SECHS

Kroll kam gegen halb eins in seine Wohnung zurück. Er zog sich sofort aus, ging ins Badezimmer und anschließend direkt ins Bett. Den Wecker stellte er auf sieben Uhr. Er schlief sofort ein.

Das Klingeln seines Handys konnte er nicht hören, als er am nächsten Morgen gegen halb acht unter der Dusche stand. Wiggins ahnte das schon und legte nicht auf. Erst als Kroll das Wasser abgedreht hatte, nahm er das Handy wahr. Er trocknete sich nur die Hände ab und drückte auf die grüne Taste.

Wiggins war in heller Aufregung. »Komm sofort zu Liane Mühlenbergs Wohnung. Beeil dich! Es ist dringend!«

»Ist etwas passiert?«»Das kann mal wohl sagen. Liane ist entführt worden!«

»Entführt worden?«, wiederholte Kroll, weil er nicht glauben konnte, was sein Kollege ihm gerade erzählt hatte.

»Beeil dich! Ich erkläre dir alles, wenn du hier bist!«

Der Bereich des Hauseingangs in der Ferdinand-Lassalle-Straße war großzügig mit dem rot-weißen Absperrband der Polizei abgeriegelt. Davor hatten sich einige Schaulustige versammelt. Kroll sah, dass die Mitarbeiter der Spurensicherung schon im Treppenhaus ihre Arbeit verrichteten.

Wiggins kam Kroll auf halber Treppe entgegen. »Ein Nachbar hat uns alarmiert.«

»Kannst du mir endlich sagen, was passiert ist?«, fragte Kroll ungeduldig.

»Komm mit«, befahl Wiggins.

Er ging mit Kroll in die Wohnung im ersten Obergeschoss. Die Tür stand offen. Wiggins führte Kroll zielstrebig ins Wohnzimmer, wo ein Rentner auf ihn zu warten schien. Der Mann saß in einem Sessel, er war klein und untersetzt. Er trug einen Anzug, der an seinem Körper ein wenig steif wirkte, und hatte die Hände auf einen schwarzen Stock gestützt.

»Das ist Herr Badstuber«, erläuterte Wiggins. »Herr Badstuber, wären Sie bitte so freundlich und würden meinem Kollegen Kroll noch einmal erklären, was Sie heute gesehen haben.«

Der alte Mann räusperte sich. Er vergewisserte sich bei Wiggins mit einem Blickkontakt.

»Bitte!«, forderte Wiggins ihn auf.

»Also … ich gehe so jeden Morgen gegen sieben Uhr zum Bäcker und hole mir Brötchen und die Tageszeitung. Früher, als meine Frau noch lebte, hat sie das immer gemacht, aber das ist jetzt auch schon seit über fünf Jahren vorbei.« Er richtete sich ein wenig auf. Der Rücken schien ihm wehzutun. »Nun ja, als ich zurückkam, da kam mir dieser junge Mann …«, er schüttelte sich, »… der sah aus wie der Leibhaftige persönlich, der jedenfalls kam mir entgegen.«

Herr Badstuber hielt inne. »Ich habe sofort gesehen, dass da etwas nicht stimmte. Der hatte Frau Mühlenberg am Arm gegriffen und schob sie förmlich vor sich her. Ich wäre auch fast umgefallen, wenn ich nicht im letzten Moment das Geländer erwischt hätte!« Der Rentner sah die Polizisten an und wartete einen Moment, ob sie eine Frage hatten. Kroll gab ihm ein Zeichen, fortzufahren.

»Es ging alles so schnell! Aber als dieser Unhold Frau Mühlenberg an mir vorbeiquetschte, konnte ich ihr Gesicht sehen. Er hat sie geschlagen. Ein Auge war ganz rot und die Nase blutete … ja, wie gesagt, alles ging so furchtbar schnell! Der schubste Frau Mühlenberg die Treppe herunter. Ich bin schnell in meine Wohnung und habe die Polizei angerufen.«

Kroll merkte, dass die Schilderung des Vorfalls den alten Mann verängstigte. Er fühlte sich in seiner Wohnung jetzt auch nicht mehr sicher.

»Das haben Sie genau richtig gemacht«, beruhigte ihn Kroll. »Können Sie den Mann beschreiben?«

Badstubers Augen weiteten sich vor Schreck. »Der sah aus wie der fleischgewordene Satan! Er hatte ganz kurze Haare, weiß wie Schnee. Viel mehr habe ich nicht gesehen, außer seinen abscheulichen Hals.«

»Abscheulicher Hals?«, wiederholte Kroll.

»Eine Spinne und etwas, das wie ein spitzer Zahnabdruck aussah!«

»Waren das Tätowierungen?«, hakte Kroll nach.

Badstuber zuckte mit den Achseln. »Die Spinne vielleicht, aber der Zahnabdruck?« Der alte Mann war der Situation erkennbar nicht mehr gewachsen. »Vielleicht hat den wirklich was gebissen!«

»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«, fragte Kroll.

Badstuber wedelte mit dem Zeigefinger. »Oh nein. Wie ich bereits sagte, ich bin stehenden Fußes in meine Wohnung zurück.«

»Ist die Fahndung raus?«, wandte sich Kroll an Wiggins.

»Na klar, habe ich sofort veranlasst. Die Befragung der Nachbarschaft läuft . Wir versuchen gerade herauszufinden, mit welchem Fahrzeug, sicherlich mit einem Auto, der Täter mit Liane geflüchtet ist. Wir haben alle verfügbaren Leute vor Ort. Gleich kommt ein Kollege vom Erkennungsdienst und wir werden versuchen, ein Phantombild zu erstellen. Die Fernsehsender wurden bereits durch Reis vorab informiert.«

Kroll bedankte sich bei Herrn Badstuber und bedeutete Wiggins, ihm ins Treppenhaus zu folgen. »Die Tätowierungen sind unsere große Chance. Es gibt bestimmt nicht viele Menschen, die auf dem Hals eine Spinne und einen Vampirbiss haben und dazu noch kurze, sagen wir mal helle Haare.«

»Hältst du die Beschreibung von Badstuber für belastbar?«, fragte Wiggins skeptisch. »Der ganze Kram mit dem Satan ist doch sicher nur Einbildung.«

»Ja, aber die Tätowierungen hat der alte Mann sich mit Sicherheit nicht ausgedacht. Außerdem haben wir nicht mehr!«

Kroll rieb sich die Augen. »Wie sieht’s in der Wohnung aus?«

»Keine Einbruchspuren! Aber es hat offensichtlich ein Kampf stattgefunden. Das würde mit der Aussage von Badstuber übereinstimmen, dass Liane geschlagen wurde. Es ist ziemlich viel durcheinander. Ob was fehlt, wissen wir natürlich nicht. Aber ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass diese Entführung irgendetwas mit den Wertgegenständen in der Wohnung zu tun hat.«

»Sondern?«, fragte Kroll.

Wiggins antwortete mit einer Gegenfrage. »Haben wir schon das Ergebnis der Blutuntersuchung?«

Krolls Augen blitzten auf. »Du willst jetzt wissen, ob Liane tatsächlich die Tochter von Annemarie Rosenthal ist?«

»Das wäre zumindest ein plausible Erklärung«, antwortete Wiggins. »Es wird doch jetzt alles neu aufgerollt. Ehrentraut und vor allem der Mord an Annemarie Rosenthal. Wenn Liane wirklich ihre Tochter ist, dann war und ist sie eine wichtige Zeugin und damit eine Gefahr für den Täter.«

Kroll überlegte einen Moment, ob er Zweifel anmelden sollte, entschied sich aber dann doch, die Angelegenheit sofort zu klären. Er nahm sein Handy und wählte eine abgespeicherte Nummer. »Ich war noch nicht in meinem Büro und weiß gar nicht, was alles auf meinem Schreibtisch liegt«, sprach er in den Hörer.

»Das Labor ist sich ganz sicher«, berichtete er, nachdem er aufgelegt hatte. »Die DNA von Lianes Tränenflüssigkeit und von Annemarie Rosenthals Gebiss hat definitiv keine Übereinstimmungen. Sie ist nicht Annemaries Tochter!«

Wiggins sah Kroll lange verständnislos an. »Das gibt’s doch nicht. Ich hätte alles Geld der Welt darauf gewettet, dass Liane ihre Tochter ist. Vor allem, seitdem du das mit der Narbe unterm Auge erzählt hast. Sind die sich wirklich ganz sicher?«

Kroll verstand die Bedenken seines Kollegen nicht. »Du kennst doch die Leute vom Labor!«

Wiggins beugte sich über das Treppengeländer und sah hinunter. »Ich hätte wirklich alles darauf gewettet!«, wiederholte er. »Aber was soll das Ganze dann? Warum wurde Liane in diesem Fall überhaupt entführt? Das macht doch keinen Sinn!«

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sie eine Stimme aus Badstubers Wohnung hörten. »Verdammt, den kenne ich doch!«

Kroll und Wiggins rannten in die Wohnung. Der Polizeizeichner war dazu übergegangen, das Phantombild ohne Badstubers Hilfe fertigzustellen.

»Den kenn ich! Den habe ich gestern Abend noch gesehen! Die Tattoos, die kurzen Haare, das ist er mit Sicherheit.«

»Wo hast du den gesehen?«, fragte Kroll nervös.

Der Zeichner wurde ein wenig verlegen. Von der Euphorie seiner Entdeckung war nichts mehr zu spüren. »Ich war gestern Abend bei diesem Cage Fight. Mein Nachbar hatte Freikarten. Normalerweise interessiere ich mich ja gar nicht für diesen Quatsch.«

Kroll waren die persönlichen Befindlichkeiten des Kollegen egal. »Dann weißt du doch bestimmt auch, wie der heißt.«

»Der hat so einen komischen Namen, den konnte ich mir natürlich nicht merken, irgend so etwas Jugoslawisches. Aber in der Szene nennen den alle nur Goran!«

Wiggins stockte der Atem. »Goran?«, wiederholte er, um ganz sicherzugehen.

Der Polizeizeichner nickte. »Ziemlich guter Fighter! Der hat gestern alles gewonnen. Dem möchte ich lieber nicht im Dunkeln begegnen!«

Wiggins kramte sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts. »Ich versuch mal, den Veranstalter zu erreichen.«

Kroll ging die Treppe hinunter zur Hauseingangstür. Er wollte in Erfahrung bringen, ob die Kollegen von der SOKO etwas herausgefunden hatten. Man teilte ihm mit, dass sie aufgrund der Befragungen der Nachbarn sicher seien, dass der Täter und Liane Mühlenberg mit einem roten Mercedes Benz, ein älteres Baujahr, weggefahren waren. Ein Nachbar hatte sich sogar das Kennzeichen notiert. Der Wagen war als gestohlen gemeldet. Die Fahndung verlief bislang ergebnislos. Selbstverständlich würden die Kollegen dranbleiben.

Wiggins kam Kroll entgegen. »Zum Glück habe ich jemanden beim Veranstalter erreicht. Unser Goran heißt mit bürgerlichem Namen Adnan Jankovic. Zumindest hat er diesen Namen bei der Einschreibung zum Turnier angegeben. So richtig kontrolliert hat das aber keiner. Seine Adresse ist angeblich die Feuerbachstraße 134 in Leipzig.«

»Wir fahren da jetzt sofort hin!«, schlug Kroll vor.

Wiggins schüttelte mit dem Kopf. »Das ist totaler Quatsch. Die Feuerbachstraße hat doch nicht mehr als 50 Hausnummern!«

»Aber der Kerl muss doch irgendwo wohnen!«

»Fragt sich nur wo«, dachte Wiggins laut.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Kroll hilflos.

Wiggins zuckte mit den Schultern. »Wir müssen jetzt warten, was die Fahndung bringt. Lass uns erst mal ins Büro fahren.«

Kroll hielt den Dienstwagen vor dem Präsidium an. »Geh du schon mal rein und halte mit der Fahndung Kontakt. Ich muss noch mal los!«

Wiggins schaute Kroll fragend an. Er erwiderte seinen Blick nur flüchtig und sah auf die Straße. »Nun mach schon. Ich muss nur schnell was klären!«

Henry Schreck war Mitte 50. Er war groß, hager und gab sich Mühe, seriös zu wirken. Sein Haupt hatte er kahl geschoren, wohl die einzige Stelle an seinem Körper, der er eine gewisse Aufmerksamkeit widmete. Er hatte kleine spitze Zähne. In seinem Mund steckte ein Zigarillo, der unablässig zwischen den Mundwinkeln hin und her wanderte, so als würde er darauf kauen.

Schreck saß in seinem schäbigen Büro in der Plautstraße und telefonierte. Seine dreckigen schwarzen Halbschuhe lagen auf dem Schreibtisch. Das Telefonat schien ihn zu amüsieren. Er lachte mehrmals lauthals.

Kroll trat ohne anzuklopfen ein. Seine Anwesenheit veranlasste Schreck offenbar dazu, sein Gespräch abrupt zu beenden. Er sah Kroll mit seinen grünen Augen an.

»Lange nicht mehr gesehen, Kroll!« Er stand auf und schenkte sich einen Whiskey in ein extra dafür bereitstehendes Glas ein. »Auch einen?«

Kroll verneinte. »Bin im Dienst!«

»Immer noch Bulle?«

»Hab halt nichts anderes gelernt.«

Schreck ließ sich wieder in seinen Schreibtischstuhl fallen und trank das halbe Glas aus. »Warum so bescheiden? Als du bei der EM im Finale warst, hättest du mehr aus dir machen können. Aber du wolltest ja nicht hören. Wusstest damals schon alles besser.« Er zeigte mit dem Finger auf Kroll. »Aus dir wäre ein richtig guter Fighter geworden.«

»Ich kämpfe lieber mit Regeln«, bemerkte Kroll emotionslos.

Schreck lachte laut bellend. »Regeln?« Er schien sich gar nicht mehr einzukriegen. »Du redest von Regeln, Kroll?« Er zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein Bündel Geldscheine heraus. »Das hier sind die Regeln des Lebens. So einfach ist das.«

Kroll nickte anerkennend. »Die Geschäfte scheinen gut zu laufen, Henry.«

Schreck kaute heftig auf seinem Glimmstängel herum. Er war auf einmal misstrauisch geworden.

»Du bist doch nicht gekommen, um mich zu fragen, wie meine Geschäfte laufen. Und besondere Sehnsucht nach mir hattest du doch auch noch nie! Also! Warum bist du hier?«

»Ich habe gehört, du hast bei diesem Cage-FightKram deine Finger im Spiel. Als Promoter im Hintergrund.«

Schreck schien gelangweilt. »Und wenn? Was ist daran so wichtig?«

Kroll ging auf ihn zu und stützte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Goran!«

Der Promoter ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. »Guter Mann! Brandgefährlich. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Der ist immer noch Soldat, immer noch im Krieg!«

»Ich muss ihn finden!«

»Warum?«

Kroll entschloss sich, nicht lange um den heißen Brei zu reden. Schreck war sicherlich kriminell: Betrug, Unterschlagung, Steuerhinterziehung und Untreue gehörten zu seinem Tagesgeschäft. Aber außerhalb von diesen finanziellen Aktionen war er sauber. Mord und Totschlag waren nicht seine Welt. »Goran hat heute Morgen eine Frau entführt. Er hält sie gefangen und deshalb wüsste ich gern, wo er ist.«

Schreck drückte seinen Zigarillo hektisch und mit viel zu viel Kraft im überfüllten Aschenbecher aus. Kippen und Asche fielen auf die Platte. Er hatte offensichtlich keinen Anlass, an Krolls Behauptung zu zweifeln, was diesen ein wenig überraschte.

»Der ist doch einfach nur ein Vollidiot. Stark wie ein Bär, aber doof wie Scheiße … wie ein ganzer Eimer voll Scheiße!«

»Wo kann ich ihn finden?«, drängelte Kroll.

Schreck trank einen weiteren Whiskey, was ihn etwas beruhigte. »Warum sollte ich dir das sagen?«

»Glaubst du ernsthaft, du kannst deine Kirmeskampfveranstaltung weitermachen, wenn du einen mittels Fahndung gesuchten Entführer deckst? Ich mache dir den Laden schneller dicht, als du furzen kannst! Also zum letzten Mal: Wo finde ich diesen Goran?«

Schreck gab sich geschlagen. Es war wirklich sinnlos, wegen eines Kämpfers, auch wenn er der Beste war, die Veranstaltung zu riskieren. Er winkte mit beiden Händen ab. »Ihr habt doch diese Brauerei dichtgemacht. Wegen der Scheiße mit dem Trinkwasser!«

»Du meinst die in der Innenstadt!«»Ja, genau die! Wenn ich richtig informiert bin, hat der sich da einquartiert.«

Kroll stützte sich auf dem Schreibtisch ab und beugte sich so weit vor, dass er den whiskeygeschwängerten Atem seines Gegenübers riechen konnte. »Und jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund. Wenn dieser Goran gewarnt wird, überprüfe ich als Erstes alle deine Telefonverbindungen, einschließlich Handy. Und wenn ich herauskriegen sollte, dass du mit diesem Arschloch telefoniert hast, bringe ich dich hinter Schloss und Riegel – und das nicht nur für ein paar Tage!«

Schreck starrte gelangweilt Löcher in die Luft. »Glaubst du etwa, ich riskiere wegen diesem Penner meinen Arsch?«

Der Weg von der Plautstraße zur alten Brauerei betrug unter normalen Verkehrsbedingungen ungefähr 20 Minuten mit dem Auto. Kroll setzte das Blaulicht aufs Dach seines Dienstwagens und konnte die Fahrzeit so um einige Minuten abkürzen. Er tastete sämtliche Taschen seiner Kleidung ab, um verärgert festzustellen, dass sein Handy wohl noch in seiner Wohnung lag. In der Aufregung am heutigen Morgen hatte er einfach nicht mehr daran gedacht, das Telefon einzustecken. Kroll fluchte mehrmals lauthals und überlegte für einen Moment, ob er den Umweg über das Präsidium nehmen sollte, um noch einige Kollegen hinzuzuziehen. Er verwarf den Gedanken aber schnell wieder: Auf der einen Seite wollte er keine Zeit verlieren und auf der anderen Seite war es ja keinesfalls sicher, dass sich Goran und seine Geisel tatsächlich in der alten Brauerei aufhielten. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, sich erst einmal mit der Umgebung vertraut zu machen. Die Kollegen konnte er schließlich immer noch benachrichtigen. Kurz dachte er daran, dass seine Dienstwaffe in einem verschlossenen Schrank im Präsidium lag. Das war nichts Ungewöhnliches. Seine Waffe hatte er nur selten dabei.

Als er den Innenstadtring verließ, stellte er die Sirene aus und nahm das Blaulicht vom Dach.

Er parkte direkt auf dem Parkplatz, der zur alten Brauerei gehörte. Er wusste nicht genau, was ihn erwartete und deshalb wollte er sich so unauffällig wie möglich benehmen. Sollte er angesprochen werden, würde er sich als Immobilienmakler ausgeben, der sich für das Grundstück interessierte. Schließlich war die Lage nicht schlecht: Leipziger Innenstadt.

Das Gebäude der alten Brauerei bestand aus roten Backsteinziegeln. Ihm war sofort anzusehen, dass die Produktion eingestellt war, obwohl das erst wenige Monate her sein konnte. Die großen Fenster im Erdgeschoss waren milchig vom Staub und teilweise eingeschlagen. Es hatte wohl nicht lange gedauert, bis die ersten Einbrecher wie Zecken über das Gebäude hergefallen waren. Die Scheiben im Obergeschoss waren nicht beschädigt. Über dem Flachdach ragte ein überdimensionaler Schornstein empor.

Kroll ging einmal um das Gebäude herum und versuchte, durch einen Blick in die Fenster weitere Erkenntnisse zu gewinnen. Vergeblich. Er konnte nur die Gerätschaften für die Produktion, endlos viele Lagerregale in jeder nur erdenklichen Größe und stapelweise Bierkisten entdecken. Als er an der schmaleren Giebelseite des Hauses vorbeikam, wollte er vorsichtig das Haupttor öffnen, musste sein Vorhaben jedoch aufgeben, weil es fest verriegelt war. Er beschloss, die Brauerei durch ein zerschlagenes Fenster an der Längsseite zu betreten, die zur Straße abgewandt war. Mit einem Ziegelstein, den er auf dem Boden gefunden hatte, schlug er vorsichtig die abgebrochenen Glasscherben auf der Brüstung ab. Dann kletterte er in das Gebäude hinein.

Kroll wartete einen Moment, bis seine Augen sich an das diffuse Licht, das durch die staubigen Fenster eindrang, gewöhnt hatten. Sein Blick blieb zunächst an dem riesigen Braukessel aus Bronze hängen, der in der Mitte des Gebäudes stand. Daneben befanden sich noch weitere Kessel, deren Funktion Kroll nicht kannte. In den Boden waren mehrere gekachelte Vertiefungen eingelassen, die ihn an kleine Schwimmbecken erinnerten. Deren Boden war bedeckt mit einer übel riechenden Flüssigkeit, vermutlich irgendetwas Verfaultem. Sonst sah er nur Regale, Bierkisten und Fässer.

Kroll überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er beschloss, zunächst den Aufgang in die obere Etage zu suchen. Sollte sich dieser Goran tatsächlich im Gebäude befinden, wäre er einem Angriff vom oberen Ende der Treppe oder gar aus dem Obergeschoss hilflos ausgeliefert. Diesen Vorteil wollte er seinem Gegenüber nicht gönnen.

Er ging langsam, ohne auch nur das leiseste Geräusch zu verursachen, durch die großen Regale in Richtung der Längsseite, die von seinem Standpunkt aus am weitesten entfernt lag. Instinktiv fasste er sich an die Brust, um seine Dienstwaffe zu ziehen, die aber immer noch nicht da war. Wieder überlegte er, ob es nicht klüger sei, die Kollegen zu informieren. Er fühlte sich wie ein Taucher, der in großer Tiefe nicht mehr wusste, ob seine Luft noch zum Auftauchen reicht. Aber irgendwie konnte er auch nicht umkehren. Jetzt war er schon so weit und wollte einfach nicht mehr zurück. Sein Spürsinn fesselte ihn dermaßen, dass er jede vernünftige Überlegung verdrängte, genau so wie bei einem Tiefenrausch.

Die Treppe zum Obergeschoss war aus Stahl, die Stufen ein breites Gitter. Kroll sah hinauf. Glücklicherweise war es oben genauso hell wie im Erdgeschoss. Vorsichtig ging er die Stufen hinauf. Als er die Mitte der Treppe erreicht hatte, konnte er über den Boden der oberen Etage sehen. Es war niemand da. Kroll ging weiter.

Das Obergeschoss wurde überwiegend als Lagerraum genutzt. Er konnte Reste von getrocknetem Getreide und alte Maschinen erkennen. Auf der Seite hinter der Treppe, die sich in seinem Rücken befand, waren Büroräume eingerichtet. Sämtliche Türen standen offen. Das erklärte den Einfall des Tageslichts. Kroll schritt die Büros achtsam ab. Neben den Türen waren Schilder befestigt, die Auskunft gaben, wer früher hier residiert hatte: Geschäftsführer, Braumeister, Sekretariat, Einkauf, Verkauf, Buchhaltung. Die Büros selbst waren auffällig schlicht. Ein oder zwei Schreibtische, billige Bürostühle aus der Vorwendezeit und Regale mit verstaubten Akten. Kroll vermutete, dass die einzigen Wertgegenstände, wie Computer oder Telefonanlage, längst Beute der Einbrecher oder des Insolvenzverwalters geworden waren.

Kroll ging in den Toilettenraum. Er legte den Lichtschalter um. Nichts regte sich, der Strom war abgestellt. Eines war jedoch ungewöhnlich. Der Deckel des Klos war hochgeklappt und auf der Brille befand sich kein Staub. Jemand musste die Toilette vor Kurzem noch benutzt haben. Kroll betätigte die Spülung. Sie funktionierte, machte allerdings einen derartigen Lärm, dass er seinen Entschluss schon bereute.

Er ging weiter und betrat das Büro, neben dem das Schild mit der Aufschrift ›Personalabteilung‹ hing. Sofort fiel ihm die Luftmatratze auf, die in der Mitte des Raumes vor dem Schreibtisch lag. Daneben stand eine Sporttasche. Kroll betrat das Büro, um sich genauer umzusehen. Die Tasche hatte die Aufschrift: Cage Fight Worldchampions. Darüber im Regal waren T-Shirts zum Trocknen aufgehängt, die am Kragen mit einer Akte befestigt waren. Der Besitzer hatte sie offensichtlich in der Toilette notdürftig gewaschen. Die Shirts hatten die Aufschriften Türsteher, Fight Club, Martial Arts.

Kroll hielt für einen Moment die Luft an. Er war sich jetzt sicher, dass er den Aufenthaltsort von Goran gefunden hatte. Er sah zur Tür. Niemand schien da zu sein. Er beschloss, die Brauerei so schnell wie möglich zu verlassen und Verstärkung zu holen. Die Situation, in der er sich jetzt befand, war mit der vor wenigen Minuten nicht vergleichbar: Vorher war alles Vermutung, alles Recherche gewesen, jetzt hatte er Gewissheit. Goran wohnte hier. Seine Sachen waren noch hier. Er würde definitiv bald zurückkommen, wenn er nicht in dieser Sekunde schon in der Brauerei war. Jetzt war die Grenze von Krolls Einzelgängerdasein definitiv überschritten. Er ging die Treppe wieder hinunter. Wiggins fuhr mit gemischten Gefühlen zum Innenministerium nach Dresden. Kroll hatte sich seit seinem Abgang vorhin nicht mehr gemeldet. Das war eigentlich gar nicht seine Art. Sie hielten sich immer gegenseitig auf dem Laufenden, und dass Kroll jetzt seit über einer Stunde nichts mehr von sich hatte hören lassen, war mehr als ungewöhnlich. Aber vielleicht hatte das alles auch nichts zu bedeuten. Er beruhigte sich damit, dass Kroll schließlich nicht der einzige Polizist in Leipzig war und dass im Notfall genug Kollegen zu Hilfe eilen konnten. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Er kam sich vor wie ein Kind, das nicht auf sein Geschwisterchen aufpassen konnte. Aber der Termin beim Innenminister konnte nicht warten. Und die Fahndung gehörte schließlich nicht zu seinen Aufgaben. Doch was sollte dieser Termin in Dresden? Was wollte der Minister von ihm? Warum diese Heimlichtuerei, hätte man das nicht telefonisch klären können? Warum musste er unbedingt nach Dresden fahren, warum ausgerechnet jetzt?

Wiggins zeigte den Sicherheitsbeamten am Eingang seine Vorladung. Eine freundliche Dame am Empfang bat ihn, zu warten. Der Minister sei bereits informiert. Man würde ihn abholen.

Er setzte sich in einen breiten, schwarzen Ledersessel und schaute sich die monumentalen Ölgemälde im Foyer an. Wie immer, wenn er mit Kunst konfrontiert wurde, musste er auch diesmal feststellen, dass seine Stärken offensichtlich auf anderen Gebieten lagen.

Nach wenigen Minuten kam eine vornehm gekleidete Dame auf ihn zu. Wiggins schätzte sie auf Mitte 50. Sie stellte sich als persönliche Referentin des Ministers vor und bat ihn freundlich, sie zu begleiten. Sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock, liefen dann bis ans Ende des langen Flurs. Als die Referentin die Tür des Vorzimmers öffnete, stellte Wiggins zu seiner Überraschung fest, dass die Verbindungstür zum Dienstzimmer des Ministers nicht geschlossen war.

Minister Hassemer stand auf und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. »Herr Hauptkommissar Wiggins. Schön, dass Sie da sind.« Er führte Wiggins in sein Büro und bat ihn, an einem schweren Eichentisch Platz zu nehmen, an dem acht Lederstühle standen.

Wiggins brachte nicht mehr als ein »Guten Tag, Herr Minister« heraus.

Dr. Hassemer gab sich offensichtlich Mühe, das Autoritätsgefälle herunterzuspielen. »Machen wir es nicht so förmlich.« Er deutete auf ein Rondell mit Wasser-, Saft- und Limonadenflaschen. Daneben standen auf einem silbernen Tablett eine Kaffeekanne und mehrere Tassen aus Meißner Porzellan. »Bitte bedienen Sie sich selbst. Wir sind schließlich nicht bei einem Staatsempfang.«

Wiggins entschied sich für ein Wasser, medium.

Der Minister ließ sich am Kopfende des Tisches in einen Stuhl fallen, offensichtlich sein Stammplatz. »Ich hoffe, ich habe Ihnen mit meiner Einladung keinen Schreck eingejagt. Aber ich wollte nicht zu viel verraten, weil ich die ganze Angelegenheit zuerst mit Ihnen in einem persönlichen Gespräch erörtern wollte.«

Wiggins hatte sich fest vorgenommen, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. »Schreck ist natürlich das falsche Wort. Aber eine persönliche Einladung des Innenministers erhält man natürlich auch nicht alle Tage.«

Der Ton des Ministers wurde väterlich. »Na dann will ich Sie mal nicht länger auf die Folter spannen, mein lieber Herr Wiggins.« Er wuchtete seinen schweren Körper aus dem Stuhl und ging zu seinem Schreibtisch. Als er zurückkam, hatte er eine dicke gelbe Akte in der Hand. Die Aufschrift ›Personalakte HK Wiggins‹ war nicht zu übersehen.

Minister Hassemer setzte sich wieder an den Eichentisch und blätterte in der Akte, während er redete. »Das wird Sie jetzt wahrscheinlich überraschen, Herr Wiggins, aber das Ministerium hat schon seit Langem ein Auge auf Sie geworfen …«, er blinzelte Wiggins über den Rand seiner Lesebrille an, »… und das meine ich im positiven Sinn.«

Wiggins lächelte, wobei er sich bemühte, seine Verlegenheit zu überspielen. »Das ehrt mich natürlich … war mir bislang aber nicht aufgefallen.«

Minister Hassemer lachte. »Mein lieber Herr Hauptkommissar. Wir sind hier in einer Behörde. Da arbeiten nicht alle schizophren nebeneinander her, da ist es überaus wichtig, dass sich jeder auf jeden verlassen kann. Und die Erfolge Ihrer Ermittlungstätigkeit, die Sie zusammen mit dem Kollegen, na wie heißt der denn gleich …«, er blätterte in der Akte, »… Kroll, ja richtig, Kroll, wie mir das nur entfallen konnte, also, die sind uns natürlich nicht verborgen geblieben. Die Beurteilungen Ihrer Vorgesetzten sind hervorragend, kurzum: Sie sind ein ausgesprochen fähiger Mann!«

Wiggins wusste immer noch nicht, wie er mit so viel Lob umgehen sollte und vor allem, was der Minister damit bezweckte. Hüte dich vor Menschen, die dich loben, hatte seine Großmutter für gewöhnlich gesagt. Er war bemüht, die Euphorie des Ministers zu bremsen. »Das mag in den Akten vielleicht so aussehen, aber ich bin ein klassischer Teamarbeiter. Ohne meine Kollegen wäre ich überhaupt nichts. Und wenn ich nicht Hauptkommissar Kroll an meiner Seite hätte, wäre die Liste der Erfolge in dieser Akte deutlich kürzer.«

Der Minister war offensichtlich nicht bereit, Widerspruch zu dulden. Sein Tonfall wurde strenger. »Jetzt mal nicht so bescheiden, Wiggins. Sie sind ein guter Mann! Ihre Bescheidenheit ehrt Sie, aber trauen Sie mir bitte auch zu, dass ich so etwas bereits anhand der Aktenlage erkenne. Das ist mein täglich Brot!« Minister Hassemer legte eine Pause ein, um Wiggins die Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern. Der zog es jedoch vor, zu schweigen.

Hassemer rückte seine Brille zurecht. Er stand auf und ging in seinem Büro auf und ab, während er redete. Seine Stimme klang dozierend, wie die eines Professors in der Vorlesung. »Europa, mein lieber Wiggins, wird immer kleiner! Wer hätte gedacht, dass das alles so schnell geht. Erst die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, dann die Aufnahme der Mitgliedsstaaten aus Osteuropa in die EU, ja, und jetzt wurde sogar der Vertrag von Lissabon ratifiziert. Die Vereinigten Staaten von Europa haben dadurch schon so etwas Ähnliches wie eine Verfassung.«

Wiggins fragte sich, warum der Minister ihm das alles erzählte. Der ließ sich aber nicht beirren.

»Selbstverständlich lässt es sich nicht ernsthaft bestreiten, dass das immer mehr zunehmende Zusammenwachsen der Europäischen Nationen unüberschätzbare Vorteile bringt. Aber mein lieber Wiggins«, er wedelte mit dem Zeigefinger in der Luft. »Jede Medaille hat zwei Seiten. Und mit dem Zusammenwachsen der Staaten, mit dem Wegfallen der Grenzen hat auch die Kriminalität, ganz besonders die organisierte und die Bandenkriminalität, ein weitaus größeres Betätigungsfeld und vor allem bessere Rückzugsmöglichkeiten. Früher konnten wir einfach unsere Grenzen dichtmachen, wenn wir einen Schwerverbrecher suchten, heute kann er sich in ganz Europa verstecken.« Der Minister gesellte sich wieder zu Wiggins an den Tisch, hatte seinen Vortrag jedoch noch nicht beendet. »Jede Zeit, jede neue Situation bringt neue Herausforderungen mit sich. Denen muss sich insbesondere die Politik stellen. Wir dürfen uns da nicht aus der Verantwortung stehlen, das würden uns die Bürger nicht verzeihen.« Er sah Wiggins abermals über seine Lesebrille an, um ihm die Gelegenheit zu geben, ihm zuzustimmen.

Wiggins nickte. »Verstehe.«

»Auch wir waren nicht faul! Die Innenministerkonferenz hat gemeinsam mit unseren Kollegen in der EU beschlossen, dass in jedem Bundesland eine Leitstelle zur Koordinierung der grenzüberschreitenden Kriminalität errichtet wird. Gleiches gilt natürlich auch für die übrigen Mitgliedsstaaten. Die neue Behörde hat im Wesentlichen zwei Aufgaben: Information und Abstimmung mit den Kollegen in den Mitgliedsstaaten, die von der jeweiligen kriminellen Aktion berührt werden, und Organisation der Verfolgung von Auslandsstraftaten im Inland.« Hassemer schloss den Aktendeckel und nippte an seiner Kaffeetasse. »Sie sehen, mein lieber Herr Hauptkommissar, das ist eine interessante und wichtige Aufgabe.«

Wiggins wollte immer noch nicht verstehen, warum der Minister ihm das alles erzählte. Ihm war schon klar, dass diese neue Behörde irgendetwas mit ihm zu tun haben musste, allerdings weigerte sich sein Gehirn, weitere Überlegungen anzustellen. »Da haben Sie bestimmt recht, Herr Minister. Der neue Stelleninhaber muss immerhin eine Menge Neuland betreten.«

Die letzte Äußerung schien der Ressortchef als Begeisterung des Polizisten aufzufassen.

»Ganz recht, mein lieber Wiggins. Ganz recht! Wer hier tätig sein darf, erhält eine einmalige Chance. So etwas bekommt man nicht oft im Leben angeboten.«

Wiggins schaute den Minister verdutzt an. »Aber Sie meinen doch nicht etwa …«

Dr. Hassemer wurde förmlich. »Die Stelle wird einen Leiter und zunächst fünf Mitarbeiter beziehungsweise Mitarbeiterinnen haben. Sie ist dem Innenministerium zugeordnet und dem Minister zugeteilt. Der Behördenchef berichtet direkt dem Minister.«

Wiggins konnte immer noch nicht so recht glauben, was er da hörte. »Sie wollen doch nicht etwa, dass …«

Minister Hassemer unterbrach ihn erneut. »Alle Mitarbeiter dieser Behörde müssen fließend Englisch sprechen. Dies ist aufgrund der Zusammenarbeit mit den Kollegen im Ausland unerlässlich. Sie sind zweisprachig aufgewachsen, Ihre Mutter kommt aus Großbritannien. Sie sind intelligent. Sie haben ein hervorragendes Abitur und die Polizeischule als Jahrgangsbester verlassen. An Ihrer Loyalität bestehen nicht die geringsten Zweifel. Sie sind für diese neue Aufgabe wie geschaffen!«

Wiggins schluckte. »Aber ich habe doch keine Erfahrungen mit einem derartigen Aufgabengebiet. Ich war bis jetzt nur auf der Straße tätig, wenn ich das so salopp ausdrücken darf.«

Der Minister wedelte wieder mit dem Zeigefinger. »Sie vergessen eins, Wiggins, mit dieser Stelle hat niemand Erfahrung. Das haben Sie gerade selbst gesagt. Man muss sich nur einarbeiten können. Und dafür haben Sie die notwendige Geschicklichkeit. Natürlich schadet es nicht, wenn man die Arbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft kennt. Aber das tun Sie ja wirklich zur Genüge. Übrigens, ganz nebenbei, ihr Gehalt würde sich verdoppeln.«

Wiggins tat sich immer noch schwer damit, die neuen Informationen einzuordnen.»Also noch mal im Klartext, Herr Minister Hassemer. Habe ich Sie richtig verstanden, dass ich diese neue Dienststelle leiten soll?«

Der Minister nickte. »Ganz richtig. Sie werden der Chef!«

Wiggins’ Hals war trocken. Er schüttete Wasser in das vor ihm stehende Glas und trank es in einem Zug halb leer. »Wann würde es denn losgehen?«

»Die neue Behörde muss in spätestens drei Monaten stehen. Dazu sind natürlich noch einige Vorarbeiten nötig, denken Sie nur an die Auswahl der Mitarbeiter. Natürlich würden wir Sie in dieses Verfahren mit einbeziehen.«

»Ich müsste mich also schnell entscheiden?«, fragte Wiggins.

Minister Hassemer faltete die Hände und legte sie auf die Tischplatte. »Sie haben genau eine Woche.«

Kroll ging durch einen schmalen Gang. Rechts und links türmten sich Bierkästen auf. Es roch vermodert. Ihm fiel erst jetzt auf, dass der Gestank aus den Wasserbecken kommen musste, die in den Boden im Erdgeschoss eingelassen waren, denn er verstärkte sich, je näher er ihnen kam. Kroll hatte eine Art Kreuzung erreicht. Der rechte Weg führte ihn zurück zu den Wasserbecken. Er sah in die linke Gasse. Sein Spürsinn befahl ihm, wenigstens noch einen Blick in die Halle zu werfen. Aber war das nicht zu gefährlich? Dieser Goran konnte jeden Moment zurückkommen, wenn er ihn nicht sogar schon beobachtete. Kroll war unbewaffnet und sein Gegner ein gut trainierter Kampfsportler. Er beschloss, die Brauerei zu verlassen und bog rechts ab, um wieder zu den Becken zu gehen.

Auf einem alten Tisch neben dem Braukessel lag Werkzeug. Mehrere Schraubendreher, Zangen, eine Bohrmaschine, zwei Hämmer, Schraubenschlüssel in allen Größen sowie unzählige Schrauben und Muttern. Das Werkzeug war wohl dazu da, einfache Reparaturen an der Brauanlage sofort erledigen zu können. Kroll nahm den größten Schraubenschlüssel, der auf die riesigen Muttern am Kopfende des Kessels zu passen schien, in die Hand. Er war sich sicher, dass der riesige Maulschlüssel mehr wog als seine Hantel, mindestens 12 oder 13 Kilo. Eine brauchbare Waffe.

Er hielt das Werkzeug fest in der rechten Hand und ging zurück. Wieder vorbei an den aufgetürmten Bierkästen, bis zu der Kreuzung, an der er vorhin abgebogen war. Er bewegte sich langsam, bemüht, nicht das geringste Geräusch zu machen. Beim Aufsetzen rollte er die Füße bedächtig von der Ferse zum Ballen ab. Er atmete leise. Seine Augen waren wachsam und tasteten den freien Raum in allen Höhen und Tiefen ab. Ab und zu drehte er sich um. Zum Glück war es nicht dunkel. Das dämmrige Licht, das durch die milchigen Scheiben einfiel, war ausreichend, um sich sicher zu bewegen und die Umgebung wahrnehmen zu können.

An der Kreuzung ging er geradeaus. Die Wände mit den Bierkästen wurden durch Regale abgelöst, die gefüllt waren mit kleinen Fässern. Auf dem Boden, direkt vor seinen Füßen, konnte er einen Punkt in der Größe einer Centmünze erkennen. Im Dämmer war es Kroll auf den ersten Blick jedoch nicht möglich, dessen Farbe näher zu bestimmen. Er beugte sich vor und stützte sich auf einem Knie ab. Der Punkt war bräunlich. Er ertastete ihn vorsichtig mit dem Finger. Jetzt war er sich ganz sicher. Es war verkrustetes Blut. Kroll sah weiter den Gang entlang. Er entdeckte viele dieser Punkte in verschiedenen Größen und Abständen. Jemand hatte tröpfchenweise Blut verloren, wie bei einem Nasenbluten oder einer Schnittwunde, die mit der Hand zugehalten wird. Kroll folgte den Bluttropfen. Nach circa zehn Metern folgten die Punkte auf dem Boden einer Abbiegung nach links. Kroll blieb am Ende des Ganges stehen und umklammerte fest den Schraubenschlüssel. Aufmerksam drehte er seinen Kopf in Richtung der Abbiegung, bis er einen vorsichtigen Blick in den Gang werfen konnte. Außer den Punkten auf dem Boden konnte er nichts erkennen. Das Ende des Ganges lag im Dunkeln, weil in diesem Bereich die Fenster mit Brettern vernagelt waren.

Kroll zuckte zusammen. Er glaubte, ein Geräusch vernommen zu haben. Es war kein deutlicher Laut, eher ein dumpfer Ton. Und wieder. Das Geräusch kam aus dem Dunkeln, das sich vor ihm öffnete. Er ging hastig den Gang entlang. Jetzt nahm er keine Rücksicht mehr auf irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen. Am Ende des Ganges konnte er die Umrisse eines Stahlpfostens ausmachen, der die Decke abstützte. Davor kauerte eine menschliche Gestalt, deren Arme nach hinten gefesselt waren. Kroll erkannte, dass auch die Füße zusammengebunden waren. Liane Mühlenbergs Mund war mit einem breiten, silbernen Isolierband zugeklebt, das jemand mehrfach um ihren Kopf gewickelt hatte. Ihr Kopf hing herunter und lehnte auf der Brust. Sie schien völlig erschöpft zu sein. Kroll vermutete, dass sie nicht genug Luft durch die Nase bekommen hatte, die langsam zugeschwollen war. Er hob ihr Kinn leicht nach oben. Sie schaute ihn abwesend mit einem schläfrigen Blick an. Kroll fand das Ende des Isolierbandes und fetzte es hastig auf. Dabei riss er Liane dicke Haarbüschel heraus, was ihr im Vollbesitz ihrer Kräfte sicherlich sehr wehgetan hätte. Endlich war der Mund freigelegt. Liane schnappte hastig nach Luft, sie schnaufte kräftig aus. Schleim und Blut traten aus beiden Nasenlöchern aus. Kroll beugte sich nach vorne und betrachtete Lianes Hände, die mit mehreren Kabelbindern zusammengeschnürt waren. Er wusste, dass er die Plastikfesseln nicht ohne einen scharfen Gegenstand zerschneiden konnte und dachte an die Zange, die auf dem Tisch mit dem Werkzeug lag. Als er sich umdrehte, um zu dem Tisch zu eilen, blieb er abrupt stehen. Am anderen Ende des Ganges zeichneten sich im Licht die Umrisse einer männlichen Gestalt ab. Kroll hatte keinen Zweifel, dass es Goran war.

Der Fremde sprach ein hartes Deutsch mit einem starken Akzent. »Ich nicht glaube, dass Sie reinkommen dürfen so einfach. Ist Hausfriedensbruch!«

Kroll bückte sich schnell und hob den Schraubenschlüssel vom Boden auf. Er sah, wie Goran demonstrativ die Arme ausbreitete. »Ich nix habe Waffe.«

Der Polizist überlegte einen Moment, wie er reagieren sollte. Du musst mit ihm reden, dachte er. »Ich schlage vor, wir behalten die Ruhe. Ich bin von der Polizei. Ich werde jetzt mit dieser Frau die Halle verlassen. Und Sie werden mich nicht daran hindern.«

Goran ging ruhig auf ihn zu. »Nein. Machen wir Kampf, Mann gegen Mann. Keine Tricks, keine Waffen. Auf Leben und Tod!«

Kroll umklammerte den Schraubenschlüssel fester. Goran kam immer näher. Als er noch fünf Meter von ihm entfernt war, warf Kroll das Werkzeug mit voller Kraft in Richtung seines Gegenübers. Vergeblich. Goran konnte geschickt ausweichen. Mit lautem Geschepper rutschte der Schlüssel über den Hallenboden. Goran kostete die Aktion nur ein müdes Lächeln.

Kroll rannte zurück durch den Gang in Richtung Treppe, zwischen den Wänden aus Bierkästen hindurch. Vor der Treppe bog er rechts ab und kam in einen Bereich, in dem drei große Tanks aus Edelstahl standen. Kroll versteckte sich hinter einem der Tanks und lauschte, ob er etwas hören konnte. In die anfängliche Stille hinein vernahm er leise Schritte, die immer lauter wurden. Er entfernte sich und ging in dem Bemühen, keine Geräusche zu verursachen, schnell einen Parallelgang entlang. Neben ihm türmten sich Regale auf, die mit Getreidesäcken gefüllt waren. Kroll blieb stehen und dachte nach. Mit einem Blick nach oben sah er, dass die Regale mindestens zehn Meter hoch waren. Kurz entschlossen kletterte er auf die oberste Ebene und legte sich auf den Bauch. Das Regal schwankte nur leicht, die schweren Weizensäcke sorgten für eine gute Stabilität. Aus seinem Versteck versuchte er vorsichtig, die Umgebung zu beobachten. Goran war ihm gefolgt und bog in diesem Moment um die Ecke, in den Gang mit den Getreidesäcken. Er war vielleicht noch zehn Meter von Kroll entfernt. Goran schaute in alle Richtungen. Immer wenn sein Blick nach oben schweifte, zog Kroll den Kopf weg. Goran ging weiter, bis er auf Krolls Höhe war.

»Du runter kommst, oder ich komme hoch? Ich keine Lust hab’ auf Spielchen!«

Verdammte Scheiße, dachte Kroll.

»Feigling! Dann ich komme hoch!«

Die ruckartigen Erschütterungen am Regal spürte Kroll deutlich. Goran kletterte zu ihm herauf. Er schaute sich um. Circa drei Meter neben ihm war an der Decke ein Lastenkran angebracht, um die schweren Säcke zu heben. Von dem Kran hing ein dickes Hanfseil herunter, mit dem sich Kroll schnell nach unten absetzte. Als er noch drei Meter über dem Boden war, ließ er das Seil los und sprang auf den Boden. Er erinnerte sich an den Schraubenschlüssel und rannte zu der Stelle, wo er ihn vermutete. Zum Glück musste er nicht lange suchen. Als er den Schlüssel in die Hand nahm, stellte er fest, dass seine Hände bluteten. Er sah sich hektisch um. In den Regalen neben ihm waren große Kartons. Zwei davon schob er auseinander und versteckte sich in dem Zwischenraum auf der untersten Lage des Regals. Kroll hielt die Luft an und lauschte. Hoffentlich sucht der mich gleich nicht hier unten, dachte er. Kroll hörte, wie Gorans Schritte näherkamen. Diesmal viel langsamer als vorhin.

Der Polizist kauerte in seinem Regal wie das Kaninchen vor der Schlange. Goran blieb direkt vor ihm stehen, der Geruch seiner alten Hose drang bis zu Kroll. Die Sekunden kamen ihm vor wie eine Ewigkeit. Endlich ging Goran weiter. Kroll zählte innerlich bis drei, schnellte aus seinem Versteck und richtete sich einen Meter hinter Goran auf. Als der sich umdrehte, hatte Kroll die entscheidende Sekunde Vorsprung, die er brauchte. Er holte weit aus und schlug den Schraubenschlüssel gegen Gorans Unterschenkel, den er mit voller Wucht traf. Kroll konnte nicht genau einschätzen, ob er das Brechen der Knochen gehört hatte und machte vorsichtshalber drei Schritte rückwärts. Goran sah ihn verständnislos an, dann griff er an sein Bein. Er wollte einen Schritt auf Kroll zugehen, bremste jedoch ab, weil er das Bein nicht belasten konnte. »Keine Tricks! Du Betrüger: Ich unbewaffnet!«

»Fahr zur Hölle!«, fluchte Kroll.

»Wir uns wieder sehen, Polizist!«

»Darauf kannst du dich verlassen!«, versprach Kroll.

Goran humpelte in Richtung Ausgang. Kroll rannte zu dem Tisch mit dem Werkzeug, holte die Kneifzange und knipste die Kabelbinder an Lianes Händen auf. Die massierte sich die schmerzenden Gelenke.

Kroll half ihr, aufzustehen. »Du bist in Sicherheit. Ich bring dich nach Hause.«

»Wo ist er?«, stotterte sie ängstlich.

»Den fangen wir schon wieder ein. Es ist wichtig, dass wir erst mal hier wegkommen.«

Liane stützte sich ab, indem sie beide Arme um Krolls Hals schlang. Sie sah sich im Raum um. »Ich glaube, meine Tasche hat der dort hinten irgendwo in die Ecke geschmissen. Da ist mein Handy drin.«

Kroll half Liane Mühlenbach, sich auf ein Fass zu setzen und ging in die Ecke, die sie ihm gezeigt hatte. Er fand die Tasche sofort, kramte das Telefon heraus und informierte die Kollegen. Gleichzeitig veranlasste er, dass Goran zur Fahndung ausgeschrieben wurde.

Dann nahm er neben Liane Platz.

»Deine Hände bluten ja.«

Kroll betrachtete seine Handflächen. Das alte Hanfseil war widerspenstig und rau gewesen. Etliche Hanffasern hatten sich ins Fleisch gebohrt. »Alles halb so schlimm. Da muss ich nur ein kleines Pflaster draufmachen.«

Liane blickte ihm in die Augen. »Ich wäre erstickt, wenn du nicht gekommen wärest. Meine Nase war schon ganz zugeschwollen. An die letzte Zeit kann ich mich gar nicht mehr erinnern, ich meine, bis du mir dieses Klebeband abgemacht hast.

Kroll nickte. »Was ist los, Liane? Was wollte dieser Kerl von dir?«

»Später, Kroll, bitte! Ich muss erst einen Moment zu mir kommen, mich erst ein bisschen sammeln. Ich erkläre dir alles morgen … zumindest das, was ich erklären kann. Aber versprich dir nicht zu viel. Ich bin jetzt einfach nur fertig.«

Aus der Ferne hörten sie ein Martinshorn. Die Kollegen würden bald eintreffen.

Die weißen Verbände an Krolls Händen mit den freien Fingern sahen aus wie Radfahrer-Handschuhe. Beim Biertrinken waren sie aber nicht hinderlich. Die Kellnerin im McCormacks brachte Wiggins und ihm das zweite große Bier. Wiggins trank Guinness und Kroll Kilkenny. Sie prosteten sich zu.

»Wo warst du eigentlich heute Nachmittag, als ich den amtierenden Weltmeister im Cage Fight ausgeknockt habe?«

Wiggins war für einen Moment abwesend. Krolls Frage führte ihm anschaulich ihre Arbeit draußen auf der Straße vor Augen und er musste daran denken, dass genau diese Erlebnisse für ihn bald Geschichte sein könnten.

»Hallo, bist du schon müde?«, hakte Kroll nach.

Wiggins schüttelte den Kopf. »Keine Sorge! Ich fahr noch nicht nach Hause. Ein paar rote Ale halte ich noch durch.« Er schlürfte die Schaumkrone ab und nahm einen großen Schluck. »Ich hab ’ne Menge formellen Kram erledigt: in unserem Fall, aber auch in eigener Sache. Du weißt doch, wie das manchmal ist in unserem Laden.« Er lächelte. »Hätte ich gewusst, dass du heute eine Freefighteinlage zum Besten gibst, wäre ich natürlich gekommen, hätte mich in die erste Reihe gesetzt und zehn Euro auf dich gewettet.«

»… und wahrscheinlich 50 Euro auf den andern«, scherzte Kroll. Er zündete sich eine Zigarette an und ließ den Rauch genüsslich durch die Nase entweichen. Kroll rauchte nur selten, tagsüber nie, aber beim Bier kam ihm regelmäßig das Verlangen nach einer Zigarette. »Das hätte heute auch anders ausgehen können. Hätte der mich in dem Regal zuerst gesehen, könntest du mich jetzt nur noch anhand eines Zettels am Fuß identifizieren.«

Wiggins stützte seinen Kopf mit der Handfläche. »Es ist manchmal so verdammt knapp, Kroll. Überleg doch mal, wie oft wir schon in Gefahr waren. Wenn es einmal schiefgegangen ist, fragst du dich, ob es das alles wert war.«

Kroll drückte die Zigarette aus. »Das gehört zu unserem Job wie der Fisch ins Wasser. Aber vielleicht macht das unseren Beruf ja gerade so einzigartig. Ist doch immer noch besser, als hinterm Schreibtisch die Sessel vollzufurzen.«

Wiggins überlegte, ob Kroll wirklich recht hatte. War es nicht vielleicht doch besser, ein sorgenfreies Leben im Büro zu führen, als auf dem Südfriedhof zu liegen? Er wechselte das Thema. »Ich frage mich nur, warum die Fahndung diesen Goran noch nicht entdeckt hat. Der braucht doch ärztliche Behandlung, wenn du ihm den Schraubenschlüssel vors Schienbein geschmettert hast.«

»Ich glaube, das Schienbein ist nur angebrochen. Das tut bestimmt höllisch weh, aber der Typ hat mit Sicherheit kein normales Schmerzempfinden mehr. Möglicherweise kann er es selbst stabilisieren. Der war hundertprozentig lange beim Militär und hat dort einige Tricks zur Behandlung von Verletzungen gelernt.«

Die Kellnerin stellte zwei neue Bier auf ihren Tisch.

»Auf jeden Fall sind sämtliche Krankenhäuser und Arztpraxen informiert.«

Kroll nahm sein Getränk in die Hand. »So doof ist der nicht. Du hättest seine Augen sehen sollen, eiskalt, gefühllos. Der ist wie ein Roboter, wie ein Terminator. Der geht nicht zum Arzt, der regelt das anders!«

Die Beamten staunten nicht schlecht, als sich die Tür öffnete und Liane Mühlenberg hereinkam. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Wie hast du uns denn gefunden?«, fragte Kroll überrascht.

»Was trinkt ihr?«, antwortete Liane mit einer Gegenfrage.

»Guinness und Kilkenny«, antwortete Wiggins.

»Dann nehme ich Kilkenny«, bemerkte sie trocken. »Guinness mag ich nicht!« Sie blickte in die Runde. »Und was trinkt man dazu?«

Kroll zuckte mit den Schultern. »Whiskey, irischen Whiskey. Was denn sonst?«

Liane bestellte bei der Bedienung zwei Kilkenny, ein Guinness und drei irische Whiskey. Da die Kellnerin nicht nach der Sorte des Whiskeys fragte, schlussfolgerte Liane, dass man mit der Hausmarke der Polizisten durchaus vertraut war.

Kroll wiederholte seine Frage. »Also, wie hast du uns jetzt gefunden?«

Liane antwortete erneut mit einer Gegenfrage. »Störe ich euch etwa?« Schließlich entgegnete sie mit einem Lächeln: »Also, ich weiß ja nicht, wo sich Polizisten nachts so rumtreiben, aber ich habe schon ein bisschen was gelernt. Ich habe mich im Präsidium einfach nach Krolls Stammkneipen erkundigt, und dort hat man mir gesagt, dass er immer ins McCormacks geht, wenn er mal ein wenig mehr trinken und rauchen möchte. Und wenn man nach so einem Tag keinen Bierdurst hat, wann dann?«

Kroll tat, als wäre er erbost. »Wer hat das erzählt? Wer hat mich verraten?«

Die Kellnerin stellte die georderten Gläser auf den Tisch. Liane hob ihren Whiskey in die Höhe und prostete den Polizisten zu. »Auf euch, Jungs, ihr seid wirklich klasse.«

»Ich hab heute gar nichts gemacht«, protestierte Wiggins.

Liane trank den Whiskey in zwei Etappen. »Ihr seid beide klasse. Sei nicht so bescheiden, Wiggins. Ich rede doch nicht nur von heute.«

Sie nickte Kroll zu. »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt. Also … es war gut, dass du gekommen bist. Ich glaube, das wäre sonst ziemlich eng geworden.«

Kroll wurde verlegen. Er wollte Plattitüden wie ›ist mein Job‹ oder ›keine Ursache‹ oder ›war doch alles halb so schlimm‹ unbedingt vermeiden, etwas Besseres fiel ihm allerdings auch nicht ein. Deshalb entschloss er sich, einfach die Wahrheit zu sagen.

»Weißt du, Liane, als ich in die Halle reingegangen bin, wusste ich gar nicht, dass du da auch drin bist. Aber als ich dich gesehen hab, da wusste ich, ich muss dich unbedingt aus dieser Situation rausholen. Unser Job ist manchmal gefährlich, aber dafür lohnt es sich auch immer.«

Sie prostete Kroll und Wiggins erneut zu. »Also noch mal! Es ist schön, dass ihr da seid!«

Wiggins hatte das Bedürfnis, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Er befürchtete, dass die Angelegenheit sonst mit zunehmendem Alkoholkonsum zu sentimental werden würde. Auf emotionale Ausbrüche hatte er jetzt keine Lust. »Also, was ist jetzt? Muss ich mir wieder die ganze Zeit anhören, wie unwahrscheinlich toll mein Kollege ist, oder haben wir einen lockeren Abend?«

»Pass bloß auf, Liane. Ich kenne die beiden. Das sind zwei ganz schlimme Finger«, drang plötzlich eine vierte Stimme in die Runde.

Kroll drehte sich um. Hinter ihnen stand Günther Hirte, der Lokalreporter. Kroll und Wiggins kannten ihn gut. Sie hatten bereits unzählige Gläser Bier zusammen getrunken.

»Du kennst auch alle«, begrüßte ihn Kroll und rückte zur Seite, damit der Journalist sich noch einen Barhocker heranziehen konnte.

»Ja, was glaubst du denn? Ist mein Job. Ich kann doch nicht die berühmtesten Leipziger auslassen«, antwortete er, wobei er nur Liane Mühlenberg anlächelte. »Ich denke, wir trinken noch vier Große und …«, er wackelte mit dem Whiskey-Glas, »… und ebenso viele von diesen hier. Die Runde geht auf mich.«

Kroll spürte die Wirkung des Alkohols deutlich, war jedoch nicht bereit, gerade jetzt einen Schlussstrich unter den Abend zu ziehen. Wiggins ging es ähnlich.

»Aber nur, wenn du uns heute nicht mit deinen Fragen löcherst«, forderte er.

»Keine Sorge«, winkte Hirte ab. »Dazu könnte ich mich heute nicht mehr aufraffen. Außerdem ist das eh nicht meine Story. Da sitzt ein Kollege aus der Redaktion dran. Und der Idiot soll auch mal was alleine schreiben. Der hat die letzte Zeit ohnehin nur von mir seine Storys gekriegt. Und dann schleimt der sich auch noch beim Chef ein. So ein Arschloch, ich sag’s dir!« Günther Hirte war die willkommene Abwechslung. Er war der klassische Nachtschwärmer und mit halb Leipzig bekannt. Seine Geschichten aus der Stadt, alle brandaktuell und unterhaltsam erzählt, verhinderten, dass die Gespräche doch ins Dienstliche abglitten.

Es war schon nach zwei Uhr, als sich die Gesellschaft auflöste. Günther Hirte wollte noch weiterziehen, Wiggins nahm sich ein Taxi und Liane bat Kroll, sie noch nach Hause zu bringen. Sie bestellten ein weiteres Taxi und setzten sich zusammen auf die Rückbank. Kurz nachdem sie losgefahren waren, griff Liane nach Krolls Hand.

»Bleibst du noch ein bisschen bei mir?«

Kroll sah auf die Uhr. »Sei mir bitte nicht böse. Aber ich bin total müde und hab zu viel getrunken! Ich wäre heute bestimmt keine gute Gesellschaft mehr.«

»Schade«, bemerkte Liane knapp.

Das Taxi hielt vor dem Haus, in dem Liane wohnte. Sie gab Kroll einen Kuss auf die Wange und wollte die Tür öffnen.

»Warte mal«, sagte Kroll. Liane drehte sich wieder um und sah Kroll lächelnd an. Sie ging davon aus, dass er es sich noch einmal anders überlegt hatte.

»Eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf.«

Liane musterte ihn ungläubig.

»Warum hat dieser Goran dich entführt? Warum ausgerechnet dich?«

»Ich bin die Tochter von Annemarie Rosenthal«, antwortete sie trocken und verließ das Taxi.

Dr. Helmut Dankner saß noch am Schreibtisch in seiner Arztpraxis. Er war es gewohnt, auch spät abends zu arbeiten, um den angefallenen formellen Kram zu erledigen. Abrechnungen, Arztberichte für die Krankenkassen, Buchhaltung. Die Bürokratie nahm stetig zu. Er war über 70 Jahre, konnte aber vom Beruf des Arztes nicht lassen. Was sollte er denn sonst machen? Rasen mähen und Hecke schneiden? Nein, das kam für ihn nicht infrage. Und außerdem! Was sagte denn das biologische Alter schon aus? Man ist nur so alt, wie man sich fühlt und Dr. Dankner war höchstens gefühlte 45. Seine Patienten waren ihm treu geblieben und mit ihm alt geworden. Das lag sicherlich auch an seiner äußerst charmanten Art. Bereits im Studium hatte er den Spitznamen ›der schöne Helmut‹ und auch das Alter hatte seinem Aussehen nicht geschadet. Er war groß gewachsen, hatte vornehme graue Haare und sich seine schlanke Figur erhalten. Kaum eine Patientin, und davon gab es deutlich mehr als Patienten, verließ seine Praxis ohne ein Kompliment. Eine nette Begleiterscheinung zu einem nicht immer so dringend erforderlichen Arztbesuch.

Dr. Dankner stöhnte über den Abrechnungen, als es an seiner Tür läutete. Er sah auf die Uhr und wunderte sich über den späten Besuch, denn seine Sprechstunde war lange beendet.

Nachdem er die Tür geöffnet hatte, blickte er zuerst in die Mündung eines Revolvers.

»Brauche Arzt«, sagte der Besucher mit slawischem Akzent. Er stützte sich auf eine Krücke.

Dr. Dankner ließ sich seine Aufregung nicht anmerken. Er war völlig gelassen, was ihn selbst überraschte. »Nehmen Sie die Waffe weg. Ich bin Arzt. Ich helfe jedem Menschen, wenn er mich braucht.«

Sie gingen in den Flur, die Tür fiel ins Schloss. »Kein Telefon, kein Handy, kein Schreien«, forderte der ungebetene Gast.

»Sagen Sie mir endlich, was ich für Sie tun kann.«

Goran steckte die Waffe in den Hosenbund am Rücken. »Mein Bein.«

»Na dann kommen Sie mal mit.« Der Arzt ging ins Behandlungszimmer und bedeutete dem Fremden, sich auf die Liege zu legen. Er registrierte die blutverschmierte Stelle auf der Jeanshose im Bereich des Unterschenkels und sah seinen Patienten an. »Ich muss die Hose aufschneiden. Sonst kann ich die Wunde nicht untersuchen.«

Goran nickte.

Das linke Bein war im oberen Bereich des Schienbeins stark geschwollen und blau angelaufen. Der Arzt tastete den Knochen vorsichtig mit den Fingerkuppen ab. Sein Patient schien keinen Schmerz zu spüren. Dankner drückte fester auf die Stellen in der Nähe der Wunde, der Fremde reagierte nicht, ließ sich nicht mal zu einem Zucken hinreißen. »Das Bein ist auf jeden Fall angebrochen. Ganz durch ist es aber nicht. Was mir Sorgen macht, ist diese extreme Schwellung hier. Ich gehe davon aus, dass der Knochen in diesem Bereich abgesplittert ist; es sollte eine genauere Untersuchung durchgeführt werden. Dazu müssten Sie aber in ein Krankenhaus.«

»Auf keine Fall!«, war der knappe Kommentar.

»Ich verfüge hier in der Praxis nur über ein normales Röntgengerät. Das reicht aber nicht aus, um die Absplitterungen am Knochen …«

»Versorgen Sie Wunde«, unterbrach ihn der Fremde.

Dr. Dankner schüttelte den Kopf. »Ich könnte Ihnen die Wunde verbinden und versuchen, das Bein mit elastischen Bandagen zu stabilisieren. Das wäre aber alles andere als eine fachgerechte Behandlung.«

»Machen Sie schon!«, forderte ihn Goran auf.

Der Arzt ging zum Medikamentenschrank und holte Salbe, Verbandsmaterial und die elastischen Binden heraus. »Brauchen Sie etwas gegen die Schmerzen?«, fragte er, während er im Schrank kramte.

»Nein«, war die deutliche Antwort.

Nachdem das Bein versorgt war, gab der Arzt Goran die angebrochene Tube mit der Salbe. »Sie müssen die Wunde mindestens zwei Mal täglich dick mit dieser Salbe einreiben. Also alles abwickeln und neu einreiben, Mullbinde drüber und dann die Bandagen. Halten Sie das Bein ruhig und möglichst hoch. Und nochmals: Es wäre am sinnvollsten, Sie gehen in ein Krankenhaus zu einer genaueren Untersuchung. Am besten in die Uniklinik, Liebigstraße.«

Goran stand auf und belastete sein Bein vorsichtig. Auf die Krücke gestützt, humpelte er hinaus. Als er am Empfang vorbeikam, legte er ein paar Geldscheine auf den Tresen. Er verließ die Praxis, die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Dr. Dankner alarmierte die Polizei.