.

Kroll hakte nach. »Hat Sie dort jemand gesehen? Wie hieß denn die Dame, bei der Sie den Abend verbracht haben?«

»Es war ziemlich voll. Sicher haben mich viele Gäste gesehen. Mir ist aber keiner namentlich bekannt. Die Dame hieß Mandy oder so ähnlich. Kann aber auch ein anderer Name gewesen sein. Ich war schließlich nicht dort, um mich zu unterhalten.«

Wiggins klappte seinen Notizblock zu. »Wir werden das überprüfen! Ich hoffe nur, Sie haben uns nicht schon wieder angelogen! Wann verlassen Sie Leipzig?«

»Morgen früh. Mein Flieger geht um 7.45 Uhr.« »Halten Sie sich bitte bis zur Abreise zu unserer Verfügung«, verlangte Kroll zum Abschied.

Sie saßen bereits im Auto, als Krolls Handy klingelte. Kommissar Volker Schöck wollte ihn sprechen.»Hallo, Kroll. Ich habe mir gerade die Videos von der Überwachungskamera angesehen, die bei uns vor dem Haupteingang hängt. Ich dachte, das kann nicht schaden. Vielleicht ist der Täter bei uns vorbeigekommen, schließlich liegt das Präsidium nur einen Steinwurf von der Pfeifenstube entfernt. Du wirst es nicht glauben: Ich hatte einen Treffer.«

»Mach’s nicht so spannend!«, forderte ihn Kroll auf.

»Der Verleger Gutbrot ist genau um 19.58 Uhr durch das Blickfeld unserer Kamera gefahren, mit einem Fahrrad.«

»Bist du dir da ganz sicher?«

»100 Pro! Die Person stimmt genau mit dem Foto überein, das wir in der SOKO verteilt haben. Da besteht überhaupt kein Zweifel.«

Kroll sah Wiggins an. »Danke, Volker, du hast uns sehr geholfen! Schick bitte noch eine Truppe los, die sollen unbedingt das Fahrrad suchen.«

»Mach ich! Bis später.«

Kroll und Wiggins gingen zurück zum Völkerschlachtdenkmal. Schon von Weitem erkannten sie, dass sich vor dem Haupteingang eine große Menschenmenge versammelt hatte. Alle reckten ihre Köpfe in die Höhe. Elmar Gutbrot stand auf der Brüstung.

»Scheiße!«, fluchte Kroll. Er nahm sein Handy und informierte die Feuerwehr und die Kollegen. »Wir müssen da hoch!«

Die Polizisten wollten nicht auf den Fahrstuhl warten, sondern stürmten die Treppen hinauf. Außer Atem erreichten sie die Plattform. Wiggins zeigte seinen Ausweis und bat die anwesenden Touristen, sich zu entfernen. Kroll näherte sich Gutbrot bis auf eine Entfernung von drei Metern.

»Herr Gutbrot! Das bringt doch nichts! Kommen Sie da runter!«

Gutbrot schien den Beamten gar nicht wahrzunehmen. Er starrte in die Tiefe.

Kroll fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Er hätte alles dafür gegeben, jetzt einen erfahrenen Polizeipsychologen bei sich zu haben. Aber es war keiner da. Kroll fühlte sich überfordert. Mit einer derartigen Situation hatte er überhaupt keine Erfahrung. Was sollte er jetzt sagen? Bloß nicht das Falsche. Das war klar. Aber was war das Richtige? Er durfte Gutbrot auf keinen Fall erzählen, dass sein Alibi erneut geplatzt war. Das würde seine Ausweglosigkeit nur erhöhen. Aber irgendetwas musste er doch tun.

»Herr Gutbrot! Nichts auf dieser Welt kann so schlimm sein, dass es sich lohnen würde, da runterzuspringen.«

Der Verleger sah immer noch in die Tiefe. »Sie haben ja keine Ahnung!«

Kroll trat einen Schritt näher. »Natürlich habe ich keine Ahnung, aber ich weiß, dass es in jeder Situation Menschen gibt, die einem helfen können. Und ich weiß auch, dass das, was Sie vorhaben, keine Lösung ist. Denken Sie doch an Ihre Frau und Ihre Kinder!«

In der Ferne ertönte ein Martinshorn Die Feuerwehr rückte an. Unablässig starrte Gutbrot an seinen Füßen vorbei in Richtung Boden.

Kroll sah zu Wiggins. Der zuckte hilflos mit den Achseln.

»Herr Gutbrot. Kommen Sie jetzt bitte da runter! Wenn das etwas mit dem Tod von Willi Lachmann zu tun haben sollte, besteht mit Sicherheit kein Anlass, sich das Leben zu nehmen. Wir glauben nicht, dass Sie etwas mit dessen Tod zu tun haben.«

»Das weiß ich selbst«, murmelte Gutbrot mit monotoner Stimme.

Ratlos musterte Kroll den Geschäftsinhaber des Zeitraub-Verlages. »Aber was ist es denn dann?«

»Ich glaube nicht, dass das irgendjemanden etwas angeht«, waren die letzten Worte des Verlegers Elmar Gutbrot.

Das dumpfe Geräusch des Aufpralls war noch oben auf der Plattform zu hören. Die beiden Polizisten stürmten zur Brüstung. Gutbrots verdrehter Körper lag in einer Blutlache. Rettungssanitäter rannten auf ihn zu.

Langsam ließ sich Kroll zu Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Verdammte Scheiße! Musste das jetzt sein?«

Wiggins setzte sich neben seinen Kollegen. »War das jetzt ein Schuldeingeständnis?«

Erschöpft fuhr sich Kroll durch die Haare. »Keine Ahnung. Vielleicht ja, vielleicht nein.« Er sah Wiggins an. »Irgendjemand muss die Angehörigen benachrichtigen. Weißt du, wo der Gutbrot gewohnt hat?«

Wiggins blätterte in seinem Notizblock. »Der wohnt in Polling, einem kleinen Ort in der Nähe von Altötting.«

»Ruf die Kollegen im Präsidium an. Die sollen jemanden vorbeischicken, der die traurige Nachricht überbringt.«

Kroll stand auf und schaute über die Brüstung. Er beobachtete, wie ein Zinksarg in einen Leichenwagen geschoben wurde. Die Blutlache war noch deutlich zu sehen. »Ich glaube, heute brauche ich ein Bier!«

»Ich komm mit«, antwortete Wiggins.

Die Kommissare beschlossen, zunächst ins Präsidium zu fahren. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass Carola Gutbrot noch am heutigen Abend in Leipzig eintreffen würde. Ihr Zug wurde für 20.25 Uhr am Hauptbahnhof angekündigt. Kroll und Wiggins beschlossen, sie abzuholen.

Kroll rief alle Mitarbeiter der SOKO zusammen, um zu erfahren, ob sie etwas Brauchbares herausgefunden hatten. Die Ergebnisse waren jedoch wieder dürftig. Oskar Jäger hatte sich noch nicht gemeldet. Das war aber auch nicht zu erwarten, weil er sich erst seit wenigen Stunden in Berlin aufhielt.

Am Ende der Sitzung erhielten sie die Nachricht, dass vor einem Haus in der Härtelstraße ein Fahrrad entdeckt worden sei, das mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Fahrrad auf der Videoaufzeichnung übereinstimme. Die Härtelstraße war nur wenige Meter von der Pfeifenstube entfernt. Kroll bat die Kollegen, nichts anzurühren. Sie wollten sich das Rad zunächst selbst ansehen, zumal die Härtelstraße auch vom Polizeipräsidium aus innerhalb von nur fünf Minuten Fußweg erreichbar war.

Das rote Mountainbike lehnte an der Wand eines alten Mehrfamilienhauses. Es war mit einem schwarzen Rundschloss an einem Fenstergitter angekettet. Ein uniformierter Beamter ging auf Kroll zu. »Das Rad ist registriert. Wir haben den Eigentümer schon abgeklärt. Es gehört einer gewissen Irma Finger.«

»Das ist die Autorin, die am Tatabend die Lesung im Auerbachs Keller gehalten hat«, erläuterte Wiggins. »Vermutlich hat Gutbrot das Fahrrad von ihr geliehen.«

Kroll wies mit dem Zeigefinger auf den Lenker. »Wir hatten früher einen einfachen Tacho. Heute geht wohl nichts mehr ohne Computer!«

Der uniformierte Polizist war froh, den Kommissaren helfen zu können. »Mein Sohn hat genau das gleiche Gerät. Der fährt nämlich ständig diese Radrennen.« Er holte kurz Luft. »Wenn Sie denken, das Ding zeigt Ihnen nur, wie schnell und wie weit Sie gefahren sind, haben Sie sich gründlich getäuscht. Dieser Apparat misst Ihre Herzfrequenz und 1.000 andere Werte, außerdem enthält es ein komplettes Navigationssystem.«

Kroll nickte anerkennend. »Ab in die Kriminaltechnik damit. Sagen Sie denen, die sollen sich den Computer mal ganz genau ansehen.«

Kroll und Wiggins gingen zurück in das Präsidium. Mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung sahen sie sich das Video an, auf dem Gutbrot zu sehen war, als er am Gebäude vorbeifuhr. Obwohl Einzelheiten nur sehr undeutlich zu erkennen waren, hatten sie keinen Zweifel, dass der Mann auf dem Fahrrad tatsächlich der Verleger war. Sie ließen sich die Aufnahme mehrmals zeigen und baten den Mitarbeiter, an verschiedenen Stellen anzuhalten, weil sie Gutbrots Gesichtsausdruck oder andere Auffälligkeiten zu entdecken hofften. Aber dafür war die Qualität der Überwachungskamera zu schlecht.

Nachdem der Kollege von der KTU gegangen war, blieben sie noch einen Moment in dem Raum sitzen. Kroll sah auf den dunklen Bildschirm. »Lachmann wurde mit einem Gewehr erschossen. Gutbrot hatte kein Gewehr dabei. Das hätten wir auf der Aufnahme gesehen.«

»Vielleicht hatte er es vorher irgendwo deponiert«, grübelte Wiggins.

»Vielleicht! Vielleicht aber auch nicht.« Kroll konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, hielt sie aber auch nicht für sehr wahrscheinlich. Ein schussbereites Gewehr versteckt man schließlich nicht irgendwo im Garten.

»Lass nach der Waffe suchen! Was wissen wir über das Haus, wo Gutbrots Fahrrad angelehnt war?«

»Nicht viel. Ich lasse das gerade checken! Die Nachbarhäuser auch.«

Kroll war ungeduldig. »Klasse! Können wir irgendwann auch mal vorwärtskommen?«

Wiggins blieb gelassen. »Alles braucht seine Zeit.«

Als sie wider in ihrem Büro saßen, klingelte das Telefon. Oskar Jäger, der Kollege, der gerade in Berlin recherchierte, war dran. Kroll stellte den Lautsprecher an.

»Hallo, Kollegen. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass wir auf der richtigen Spur sind. Ich habe etwas rausbekommen!«

»So schnell?«, fragte Wiggins.

»Glaubt ihr etwa, ich mache Urlaub? Aber im Ernst: Das war gar nicht so aufwendig, ist mir wirklich schon beim Lesen der ersten Akten ins Auge gesprungen.«

»Was denn?«

»Also, bei der Abkürzung AGMS hat der Lachmann ein Zeichen weggelassen. Deshalb haben wir immer an der falschen Stelle gesucht. Beim Lesen der Unterlagen fiel mir sofort auf, das muss AGM/S« – er betonte den Schrägstrich – »heißen. Und dann ist die Sache schnell klar!«

»Und was bedeutet AGM/S?«, wollte Wiggins wissen.

»Das ist die Abkürzung für Arbeitsgruppe des Ministers für Staatssicherheit/Sonderfragen. Das war die Abteilung der Stasi, die für die Auslandseinsätze zuständig war. Jetzt passt vieles zusammen. Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Jetzt bin ich mir ganz sicher.«

Kroll und Wiggins brauchten einen Moment, um die neue Information zu verarbeiten. Kroll rieb sich die Augen und suchte einen Notizzettel.

»Hallo … seid ihr noch da?«, tönte es aus dem Lautsprecher des Telefons.

Kroll kritzelte auf den Zettel. »Ja. Bleib dran, Oskar. Wir müssen die Sachen jetzt ein wenig sortieren. Fangen wir mit Lachmanns USB-Stick an.«

Wiggins führte die Gedanken weiter. »Als Allererstes stand da Eimnot drauf. Hier gibt es nur wenige Interpretationsmöglichkeiten. Eimnot ist weiß Gott kein alltäglicher Name. Das kann eigentlich nur unser alter Bekannter Peter Eimnot sein. Jahrelang unschuldig hinter Gittern wegen des angeblichen Mordes an der Juwelierstochter Annemarie Rosenthal.«

Kroll dachte laut. »Bei L.E. kann man sich nicht so sicher sein, diese Abkürzung kann vieles bedeuten. Aber unterstellen wir einmal, das sind tatsächlich die Initialen des Fußballers Lars Ehrentraut. Was hat das mit Eimnot zu tun?«

»Eine ganze Menge!«, intervenierte die Stimme aus dem Telefon. »Denkt doch mal an die Zwangsadoption der kleinen Amelie. Lars Ehrentraut muss ihr Vater gewesen sein! Alles andere macht doch keinen Sinn. Und damit hätten wir auch die Verbindung zu Annemarie Rosenthal!«

Wiggins bremste die Euphorie seines Kollegen am Telefon. »Das ist bislang nicht mehr als eine Vermutung!«

Oskar Jäger ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. »Wiggins, ich bitte dich! Das kann doch kein Zufall sein. Und jetzt denk doch bitte noch an die Abkürzung AGM/S. Die Auslandsabteilung der Stasi. Also, was wollt ihr noch mehr?«

Kroll zog das Gespräch wieder an sich. »Das war gute Arbeit bis jetzt, Oskar. Aber wenn du mich so fragst: Auf meinem Wunschzettel steht ganz oben die Frage, wo Amelie jetzt ist. Außerdem würde ich gerne mehr über die Hintergründe des Todes von Lars Ehrentraut erfahren. Und … wenn du schon einmal dabei bist, krieg doch bitte noch raus, wer dieser Goran ist. Über den wissen wir nämlich noch gar nichts!«

»Mach ich, Chef! Also bis dann!«

»Und, was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte Kroll seinen Kollegen, nachdem Jäger aufgelegt hatte.

»Schwer zu sagen. Es scheint ja alles ganz gut zusammenzupassen. Aber irgendwie eine komische Geschichte. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir bislang noch nichts mit diesen Dingen zu tun hatten.«

Kroll stand auf und ging zum Fenster. »Wer ist dieser Goran?«

Wiggins zuckte mit den Achseln.

Ein Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Untersuchung kam herein und legte ein Blatt auf Krolls Schreibtisch. »Wir dachten, euch interessiert die letzte Route von diesem Gutbrot. Die war relativ einfach herauszukriegen, weil der Computer am Fahrrad das automatisch abspeichert. Der Rest kommt später. Die Zielperson ist vom Auerbachs Keller durch die Fußgängerzone, am Gebäude der Deutschen Bank über den Ring und dann immer geradeaus über den Petersteinweg bei uns vorbei, schließlich links ab in die Härtelstraße. Eigentlich der kürzeste Weg.«

Kroll versuchte, sich Gutbrots Aussage in Erinnerung zu rufen. »Hat Herr Gutbrot irgendwann eine Pause gemacht?«

»Nein, das haben wir gecheckt. Der hat nur einmal für genau 26 Sekunden angehalten, bevor er den Ring überquert hat. Wahrscheinlich musste er an einer Ampel warten.«

»Sonst keine Pause?«, hakte Wiggins noch einmal nach.

»Definitiv nicht!«

Als sie wieder alleine im Büro waren, betrachtete Kroll erneut die Aufzeichnungen der KTU. »Der hat nicht angehalten und irgendwo ein Gewehr aus dem Versteck geholt.«

Wiggins stimmte seinem Kollegen zu. »Wir müssen allerdings noch abklären, was Gutbrot in der Härtelstraße gemacht hat. Theoretisch wäre es möglich, dass er das Gewehr dort gebunkert hat und anschließend zu Fuß Richtung Pfeifenstube gegangen ist. Sicher ist sicher!«

Kroll sah auf die Uhr. »Komm, wir müssen zum Bahnhof. Frau Gutbrot kommt in einer Viertelstunde an.«

Der Leipziger Hauptbahnhof wurde kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges fertiggestellt. Die 13-jährige Bauzeit war dem monumentalen Gebäude ohne Weiteres anzusehen. Da bis zum Jahre 1934 die rechte Hälfte des Gebäudes in sächsischer und die linke Hälfte in preußischer Verwaltung war, wurden sämtliche Anlagen doppelt ausgeführt. Die eine Seite ist das perfekte Spiegelbild der anderen.

Mit Frau Gutbrot hatten sie sich vor dem Blumengeschäft im Eingangsbereich der Westhalle verabredet. Sie zog einen Rollkoffer hinter sich her und ging direkt auf die Polizisten zu. Nach einer kurzen Begrüßung brachten Kroll und Wiggins die Witwe in das Hotel Michaelis im Zentrum-Süd. Sie warteten im Restaurant auf Frau Gutbrot, die zunächst ihren Koffer aufs Zimmer bringen wollte.

Als sie zurückgekehrt war, bestellte sie sich einen trockenen Rosé aus der Provence.

Frau Gutbrot begann nachdenklich das Gespräch, ohne die Fragen der Polizisten abzuwarten. »Irgendwie hatte ich schon lange die Befürchtung, dass es mal so weit kommen würde. Elmar wurde immer schwermütiger, depressiver.« Sie trank gierige Schlucke von ihrem Wein. »Keiner konnte ihm helfen, er tat mir einfach nur noch leid. Er war ja nicht einmal selbst schuld an seiner Situation.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Kroll.

»Das ganze Drama begann eigentlich vor gut drei Jahren.« Sie sah die Polizisten unsicher an und spielte dann an dem Serviettenring. »Ich wollte für ein paar Tage meine Schwester besuchen und fuhr von Polling Richtung Augsburg. Nachdem ich circa eine Stunde unterwegs war, fiel mir ein, dass ich wichtige Medikamente auf dem Küchentisch vergessen hatte. Die Medikamente sind verschreibungspflichtig, ich muss sie regelmäßig einnehmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach Polling zurückzukehren.«

Frau Gutbrot pausierte und holte tief Luft. Sie malte mit dem Zeigefinger auf der weißen Tischdecke. »Ja … und als ich wieder nach Hause kam, entdeckte ich meinen Mann in unserem Ehebett …«

Wiggins wollte ihr die weitere Schilderung erleichtern. »Ich nehme an, mit einer anderen Frau.«

Frau Gutbrot schüttelte den Kopf. »Nein, mit einem anderen Mann!«

Kroll und Wiggins sahen sich ungläubig an.

»Aber das heißt ja … also dann muss er seine homosexuelle Neigung ja die ganze Zeit, die ganzen Jahre, geheim gehalten haben«, sagte Kroll zweifelnd.

»Für ihn war das bestimmt die Hölle. Vergessen Sie bitte nicht, Herr Kommissar, wir wohnen in Polling, einem Nest im tiefsten Bayern. Das ist nicht Berlin, Köln oder Leipzig, man kann sich nicht einfach outen. Homosexualität ist dort noch absolut verpönt. Elmar muss Qualen ausgestanden haben. Er musste ein Leben lang seine Sexualität verleugnen und der Gesellschaft das sogenannte normale Leben vorspielen, mit Frau und Kindern.«

»Und wie haben Sie reagiert?«, fragte Kroll.

Frau Gutbrot bestellte ein weiteres Glas Rosé. »Für mich war die Situation natürlich alles andere als einfach. Mein Mann hatte mich betrogen. Das hat mich natürlich sehr verletzt. Da war es mir auch erst einmal egal, ob das mit einem Mann oder einer Frau passiert ist. Ich habe mich natürlich gefragt, ob er mir die ganzen Jahre unserer Ehe etwas vorgespielt hat. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Ich bin mir sicher, dass er mich trotz seiner Veranlagung sehr geliebt hat.«

Die Kellnerin brachte den Wein.

»Zuerst war ich sauer, dann tat er mir leid, dann dachte ich, er hat eigentlich kein Mitleid verdient, schließlich hatte er mich ja betrogen, dann kamen viele Ratschläge von vielen Leuten und, und, und.«

»Aber Sie haben Ihren Mann schließlich verlassen«, orakelte Kroll.

Frau Gutbrot nickte. »Ja! Meine Enttäuschung war zu groß. Das war die emotionale Seite. Aber es gab noch ein rationales Argument: Wenn seine homosexuellen Gefühle so stark waren, machte es keinen Sinn mehr, ihn an mich zu binden.«

Wiggins hatte Mühe, die ganze Geschichte zu begreifen. »Aber Sie haben doch noch einen Sohn! Wie hat er die Sache aufgenommen?«

»Unser Sohn hatte leider überhaupt kein Verständnis für seinen Vater. Er hat ihm vorgeworfen, seine Familie jahrelang betrogen und belogen zu haben. Unser Sohn hat von einem auf den anderen Tag mit seinem Vater gebrochen … unwiderruflich.«

Es kehrte für einen Moment Stille ein. Kroll und Wiggins wurde klar, dass der Mensch, mit dem sie noch vor wenigen Stunden auf dem Völkerschlachtdenkmal geredet hatten, in tiefer Verzweiflung gelebt haben musste.

»Er hat an diesem Tag alles verloren«, bemerkte Kroll leise.

Frau Gutbrot schaute in ihr Weinglas. »Er hatte seine Familie verloren. Sein ein und alles. Ich habe noch viel mit ihm geredet. Aber ein Zurück kam für mich nicht infrage. Das ging einfach nicht mehr.« Frau Gutbrot kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und schnäuzte sich. »In letzter Zeit kamen finanzielle Probleme dazu. Der Verlag machte Verluste. Er hatte große Verpflichtungen. Die vielen Angestellten, die Kredite, der Unterhalt für unseren Sohn und mich. Ich glaube, das ist ihm alles über den Kopf gewachsen.«

Kroll überlegte einen Moment, ob auch er Gutbrot das Leben vielleicht zu schwer gemacht hatte. Hatte er ihn zu Unrecht verdächtigt? Hatte er ihn vielleicht zu hart angefasst? Aber woher sollte er denn wissen, dass sich Gutbrot in so einer bedrückenden Situation befand?

Frau Gutbrot unterbrach seine Gedanken. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen. Ich bin müde und würde gerne zu Bett gehen. Wir sehen uns morgen früh. Ich möchte meinen Mann gerne verabschieden.«

Peter Eimnot war nicht überrascht, dass sein serbischer Freund ihn besuchte. Das tat er regelmäßig, wenn er in Leipzig war. Wie immer hatten sie sich in das kleine, schmuddelige Wohnzimmer gesetzt und becherten billiges Dosenbier. Der Serbe hatte noch eine Flasche Sliwowitz mitgebracht, den sie aus beschlagenen Wassergläsern tranken.

Der Serbe war groß und hager, mit breiten Schultern. Er schien nur aus Knochen, Muskelpaketen und Haut zu bestehen. Seine Arme waren bis zu den Fingern tätowiert, an der linken Halsseite saß eine Spinne. Die Tätowierung an der rechten Seite des Halses sollte wohl einen Vampirbiss darstellen, war aber nicht so gut gelungen. Unter dem rechten Auge hatte er sich eine Knastträne stechen lassen.

Als der Serbe eine Dose Bier öffnete, zischte es leise und Schaum trat aus der Öffnung im Blech heraus. Er nahm einen tiefen Schluck und wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab. Sein lautes Aufstoßen unterdrückte er nicht. »Alte meint, ich sollte besser aus Staub machen.«

Mit geschickten Fingern drehte sich Eimnot eine Zigarette. Er sah seinen Freund verständnislos an. »Warum?«

»Er sagte, wegen Tod von diese Lachmann. Könnte sein, dass Polizei jetzt wieder rumschnüffelt und da wäre besser, wenn ich von Bildfläche verschwinde.«

Eimnot schien das alles nicht aufzuregen. »Na ja, wenn der Alte das so denkt. Der wird schon wissen, was er sagt!«

Der Serbe zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Beim Sprechen trat der Qualm aus Mund und Nase. »Und was du denkst?«

Eimnot zuckte mit den Schultern. »Ich denke, uns kann nichts passieren, solange keiner Lachmanns Computer findet. Bist du sicher, dass du ihn gut versteckt hast?«

»Sicher wie Amen in Kirche!«Ein Lächeln glitt über Eimnots Gesicht. »Gut! Denk dran, die Dateien sind sicherlich noch ein hübsches Sümmchen wert, wenn erst einmal Gras über die Sache gewachsen ist. Wüsstest du denn, wo du für eine Zeit untertauchen könntest?«

»Ich Soldat, mein Freund. Ich kann untertauchen überall.« Er zerdrückte die Bierdose und warf sie in die Ecke, bevor er eine neue öffnete.

Eimnot nahm die Flasche mit dem Sliwowitz und führte sie zum Mund. Der Schnaps schien wie Wasser in seinen Hals zu laufen, Eimnot verzog keine Miene und reichte die Flasche dem Serben. »Dann ist das wohl heute erstmal unser Abschiedstrunk. Wir bleiben über Handy in Kontakt. Brauchst du Asche?«

Der Serbe griff in seine Hosentasche und zeigte Eimnot ein dickes Bündel Geldscheine. »Hab genug!« Kroll und Wiggins beschlossen, an diesem Abend im Spizz noch etwas zu trinken. Bevor Wiggins eine feste Freundin hatte, hatten sie sich häufiger mal auf ein Feierabendbier verabredet, in letzter Zeit aber immer seltener. Das Spizz lag in der Leipziger Innenstadt, direkt am Marktplatz gegenüber dem Alten Rathaus. Die Kneipe war stets gut besucht, im Sommer wie im Winter. An warmen Tagen hatte man erst recht Mühe, noch einen Platz zu ergattern, denn das Spizz lag außerdem am Eingang des Barfußgäßchens, einer äußerst beliebten Kneipenmeile, in der sich halb Leipzig zu versammeln schien. Kroll und Wiggins hatten Glück. Als sie kamen, wurde gerade ein Tisch mit Blick auf den Marktplatz frei.

»Hast du mal wieder was von Claudia gehört?«, fragte Wiggins.

Kroll antwortete gleichgültig. »Hat gestern, glaube ich, angerufen. Geht ihr ganz gut in Kiel. War zumindest mein Eindruck.«

Wiggins wollte sich mit der Antwort nicht zufriedengeben. »Und … sonst nichts?«

Kroll stellte sein Glas ab. »Du kennst doch die Weiber. Immer die gleiche Platte: Ich muss nachdenken, ich brauche Abstand, ich brauche Zeit, ich muss erst meine Gefühle sortieren, ich muss sehen, ob ich dich vermisse … ich, ich, ich …«, er lachte Wiggins freudlos an. »Die haben da sogar Robben im Institut, mit denen übt Claudia schon Kunststücke, und ihr Kollege frisst abends den Tintenfisch, den sie tagsüber seziert!«

Wiggins verzog das Gesicht. »Echt?«

»Na klar. Was glaubst du, wie frisch der ist!«

Wiggins wurde nachdenklich. »Und du? Wie geht es dir?«

»Geht so. Ich mach das alles nicht zum ersten Mal durch. Als Polizist kriegt man ja langsam Routine mit abgebrochenen Beziehungen.«

Für einen kurzen Moment erschrak Wiggins. Würde das auch für ihn gelten? Er nahm das Gespräch erneut auf. »Glaubst du denn, dass die Trennung endgültig ist?«

Kroll trank sein Glas leer und bestellte ein neues Bier, weil Wiggins Glas noch halb voll war. »Da bin ich mir sicher. Die kommt nicht mehr zurück. Und ich habe eigentlich mit der Geschichte auch abgeschlossen. War ’ne schöne Zeit … der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.« Kroll prostete Wiggins mit seinem frischen Bier zu. »Und bei dir und Nicole? Alles klar so weit?«

»Das läuft eigentlich ganz gut. Nicole recherchiert gerade für ihre Diplomarbeit. Abends kellnert sie noch im Bayerischen Bahnhof.«

»Heute Abend auch?«

»Nein, sie wollte mit einer Freundin ins Kino, irgend so ein Frauenfilm.«

»Seid ihr nicht erst im Kino gewesen?«

»Ne, da kam uns doch der USB-Stick in die Quere.«

»Und du hattest keinen Bock auf Kino?«

»Nicht auf diesen Film. Da geht es, glaub ich, nur um Gefühle.« Wiggins lächelte. »Da geh ich lieber ein Bier trinken.« Er hielt es für angebracht, mit Rücksicht auf Krolls derzeitige Situation, das Thema Frauen nicht zu vertiefen und beschloss daher, über den Fall zu reden. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Besonders weit sind wir noch nicht gekommen.«

Kroll wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. »Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass das Motiv für den Mord an Willi Lachmann weit in der Vergangenheit liegt.«

»Du meinst den Fall Peter Eimnot.«

»Nicht nur das!«

»Der Tod dieses Fußballers Ehrentraut?«

Kroll nickte. »Wir müssen herausbekommen, was damals vorgefallen ist und wie das alles zusammenhängt. Da gibt es vermutlich Verbindungen, von denen wir nichts ahnen. Wir müssen jetzt in die Geschichte eintauchen und Schicht für Schicht freilegen, bis wir der Sache auf den Grund gekommen sind.«

Wiggins stöhnte. »Kein leichtes Unterfangen bei der Geheimhaltungsstufe, mit der wir es zu tun haben.«

Kroll beachtete die letzte Bemerkung seines Kollegen nicht. »Und natürlich müssen wir herausfinden, wer dieser Goran ist. Um den hat sich bis jetzt noch niemand gekümmert.«

Wiggins Handy klingelte. Er drückte auf die grüne Taste. »Ehrlich … ach du Scheiße … ich komme!« Er sah Kroll um Verständnis bittend an. »Das war Nicole. Die ist auf der Kinotreppe umgeknickt und das mit diesen blöden hohen Schuhen. Die sitzt jetzt in der Eingangshalle, schreit vor Schmerzen und kann nicht mehr laufen. Ich glaube, ich muss mit ihr noch zur Notaufnahme.«

»Hoffentlich nichts Ernstes! Soll ich mitkommen und dir helfen?«

Wiggins war schon aufgesprungen. »Wirklich nicht nötig. Das kleine Persönchen kann ich zur Not noch alleine tragen. Tut mir nur leid für unseren Abend.«

»Ist doch kein Problem. Da kann doch jetzt wirklich niemand was dafür. Ruf mich an, wenn du doch noch Hilfe brauchst.«

Nachdem Wiggins sich entfernt hatte, bestellte sich Kroll noch ein Weizenbier. Er lehnte sich zurück und genoss mit geschlossenen Augen die warme Luft des Sommerabends. Für einen Moment war er abwesend. Eine ihm nicht unbekannte Stimme riss ihn aus der geistigen Dämmerung.

»Hallo, Herr Kommissar. So spät noch alleine unterwegs? Ich hätte gewettet, bei dir stehen die Frauen Schlange.«

Kroll öffnete die Augen. »Die Zeiten sind lange vorbei. Wenn heute Frauen wegen mir Schlange stehen, dann nur, um durch die Ausgangstür zu verschwinden.« Er zeigte auf den freien Stuhl. »Aber im Ernst. Wiggins war gerade noch da, doch der musste zu seiner Freundin, weil die sich den Fuß verletzt hat und nicht mehr alleine laufen kann!«

Liane Mühlenberg nahm Platz. »Dann werde ich dir eben die Zeit vertreiben. Natürlich nur, wenn es dir Recht ist.«

Kroll war erfreut, dass er nicht länger alleine hier sitzen musste. »Aber natürlich, gerne. Was willst du trinken?«

Liane blätterte in der Karte und schaute abwägend in den Himmel. »Bei diesem Wetter …ich nehme einen trockenen Weißwein.« Sie lachte Kroll an. Von großer Trauer war bei ihr nichts mehr zu spüren. »Herrlicher Abend, oder? Ich liebe diese warmen Sommerabende, an denen man überhaupt nicht nach Hause möchte.«

»Das geht mir genauso«, stimmte ihr Kroll zu.

Es trat ein Moment Stille ein, der von Liane unterbrochen wurde. »Bist du öfter hier ?«

»Ich gehe ganz gerne mal abends raus. Hab so mehrere Kneipen, in denen ich mich am liebsten aufhalte. Das Spizz gehört ebenfalls dazu. Außerdem mag ich die Bedienung, die gerade im Einsatz ist. Die ist wirklich nett.«

Die letzte Bemerkung machte Liane neugierig. »Verzeih mir bitte, wenn ich indiskret bin, aber gibt es zurzeit nicht eine bessere Hälfte in deinem Leben?«

Kroll musste grinsen. »So etwas Ähnliches hat mich Wiggins auch gerade gefragt.«

»Und? Was hast du ihm geantwortet?«

Kroll wusste zwar nicht, warum Liane ihn plötzlich über sein Privatleben aushorchte, aber er hatte keine Lust auf irgendwelche Ratespielchen. Außerdem wollte er aus seinem Singledasein kein Geheimnis machen. Dazu bestand kein Anlass. »Ich bin seit Kurzem wieder solo. Meine Freundin und ich haben uns vor ein paar Tagen getrennt.«

»Oh, das tut mir leid!«

Kroll konnte Lianes Bemerkung nicht richtig einschätzen. Tat es ihr wirklich leid? Das konnte er sich nicht vorstellen, denn Liane und er kannten sich noch nicht lange. Oder hatte Liane diese Bemerkung einfach nur fallen lassen, weil sie es für angebracht hielt. Vielleicht wollte sie auch in Erfahrung bringen, ob Kroll unter der Trennung litt. Das würde bedeuten, dass sie in Erfahrung bringen wollte, wer die Beziehung beendet hatte. Er sah jedoch keinen Grund, sein Privatleben vor ihr auszubreiten. Außerdem war er durch ihr Interesse an seinem Beziehungsleben ein wenig irritiert, weil Liane Mühlenberg schließlich vor wenigen Tagen auf tragische Weise ihren Partner verloren hatte. Er versuchte daher, von sich abzulenken. »Kein Problem.« Er sah sie mitfühlend an. »Da hast du in letzter Zeit Schlimmeres durchgemacht.«

Liane stellte das Weinglas auf den Tisch und zog damit unförmige Kreise. »Das kann mal wohl sagen! Aber was bringt es, daheimzusitzen und das Kissen vollzuheulen? Ich muss mich ablenken, rausgehen, arbeiten und dann geht es irgendwie.« Sie suchte Blickkontakt zu Kroll. »Weißt du, Kroll, Willi und ich hatten immer eine Menge Spaß. Er würde nicht wollen, dass ich mich jetzt fertigmache!«

»Das bringt sowieso nichts«, stimmte der Hauptkommissar ihr zu. »Trinkst du noch einen Wein? Mein Bier ist auch gerade alle.«

»Klar.«

Weil das Thema schon auf Willi Lachmann gekommen war, nutzte er die Gunst der Stunde, seinem Ermittlungsdrang nachzugeben, obwohl er wusste, dass es nicht passend war. »Darf ich dir ein paar dienstliche Fragen stellen? Ich verspreche hoch und heilig, es kurz zu machen.«

Liane Mühlenberg war anzusehen, dass sie nicht begeistert war. »O.K., Kroll. Du hast genau drei Fragen und dann genießen wir den Abend, einverstanden?«

»Einverstanden! Also, Frage Nummer eins: Kommt dir der Name Amelie Rosenthal bekannt vor oder hat Willi ihn einmal erwähnt? Sie hat einen Leberfleck unter dem rechten Auge, vielleicht ist dir schon mal so jemand begegnet?«

Liane zählte in aller Ruhe mit ihren Fingern. »Das waren drei Fragen. Die Antwort ist nein.«

Kroll gab nicht auf. »Zweite Frage. Hast du mal was von dem Fußballer Lars Ehrentraut gehört?«

»Die Antwort ist erneut nein. Darf ich nun um die letzte Frage bitten?«

Kroll überlegte einen Moment. »Also gut. Hat sich Willi in letzter Zeit mit Leuten getroffen, die dir irgendwie verdächtig vorkamen? Vielleicht war jemand aus dem ehemaligen Jugoslawien darunter.«

»Letzte Antwort: Nicht, dass ich wüsste.«

Kroll hob zum Zeichen der Aufgabe die Hände. »Die Fragen hätte ich mir sparen können. Also gut. Der dienstliche Teil wäre hiermit offiziell beendet. Jetzt genießen wir den Abend. Und worüber reden wir nun?«

Liane streifte sich die Haare aus dem Gesicht. »Mich würde zum Beispiel interessieren, was du so machst, wenn du nicht Verbrecher jagst. Oder hast du nie Freizeit?«

»Ab und zu schon. Ich interessiere mich für Sport. Hauptsächlich Kampfsport und Fußball.«

Fußball schien Lianes Geschmack überhaupt nicht zu treffen. Das hatte Kroll auch nicht erwartet. Aber der Kampfsport weckte ihre Aufmerksamkeit.

Ihre Blicke glitten über Krolls Körper. »Also Kampfsport! Nur theoretisch, oder auch …?«

»Ich war früher mal ganz gut. Heute versuch ich, noch so einigermaßen fit zu bleiben.« Er lächelte Liane an. »Noch geht es ganz gut. Aber ich werde auch nicht jünger!«

»Ach du Armer«, seufzte Liane übertrieben. »Wenn du einen Platz im Seniorenheim brauchst, ich habe da gute Beziehungen!« Sie beugte sich vor und streichelte Krolls Oberarm. »Ich könnte dir bestimmt ein Doppelzimmer mit deinem alten Kollegen besorgen. Dann könnt ihr zusammen Bingo spielen.«

Kroll setzte das Bierglas ab. »Welcher alte Kollege?«

Liane Mühlenberg war immer noch gut gelaunt. »Na, in der Herbstvilla. Da hat doch Willi in letzter Zeit ziemlich oft diesen alten Polizisten besucht … wie heißt der gleich? Irgendwas mit Vogel …«

Kroll half ihr mit einer deutlichen Stimme auf die Sprünge. »Bernd Vogelsang!«

Behutsam stellte Liane ihr Weinglas auf dem Tisch ab. »Ja, genau. Aber keine Sorge. Das war doch nur ein Spaß! Der sitzt schon im Rollstuhl.« Sie beugte sich wieder vor. »Da bist du doch noch ein bisschen beweglicher.«

»Komisch, das hat der uns gar nicht erzählt«, murmelte Kroll in Gedanken.