FÜNF

Am nächsten Morgen war Wiggins als Erster im Büro. Wie üblich schaltete er zuerst die Kaffeemaschine an und setzte sich danach an seinen Schreibtisch, um zu sehen, was die Beamten vom Verwaltungsdienst darauf deponiert hatten. Üblicherweise lagen dort Berichte, dienstliche Stellungnahmen, Auszüge aus der Presseschau und Ähnliches. Heute fiel sein Blick sofort auf den weißen, länglichen Briefumschlag, der nicht zu übersehen war, weil alle anderen Unterlagen zur Seite geschoben waren. Wiggins erkannte sofort das Wappen des Freistaates Sachsen. Daneben stand mit großen, förmlichen Buchstaben als Absender Innenministerium des Freistaates Sachsen, Staatssekretär notiert und darunter die Adresse aus Dresden.

Wiggins nahm den Umschlag in die Hand. Er runzelte die Stirn und atmete tief durch. Was wollte der Staatssekretär von ihm? Warum meldete sich die höchste politische Ebene ausgerechnet bei ihm? Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Er schaute auf Krolls Seite des Schreibtisches, um in Erfahrung zu bringen, ob sein Kollege ebenfalls Post vom selben Absender hatte. Aber dort lag definitiv kein Schreiben, was die ganze Sache noch verdächtiger machte. Wiggins’ erster Gedanke war, dass der Brief etwas mit ihrem aktuellen Fall zu tun hatte. Schließlich beschäftigten sie sich gerade mit Dingen wie DDR-Vergangenheit, Stasi und alten Übergriffen von DDR-Spionen. Wiggins hatte schon lange erwartet, dass ihre Tätigkeit irgendwann politische Kreise ziehen würde. Das wäre auch und gerade aufgrund der prominenten Beteiligten keine Überraschung gewesen. Aber damit wäre nicht zu erklären gewesen, warum offensichtlich nur er einen Brief erhalten hatte. Auf eines konnte man sich beim deutschen Behördenapparat verlassen: Der Dienstweg wurde immer eingehalten. Und dann hätte zumindest Kroll informiert werden müssen und auf jeden Fall Staatsanwalt Reis. Aber der hatte ihn bislang auch noch nicht angesprochen.

Wiggins stand auf und schenkte sich eine Tasse des frisch gebrühten Kaffees ein. Bedächtig ging er zu seinem Schreibtisch zurück und öffnete den Briefumschlag.

Sehr geehrter Herr Hauptkommissar Wiggins,

zunächst darf ich Ihnen die herzlichen Grüße des Staatsministers des Innern ausrichten.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es einrichten könnten, den Minister am kommenden Donnerstag um 16.30 Uhr in seinem Büro aufzusuchen.

Den Anlass des Gespräches möchte der Minister Ihnen gerne persönlich erklären.

Auch darf ich Sie bitten, niemanden über unser Gespräch zu unterrichten.

Ihr

Dr. Klaus Neumann

Staatssekretär

für

Dr. Klaus Hassemer

Staatsminister des Innern

Wiggins legte den Brief beiseite und dachte einen Moment nach. Er las das Schreiben erneut durch, in der Hoffnung, beim zweiten Lesen ein wenig schlauer zu werden. Vergebens! Er sah sich das Datum der Verabredung genauer an. Der nächste Donnerstag. Ach du Schreck! Das war ja schon morgen.

Als sich die Bürotür öffnete und sein Kollege eintrat, ließ er den Brief schnell und unauffällig in seiner Schreibtischschublade verschwinden. Kroll hatte keine Zeit für lange Ausführungen. »Los, komm. Wir fahren sofort zu dem alten Vogelsang! Ich erklär dir unterwegs, warum. Aber der kann sich auf was gefasst machen!«

Wiggins legte den Schalter um. Er folgte Kroll und verließ das Büro.

Bernd Vogelsang hatte das Frühstück beendet und war in die Tageszeitung vertieft.

Kroll war ungehalten. Er kam gleich zum Thema. »Verdammt noch mal, Bernd! Kannst du mir bitte mal erklären, was die ganze Scheiße soll?«

Vogelsang sah ihn mit einer Unschuldsmiene an, so als wüsste er gar nicht, worüber sein alter Kollege redete.

Krolls Ton blieb scharf. »Du verschweigst uns, dass ein Kind auf dem Rücksitz saß, jedes Wort müssen wir dir aus der Nase ziehen! Darüber hinaus erzählst du uns noch, Lachmann sei nicht bei dir gewesen. Das war eine glatte Lüge!« Im Bemühen, sich zu beruhigen, atmete Kroll tief durch. »Und ich frage mich jetzt, warum du uns so einen Mist erzählst!«

Vogelsang ließ sich nicht verunsichern. Er schenkte sich betont langsam Tee ein. Kroll vermutete, dass er eine kleine Denkpause brauchte.

»Also, jetzt komm erst einmal wieder runter, Kroll. Das mit der Kleinen habe ich wirklich nicht für wichtig gehalten. Die stand unter Schock. Konnte sich an nichts erinnern, nicht einmal an ihren Namen. Das war wirklich nicht der Rede wert. Von der haben wir nicht ein einziges Wort erfahren! Und Lachmann. Gut, der war einmal hier, vielleicht zweimal. Aber das ist doch nichts Besonderes. Der besucht alle seine Bewohner regelmäßig.« Vogelsang lies zwei Klumpen Kandiszucker in seine Tasse fallen und rührte langsam um. »Ihr könnt hier alle fragen. Der kommt zu jedem mindestens zweimal pro Jahr!« Er trank etwas Tee. »Ich dachte, ihr wolltet wissen, ob der aus einem speziellen Anlass zu mir gekommen ist. Nein! Das definitiv nicht!«

Mit dieser Antwort war Kroll alles andere als zufrieden. Sein Gefühl sagte ihm jedoch, dass es keinen Sinn machte, an dieser Stelle weiterzubohren. Lachmann war tot. Kroll würde nie herausbekommen, aus welchem Anlass der Autor den alten Kriminalbeamten besucht hatte. Außerdem hielt er es nicht für sinnvoll, Vogelsang vollends zu verärgern. Dann würde er mit Sicherheit gar nichts mehr erfahren. Er beschloss deshalb, den geordneten Rückzug anzutreten.

»Tut mir leid, Bernd. Ich glaub, ich war gerade ein wenig zu aufbrausend. Nimm es bitte nicht persönlich. Aber du kennst doch die Situation, wenn du nicht weiterkommst …«

Vogelsang war versöhnlich, zumindest tat er so. »Kein Problem, Kroll.« Er sah auf die Uhr. »Ich habe jetzt Physio.«

Sie gingen durch den großzügigen Garten zum Auto.»Du hast dem doch die Geschichte nicht etwa abgenommen?«, fragte Wiggins.

»Natürlich nicht! Ruf mal den Oskar an. Der soll bei seinen Recherchen in Berlin darauf achten, ob der gute alte Bernd nicht eine Leiche im Keller hat!«

Als sie wieder im Auto saßen, piepste Krolls Handy. Eine SMS von Liane: ›Sehen wir uns heute Abend? ;-)‹

Kroll beschloss, die Nachricht später zu beantworten. »Wie geht’s Nicole?«

Wiggins stöhnte. »Erinnere mich bloß nicht daran! Wir sind erst nach drei Stunden aus der Notaufnahme rausgekommen. Für Nicole war das natürlich die Hölle. Ist aber nichts Schlimmes, nur verstaucht. Irgendwelche Bänder sind noch gedehnt, aber nicht gerissen.« Er drehte sich zu Kroll. »Tut mir echt leid für unseren Abend. Aber ich hoffe, du konntest dich noch sinnvoll beschäftigen.«

»Liane Mühlenberg kam zufällig vorbei. Die hat sich zu mir gesetzt, bis der Laden geschlossen hat.«

Wiggins war überrascht. »Liane? Das gibt’s doch nicht! Und wie war die so drauf?«

»Am Anfang ganz locker, aber nach dem dritten Glas Wein wurde sie sentimental. Ich glaube, sie hat das alles noch nicht richtig verarbeitet. Sie sucht gerade eine Balance zwischen Ablenkung und Trauer … und nach ein bisschen Alkohol schlug das Pendel in die eine Richtung.« Kroll redete bewusst sachlich. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er über sie herzog oder sich sogar über sie lustig machte. »Ich habe Liane zu später Stunde in den Arm genommen und musste sie trösten. Dabei habe ich ihr die eine oder andere Träne aus den Augen gewischt.«

»Das ist ja schön, dass du dich ein bisschen um sie kümmerst. Seht ihr euch wieder?«

Große Lust, von der SMS zu erzählen, hatte Kroll nicht. »Weiß ich nicht. Wir haben keinen neuen Termin ausgemacht.«

»Wie ist Liane denn nach Hause gekommen?« »Ich habe sie mit dem Taxi gebracht.«

Ein neugieriger Zug schlich sich in Wiggins’ Gesicht. »Und …?«

»Was, und?«

»Hast du noch einen Absacker bei ihr getrunken?«

»Das ist geheim … nein, so ein Quatsch! Natürlich bin ich in meine Wohnung gefahren!« Kroll startete den Motor. »Ich habe aber eine interessante Entdeckung gemacht.«

Wiggins sah ihn verständnislos an. »Bei Liane?«

»Ja. Als ich mein Taschentuch tröstend eingesetzt habe, habe ich natürlich etwas Make-up unter den Augen verwischt. Und unter dem linken Auge war eine hellere Stelle. Kaum erkennbar. Das könnte gut das Ergebnis einer Laserbehandlung sein.«

»Du meinst, man hat dort einen Leberfleck entfernt?«

»Könnte sein. Ich kenn mich da nicht aus. Aber das war keine natürliche Hautveränderung.«

»Du meinst, Liane Mühlenberg ist möglicherweise Amelie? Das ist doch kaum vorstellbar!«

»Vielleicht. Aber können wir das ausschließen? Ich zumindest nicht. Und bei einem Vergleich mit dem Foto bin ich mir auch nicht mehr so sicher, dass sie es nicht ist.«

Ungläubig schüttelte Wiggins den Kopf. »Dich darf man abends wirklich nicht alleine lassen. Was hast du jetzt vor?«

Kroll lächelte süffisant. »An meinem Taschentuch ist jede Menge Tränenflüssigkeit von Liane. Und das Gebiss von Annemarie Rosenthal, mit dem die Gutachter die Wunde von Eimnot verglichen haben, liegt noch in der Asservatenkammer.«

»Aber für einen DNA-Abgleich kriegst du doch nie einen richterlichen Beschluss. Wie willst du das begründen? Mit deiner Trostaktion?«

Der Parkplatz des Präsidiums lag jetzt unmittelbar vor ihnen. »Die Sachen sind bereits im Labor. Außerhalb der offiziellen Tagesordnung. Die schulden mir da noch einen Gefallen.«

Wiggins’ Überraschung hielt sich in Grenzen. Kroll war für seinen unkonventionellen Ermittlungsstil bekannt, der nicht immer mit den Vorschriften übereinstimmte. »Na, dann warten wir mal ab!«

»Wir kriegen das Ergebnis noch heute. Die ziehen das vor! Nett von denen, oder?«

Als sie wieder in ihrem Büro waren, blätterte Kroll lustlos in den Akten, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Ich klingel mal Oskar in Berlin an.« Er drückte die Lautsprechertaste seines Telefons und wählte die Handynummer von Oskar Jäger.

»Hallo, Kroll«, flüsterte der Kollege. »Bleib kurz dran. Ich geh mal eben auf den Flur.« Nach wenigen Sekunden war die Stimme lauter zu vernehmen. »So, jetzt kann ich reden. Was gibt’s?«

»Das wollten wir eigentlich dich fragen.«

»Die Akten über Lars Ehrentraut sind supergut sortiert. Kein Wunder. Da war wahrscheinlich bereits die gesammelte Presse dran. Das erleichtert die Arbeit natürlich ungemein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Akten hier rumliegen. Das ist noch schlimmer als bei uns!«

Kroll trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. »Hast du etwas herausgefunden?«

»Der ganze Fall Lars Ehrentraut ist äußerst mysteriös. Das ist alles kaum zu glauben. Die Stasi hatte zum Teil über 50 Leute auf ihn angesetzt … als er schon im Westen war! Und wisst ihr, was ebenso erstaunlich ist? Als der Ehrentraut in den Westen rübergemacht hatte, hatten die von der Stasi sogar einen ›Romeo‹ angeheuert, der sich an die Ehefrau ranmachte, die noch in der DDR wohnte. Das alles nur, um an Informationen heranzukommen. Das ist wirklich unglaublich!«

»Kannst du uns etwas sagen, das uns weiterhilft?«, fragte Wiggins unverblümt.

»Ich kann das nicht beurteilen. In den Akten ist eine Notiz, dass am Tage nach Ehrentrauts Tod ein Mitarbeiter der Stasi 500 Westmark erhalten hat. Ein ziemlich hoher Betrag für die damaligen Verhältnisse. Die vermuten hier, dass das Geld der Lohn für die Verblendung des Fußballers war. Aber Genaues wissen die auch nicht. Die Unterlagen sind alles andere als vollständig. Die hier in Berlin gehen davon aus, dass nur circa 40 Prozent des Aktenmaterials erhalten ist, wenn überhaupt.«

»Und an wen wurde das Geld gezahlt?«, wollte Kroll wissen.

»An einen gewissen Kohlhaas, das ist natürlich ein Deckname.«

»Kohlhaas …«, wiederholte Kroll nachdenklich. Er sah zu Wiggins herüber, der auch nur mit den Schultern zuckte. Kroll drehte sich wieder zum Telefon. »O.K., Oskar. Mach weiter. Bitte ruf uns sofort an, wenn du etwas herausgefunden hast, das uns weiterhilft.«

»Mach ich, Kollegen. Bis bald!«

Kroll rieb sich die Augen. »Was bitteschön fällt dir zu Kohlhaas ein?«

»Eine Novelle von Kleist«, antwortete Wiggins wie ein Schüler im Unterricht. »Aber ich denke, um den Decknamen sollten wir uns nicht allzu viele Gedanken machen. Denk doch nur mal an die ganzen Politiker. Die hatten doch auch alle total bescheuerte Namen.«

Kroll wusste, dass Wiggins recht hatte. Trotzdem konnte er der Versuchung nicht widerstehen, doch irgendeinen Zusammenhang zu suchen. »Wovon handelt der Roman?«

»Die Novelle!«

»Komm, Wiggins, jetzt werd bloß nicht kleinlich! Also wovon handelt die Geschichte?«

Wiggins war nicht begeistert, über einen alten Text zu referieren, der nach seiner Auffassung überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hatte. »Michael Kohlhaas war ein Pferdehändler aus Brandenburg, irgendwo an der Havel. Auf dem Weg zur Leipziger Messe wurden ihm zwei Pferde als Wegpfand abgenommen, und zwar vom Junker Wenzel. Später erfährt er, dass das rechtswidrig war. Er versucht, auf legalem Weg sein Recht zu bekommen, das klappt aber nicht. Als er seine Pferde endlich wiedersieht, sind sie abgemagert und abgearbeitet. Sein Knecht, der sich für ihn eingesetzt hatte, wurde gefoltert. Kohlhaas verlangt als Schadensersatz die Arztkosten für seinen Knecht und Futtergeld, um die Pferde wieder aufzupäppeln. Natürlich vergeblich … und somit gehen die Fehden los.«

»Klingt nach dem ewigen Kampf Recht gegen Unrecht!«, überlegte Kroll laut.

»Es gibt viele Interpretationen: Recht gegen Unrecht, der Schutz des Bürgers gegen einen willkürlichen Staat, oder ganz einfach das Recht auf Selbstjustiz gegen staatliches Unrecht.«

Kroll stellte die Kaffeemaschine an. »Na ja, passen würde das durchaus, zumindest aus Sicht der Stasi, wenn die davon ausging, dass die BRD ein willkürlicher Unrechtsstaat war.«

Wiggins schüttelte den Kopf. »Das bringt uns doch nicht weiter! Es ist doch einfach nur müßig, über den Erfindungsreichtum der Stasi bei der Namensgebung für ihre inoffiziellen Mitarbeiter nachzudenken. Lass uns lieber mal in der Sache weiterkommen.«

»Sehr spaßig«, bemerkte Kroll. »Und was schlägst du vor?«

»Wir könnten zum Beispiel mit Frau Ehrentraut reden. Vielleicht hat die was Interessantes zu berichten.«

»Frau Ehrentraut?«, fragte Kroll ungläubig.

»Ich meine seine zweite Frau. Ehrentraut hat im Westen noch mal geheiratet. Genauer gesagt in Bremen.«

Kroll war wenig begeistert. »Klasse. Fahren wir eben nach Bremen. Kann ja höchstens vier Stunden dauern!«

»Gut, dass du einen Kollegen hast, der so etwas auch mal recherchiert!«, triumphierte Wiggins. »Senta Ehrentraut ist seit dem Jahre 2001 nicht mehr in Bremen. Die gute Dame wohnt in der Wettiner Straße im Waldstraßenviertel und heißt jetzt nicht mehr Ehrentraut, sondern Kuttner.«

Kroll wollte Wiggins den Triumph nicht gönnen. »Und warum soll die ausgerechnet in dem Moment, wo wir sie brauchen, hier in Leipzig wohnen?«, grantelte er.

»Die Antwort ist ganz einfach! Senta Ehrentraut hat in Bremen einen Herrn Doktor Kuttner kennen und lieben gelernt und ihn schließlich geheiratet. Herr Doktor Kuttner war damals Oberarzt in einem Bremer Klinikum und ist jetzt Chefarzt für Augenheilkunde an der Uniklinik Leipzig.«

»Ich hätte noch eine letzte Frage«, nörgelte Kroll weiter. »Warum erfahre ich das erst jetzt?«

Wiggins nahm den Autoschlüssel in die Hand. »Komm schon. Die freut sich bestimmt auf einen gut gelaunten Polizisten!«

Das Leipziger Waldstraßenviertel war geprägt durch die vielen Gründerzeithäuser, die nahezu ausschließlich die Straßen säumten. Inzwischen waren die meisten der Gebäude frisch saniert, sodass sich Besucher in eine andere Zeit versetzt fühlen mussten, wenn sie durch das Viertel schlenderten. Die geschlossenen Häuserzeilen mit den kleinen, meist engen Straßen waren quadratisch angeordnet, sodass sich im Inneren der überwiegend fünfgeschossigen Häuser ein großer Innenhof bildete, der als Garten und Parkplatz genutzt werden konnte. Ab und zu standen in den Hinterhöfen ›Kutscherhäuser‹, in denen vor gut 100 Jahren die Pferde oder das Personal untergebracht waren. Familie Kuttner bewohnte eines dieser Hinterhäuser.

Kroll und Wiggins gingen durch die Zufahrt, die zum Hinterhaus in der Wettiner Straße führte. Auf dem Rasen saß ein kleiner Junge, der eine Fernsteuerung in der Hand hielt. Vor ihm fuhr ein gelbes Auto, das hektisch die Richtungen wechselte. Kroll hielt es für einen futuristischen Geländewagen. Der Jeep bremste abrupt vor Wiggins Schienbein.

»Toller Renner!«, lobte Wiggins und drehte den Wagen in die entgegengesetzte Richtung.

»Space Runner SR 1.5.74. Weltalltauglich! Eroberungsfahrzeug von Captain Knicker für gefährliche Landeinsätze. Der hat auch Waffen an Bord! Wollt ihr die sehen?«

»Bestimmt später«, antwortete Kroll. »Ist deine Mutter zu Hause?«

Die Antwort kam aus der geöffneten Eingangstür. »Kann ich Ihnen helfen?«

Kroll schätzte Senta Kuttner auf Mitte 40. Die karierte Bluse trug sie lässig über der Jeans, ihre brünetten Haare steckten hinter den Ohren. Sie war nicht geschminkt, was ihrer charmanten Erscheinung nicht schadete.

Kroll ging auf sie zu und zeigte seinen Ausweis. »Mein Name ist Kroll und das ist Hauptkommissar Wiggins. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?«

Frau Kuttner war für einen Moment irritiert. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie den Besuch der Polizei nicht einordnen konnte.

»Aber natürlich. Kommen Sie bitte herein.«Sie gingen in eine große Küche und setzten sich an den Tisch. Das Angebot einer Tasse Kaffee nahmen Kroll und Wiggins gerne an.

Die Kommissare erklärten den Grund für ihren Besuch. Senta Kuttner war überrascht, dass die alte Geschichte jetzt wieder ausgegraben wurde. Sie hatte mit diesem Abschnitt ihres Lebens offensichtlich bereits abgeschlossen und hätte nichts dagegen gehabt, wenn das Gras, das über die Sache gewachsen war, nicht wieder abgemäht wurde. Sie blieb aber höflich und hilfsbereit und versuchte, sich ihre Gereiztheit nicht anmerken zu lassen.

Zunächst erzählte sie den Polizisten, dass sie sich nicht vorstellen könne, überhaupt noch etwas Neues zu berichten. Über sie seien nach der Wende Horden von Journalisten und Reportern hergefallen und alle hätten die gleichen Fragen gestellt, die sie ungefähr 1.000 mal beantwortet hatte. Zudem seien zahlreiche Mitarbeiter von allen möglichen Behörden bei ihr gewesen, die korrekte Bezeichnung wusste sie nicht mehr, und hätten sie mit denselben Fragen konfrontiert. Aber selbstverständlich würde sie auch heute den Polizisten ein weiteres Mal antworten, wenn es denn der Wahrheitsfindung diente.

Kroll bedankte sich für ihr Verständnis. »Zunächst würde uns Ihre persönliche Einschätzung interessieren. Ist Lars Ehrentraut durch einen Unfall gestorben?«

Die Antwort kam ohne Zögern. »Auf keinen Fall!«

»Warum sind Sie sich so sicher?«

»Lars war ein Sportler durch und durch. Dem Fußball hatte er alles untergeordnet. Einfach alles: Der Sport stand für ihn an erster Stelle … und an zweiter … und an dritter. Er hat trainiert wie ein Wilder, und damit meine ich nicht nur das Vereinstraining. Nebenbei ist er noch gelaufen, hat Sonderschichten am Kopfballpendel eingelegt, Medizinbälle, und, und, und. Wussten Sie, dass er den Bremen-Marathon unter vier Stunden gelaufen ist?«

Kroll und Wiggins schüttelten die Köpfe. Senta Kuttner nahm den Faden wieder auf. »Na ja, zu seinem Fitnessprogramm gehörte unter anderem eine optimale Ernährung. Und da spielte Alkohol absolut keine Rolle. Die Biere, die er während unserer Ehe getrunken hat, kann ich an meinen Fingern abzählen!«

Kroll wurde nachdenklich. »Hat Ihr damaliger Mann erwähnt, dass er sich bedroht fühlte?«

Senta Kuttner nickte. »Er fühlte sich ständig bedroht, ständig beobachtet. Er konnte aber nie etwas Konkretes sagen. Kannte keine Gesichter und erst recht keine Namen. Es war mehr so ein Gefühl, vielleicht eher eine Angst.« Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster. Die Erinnerung hatte sie abermals eingeholt. »Ich wusste gar nicht, wie ich die Sache einzuschätzen hatte und vor allem wusste ich nicht, wie ich mich verhalten soll. War es nur so eine Art Verfolgungswahn oder steckte mehr dahinter? Es war auf jeden Fall eine schwierige Situation für uns beide.«

Sie stand auf, stellte drei Tassen auf den Tisch und schenkte den Kaffee ein. »Ich hatte ja auch keine Ahnung von den ganzen Dingen. Ich wurde in Bremen geboren und habe mich in jungen Jahren in einen Fußballprofi verliebt.«

Es trat einen Moment Stille ein. Senta Kuttner sah die Polizisten mitleidig an. »Ich habe mir gleich gedacht, dass ich Ihnen nicht behilflich sein kann. Es ist sehr schade. Glauben Sie mir. Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, den Mörder von Willi Lachmann zu finden. Ganz ehrlich! Ich habe ihn als Schriftsteller sehr geschätzt. Habe alle seine Romane gelesen – und als ich ihn persönlich kennengelernt hatte, war er mir gleich sympathisch. Das war wirklich ein netter Kerl!«

Kroll setzte die Kaffeetasse ab. »Sie kannten Willi Lachmann persönlich?«

»Ja, er war vor etwa einem Jahr hier.« Senta Kuttner lächelte verlegen. »Der hat die gleichen Fragen gestellt wie Sie. Aber ich fürchte, auch dem konnte ich nicht mehr erzählen, als er ohnehin recherchiert hatte. Die Medien waren eben sehr eifrig und sehr gründlich gewesen.«

»Was wollte er genau von Ihnen wissen?«, wollte Wiggins wissen.

Senta Kuttner verdrehte die Augen. »Das sind doch immer die gleichen Fragen: ›Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat? Hat er Ihnen etwas erzählt? Ist Ihnen etwas aufgefallen?‹ Und so weiter, und so weiter.« Sie hob den Zeigefinger der rechten Hand und machte große Augen. »Aber in einer Sache war er doch schlauer als alle anderen. Er wollte alle Fotoalben durchsehen, die ich von Lars hatte.«

Kroll sah Frau Kuttner erwartungsvoll an. »Und? Hat er was gefunden?«

»Ja, ein Foto hat ihn besonders interessiert. Das habe ich ihm geschenkt. Ich habe doch so viele Bilder von Lars. Da konnte ich nun wirklich eines entbehren. Und für Willi Lachmann … dem tut man doch gerne einen Gefallen!«

»Können Sie uns das Album bitte einmal zeigen?«, bat Wiggins.

»Natürlich.« Senta Kuttner stand auf und ging ins Wohnzimmer. Wenig später kam sie mit einem dicken Fotoalbum zurück. Sie legte es auf den Tisch und die Kommissare fingen sofort an zu blättern.

»Die Fotos habe ich beim letzten Pokalsieg gemacht. Ich saß auf der Tribüne bei den anderen Spielerfrauen. Erst kommen ein paar Schnappschüsse vom Spiel, dann die Siegerehrung und dann die Feier. Achten Sie mal drauf, Lars hat auf der Pokalfete kein einziges Bierglas in der Hand.« Sie lächelte. »Er hat mich sogar noch nach Hause gefahren. Ich war an dem Abend so betütert wie noch nie in meinem Leben. Alle wollten mit mir anstoßen und ich habe, glaube ich, kein einziges Mal abgelehnt.«

Kroll und Wiggins kamen zu der Seite, auf der das Bild fehlte. Auf den übrigen Fotos hatte Senta Kuttner die Pokalübergabe auf der Haupttribüne fotografiert. Die Spieler standen in einer Reihe und warteten sehnsüchtig darauf, den Pokal endlich in den Händen zu halten und ihren Fans zu zeigen. Im Hintergrund waren unzählbar viele Zuschauer zu sehen, die sich von ihren Plätzen erhoben hatten.

»Wissen Sie, was auf dem Bild drauf war?«, fragte Kroll.

Senta Kuttner beugte sich vor und schaute in das Album. »Das war auch eine Aufnahme von der Pokalübergabe. Ich habe die ganzen Fotos kurz hintereinander gemacht.«

»Wenn die Stasi Ehrentraut rund um die Uhr beobachtet hat, saß mit Sicherheit auch jemand von denen auf der Tribüne. Davon bin ich überzeugt!«, überlegte Wiggins.

»In diesem Fall müsste derjenige doch ebenfalls noch auf einem anderen Bild zu sehen sein.«

»Leider nein«, unterbrach Frau Kuttner. »Das Bild, das Herr Lachmann mitgenommen hat, war aus einem völlig anderen Blickwinkel aufgenommen. Für das Bild bin ich aufgestanden, um ihn aus der Nähe zu knipsen. Die anderen habe ich von meinem Platz aus gemacht.«

»Wäre auch zu schön gewesen«, seufzte Wiggins.

Kroll nahm sein Handy und bat die Spurensicherung, erneut in Lachmanns Wohnung zu fahren und gezielt nach einem Foto zu suchen, das in einem Fußballstadion aufgenommen wurde.

Sie verabschiedeten sich von Senta Kuttner.

»Eigentlich ist die Sache sonnenklar«, behauptete Wiggins in einem übertrieben selbstsicheren Ton, als sie wieder im Auto saßen.

Kroll sah seinen Kollegen skeptisch an. »Na, dann bin ich ja mal gespannt.«

»Ich gehe jetzt mal davon aus, dass Lachmann nie etwas mit der Stasi oder sonstigen Institutionen der sogenannten Geheimdienste zu tun hatte. Er hatte im Westen keine Verwandten oder sonstige Kontakte in das feindliche Ausland. Er hat auch nicht systemkritisch geschrieben. Das Foto bei Frau Kuttner hat er sich vor gut einem Jahr angeguckt. Wen soll der wohl erkannt haben? Das kann doch nicht irgendwer gewesen sein, sondern jemand, den er kannte! Sonst hätte er doch nie im Leben das Foto gleich mitgenommen.«

Kroll nickte bestätigend. »Du meinst, jemanden, den er kannte, weil er ihn seit Jahren regelmäßig in seiner Herbstvilla besucht? Bernd Vogelsang hat ja erzählt, dass Lachmann alle Bewohner mindestens zwei mal im Jahr persönlich begrüßt hat.«

Wiggins hob die Hände. »Ja was denn sonst? Was wissen wir denn über deinen alten Vorgesetzten Vogelsang? Nichts über seine Vergangenheit! Und anhand der Gegenwart können wir lediglich festhalten, dass er uns immer nur die Hälfte erzählt und genau das, was wir sowieso schon wissen. Wir sollten den jetzt gleich mal besuchen und richtig auf den Zahn fühlen!«

Kroll war in Gedanken. »Das bringt doch nichts!«

»Und warum bitte schön? Weil es dein Ausbilder war?«

Kroll wollte die Situation nicht überstrapazieren. »Der hat doch schon die dritten Zähne!«, bemerkte er mit einem humorlosen Unterton.

Wiggins bereute offensichtlich seine Provokation bereits. »Tut mir leid, Kroll. Das war wirklich nicht …«

Kroll blieb beim Thema. »Jetzt mal ehrlich, Wiggins. Wenn Bernd wirklich bei der Raubvogeltruppe der Stasi beschäftigt war und zudem noch irgendetwas mit Lachmanns Tod zu tun haben sollte, glaubst du im Ernst, der würde uns das alles brühwarm erzählen? Wenn das stimmen sollte, ist der doch abgezockt bis zum Gehtnichtmehr!«

Wiggins gab zu, dass Kroll recht hatte. In einer normalen Befragung würde Vogelsang sicherlich nichts ausplaudern. Außerdem war er Verhöre gewohnt. So einen alten Hasen konnte man nicht aufs Glatteis führen. »Was schlägst du also vor?«

»Dass wir jetzt zunächst unsere lieben Kollegen von der SOKO zusammentrommeln. Irgendetwas müssen die ja auch mal herausfinden! Außerdem konzentrieren wir uns für meinen Geschmack zu sehr auf die Geschichte Ehrentraut. Bitte vergiss nicht, dass das Kürzel L.E. vielleicht auch etwas anderes bedeuten kann. Die einzigen Begriffe, die wir von Lachmanns USB-Stick zweifelsfrei zuordnen können, sind Eimnot und AGM/S. Alles andere sind Abkürzungen, Vermutungen! Wer Goran ist … keinen blassen Schimmer. Und überhaupt, Eimnot. Er hat Annemarie Rosenthal umgebracht … oder auch nicht. Und der Schmuck! Sie hatte Preziosen im Wert von 750.000 Ostmark bei sich. Eine Menge Holz. Vielleicht war es ein ganz einfacher Raubmord. Schluss aus!«

»Mag sein«, erwiderte Wiggins ein wenig ratlos. »Aber darüber würde Lachmann doch nie einen Roman verfassen. So etwas kommt doch fast jeden Tag vor. Und was haben die anderen Abkürzungen dann für einen Sinn? Du tust gerade so, als hätte auf dem Stick nur EIMNOT gestanden. Da waren aber noch drei weitere Hinweise. Sollen wir die etwa ignorieren?« Wiggins machte eine Pause und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Vielleicht heißt L.E. ja ›Limonade einkaufen‹ und AGMS ›Alles gut mit Susi‹. Aber macht das wirklich Sinn?«

Kroll war überrascht, weil Wiggins so aggressiv argumentierte. Das hatte er in dieser Form in den vielen Jahren ihrer Zusammenarbeit noch nicht erlebt und es war auch eigentlich gar nicht seine Art. Er beschloss jedoch, Wiggins’ derzeitigen Gemütszustand nicht zu thematisieren, weil er nicht vergessen hatte, dass er den Verlust eines guten Freundes betrauerte. Kroll wartete daher einen Moment, um sich und seinem Kollegen die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln.

Die Melodie auf Krolls Handy unterbrach die Stille. Er schaute auf das Display und sah, dass Liane Mühlenberg versuchte, ihn zu erreichen. Er drückte den Ton weg.

Sie fuhren in Richtung Präsidium. An den Laternen hingen zahlreiche Plakate, die auf ein Event hinwiesen, das auf dem Gelände der alten Messe stattfand: Cage Fight.

Wiggins wollte die Situation auflockern und zeigte auf eines dieser Plakate. »Wäre das nicht auch etwas für dich als passionierter Kampfsportler?«

Kroll schüttelte den Kopf. »Das hat mit unserem Sport nichts mehr zu tun. Wir haben beim Taekwondo noch Regeln: Nicht unter die Gürtellinie, nicht auf den Hinterkopf, nicht auf den Hals, keine Kniestöße und vor allem: Wenn der Gegner am Boden liegt, wird der Kampf unterbrochen. Bei diesem Cage Fight trampeln die sogar noch auf dem Gegner rum, wenn der unten liegt. Das ist alles andere als sportlich und mit Sicherheit das falsche Vorbild für die Jugend!«

»Ist ja abartig«, raunzte Wiggins. »Rammen die sich da wirklich das Knie ins Gesicht?«

»Und vorher fassen die noch mit beiden Händen in den Nacken ihres Gegners und ziehen seinen Körper nach vorne, einfach nur unendlich brutal! Und weißt du, was das Perverseste ist?«

Wiggins zuckte mit den Schultern.

»Ich habe mir mal einen Kampf im Fernsehen angeschaut. Der Verlierer war schon im K.O.-Stadium. Trotzdem hat der noch gezittert wie Espenlaub. Das musst du dir einmal vorstellen: der war bewusstlos und hat noch gezittert. Das schaffst du nur, wenn du bis unter die Haarspitzen gedopt bist. Es hat schon seinen Grund, dass in diesen Veranstaltungen keine Dopingkontrollen durchgeführt werden!«

»Und da geht irgendjemand hin?«

»Die Hallen sind voll. Heutzutage kann es doch nicht brutal genug zugehen! Alles wird immer nur härter und rücksichtsloser … aber den Leuten gefällt das offensichtlich. Da muss sich doch keiner mehr wundern, wenn auf der Straße auf wehrlose Menschen eingetreten wird.«

Wiggins atmete durch. »Das ist doch wie im alten Rom. Irgendwann ziehen hier wieder die Gladiatoren ein und es geht nur noch um Leben und Tod.«

»Viel fehlt da nicht mehr«, bestätigte Kroll.

Kroll nutzte eine ruhige Minute im Präsidium, um die Nachrichten auf seinem Handy durchzusehen. Liane erwies sich als hartnäckig. Sie hatte erneut eine Mitteilung hinterlassen. ›Magst du Seeteufel mit Zitronenrisotto? Dazu ein leichter Rosé und zum Nachtisch …‹

Verwundert hielt er einen Moment inne. Seeteufel war sein absoluter Lieblingsfisch. Woher wusste Liane das? Hatte es ihr irgendjemand erzählt? Er beschloss, dass es reiner Zufall sein musste und kündigte sich für acht Uhr an.

Der Rest des Tages blieb ereignislos. Die Dienstbesprechung der SOKO Autor lieferte keine erwähnenswerte Ergebnisse. Auf den Schreibtischen der Kommissare hatte sich in den letzten Tagen viel Papierkram angehäuft, der abgearbeitet werden musste. Gegen 18 Uhr schob Kroll seinen Stapel auf Wiggins’ Seite des Schreibtisches rüber. Eine nicht ungewöhnliche Aktion, für die Wiggins sogar Verständnis hatte. Das war ihre Aufgabenteilung. Krolls Stärke lag eindeutig nicht in der Büroarbeit.

Kroll verließ das Büro und fuhr zunächst in einen Blumenladen in der Innenstadt. Dort stellte er mit fachkundiger Beratung einen schönen Strauß Sommerblumen zusammen. Den Wein kaufte er in Löhrs Carré bei seinem Freund Markus im InVino. Er ging gerne in diesen urigen Weinladen, weil man dort auch für wenig Geld einen guten Wein bekommen konnte.

Bewaffnet mit einem Blumenstrauß und einer Flasche Rosé, stand er pünktlich um acht Uhr vor Lianes Haustür in der Ferdinand-Lassalle-Straße.

Als sie die Wohnungstür öffnete, krochen ihm das Aroma von leckerem Fisch mit feinen Gewürzen und der angenehme Duft des Zitronenrisottos in die Nase. Sie begrüßten sich mit einem Kuss auf die Wange.

Auf dem Gelände der alten Messe waren die CageFight-Begegnungen in vollem Gange. Die Luft in der Halle war geschwängert vom Rauch unzähliger Zigaretten. Die Bierleitungen glühten und das Publikum schien die Kämpfe, die an diesem Abend geboten wurden, zu genießen. Ein lautes und ausgelassenes Grölen demonstrierte das allgemeine Wohlbefinden eindrucksvoll. Inzwischen hatten die Finalkämpfe begonnen. In dem achteckigen Ring, der an den Seiten mit einem Maschendrahtzaun umgeben war, wurde ein Kämpfer serbischer Herkunft vorgestellt. An seinem Hals waren zwei auffällige Tätowierungen zu sehen, eine Spinne und ein Vampirbiss. Sein drahtiger Körper schien ausschließlich aus Knochen und Muskeln zu bestehen. Der Kämpfer verzog keine Miene. Nicht einmal ein leichtes Zucken seines Mundes war zu erkennen, als er den Handschuh, der seine Fingerkuppen freiließ, zur Begrüßung des Publikums kurz in die Höhe streckte. Sein markantes Kinn, sein leicht vorstehender Unterkiefer und der Rest seines Gesichtes erschienen wie gelähmt.

Der Kampf dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Sekunden konnte der Serbe bereits einen Fußtritt am Kopf des Gegners landen. Sein deutlich benommener Widersacher kam ins Taumeln. Diese Schwächephase nutzte der Serbe, um ihm dreimal hintereinander sein Knie ins Gesicht zu rammen. Blut floss aus der Nase und den aufgeplatzten Augenbrauen. Der schon wehrlose Kämpfer ging zu Boden. Nachdem der Serbe ihn noch mehrmals heftig ins blutende Gesicht geschlagen hatte, brach der Richter den Kampf ab. Der Serbe wurde zum Sieger erklärt. Die Massen jubelten und warteten ungeduldig auf die nächsten Gladiatoren. Kroll pickte mit seiner Gabel das letzte Stück Seeteufelfilet auf und zog es genüsslich durch die Soße. Als auch dieser Bissen vertilgt war, ließ er sich auf seinem Stuhl zurückfallen. »Es war wirklich außergewöhnlich lecker. Ich habe viel zu viel gegessen. Aber bei so einem Hochgenuss kann ich mich wirklich nicht bremsen!«

Liane musterte auffällig seinen Oberkörper. »Na komm schon! Bei dir ist doch wirklich noch genug Platz für ein paar Seeteufelchen.«

Kroll faltete die Serviette zusammen und prostete ihr mit dem Weinglas zu. »Du musst dich gerade melden! Du kannst wahrscheinlich essen und trinken, wie du willst, ohne zuzunehmen. Ich muss danach immer in den Wald laufen oder den Sandsack bearbeiten.«

»Meine Figur ist ein gutes Thema …«, nahm Liane den Faden auf.

Kroll überlegte einen Moment, ob er etwas Falsches gesagt hatte, konnte sich aber nichts vorwerfen.

Liane trank nachdenklich ihren Wein, fixierte Kroll aber weiterhin mit ihren Augen. »… ich bin jetzt bald für eine Woche weg.«

Kroll sah sie fragend an.

»Ich werde nach Hamburg fahren und mir den Busen vergrößern lassen!«

Kroll schüttelte den Kopf. »Aber das hast du doch überhaupt nicht …«

Liane winkte ab. »Es war Willis Wunsch! Oder besser gesagt, am Anfang war es eher mein Wunsch. Ich habe ihn lange überreden müssen, aber irgendwann war er davon ebenso überzeugt wie ich. Ich bin platt wie Holland. Ich möchte gerne auch mal ein Kleid anziehen oder irgendein anderes Kleidungsstück, bei dem man ein schönes Dekolleté zeigen kann.«

Kroll wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Er hatte keine Lust, diese sehr persönliche Entscheidung, die Liane mit Willi Lachmann getroffen hatte, zu kommentieren. Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst.«

Liane gab sich mit diesem Kommentar nicht zufrieden. Sie nippte abermals an ihrem Weinglas. »Ich erzähl dir das aus einem ganz bestimmten Grund. Ich möchte einfach wissen … also mich würde interessieren, ob dich das stört. Also, ob du damit Probleme hast, wenn eine Frau einen solchen Eingriff vornehmen lässt!«

Kroll versuchte, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Die Frage war ihm unangenehm, weil sie offensichtlich einen bestimmten Zweck verfolgte. Er hatte den Verdacht, dass Liane ausloten wollte, ob sie für ihn nach diesem Eingriff noch attraktiv war. Genau das irritierte ihn. Er hatte bislang nicht ein einziges Mal signalisiert, dass er an einer Beziehung mit ihr interessiert war. Er selbst hatte die Trennung von Claudia noch nicht verarbeitet und was ging denn überhaupt in Liane vor? Sie hatte erst vor wenigen Tagen ihren Lebensgefährten durch einen Mordanschlag verloren. Warum zeigte sie jetzt so ein unverblümtes Interesse für seine Person? Er war alles andere als ein Psychologe, aber war ein solches Verhalten normal? Er überlegte, ob es nicht doch ein Fehler war, die Einladung zum Abendessen angenommen zu haben. Auf jeden Fall ging ihm alles zu schnell.

»Also … ich habe damit wirklich keine Erfahrung. Ich denke, du solltest einfach das tun, was du für richtig hältst! Entscheidend ist allein, ob du dich wohlfühlst.«

Liane nickte und schien in der nächsten Sekunde Krolls Verlegenheit zu bemerken. »Oh Gott, Kroll! Ich bin wirklich ein Vollidiot. Du musst jetzt natürlich denken, dass ich dich hemmungslos anbaggere!«

»Nein, das habe ich jetzt nicht so gesehen«, log Kroll.

Liane schaute in ihr Glas, das sie mit langsamen Bewegungen auf dem Tisch kreisen ließ. »Weißt du, alle denken immer, ich sei so super beliebt, ich würde mich nur auf VIP-Partys herumtreiben und das Leben sei auch sonst nur die wahre Freude.« Sie sah Kroll in die Augen. »Ich bin verdammt einsam, Kroll. Ich habe nicht viele richtige Freunde. Und erst recht nicht in Leipzig.« Sie lächelte freudlos. »Das kannst du jetzt glauben oder nicht. Aber … obwohl wir uns noch nicht lange kennen, habe ich das Gefühl, dass du ein richtiger Kumpel bist. Du bist ehrlich, direkt … und ich glaube einfach, dass ich dir vertrauen kann.«

»Jetzt übertreib mal nicht«, wiegelte Kroll ab.

»Ich habe eine ziemlich gute Menschenkenntnis«, erwiderte Liane. »Ich bin froh, wenn du in meiner Nähe bist. Ich weiß nicht, warum, kann das nicht näher erklären. Aber ich fühle mich in deinem Beisein einfach wohl. Und deine Meinung ist mir wichtig.« Sie machte eine Pause. »Das ist für mich eine wichtige Entscheidung. Und ich habe doch niemanden, den ich sonst fragen kann.«