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Hester hatte geahnt, dass die Gegend um den Coldbath Square unter dem verstärkten Eifer der Polizei zu leiden haben würde, die Frauen bedrängte, die entweder Prostituierte waren oder keine legitime Beschäftigung nachweisen konnten, aber als es dann geschah, war sie doch bestürzt. Schon als sie am nächsten Abend im Haus war, wurde sie mit den unmittelbaren Folgen konfrontiert. Margaret war nicht da; sie mischte sich gerade unter die feinen Leute, um diesen Spendengelder für Miete, Verbandszeug und Medizin zu entlocken. Aber auch andere Ausgaben für Brennholz, Karbol, Putzmittel und natürlich für Essen mussten gedeckt werden.
Die erste Frau, die ins Haus kam, war nicht verletzt, sondern krank. Sie hatte Wechselfieber, das Hester als Symptom einer venerischen Erkrankung deutete. Sie konnte wenig für sie tun, außer sie zu trösten und einen Kräutertee zu kochen, der das Fieber senkte und ihr ein wenig Erleichterung verschaffte.
»Haben Sie Hunger?«, fragte Hester und reichte der Frau den dampfenden Becher. »Ich habe Brot und ein wenig Käse, wenn Sie mögen.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich nehme nur die Medizin.«
Hester betrachtete ihr fahles Gesicht und ihre hochgezogenen Schultern. Sie war wahrscheinlich kaum älter als fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, aber sie war erschöpft. Schlaflosigkeit, schlechtes Essen und Krankheiten hatten ihr alle Energie geraubt.
»Möchten Sie heute Nacht hier bleiben?«, bot Hester ihr an. Eigentlich war das Haus nicht dazu da, aber solange keine Frau kam, die dringender Hilfe brauchte, konnte die Frau ruhig in einem der Betten schlafen.
In den Augen der Frau glühte für einen kurzen Moment ein Funke auf. »Kost' das was?«, fragte sie misstrauisch.
»Nein.«
»Und morgen früh kann ich wieder gehen?«
»Sie können jederzeit gehen, aber am Morgen wäre gut.«
»Ja, danke. Wär ja nett.« Sie traute Hester noch nicht recht. Ihr Mund verhärtete sich. »Hat keinen Sinn da draußen«, sagte sie grimmig. »Kein Geschäft zu machen. Überall Polypen – wie Fliegen, die um 'ne tote Ratte schwirren. Gibt nix zu tun, nich' mal für die, die noch sauber sind.« Sie meinte – im Gegensatz zu ihr – gesund.
Darauf konnte Hester nichts sagen. Die Wahrheit wäre eine Herablassung gewesen, mit der die Frau nichts anfangen konnte. Sie würde ihr keine Hoffnung geben, sondern sie vielmehr jeglichen Gefühls, verstanden zu werden, berauben.
»Ist wegen dem verdammten Schnösel, der letzte Nacht umgebracht wurde«, fuhr die Frau unglücklich fort. »Dumme Kuh! Warum jemand hingeht und so was tut, ich versteh's nich'!« Sie trank einen Schluck Kräutertee und verzog den Mund wegen des bitteren Geschmacks.
»Mit Zucker würd's womöglich noch schlimmer schmecken«, sagte Hester. »Aber Sie können welchen haben, wenn Sie möchten.«
»Nein danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich gewöhn mich dran.«
»Vielleicht finden sie raus, wer's war, und dann kehrt wieder Normalität ein«, meinte Hester. »Wie werden Sie gerufen?« Das war nicht dasselbe, wie nach ihrem Namen zu fragen. Ein Name war eine Sache der Identität; sie wollte nur etwas haben, um sie anzureden.
»Betty«, lautete die Antwort nach einem langen Schluck Kräutertee.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht ein Stück Brot und Käse möchten? Oder Toast?«
»Ja … Toast wäre gut. Danke.«
Hester machte zwei Scheiben und legte sie mit etwas Käse auf einen Teller. Betty wartete ab, bis Hester sich eine Scheibe genommen hatte, dann griff sie voller Befriedigung, fast gierig nach der anderen.
»Wette, seine Familie macht mächtig Druck«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Die Polypen schwirren rum, als wäre der Teufel leibhaftig hinter ihnen her. Arme Kerle. Sind nicht schlecht, die meisten jedenfalls. Wissen auch, dass wir irgendwie über die Runden kommen müssen, und die Männer, die herkommen, tun's, weil sie's wollen. Geht niemanden sonst was an, wirklich.« Sie aß mehr als die Hälfte des Toasts, bevor sie weitersprach. »Nehm an, sie suchen was, was ihre Frauen ihnen nicht geben. Hab's nie rausgefunden, Gott sei Dank.«
Hester stand auf, um noch mehr Toast zu machen. Sie spießte das Brot auf eine Gabel und hielt es in die offene Ofen-klappe, bis die Hitze der Kohlen es knusprig braun geröstet hatte. Sie kehrte mit einer weiteren dicken Scheibe Käse an den Tisch zurück und gab sie Betty, die sie in schweigender Dankbarkeit nahm.
Hester war ein wenig neugierig. Sie war in zu viele von Monks Fällen verwickelt gewesen, als dass ihr das Schlussfolgern nicht zur zweiten Natur geworden wäre, aber sie war auch besorgt wegen der verheerenden Auswirkungen auf die Gegend. »Warum sollte eine Frau ihren Freier umbringen?«, fragte sie. »Es muss ihr doch bewusst gewesen sein, dass es so enden würde?«
Betty zuckte die Achseln. »Wer weiß? Selbst blau bis zur Bewusstlosigkeit müsste sie doch mehr Verstand haben, was?« Sie biss in den Toast und den Käse und redete mit vollem Mund weiter. »Ruft den Zorn Gottes auf uns alle hernieder, die dumme Kuh.« Aber in ihrer Stimme war mehr Resignation als Empörung, und sie wandte dem Essen ihre ganze Aufmerksamkeit zu und sagte nichts mehr.
Erst am frühen Morgen brachte Hester das Thema noch einmal zur Sprache. Sie hatte selbst in einem der Betten geschlafen und wurde von einem Klopfen an der Tür geweckt.
Sie stand auf und ließ Constable Hart ein. Er sah beunruhigt und unglücklich aus. Er schaute sich im Raum um und sah, dass nur ein Bett belegt war.
»Ruhig?«, fragte er kaum überrascht. Seine Augen wanderten unwillkürlich zum Ofen mit dem Wasserkessel.
»Ich mache mir eine Tasse Tee«, bemerkte Hester. »Möchten Sie auch welchen?«
Er quittierte ihr Taktgefühl mit einem Lächeln und nahm dankend an.
Als der Tee und der Toast fertig waren und sie einander am Tisch gegenübersaßen, fing er an zu reden. Draußen war es inzwischen hell geworden, aber es herrschte kaum Verkehr. Im Norden erhob sich schweigend und bedrohlich der riesige Block des Coldbath-Gefängnisses, die Sonne vermochte seinen Mauern kaum ihre Härte zu nehmen. In den Ritzen zwischen den Pflastersteinen auf der Straße hielt sich noch die Feuchtigkeit. Das Licht schimmerte auf einem Abfallhaufen im Rinnstein.
»Sie haben wohl nichts gehört?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Nur, dass überall in den Straßen Polizei ist und die Frauen kein nennenswertes Geschäft machen«, antwortete sie und trank einen Schluck Tee. »Ich vermute, das gilt auch für viele andere Gewerbe.«
Er lachte freudlos. »O ja! Einbrüche und Diebstähle sind ganz zurückgegangen! Es ist jetzt so verdammt sicher, hier herumzuspazieren, man könnte eine goldene Uhrkette an der Weste tragen und von Coldbath nach Pentonville gehen, ohne dass sie wegkäme! Die Stammkunden haben uns fast so gerne wie eine Dosis Pocken.«
»Dann sind sie vielleicht dabei behilflich«, meinte sie, »dass die Dinge bald wieder ihren gewohnten Gang gehen können. Wissen Sie schon, wer das Opfer ist?«
Er hob den Blick und sah sie ernst und besorgt an. »Ja. Sein Sohn machte sich Sorgen, weil sie einen wichtigen Geschäftstermin hatten und er am Abend nicht nach Hause kam. Offensichtlich war er nicht der Mann, der zu so was nicht erscheint, also haben sie sich ziemliche Sorgen gemacht und bei der örtlichen Polizeiwache nach Unfällen und so gefragt.« Er verteilte reichlich Schwarze-Johannisbeer-Marmelade auf seinem Toast. »Er hat am Royal Square gewohnt, gegenüber von der St. Peter's Church, aber die auf der Wache haben rumgefragt, und wir auch, da wir wussten, dass er nicht aus unserem Revier stammte. Der Sohn kam gestern Abend rüber und hat im Leichenschauhaus einen Blick auf ihn geworfen.« Er biss in den Toast. »Hat ihn sofort erkannt«, sagte er mit vollem Mund. »Hat ganz schön Stunk gemacht. Die Straßen seien nicht sicher für anständige Menschen, wohin es mit der Welt noch käme und so weiter. Sagte, er würde an seinen Abgeordneten schreiben.« Er schüttelte verwundert den Kopf.
»Ich glaube, um seiner Familie willen wäre es klüger, so wenig wie möglich bekannt zu geben, zumindest im Augenblick«, antwortete sie. »Wenn mein Vater tot in Abel Smiths Bordell gefunden würde, würde ich das so wenig wie möglich rumerzählen. Na ja, auch, wenn man ihn dort lebend erwischen würde«, fügte sie hinzu.
Für einen winzigen Augenblick lächelte er sie an, dann war er wieder ernst. »Er hieß Nolan Baltimore«, sagte er. »Reicher Mann, Chef einer Eisenbahngesellschaft. Sein Sohn, Jarvis Baltimore, kam ins Leichenschauhaus. Er ist jetzt Chef der Gesellschaft und wird ordentlich Krach schlagen, wenn wir denjenigen, der seinen Vater auf dem Gewissen hat, nicht finden und aufhängen.«
Hester konnte sich eine Reaktion aus Schock, Schmerz und Empörung vorstellen, aber der junge Mr. Jarvis Baltimore würde sein Verhalten von heute noch bereuen. Was auch immer sein Vater in der Leather Lane getan hatte – es war äußerst unwahrscheinlich, dass seine Familie wollte, dass Freunde davon erfuhren. Da es um Mord ging, musste die Polizei alles unternehmen, um die Sache aufzuklären und möglichst jemanden vor Gericht zu stellen, aber die Familie Baltimore hätte es wohl vorgezogen, wenn das Ganze ein Geheimnis geblieben und er einfach auf tragische, unerklärliche Weise verschwunden wäre.
Aber sie hatten keine Wahl mehr. Es war nur ein vorüberziehender Gedanke, ein kurzer Augenblick des Mitleids für die Desillusionierung und die öffentliche Demütigung, das Lachen, das plötzlich verstummte, wenn sie einen Raum betraten, die geflüsterten Worte, die Einladungen, die ausblieben, die Freunde, die unerklärlicherweise zu beschäftigt waren, Besucher zu empfangen oder vorbeizuschauen. Nicht mit allem Geld in der Welt konnten sie das zurückkaufen, was sie jetzt verloren.
»Und was, wenn es überhaupt nichts mit den Frauen in Abel Smiths Haus zu tun hat?«, meinte sie. »Vielleicht ist ihm jemand in die Leather Lane gefolgt und hat die Gelegenheit einfach genutzt?«
Er starrte sie an, und in seiner Miene kämpften Hoffnung und Ungläubigkeit. »Gott steh uns bei, wenn das wahr ist!«, sagte er flüsternd. »Dann finden wir ihn nie. Könnte jeder gewesen sein!«
Hester sah, dass ihre Bemerkung nicht unbedingt hilfreich gewesen war. »Haben Sie irgendwelche Zeugen?«
Er zuckte leicht die Achseln. »Weiß nicht, wem man glauben kann. Der Sohn sagt, er sei ein aufrichtiger, anständiger Mensch gewesen, ein wichtiger Geschäftsmann, von allen respektiert, mit einer Menge mächtiger Freunde, die nach Gerechtigkeit verlangen und die Straßen von London gesäubert sehen wollen, damit anständige Menschen da rumlaufen können.«
»Natürlich.« Sie nickte. »Etwas anderes kann er kaum sagen. Er muss doch seine Mutter schützen.«
»Und seine Schwester«, fügte Hart hinzu. »Die noch nicht verheiratet ist, denn sie ist eine Miss Baltimore. Erhöht nicht gerade ihre Chancen, wenn rauskommt, dass ihr Vater Orte wie die Leather Lane aufgesucht hat.« Er runzelte die Stirn. »Seltsam, was? Ich meine, ein Mann, der selbst in solche Etablissements geht, weist eine junge Frau zurück, weil ihr Vater dasselbe tut. Ich begreife diese Leute nicht … jedenfalls nicht solche Herrschaften.«
»Nicht sein Vater, Constable, seine Mutter«, berichtigte sie ihn.
»Was?« Er stellte seinen leeren Becher auf den Tisch. »Ach ja, natürlich. Verstehe. Trotzdem hilft es uns nicht weiter. Weiß wirklich nicht, wo wir anfangen sollen, außer bei Abel Smith, und er versichert hoch und heilig, Baltimore sei nicht in seinem Haus umgebracht worden.«
»Was sagt der Polizeiarzt?«
»Weiß ich noch nicht. Gestorben ist er an den Knochenbrüchen und an inneren Blutungen, aber ich weiß nicht, ob er am Fuß von Abels Treppe gestorben ist oder ganz woanders. Wenn's die Treppe war, hätte ihn jeder stoßen können.«
»Vielleicht war er auch betrunken und ist einfach gestürzt?«, sagte sie voller Hoffnung.
»Hätte ich drei Wünsche frei, würde ich mir genau das wünschen«, sagte er heftig. »Die ganze Gegend ist wie ein Wespennest, von Coldbath bis rauf nach Pentonville und runter bis Smithfield. Es wird noch schlimmer kommen! Jetzt sitzen uns nur die Frauen und die Zuhälter im Nacken.« Er seufzte. »Ein oder zwei Tage, dann werden diese ach so korrekten Lackaffen, die für ein bisschen Spaß hierher kommen, erst richtig losjammern, weil sie's jetzt nicht mehr können, ohne an jeder Straßenecke über einen Polizisten zu stolpern. Wenn sie doch kommen, gibt's böses Blut, und wenn nicht, dann ist man auch verärgert! Egal, wir können nicht gewinnen.«
Insgeheim hatte sie Mitleid mit ihm, holte noch etwas Tee und dann frischen Toast mit Schwarzer-Johannisbeer-Marmelade, den er mit Appetit aß, bevor er ihr dankte und in den noch hellen Tag trat, untröstlich, sich wieder seiner undankbaren Aufgabe widmen zu müssen.
Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll von Schlagzeilen über den schockierenden Tod des hochverehrten Eisenbahnbesitzers Nolan Baltimore, der unter merkwürdigen Umständen in der Leather Lane, einer Seitenstraße der Farringdon Road, aufgefunden worden war. Seine Familie war außer sich vor Kummer, und die ganze Gesellschaft war empört, dass ein anständiger Mann von tadellosem Ruf auf der Straße angegriffen wurde und unter solchen Umständen sterben musste. Es war ein landesweiter Skandal, und sein Sohn, Jarvis Baltimore, hatte geschworen, er werde dafür zu Felde ziehen, dass Kriminalität und Prostitution, die die Ehre der Hauptstadt befleckten und einen solchen feigen Mord möglich machten, ausgemerzt würden. Die Londoner Polizei hatte gegenüber den Bürgern des Landes ihre Pflichten vernachlässigt, und es war die Verantwortung jedes Einzelnen, dafür zu sorgen, dass das nicht so blieb.
Hester sorgte sich weit mehr um die Tatsache, dass in der Nacht nach Constable Harts zweitem Besuch eine junge Frau von ihren Freundinnen ins Haus gebracht worden war, die so schlimme Schläge abbekommen hatte, dass sie getragen werden musste. Verängstigt und wütend hockten die drei Frauen in der Ecke und starrten vor sich hin.
Die verletzte Frau lag zusammengekrümmt auf dem Tisch, sie hielt sich den Bauch und zitterte, Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor.
Weiß wie eine Wand sah Margaret Hester an.
»Gut«, sagte Hester ruhig. »Schick eine der Frauen zu Mr. Lockhart. Er soll so schnell wie möglich kommen.«
Margaret nickte und wandte sich ab. Sie erklärte einer der wartenden Frauen, wo sie zuerst nach dem Arzt suchen sollte und dass sie nicht aufhören sollte, bis sie ihn gefunden hätte. Dann ging sie zum Herd, um Wasser zu holen, Essig, Brandy und saubere Tücher. Wie eine Blinde tastete sie nach den Gegenständen, weil sie zu erschüttert und zu entsetzt war, um zu sehen, was sie tat.
Hester musste ihren Schreck über eine solche Verletzung überwinden und die Blutung stoppen. Sie ermahnte sich, an die Schlachtfelder zu denken, an die schwer verletzten Männer, die sie nach dem Sturm der leichten Brigade in Sewastopol und nach der Schlacht an der Alma auf die Wagen zu laden geholfen hatte, blutdurchtränkt, tot oder im Sterben liegend, mit abgerissenen Gliedmaßen, von Säbeln zerhackt oder von Schüssen durchsiebt.
Ihnen hatte sie helfen können. Warum nicht dieser Frau? Hester war hier, um eine Arbeit zu tun, nicht, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, wie tief oder mitleidsvoll diese auch sein mochten. Die Frau brauchte Hilfe, kein Mitleid.
»Lassen Sie los«, redete sie ihr gut zu. »Ich werde jetzt die Blutung stillen.« Bitte, Gott, dachte sie. Die Hände der Frau nehmend, spürte sie deren Anspannung und Furcht, die sich auf Hester übertrugen als steckte sie einen Augenblick lang in ihrer Haut. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und kalt über ihren Körper rann.
»Können Sie ihr helfen?«, fragte eine der Frauen hinter ihr. Sie war leise näher getreten, konnte trotz ihrer Angst nicht wegbleiben.
»Ich glaube schon«, antwortete Hester. »Wie heißt sie?«
»Fanny«, sagte die Frau heiser.
Hester beugte sich über die Frau. »Fanny, lassen Sie mich einen Blick draufwerfen«, sagte sie fest. »Lassen Sie mich sehen.« Mit Kraft zog sie die Hände der Frau weg und erblickte den von scharlachrotem Blut durchtränkten Stoff ihres Kleides. Sie betete, dass sie Lockhart fanden und er rasch käme. Hierbei brauchte sie Hilfe.
Margaret reichte ihr eine Schere; die nahm sie und schnitt den Stoff durch, um die Haut freizulegen. »Verbandszeug«, sagte sie, ohne aufzuschauen. »Gerollt«, fügte sie hinzu. Sie hob das Kleid von der Wunde ab und sah rohes Fleisch, aus dem immer noch Blut rann, aber nicht pulsierend. Während sie erneut in kribbelnden Schweiß ausbrach, durchströmte sie Erleichterung. Vielleicht war es doch nur eine oberflächliche Wunde. Es war nicht das hervorschießende arterielle Blut, das sie gefürchtet hatte. Trotzdem konnte sie es sich nicht leisten, auf Lockhart zu warten. Kaum brachte sie die Worte heraus, aber dann bat sie um Tücher, Brandy, Nadel und Faden.
Hinter ihr fing eine der Frauen an zu weinen.
Während sie arbeitete, redete Hester die ganze Zeit. Das meiste war wahrscheinlich Unsinn, denn ihre Gedanken waren ganz bei dem blutigen Gewebe. Sie gab sich Mühe, es gleichmäßig und glatt zusammenzunähen, dabei keines der Gefäße, aus denen immer noch Blut sickerte, zu übersehen und der Frau nicht unnötigen Schmerz zu verursachen.
Schweigend reichte Margaret ihr immer neue Tücher und nahm diejenigen weg, die voll gesogen waren.
Wo war Lockhart? Warum kam er nicht? War er schon wieder betrunken, lag in einem fremden Bett, unter einem Tisch oder, noch schlimmer, in einem Rinnstein, wo ihn niemand erkennen, geschweige denn finden und nüchtern bekommen würde? Sie stieß einen leisen Fluch aus.
Sie wusste nicht mehr, wie lange es her war, dass Margaret die Frau weggeschickt hatte. Alles, was zählte, waren die Wunde und der Schmerz. Sie bemerkte nicht einmal, dass die Tür zur Straße auf- und wieder zuging.
Dann war da plötzlich ein zweites Paar Hände, zart und stark und vor allem sauber. Hesters Rücken war so verspannt, dass er wehtat, als sie sich aufrichtete, und sie brauchte einen Augenblick, um ihren Blick auf den jungen Mann neben ihr einzustellen. Seine Hemdsärmel waren bis über die Ellenbogen aufgerollt, sein blondes Haar war über den Augenbrauen feucht, als hätte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt. Er schaute auf die Verletzung hinunter.
»Gute Arbeit«, sagte er anerkennend. »Sieht aus, als hätten Sie's geschafft.«
»Wo waren Sie?«, fragte sie leise, überwältigt vor Erleichterung, dass er da war, und wütend, dass er nicht eher gekommen war.
Wie zur Entschuldigung grinste er, zuckte die Achseln und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Wunde zu. Er erforschte sie mit vorsichtigen, kundigen Berührungen, während er der Patientin immer mal wieder ins Gesicht schaute, um sich zu vergewissern, dass es ihr nicht schlechter ging.
Hester überlegte, ob sie sich für ihre unterschwellige Kritik bei ihm entschuldigen sollte, und kam zu dem Schluss, dass das jetzt keine Rolle spielte. Es würde nichts nützen, und sie bezahlte ihm nichts, also schuldete er ihr wohl auch nichts. Sie sah, dass Margaret sie anschaute, und bemerkte auch in ihren Augen Erleichterung.
Ihr war, als sei die Blutung gestillt. Sie reichte Lockhart die letzten in Balsam getränkten Verbände, und er legte sie an. Dann trat er zurück.
»Nicht schlecht«, sagte er ernst. »Wir müssen darauf achten, dass es sich nicht entzündet.« Er fragte nicht, was passiert war. Er wusste, dass er darauf keine Antwort bekommen würde. »Ein bisschen Fleischbrühe oder Sherry, falls Sie welchen haben. Nicht gleich, später. Sie wissen, was sonst noch nötig ist.«
Er hob die Schultern zu einem leichten Achselzucken und lächelte. »Wahrscheinlich besser als ich.«
Hester nickte. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorbei war, wurde sie von Müdigkeit überwältigt. Ihr Mund war trocken, und sie zitterte leicht. Margaret war zum Ofen gegangen, um heißes Wasser zu holen, damit sie sich das Blut abwaschen konnten und um Tee zu machen.
Hester wandte sich an die wartenden Frauen, die sie fragend anschauten. »Lassen Sie ihr Zeit«, sagte sie ruhig. »Wir können noch nichts sagen. Es ist zu früh.«
»Kann sie hier bleiben?«, fragte eine von ihnen. »Bitte, Miss! Er tut's nur wieder, wenn sie zurückgeht.«
»Was hat der bloß?« Schließlich ließ Hester ihre Wut doch heraus. »Er hätte sie umbringen können. Er muss verrückt sein – Sie sollten ihn loswerden. Haben Sie denn keine …«
»Es war nicht Bert!«, sagte eine andere Frau schnell. »Ich weiß das, weil ich ihn gesehen habe. Großer, nutzloser verdammter Esel!«
»Ein Freier?«, fragte Hester überrascht und mit wachsender Wut.
»Nein!« Die Frau schauderte.
»Weißt du doch nicht«, sagte die dritte Frau grimmig. »Fanny hat nicht gesagt, wer's war, Miss. Sie hat so viel Angst, sie sagt überhaupt nichts, aber es war bestimmt ein Kerl, den sie kennt, aber doch nicht ihr gewohnter Zuhälter, weil, wie Jenny sagte, der war stockbesoffen und hätte nicht mal 'ner Fliege was zu Leide tun können, geschweige denn einem Menschen.« Sie verzog das Gesicht. »Abgesehen davon wäre es ja wohl ziemlich blöd, die eigene Frau so zu schlagen, dass sie nicht mehr anschaffen kann. Gott noch mal! Es gibt zurzeit schon wenig genug zu tun, ohne dass man 'ner Frau auch noch den Bauch aufzuschlitzen braucht. Das kapiert doch der letzte Idiot!«
»Wer sollte dann so was tun?«, fragte Hester, während Margaret am anderen Tisch heißes Wasser in eine Schüssel goss und kaltes nachschenkte, um die richtige Waschtemperatur zu erreichen. Karbol war bereits zur Hand.
Lockhart rollte seine Ärmel noch weiter auf, ohne auf das Blut daran zu achten, und wusch sich. Hester tat es ihm gleich, und er reichte ihr das Handtuch.
Margaret machte für alle Tee und brachte ihn heiß und sehr stark herüber. Hester war froh, sich endlich hinzusetzen, und erhob keine Einwände, als Lockhart die Schüssel wegtrug, um sie im Abfluss auszugießen.
Fanny lag auf dem großen Tisch, ihr Kopf auf einem Kissen, das Gesicht aschfahl. Es war zu früh, sie woanders hinzulegen, nicht mal in ein Bett.
»Wer tut so etwas?«, fragte Hester noch einmal und sah die Frauen an.
»Weiß nich'«, antwortete die Erste. »Danke.« Sie nahm den Becher Tee von Margaret. »Gerade das macht uns Angst. Fanny ist ein gutes Mädchen. Sie nimmt nichts, was ihr nicht gehört. Sie tut, was man ihr sagt, das arme Huhn! Sie war wohl mal ziemlich anständig.« Sie senkte die Stimme. »Stubenmädchen oder so. Kam in Schwierigkeiten, und eh sie sich's versieht, sitzt sie auf der Straße. Redet nich' viel, aber ich wette, sie hat 'ne harte Zeit gehabt.«
Lockhart kam mit der leeren Schüssel zurück und nahm seinen Tee.
»Wenn ich den Kerl in die Hände bekäme, der ihr das angetan hat«, sagte die mittlere Frau. »Ich würde ihm sein … aufschlitzen, tut mir Leid, Miss, aber so isses.«
»Halt den Mund, Ada!«, sagte ihre Gefährtin drohend. »Überall sind Polypen. Tauchen auf wie aus dem Nichts. Die armen Schweine kriegen's aber auch von allen Seiten ab. Die einen sagen, sie sollen uns wegschaffen. Die anderen sagen, sie sollen uns in Ruhe lassen, damit sie ihren Spaß haben können. Und die Ärmsten schwirren rum wie die Schmeißfliegen und sind sich dauernd gegenseitig im Weg.«
»Ja! Und die arme kleine Fanny kriegt von einem verdammten Irren den Bauch aufgeschlitzt!«, erwiderte Ada mit verkniffener Miene und einer Stimme, die sich vor kaum kontrollierter Hysterie überschlug.
Hester stritt nicht mit ihnen. Sie saß schweigend da und dachte nach, aber sie stellte keine Fragen mehr. Die drei Frauen dankten ihnen, verabschiedeten sich von Fanny, versprachen wiederzukommen und gingen dann in die Nacht hinaus.
Nach einer Stunde sah Lockhart nach Fanny, der es sehr viel besser zu gehen schien, zumindest was ihre Angst betraf. Er half Hester und Margaret, sie zum nächsten Bett zu tragen und darauf zu legen. Dann versprach er, am nächsten Tag noch einmal hereinzuschauen, und verabschiedete sich.
Hester schlug Margaret vor, eine Runde zu schlafen, während sie wach blieb, und sich dann abzuwechseln. Am Morgen würde Bessie Wellington kommen, um das Haus zu hüten und sauber zu machen. Sie war selbst einmal Prostituierte gewesen und hatte dann ein Bordell geführt, bis die wachsende Konkurrenz sie aus dem Geschäft gedrängt hatte. Jetzt war sie froh, einen warmen Raum zu haben, wo sie den Tag verbringen konnte. Sie war freundlich zu bettlägerigen Patientinnen und verlangte keine Bezahlung. Dabei war ihre Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten fast so viel wert wie ihre Arbeit.
Als Hester am nächsten Abend zurückkehrte, kam Bessie ihr mit hochrotem Gesicht an der Tür entgegen. Aus ihrem zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckten schwarzen Haar standen in alle Richtungen Strähnen ab. Sie platzte fast vor Entrüstung.
»Dieser widerliche Jessop war schon wieder hier und wollte mehr Geld!«, sagte sie in einem Bühnenflüsterton, der noch auf dem halben Coldbath Square zu hören war. »Hab ihm 'ne Tasse Tee angeboten, und er wollte sie nicht! Misstrauischer Kerl!«
»Was haben Sie reingetan, Bessie?«, fragte Hester und verbarg ein Lächeln. Sie trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie tauchte in den vertrauten Raum mit den geschrubbten Dielen ein, die noch nach Lauge und Karbol rochen, dem leisen Hauch von Essig, der Hitze des Ofens, dem scharfen Geruch von Whiskey und dem würzigeren, frischeren Aroma von Kräutern. Automatisch ging ihr Blick zu dem Bett, in dem sie Fanny zurückgelassen hatte. Sie sah ihre dunklen zerzausten Haare und die Konturen ihres Körpers unter den Decken.
»Es geht ihr gut, der armen Kleinen«, sagte Bessie mit vor Zorn grollender Stimme. »Krieg kein Wort aus ihr raus, wer ihr das angetan hat. Versteh das nicht. Wenn ich sie wär, würd ich ihn verfluchen, und zwar vor jedem, der's hören möchte – und auch vor denen, die's nicht hören wollten!« Sie schüttelte den Kopf.
»Nur ein bisschen Süßholz«, beantwortete sie Hesters ursprüngliche Frage. »Und ein Tropfen Whiskey, um den Geschmack zu übertünchen. Eine Schande. Vergeudung von gutem Whiskey. Nicht dass es eine andere Sorte gäbe!« Sie grinste und entblößte ihre Zahnlücken.
»Haben Sie ihn weggeschüttet?«, fragte Hester besorgt.
Bessy sah sie von der Seite an. »Meine Güte, na klar! Was denken Sie! Möchte doch niemandem kalten Tee anbieten, oder?« Sie erwiderte Hesters Blick mit vorgeblicher Unschuld, und Hester konnte nicht anders, als zumindest mit halbem Herzen zu wünschen, Jessop hätte ihn getrunken. Bessie würde ihm doch sicher nichts Schlimmeres antun als ein vorübergehendes Unbehagen oder vielleicht ein wenig Übelkeit. Oder?
Sie ging hinüber, um einen Blick auf Fanny zu werfen, die immer noch Angst und schlimme Schmerzen hatte. Es dauerte eine halbe Stunde, die Verbände abzunehmen, um nachzuschauen, ob sich die Wunde nicht infiziert hatte, sie wieder zu verbinden und Fanny zu überreden, ein wenig Brühe zu sich zu nehmen. Sie war eben fertig, als die Tür aufging und ein Schwall kühler, feuchter Luft hereinwehte. Sie drehte sich um und sah eine Frau unbestimmten Alters in der Tür stehen. Sie war einfach gekleidet, wie die Kammerzofe einer feinen Dame, und verzog vor Missbilligung das Gesicht. Sie rümpfte sogar die Nase, obwohl es schwer zu sagen war, ob wegen des Geruches nach Lauge und Karbol oder weil sie von heftigem Widerwillen erfüllt war.
»Ja?«, fragte Hester. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ist dies ein … Haus, wo Sie verletzte Frauen aufnehmen, die … die …« Sie hielt inne, offensichtlich konnte sie das Wort nicht aussprechen, das ihr auf der Zunge lag.
»… Prostituierte sind«, vollendete Hester den Satz ein wenig schroff. »Ja. Sind Sie verletzt?«
Die Frau lief scharlachrot an vor Beschämung, dann wurde ihr Gesicht blutleer und grau. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür hinaus, die immer noch offen stand.
Bessie unterdrückte ein Lachen.
Im nächsten Augenblick stand eine andere junge Frau in der Tür, die ein völlig anderes Bild bot. Sie wirkte insgesamt sehr hell, hatte dichtes flachsblondes Haar, blasse Wimpern und Augenbrauen, aber eine gesunde Farbe im Gesicht, dessen Züge zu flach waren, um hübsch zu sein, jedoch eine Offenheit und Ausgewogenheit ausstrahlten, die sie auf Anhieb sympathisch machten. Offensichtlich war sie nervös und darum bemüht, ihre starken Gefühle in den Griff zu bekommen, aber sie zeigte kein Anzeichen einer Verletzung oder körperlicher Schmerzen. Die Qualität ihrer Kleider, die, obwohl sie pechschwarz waren, erkennen ließen, dass sie eine beträchtliche Summe dafür ausgab, und ihr Gebaren – Kopf hoch aufgerichtet, offener Blick – verrieten jedoch, dass sie keine Frau von der Straße war. Hester wurde verlegen, als ihr durch den Kopf ging, dass die erste Frau womöglich ihr Dienstmädchen gewesen war, das gegen seinen ausdrücklichen Willen dort in der Tür gestanden hatte. Vielleicht hätte sie sich ihre Bemerkung verkneifen sollen.
Sie stellte den Teller und den Löffel, mit dem sie Fanny gefüttert hatte, zur Seite und wandte sich der Besucherin zu. »Guten Abend. Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie hier verantwortlich?«, fragte die junge Frau. Ihre Stimme war tief und ein wenig heiser, als koste es sie so viel Mühe, ihre Gefühle im Zaum zu halten, dass es ihr schier den Hals zuschnürte, aber ihre Aussprache war vollkommen.
»Ja«, antwortete Hester. »Ich bin Hester Monk. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Livia Baltimore.« Sie atmete tief durch. »Ich habe gehört, dieses Haus« – sie vermied es geflissentlich, sich umzusehen – »sei ein Zufluchtsort für verletzte … Straßenmädchen? Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich irre. Ich wollte Sie nicht beleidigen, aber mein Dienstmädchen hat mir versichert, dies sei das richtige Haus.« Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, und ihr Körper war steif vor Anspannung.
»Es ist keine Beleidigung, Miss Baltimore«, erwiderte Hester ruhig. »Ich tue dies, weil ich es tun möchte. Die Medizin kümmert sich um die Bedürftigen, sie fällt keine sozialen Urteile.« Sie war unsicher, ob sie etwas über Nolan Baltimores Tod sagen sollte oder nicht, und zögerte, doch ihr Instinkt siegte. »Mein Beileid, Miss Baltimore. Bitte kommen Sie herein.«
»Vielen Dank.« Sie schaute sich noch einmal um, dann schloss sie die Tür. »Vielleicht können Sie mir helfen …«
»Wenn ich etwas darüber wüsste, hätte ich es bereits der Polizei gesagt«, erwiderte Hester, drehte sich um und ging zum Tisch zurück. Sie wusste, was Livia Baltimore hier suchte. Es war nur natürlich und zeigte großen Mut, wenn auch wenig Klugheit. Sie hatte Mitleid mit der jungen Frau, die schmerzlich würde erkennen müssen, welche Orte ihr Vater, zu welchem Zweck auch immer, aufgesucht hatte. Wäre sie zu Hause geblieben, hätte sie ihre Gefühle, ihre Träume, ihren Kummer sehr viel sicherer bewahren können. Aber vielleicht wollte sie nicht nur Informationen sammeln, sondern konnte auch welche geben. Selbst wenn das Leben ihres Vaters ihr größtenteils fremd gewesen war, konnte sie doch etwas über seine Persönlichkeit sagen.
»Bitte, setzen Sie sich«, bat Hester sie. »Möchten Sie einen Tee? Es ist ein scheußlicher Abend.«
Livia nahm dankend an. Offensichtlich hatte sie das Dienstmädchen fortgeschickt, damit es in der Kutsche auf sie warten konnte, wenn sie denn in einer Kutsche gekommen war. Entweder wollte Livia dieses Gespräch unter vier Augen führen, oder aber das Dienstmädchen hatte sich geweigert, an einem solchen Ort zu bleiben. Womöglich auch beides.
Schwer atmend füllte Bessie den Kessel aus einem Wasserkrug auf dem Boden wieder auf und stellte ihn auf den Ofen. »Dauert aber ein paar Minuten«, murrte sie. Sie spürte die Herablassung der jungen Frau und nahm sie ihr übel.
»In Ordnung«, meinte Hester, dann wandte sie sich Livia zu. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was Mr. Baltimore zugestoßen ist«, sagte sie vorsichtig. »Ich kümmere mich hier nur um Verletzungen und Krankheiten. Ich stelle keine Fragen.«
»Aber Sie müssen doch etwas gehört haben!«, drängte Livia. »Mir erzählt die Polizei ja nichts. Meinem Bruder haben sie gesagt, es beträfe eine Frau, die womöglich verletzt wurde.«
Ihre schwarz behandschuhten Hände, die auf ihrem Ridikül lagen, ballten sich ein ums andere Mal zu Fäusten. »Vielleicht hat er gesehen, dass eine Frau angegriffen wurde, und hat versucht, ihr zu helfen, und dann sind sie über ihn hergefallen?« In ihrem Blick brannte die Verzweiflung. »Wenn dem so war, wäre sie doch sicher hierher gekommen?«
»Ja«, stimmte Hester ihr zu, da sie wusste, dass sie zwar Recht hatte, aber dennoch ganz falsch lag.
»Dann hätten Sie sie doch gesehen, oder Ihre Mitarbeiterin?« Livia nickte halb in Bessies Richtung, die mit verschränkten Armen neben dem Ofen stand.
»Ich hätte sie gesehen«, räumte Hester ein. »Aber hierher kommen jede Nacht mehrere Frauen, alle sind verletzt … oder krank.«
»Aber in dieser Nacht … in der Nacht, in der er … umgebracht wurde?« Livia beugte sich ein wenig über den Tisch, in ihrem Eifer vergaß sie ihren Widerwillen. »Wer war hier? Wer war verletzt und hat den … Mörder vielleicht gesehen?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Wollen Sie keine Gerechtigkeit, Mrs. Monk? Mein Vater war ein guter, anständiger Mann. Und großzügig. Er hat sehr hart gearbeitet für das, was er besaß, und er liebte seine Familie! Kümmert es Sie gar nicht, dass jemand ihn getötet hat?«
»Doch, natürlich macht es mir etwas aus«, antwortete Hester und überlegte, wie sie der Frau, die fast noch ein Kind war, antworten sollte, ohne sie mit Tatsachen zu konfrontieren, die sie weder begreifen noch glauben konnte. »Kein Mord lässt einen unberührt.«
»Dann helfen Sie uns!«, flehte Livia. »Sie kennen diese Frauen. Erzählen Sie mir etwas!«
»Nein, ich kenne sie nicht«, widersprach ihr Hester. »Ich kümmere mich, so gut ich kann, um ihre Verletzungen … das ist alles.«
Livia machte große Augen. »Aber …«
»Durch diese Tür da kommen sie herein.« Hester nickte zur Haustür. »Manchmal habe ich sie schon einmal gesehen, manchmal auch nicht. Entweder haben sie Schnittverletzungen, blaue Flecken oder Knochenbrüche oder leiden unter schweren Infektionen, meist Syphilis oder Tuberkulose oder aber etwas anderem. Ich frage sie nur nach ihrem Vornamen, um sie irgendwie ansprechen zu können. Ich tue, was ich kann, und das ist oft nicht viel. Wenn es ihnen einigermaßen gut geht, verlassen sie uns wieder.«
»Aber wissen Sie denn nicht, wo sie sich ihre Wunden zugezogen haben?«, hakte Livia mit schriller Stimme nach. »Sie müssen doch wissen, was passiert ist!«
Hester blickte auf die Tischplatte. »Ich muss nicht fragen. Entweder ist ein Kunde wütend geworden, oder sie haben ein bisschen Geld für sich behalten, und der Zuhälter hat sie geschlagen«, antwortete sie. »Und ab und zu geraten sie in Streit, weil sich eine auf fremdem Terrain etwas verdient hat. Die Konkurrenz ist hart, warum auch immer – aber für das, was ich hier tue, spielt es keine Rolle.«
Livia begriff das offensichtlich nicht. Es war eine Welt, auch eine Sprache, die jenseits ihrer Erfahrung und ihrer Vorstellungskraft lag. »Was ist ein – Zuhälter?«
»Der Mann, der sich um die Frauen kümmert«, erklärte Hester. »Und den größten Teil von dem kassiert, was sie verdienen.«
»Aber warum?« Livias Augen drückten blankes Unverständnis aus.
»Weil es gefährlich ist für eine Frau, die auf sich gestellt ist«, erklärte Hester. »Die meisten haben keine andere Wahl. Die Zuhälter besitzen die Häuser, in gewisser Weise besitzen sie auch die Straßen. Sie halten andere davon ab, den Frauen was zu tun, aber wenn sie glauben, sie wären faul oder würden sie betrügen, dann schlagen sie die Frauen, normalerweise aber nur so viel, dass sie keine Narben im Gesicht haben und noch fit sind zum Arbeiten. Nur ein Narr zerstört, was er besitzt.«
Livia schüttelte den Kopf, als müsste sie den Gedanken loswerden. »Und wer hat sie dann verletzt, wenn sie zu Ihnen kommen?«
»Ein Freier vielleicht, der betrunken ist und nicht merkt, wie stark er ist, oder der einfach die Kontrolle verloren hat«, sagte Hester. »Manchmal auch andere Frauen. Oft kommen sie mit Infektionen.«
»Tuberkulose bekommen viele«, sagte Livia. »Menschen aller Art. Ich hatte eine Cousine, die daran gestorben ist. Sie war erst achtundzwanzig. Man nennt das den weißen Tod, nicht wahr.« Es war eine Feststellung. »Und das andere ist …« Sie würde es nicht aussprechen. Ihre Verlegenheit bei diesem Thema war zu tief, um wirklich offen zu sein. Schließlich brachte sie es über sich, sich in dem Raum mit den weiß getünchten Wänden und den Schränken, von denen einige verschlossen waren, umzusehen.
Hester bemerkte es. »Karbol, Lauge, Pottasche, Essig«, sagte sie. »Zum Saubermachen. Und Tabak. Den halten wir unter Verschluss.«
Livia machte große Augen. »Tabak? Sie lassen die Leute rauchen? Sogar Frauen?«
»Zum Abbrennen«, erklärte Hester. »Tabak ist ein gutes Ausräucherungsmittel, besonders wenn wir es mit Läusen oder Zecken oder Ähnlichem zu tun haben.«
Livia verzog das Gesicht, als könnte sie den Gestank bereits riechen. »Ich möchte nur wissen, was Sie gesehen haben«, bat sie. »Was ist meinem Vater zugestoßen?«
Hester musterte die Jugend in den weichen Linien ihrer Wangen und ihres Halses, die faltenlose Haut, den ernsten Blick. Doch schon hatte der Schatten des Kummers sie berührt; um ihre Augen lagen dunkle Ränder, die Haut war wie Papier, ihr Mund verkniffen. Die Welt war anders als noch vor ein paar Tagen, ihre Unschuld war für immer verloren.
Hester suchte nach Worten, die das Mädchen – denn mehr war sie, trotz ihrer Jahre, nicht – von ihrem Vorhaben abbringen und sie zurück in ihr Leben schicken würden, damit sie glauben konnte, was sie glauben wollte. Wenn es keinen Prozess gab, würde sie nie erfahren müssen, was ihr Vater in der Leather Lane gemacht hatte. »Lassen Sie das die Polizei herausfinden, falls es ihr gelingt«, sagte sie laut.
»Die findet nichts!«, antwortete Livia ungehalten. »Mit der reden diese Frauen nicht! Warum auch? Sie kennen den Mörder. Sie trauen sich bloß nicht, ihn zu verraten.«
»Wie war Ihr Vater denn so?«, fragte Hester und bereute es im selben Augenblick. Es war eine dumme Frage. Was sagte eine Frau über ihren toten Vater? Dass er so war, wie sie ihn haben wollte, die Wirklichkeit verzerrt durch Verlust, Loyalität und ein Gefühl für Schicklichkeit, das einem verbietet, etwas Schlechtes über einen Toten zu sagen. »Ich meine, warum sollte er in der Nacht in die Leather Lane gekommen sein«, fügte sie hinzu.
Aus Verlegenheit ging Livia in die Defensive. »Ich weiß nicht. Es muss wegen etwas Geschäftlichem gewesen sein.«
»Und was sagt Ihre Mutter?«
»Wir reden nicht darüber«, antwortete Livia, als wäre es das Natürlichste der Welt. »Mama ist leidend. Wir versuchen, alles Unangenehme oder Erschütternde von ihr fern zu halten. Jarvis, mein Bruder, sagt, er habe sich sicher mit jemandem getroffen, vielleicht hätte es etwas mit den Streckenarbeiten zu tun oder so. Mein Vater besaß eine Eisenbahngesellschaft. Sie haben ein neues Gleis gebaut, das fast fertig ist. Es führt von den Docks hier in London bis hinauf nach Derby. Und wir haben auch eine Fabrik in der Nähe von Liverpool, wo Eisenbahnwaggons gebaut werden. Vielleicht traf er sich mit jemandem, um über Arbeiter, Stahl oder Ähnliches zu sprechen?«
Hester konnte ihr nicht in die Augen sehen und antworten. Solche Geschäfte führten Männer normalerweise nicht bei Nacht in die Leather Lane, aber welchen Sinn hatte es, Baltimores Tochter darauf hinzuweisen? »Darüber wissen diese Frauen nichts«, sagte sie stattdessen. »Sie schlagen sich mühselig durch, indem sie ihren Körper verkaufen, und sie bezahlen einen hohen Preis dafür …« Wieder sah sie Unverständnis. »Sie meinen, sie sollten in einer Fabrik arbeiten? In so einem Ausbeutungsbetrieb? Wissen Sie, was die bezahlen?«
Livia zögerte. »Nein …«
»Oder wie viele Stunden man dort arbeitet?«
»Nein … aber …«
»Es ist redlich, nicht wahr?« In Hesters Stimme schwang unbeabsichtigt eine Spur Verachtung mit, und an Livias Gesicht war abzulesen, dass es sie verletzte. »Bei den paar Kröten, die sie für vierzehn oder fünfzehn Stunden Arbeit am Tag bekommen, können sie sich es nicht leisten, redlich zu sein«, sagte sie schon freundlicher, aber immer noch mit Wut in der Stimme – nicht auf Livia, sondern auf die Tatsachen. Sie sah, wie sich Livias Augen weiteten. »Besonders wenn sie Kinder haben, um die sie sich kümmern müssen, oder Schulden«, fügte Hester hinzu. »Auf der Straße können sie jede Nacht ein oder zwei Pfund verdienen, selbst wenn sie ihrem Zuhälter seinen Teil abgeben.«
»Aber …«, setzte Livia noch einmal an und blickte zu Fanny, die zusammengerollt im Bett lag.
»Die Risiken? Verletzungen, Krankheit, die Unerfreulichkeit des Ganzen?«, fragte Hester. »Gehen Sie einmal in eine solche Tretmühle und schauen Sie, ob Sie es dort besser finden. Die sind eng, schlecht beleuchtet und überfüllt. Dort gibt's genauso viele Krankheiten wie hier. Andere vielleicht, aber bestimmt keinen Deut besser. Tot ist tot, egal, wodurch.«
»Können Sie mir denn überhaupt nicht helfen?«, fragte Livia leise, Schock und etwas wie Demut in der Miene. »Sie wenigstens fragen?«
»Fragen kann ich sie«, versprach Hester, erneut von Mitleid überwältigt. »Aber versprechen Sie sich bitte nicht zu viel davon. Ich glaube nicht, dass jemand etwas weiß. Und wenn es um Geschäftliches ging, haben diese Frauen natürlich überhaupt nichts damit zu tun. Die Polizei sagt, er wurde in Abel Smiths … Haus … in der Leather Lane gefunden, aber Abel schwört, dass keine seiner Frauen ihn umgebracht habe. Vielleicht sagen sie die Wahrheit, und er wurde von dem umgebracht, mit dem er sich dort treffen wollte?« Sie sprach nur äußerst ungern aus, was sie im Grunde für eine Lüge hielt. Aber sehr wahrscheinlich würde man nie herausfinden, wer Baltimore umgebracht hatte, ganz zu schweigen davon, warum, also konnte seine Tochter ruhig an ihren trügerischen Hoffnungen festhalten.
»So war es bestimmt«, sagte Livia und klammerte sich an die Hoffnung wie an einen Rettungsring. »Vielen Dank für Ihre Logik und Ihren gesunden Menschenverstand, Mrs. Monk.«
Hester wollte den gewonnenen Vorteil nutzen, auch in Livias Sinn. »Könnte Ihr Bruder nicht aufhören, Druck auf die Polizei auszuüben, damit sie die Frauen von der Straße vertreiben?«, schlug sie vor. »Womöglich haben sie gar nichts damit zu tun, und je mehr sie bedrängt werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie überhaupt etwas sagen.«
»Aber wenn sie nichts wissen …«, setzte Livia an.
»Gesehen haben sie vielleicht nichts«, räumte Hester ein. »Aber sie kriegen einiges mit. An Orten wie diesen sprechen sich die Dinge schnell herum.«
»Ich weiß nicht. Jarvis hört nicht auf …«
Bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte, flog die Haustür weit auf, und ein junger Mann schrie wie panisch um Hilfe. Sein Gesicht war weiß, sein Haar hing ihm regennass in die Augen, und seine dünnen Kleider klebten ihm feucht an der schmalen Brust.
Livia wirbelte herum, und Hester erhob sich in dem Moment, als noch ein sehr viel größerer Mann hereingetaumelt kam, der eine Frau in den Armen hielt. Sie war so blass, dass ihre Haut im Licht der Gaslaternen wie durchsichtig aussah. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf baumelte herum, als sei sie bewusstlos.
»Legen Sie sie hierher.« Hester zeigte auf den großen leeren Tisch.
»Ham Sie noch nich' mal 'n Bett?« Der Große unterdrückte ein Schluchzen. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut, die aber weniger schmerzte als das Entsetzen, das ihn gepackt hatte.
Hester war an außer Kontrolle geratene Gefühle gewöhnt. Weder urteilte sie darüber, noch reagierte sie auf Ungerechtigkeiten.
»Ich muss erst sehen, was mit ihr los ist«, erklärte sie. »Dafür brauche ich eine feste Unterlage und genügend Licht. Legen Sie sie hierher.«
Er gehorchte. Sein Blick beschwor sie, ihr zu helfen und ihm für das Unvorstellbare eine Erklärung zu geben.
Hester betrachtete das Mädchen, das vor ihr lag. Der Mann hatte sie so vorsichtig wie möglich niedergelegt, aber es war klar, dass ihre Knochen gebrochen waren. Ihre Arme und Beine waren ganz verdreht; das Gewebe schwoll an, und die blauen Flecke wurden so schnell dunkler, dass man zuschauen konnte. Die Venen im Hals und in den Schultern des Mädchens traten blau aus der gräulich-weißen Haut hervor. Sie atmete, aber ihre Augenlider flatterten nicht einmal.
»Können Sie ihr helfen?«, wollte der Mann wissen. Der Junge war neben ihn getreten.
»Ich versuche es«, versprach Hester. »Was ist passiert? Wissen Sie es?«
»Jemand hat sie fast zu Tode geprügelt!«, explodierte er. »Können Sie das nicht sehen? Sind Sie blind oder was?«
»Ja, das sehe ich«, sagte Hester und sah nicht ihn, sondern die Frau an. »Ich möchte wissen, wie lange es her ist, dass Sie sie gefunden haben, und ob sie Schnitt- oder Stichwunden hat. Wenn Sie mir das sagen können, ohne dass ich sie bewegen muss, umso besser. Ich sehe, was mit ihren Armen und Beinen los ist. Was ist mit ihrem Leib? Haben Sie gesehen, wo sie geschlagen oder getreten wurde?«
»Meine Güte, Lady! Glauben Sie wirklich, ich hätte das zugelassen? Ich hätte d… den Schweinehund umgebracht, wenn ich d… dort gewesen wäre«, stotterte er, in dem vergeblichen Versuch, die richtigen Worte für die ihn verzehrende Wut zu finden. »Wenn Sie ihr nicht helfen können, dann tun Sie ihr wenigstens nicht noch mehr weh, verstanden?«
Hester legte ihre Hände sehr vorsichtig auf die Arme der Frau und tastete nach den Kanten der Knochen, wo das Gewebe bereits unförmig und zerstört war. Sie stellte einen Bruch am linken Arm fest und zwei am rechten. Das linke Knie war geschwollen, und im linken Fuß waren mindestens zwei kleinere Knochen gebrochen. Das Schlüsselbein war auf einer Seite gebrochen, aber da konnte sie kaum etwas tun. Sie schnitt das Mieder des Mädchens auf, wodurch ein purpurfarbener Fleck sichtbar wurde, der mindestens fünfzehn Zentimeter breit über die Rippen verlief und sich bis über die Taille erstreckte. Genau das hatte sie gefürchtet – innere Blutungen, die sie nicht stillen konnte. Sie wusste einiges über Anatomie. Das meiste davon hatte sie auf dem Schlachtfeld gelernt, indem sie aufgerissene Körper betrachtete hatte, statt ein ordentliches Medizinstudium zu absolvieren, wo man in Ruhe Leichen sezieren konnte. Den Verlauf der Hauptarterien kannte sie auch und wusste, was geschehen konnte, wenn sie verletzt wurden.
»Tun Sie was! Verdammt!«, sagte der Mann verzweifelt und verlagerte erregt seinen immensen Körper immerzu von einem Fuß auf den anderen.
Ohne ihm zu antworten, fuhr Hester fort, so viel wie möglich herauszufinden, ohne den zerschmetterten Körper der Frau zu bewegen. Sie wünschte, Margaret wäre da, um ihr zu helfen. Bessie war nett, aber sie besaß nicht Margarets innere Ruhe und deren sichere Hand. Sie identifizierte sich zu sehr mit den Frauen, unter denen sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Sie sah den Schmerz und die Angst von innen, und das raubte ihr die Leidenschaftslosigkeit, die man bei kritischen Verletzungen wie diesen brauchte, um praktische Hilfe leisten zu können.
»Suchen Sie Mr. Lockhart«, ordnete sie an und sah die Erleichterung in Bessies Miene, dass sie etwas Nützliches tun und gleichzeitig der schrecklichen Situation entkommen konnte. Sie war so schnell aus der Tür, dass sie nicht einmal mehr nach ihrem Hut griff.
»Miss Baltimore!«, sagte Hester entschlossen. »Wären Sie so freundlich, mir die Binde dort auf dem Tisch zu reichen? Und dann holen Sie mir eine Schiene aus dem Schrank da drüben.« Sie zeigte mit der anderen Hand darauf. »Nein, gleich drei.«
Sehr langsam stand Livia auf. Sie sah so blass aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.
»Bitte machen Sie schnell«, wies Hester sie an und streckte die Hand aus.
Livia gehorchte, bewegte sich aber immer noch wie in Trance, hantierte mit dem Verband herum, rollte die Enden ein und ging dann zum Schrank hinüber. Nach einem Augenblick kam sie mit drei Schienen zurück und reichte eine Hester.
Hester griff danach. »Würden Sie jetzt bitte die Schultern des Mädchens festhalten. Lehnen Sie sich über sie. Sie muss ganz ruhig liegen.«
»Was?«
»Tun Sie's einfach! Drücken Sie mit Ihrem Gewicht auf ihre Schultern. Halten Sie sie fest, aber vorsichtig.« Sie schaute auf. »Machen Sie schon! Ich werde die Knochen richten, damit sie so gerade wie möglich wieder zusammenwachsen. Jemand muss sie festhalten. Es ist sehr viel besser, das zu tun, solange sie sowieso bewusstlos ist. Können Sie sich vorstellen, wie weh ihr das tut, wenn wir sie so liegen lassen, bis sie wieder zu sich kommt?«
Livia stand wie angewurzelt da.
»Sie können sich dabei nicht anstecken! Tun Sie's einfach!«, fuhr Hester sie an. »Ich kann es nicht allein. Sie sind hergekommen, um herauszufinden, wer Ihren Vater umgebracht hat. Wenn Sie es nicht einmal über sich bringen, sich diese Welt genauer anzuschauen, wie wollen Sie dann etwas darüber in Erfahrung bringen? Sie möchten, dass diese Menschen Ihnen helfen? Dann sollten Sie besser selbst mal zupacken.«
Livia sah immer noch so aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, aber sie legte der Frau langsam die Hände auf die Schultern und beugte sich vor, um ihr Körpergewicht zu verlagern.
»Vielen Dank«, sagte Hester. Dann nahm sie vorsichtig den Unterarm, wo sie das widerliche Knirschen der Knochen spürte, und zog den Arm gerade. Der junge Mann reichte ihr die Schiene und die Bandagen, legte sie mit sanften Händen an den Arm, und sie band sie so fest, wie sie es wagte, zusammen. Zum Glück war die Haut unverletzt, sodass es keine Infektionen durch Schmutz geben konnte, aber sie wusste sehr wohl, dass sie womöglich beträchtliche innere Blutungen hatte, gegen die sie nichts tun konnte.
Mit Livias verschreckter, zögerlicher Hilfe richtete sie auch die übrigen Knochen. Der große Mann schürte das Feuer und holte mehr Wasser. Hester machte Umschläge für die gebrochenen Rippen und das Schlüsselbein und legte sie vorsichtig darauf.
»Jetzt können wir nur noch abwarten«, sagte sie schließlich.
»Wird sie wieder gesund?«, fragte der große Mann.
»Ich weiß nicht«, sagte Hester aufrichtig. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.«
»Ich …« Er schluckte. »Es tut mir Leid, wenn ich vorhin ein bisschen schroff war. Sollte 'n Auge auf sie haben, aber sie gehört nich' hierher. Die halbe Zeit hab ich keine Ahnung, was sie treibt.« Er fuhr sich mit seiner breiten Hand über das Gesicht, wie um die Gefühle wegzuwischen. »Heiliger Strohsack! Warum musste die blöde Kuh ihr Maul auch so aufreißen? Wie oft hab ich ihr gesagt, sie soll die Klappe halten! Manche haben einfach nicht den Verstand eines Neugeborenen! Diese Schweine glauben, mit einer halben Krone könnte man deine Seele kaufen. Scheißkerle!« Aus seiner Kehle drang ein tiefes Knurren, als wollte er sich räuspern und ausspucken, dann überlegte er es sich anders.
»Sie können jetzt erst einmal nichts mehr für sie tun«, sagte Hester sanft. »Sie können ruhig nach Hause gehen.« Sie wandte sich an Livia Baltimore. »Und Sie auch. Steht denn Ihre Kutsche noch irgendwo in der Nähe?«
»Ja«, erwiderte Livia leise. Hester fragte sich, welchen Empfang das Dienstmädchen ihr bereiten würde. Wahrscheinlich würde es die Missbilligung, die es nicht auszusprechen wagte, durch eisiges Schweigen zum Ausdruck bringen. Aber sie könnte auch am Morgen kündigen – und die leidende Mrs. Baltimore mit einem empörten Bericht über die ganze Episode völlig aus der Fassung bringen. Um damit zurechtzukommen, würde Livia all ihren Mut und ihre Geduld brauchen.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Hester mit einem angedeuteten Lächeln. »Falls ich etwas erfahre, was Ihnen helfen könnte, sage ich es der Polizei.«
Livia nahm eine Karte aus ihrem Ridikül und reichte sie Hester.
»Bitte. Schreiben Sie, oder kommen Sie einfach vorbei.«
»Das werde ich«, versprach Hester.
»Ich bringe Sie zu Ihrer Kutsche«, bot der Mann an.
Über Livias Miene huschten Schreck und Erleichterung, und dann blitzte vielleicht sogar ein wenig Humor auf. »Vielen Dank«, sagte sie und trat, von dem Mann gefolgt, aus der Tür hinaus auf den Coldbath Square.
Zehn Minuten später kam Bessie mit Lockhart herein, müde und ungepflegt wie immer, aber in voller Bereitschaft zu helfen.
»Sie essen nicht richtig!«, schimpfte Bessie. Offensichtlich hatte sie ihm den ganzen Weg über zugesetzt. »Sie brauchen 'ne ordentliche Fleischpastete!« Sie ging zum Ofen hinüber. »Ich bring Ihnen 'ne Tasse heißen Tee. Mehr kann ich nich' für Sie tun. Is' Ihre eigene Schuld!« Sie führte nicht weiter aus, was sie damit meinte, und Lockhart warf Hester einen gequälten Blick zu, in dem auch Zuneigung lag. Er verstand Bessie besser als sie sich selbst.
Hester erklärte ihm, was sie für das Mädchen getan hatten, und führte ihn hinüber zu ihr.
Er sah sie sich lange und gründlich an, aber das eine, was Hester unbedingt wissen wollte – ob sie innere Blutungen hatte –, konnte er ihr auch nicht sagen.
»Es tut mir Leid«, sagte er kopfschüttelnd und betrachtete das Mädchen voller Mitleid. »Ich weiß es einfach nicht. Aber wenn sich ihr Zustand bis zum Morgen nicht verschlechtert, überlebt sie es vielleicht. Ich schaue gegen Mittag noch einmal herein. Bis dahin können Sie genauso viel für sie tun wie ich. Die Knochen haben Sie jedenfalls gut hingekriegt.«
Es war kurz nach sieben und volles Tageslicht, als Hester aufwachte. Bessie stand mit strahlenden Augen über ihr, ihr Haar löste sich aus seinem festen Knoten, und ihr Kleid war noch zerknitterter als gewöhnlich.
»Sie ist zu sich gekommen!«, sagte sie in ihrem durchdringenden Flüsterton. »Sieht nicht allzu gut aus, das arme Ding. Sie sollten besser nach ihr sehen. Der Kessel ist schon auf'm Herd. Sie sehen aber selbst aus wie aus der Leichenhalle.«
»Vielen Dank«, sagte Hester trocken, setzte sich auf und zuckte zusammen. Ihr Kopf hämmerte, und sie war so müde, dass sie sich schlimmer fühlte, als bevor sie sich hingelegt hatte. Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Ihr Blick fiel auf das Mädchen in dem anderen Bett nur wenige Meter weiter. Sie lag mit offenen Augen da, und ihr Gesicht war so weiß, dass es kaum wärmer schien als das Kissen.
»Nicht bewegen«, sagte Hester sanft. »Hier sind Sie sicher.«
»Ich bin innen drin ganz zerbrochen.« Das Mädchen hauchte die Wörter eher, als dass es sie aussprach. »Himmel, tut das weh!« Ihre Stimme war weich, ihre deutliche Aussprache zeigte, dass sie zum Gesinde gehörte.
»Ich weiß, aber mit der Zeit wird es besser«, versprach Hester und hoffte, dass das auch stimmte.
»Nein«, sagte das Mädchen resigniert. »Ich sterbe. Das ist wohl meine Strafe.« Sie schaute Hester nicht an, sondern blickte mit leeren Augen an die Decke.
Hester berührte die Hand des Mädchens sehr sanft. »Ihre Knochen werden heilen«, erklärte sie ihr. »Ich weiß, dass es jetzt wehtut, aber das wird besser. Wie soll ich Sie nennen?«
»Alice.« Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie war zu schwach und zu müde, um zu schluchzen. Sie war so verletzt, dass Hester sie unmöglich in den Arm nehmen konnte.
»Ruhen Sie sich aus«, sagte Hester, die gerne mehr für die junge Frau getan hätte. »Hier sind Sie sicher. Wir lassen Sie nicht allein. Gibt es jemanden, dem ich Bescheid sagen soll?«
»Nein!« Sie schaute Hester mit verängstigten Augen an. »Bitte!«
»Wenn Sie es nicht möchten«, versprach Hester, »dann tue ich's auch nicht. Keine Sorge!«
»Ich will nicht, dass man es erfährt«, fuhr Alice fort. »Lassen Sie mich einfach hier sterben, und begraben Sie mich … da, wo Sie Menschen begraben, die niemand kennt.« Sie sagte es ohne Selbstmitleid. Sie bat um das Ende, wollte keine Hilfe, sondern allein sein.
Hester hatte keine Ahnung, ob das Mädchen sich erholen würde oder nicht. Sie war unsicher, ob sie ihr helfen konnte, und wenn ja, wie. Vielleicht war es das Beste, sie allein zu lassen, aber das konnte sie nicht. Ihr eigener Lebenswille nötigte sie zu verhindern, dass ein anderer aufgab. Etwas anderes war, sich geschlagen zu geben, aber so weit war sie noch nicht.
»Wer hat Ihnen das angetan?«, fragte sie. »Möchten Sie den nicht aufhalten, bevor er jemand anderem etwas antut?«
Alice drehte den Kopf ein wenig zur Seite. »Den können Sie nicht aufhalten. Das kann niemand.«
»Man kann jeden aufhalten, wenn man weiß, wie, und wenn genug von uns es versuchen«, sagte Hester entschlossen. »Wenn Sie mithelfen. Wer ist er?«
Alice wandte den Blick wieder ab. »Es geht nicht. Er ist im Recht. Ich schulde ihm Geld. Ich habe zu viel geborgt, und dann konnte ich es nicht zurückzahlen.«
»Wem? Ihrem Zuhälter?«
Alice starrte an die Decke. »Ich kann es Ihnen genauso gut sagen. Jetzt kann er mir nichts mehr tun. Aber seinen Namen kenne ich nicht, nicht seinen richtigen Namen. Damals war ich anständig, ich war Gouvernante! Können Sie sich das vorstellen? Ich habe Kinder feiner Leute unterrichtet. In Kensington. Dann habe ich mich verliebt.« In ihrer Stimme war unermessliche Bitterkeit, und sie sprach so leise, dass Hester Mühe hatte, sie zu verstehen. »Wir haben geheiratet. Sechs glückliche Monate hatten wir … dann wurde mir klar, dass er spielte. Könnte nichts dagegen tun, sagte er. Vielleicht hatte er Recht. Jedenfalls hörte er nicht auf … und fing an zu verlieren.« Sie atmete tief durch und keuchte auf vor Schmerz. Erst nach einem Moment konnte sie weitersprechen.
Hester wartete.
»Ich habe Geld geborgt, um seine Schulden zu zahlen … dann verließ er mich«, sagte Alice. »Und das Geld musste ich immer noch zurückzahlen. Damals sagte der Geldverleiher, er könnte dafür sorgen, dass man sich um mich kümmert … insbesondere … wenn ich in dieses Bordell gehen würde. Es ist für Männer, die saubere Mädchen möchten … die sich gepflegt unterhalten und sich erstklassig benehmen. Man verdiene dort viel mehr. So könnte ich meine Schulden begleichen und wäre frei.«
»Und das taten Sie dann …«, sagte Hester langsam. Es war sehr leicht nachzuvollziehen – Angst, Versprechungen, Flucht vor der Ausweglosigkeit. Der verlangte Preis konnte nicht schlimmer sein als die Alternative.
»Zuerst nicht«, antwortete Alice. »Drei Monate lang weigerte ich mich. Bis dahin waren die Schulden um das Doppelte angewachsen. Das war vor zwei Jahren.« Sie verstummte.
Bessie kam mit einer Tasse Fleischbrühe herüber. Ihre Augen blickten fragend.
Hester sah Alice an. »Versuchen Sie ein wenig«, sagte sie.
Alice reagierte nicht. Sie war in Gedanken bei dem Schmerz, der erlittenen Niederlage, vielleicht bei den Kränkungen, die mehr waren, als sie hatte ertragen können.
Hester legte Alice den Arm um die Schulter und hob sie wenige Zentimeter an. Das Mädchen stöhnte auf vor Schmerzen, aber sie wehrte sich nicht. Wie Blei lag sie in Hesters Armen, die geschienten Arme steif von sich gestreckt, den Körper starr.
Die Stirn in Sorgenfalten gelegt, hielt Bessie ihr die Tasse an die Lippen, so sanft, dass ihre Berührung kaum mehr war als ein wenig Wärme.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis Alice die Brühe getrunken hatte, und Hester hatte keine Ahnung, ob sie ihr gut getan hatte oder nicht, aber was hätten sie sonst tun sollen?
Alice fiel in einen ruhelosen Schlaf. Um kurz vor neun kam Margaret, deren Begeisterung über die aufgetriebenen Spendengelder in dem Augenblick schwand, in dem Hester ihr erzählte, was in der Nacht geschehen war.
»Das ist ungeheuerlich!«, schimpfte sie. »Sie meinen, da draußen leiht jemand anständigen Frauen, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken, Geld, und dann verlangt er, dass sie es zurückzahlen, indem sie in einem Bordell arbeiten, das von Männern aufgesucht wird, die Frauen wollen, die sie für anständig halten … um … Gott weiß was zu treiben!«
»Und jetzt, wo die Polizei überall herumläuft, fehlen ihnen die Einkünfte, um ihre Schulden abzuzahlen, und sie werden geschlagen«, setzte Hester die Tirade fort. »Das ist ja genau das, was ich meine. Fanny gehört womöglich auch dazu, nur dass sie zu verängstigt ist, um es uns zu erzählen.« Sie dachte an Kitty, die sich auch gut ausgedrückt und einen gewissen Stolz gezeigt hatte. »Weiß der Himmel, wie viele es noch sind.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Margaret. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass sie etwas tun würden. Und von Hester erwartete sie das Gleiche; es war ihrer Miene und ihrem tapferen, offenen Blick deutlich anzusehen.
Hester wollte sie nicht enttäuschen, ebenso wenig wie diese Frauen, die darauf vertrauten, dass sie etwas unternehmen konnte, was die Frauen nicht konnten. Aber das war belanglos. Über allem schwebte das Böse, das, wie Hester sich leicht vorstellen konnte, Hunderten von Frauen, die sie kannte, hätte passieren können – oder auch ihr selbst, wäre das Schicksal nur ein wenig anders verlaufen.
»Ich weiß nicht«, gestand sie. »Noch nicht. Aber ich lasse mir etwas einfallen.« Sie würde Monk fragen. Er war klug und einfallsreich, und er gab niemals auf. Der Gedanke, dass er ihr sicher helfen würde, beruhigte sie. Er würde diese Sache mit der gleichen Leidenschaft verabscheuen wie sie. »Ich lasse mir etwas einfallen«, wiederholte sie.