8

Monk war erschöpft, als er auf dem Bahnhof in London ankam. Er hatte Schmerzen, sodass er nichts anderes wollte, als nach Hause zu gehen, wenn möglich ein heißes Bad zu nehmen, dann mehrere Tassen Tee zu trinken, ins Bett zu gehen und sich zwischen sauberen Laken auszustrecken. Am besten wäre, wenn Hester neben ihm liegen, alles verstehen und ihn weder kritisieren noch ihm Vorwürfe machen würde, aber das war unmöglich. Dazu dürfte sie kein moralisches Gewissen besitzen. Doch was für ein Mensch wäre sie dann, wäre sie dann überhaupt eine reale Person? Wenn sie einfach nur da wäre, freundlich und warm im Dunkeln, ohne seine Ängste zu spüren.

So würde es nicht sein, denn natürlich würde sie wissen, was er empfand: Angst vor der Wahrheit, Angst davor, Habgier und Feigheit in sich zu entdecken, die er verachten würde, oder Betrug, für den es keine Entschuldigung gab. Größer als sein Unrecht gegenüber Dundas war sein Unrecht gegenüber sich selbst, gegenüber allem, was er seit dem Unfall aus seinem Leben gemacht hatte. Hätte sie das nicht gewusst, in welchem Sinne wäre sie dann wirklich da gewesen? Gar nicht. Dann könnte sie genauso gut woanders sein. Sie würden miteinander reden, sich berühren, sich sogar lieben, aber sein Herz würde vollkommen allein bleiben. Diese Einsamkeit wäre schlimmer, als wären sie nie zusammengekommen, denn sie wäre eine Negation all dessen, was wirklich und wichtig gewesen war.

Er würde also in eine öffentliche Badeanstalt gehen und sich einfach ein neues Hemd kaufen. Er würde einen Barbier aufsuchen, damit er ordentlich aussah, um am Nachmittag Katrina Harcus zu treffen und ihr zu sagen, dass man Michael Dalgarno nichts nachsagen konnte, was unter Geschäftsleuten nicht gängige Praxis war. Es gab keine Aufzeichnung darüber, dass er auf eigenen Namen Land ge- oder verkauft oder außerhalb seiner Firmentätigkeit Profit gemacht hatte.

Monk würde auch berichten, dass er Erkundigungen eingezogen hatte über den Unfall, von dem Baltimore und Söhne vor sechzehn Jahren am Rande betroffen gewesen war, und dass der Landbetrug, den man einem ihrer Bankangestellten nachgewiesen hatte, damit nichts zu tun hatte. Der Grund für diese Tragödie war nicht bekannt, aber die Gleise waren repariert worden und wurden heute noch befahren. Sie waren genauestens untersucht worden, und man hatte keine Fehler oder Unzulänglichkeiten entdeckt.

Er war so müde, dass er sich nach Schlaf sehnte, selbst auf einer Parkbank in der strahlenden Aprilsonne, aber er hatte Angst vor dem Entsetzen, das sich seiner in dem Augenblick bemächtigen würde, in dem er die Kontrolle über seine Gedanken verlor. Er wusste nicht, auf welche Weise er schuldig sein konnte, aber das Gefühl von Schuld blieb, die Hilflosigkeit, das Blut, die Schreie, das schreckliche Kreischen von Metall auf Metall und der grelle Schein und der Geruch des Feuers und stets das sichere Wissen, dass er es hätte verhindern können.

Bei einem Straßenhändler trank er einen Kaffee und ging dann zu dem Pfefferkuchenverkäufer, um zu hören, ob der von seinen einschlägigen Bekannten etwas erfahren hatte. Der Mann war gerade dabei, Scheiben von einem warmen, würzigen Laib an eine Gruppe Kinder zu verteilen, und Monk wartete ein paar Meter abseits, bis er fertig war.

»Und?«, fragte er. Es musste nicht fragen, ob der Mann sich an ihn erinnerte, sein verbeultes Gesicht strahlte.

»Er ist weggegangen, jawoll«, sagte er triumphierend. »Gegen Mitternacht. Gesicht wie ein Donnerwetter. Und nich' mehr als 'ne halbe Stunde später zurückgekommen.«

Eine halbe Stunde. Zu wenig Zeit, um zur Leather Lane zu gehen, Nolan Baltimore zu suchen, ihn umzubringen und zurückzukommen. Monk war dermaßen überwältigt vor Erleichterung, dass er es körperlich spürte. Er konnte Katrina sagen, dass Dalgarno unschuldig war.

»Und er ist nicht noch einmal weggegangen?«

»Erst kurz vor'm Morgengrauen«, sagte der Pfefferkuchenverkäufer bestimmt. »Luchse haben scharfe Augen. Denen entgeht nichts. Können sie sich nicht leisten!«

Er hatte Recht. Wer für einen Einbrecher Schmiere stand, überlebte nur, wenn er sehen, sich erinnern und berichten konnte.

»Vielen Dank«, sagte Monk erleichtert. Er war so froh, dass er dem Mann einen Sovereign gab und noch eine halbe Krone drauflegte, um sich ein Stück Pfefferkuchen zu kaufen.

Um zwei Uhr war er müde, und die Füße taten ihm weh, aber sein Schritt war leicht, als er durch das Parktor ging und einen raschen Blick auf die leuchtend bunten Frühlingsblumen warf. Er musste nur fünf Minuten warten. Sie kam zum Eingang, wo sie stehen blieb und nach ihm Ausschau hielt. Leute drehten sich nach ihr um. Es überraschte ihn nicht, denn sie war sehr eindrucksvoll mit ihrem dramatischen Gesichtsausdruck und ihrer stolzen, aufrechten Körperhaltung. Sie trug ein weißes, dunkelblau eingefasstes Musselinkleid, dessen leuchtendes Mieder ihre femininen Linien betonte, dazu einen breitkrempigen, mit Rosen besetzten Hut und einen mit blauen Bändern verzierten Sonnenschirm. Von ein paar Herren wurde sie regelrecht angestarrt, ihr Lächeln dauerte länger, als die Etikette erlaubte, aber da sie sie aufrichtig bewunderten, hatten ihre Blicke nichts Beleidigendes.

Als sie Monk entdeckte, strahlte sie über das ganze Gesicht wie vor Erleichterung. Er wusste, dass sie sich Tag um Tag hier eingefunden hatte, jedes Mal in der Hoffnung, ihn zu treffen. Er verspürte Befriedigung in sich aufsteigen, denn endlich konnte er ihr sagen, dass Dalgarno, soweit seine Untersuchung ergeben hatte, keinen Betrug begangen hatte, und selbst wenn jemand anders beim Landkauf betrogen hatte, dies nicht zu einem Unfall führen konnte. Ihre Ängste in allen Ehren, aber sie waren unbegründet.

Rasch kam sie auf ihn zu und blieb so nah vor ihm stehen, dass er ihr Parfüm riechen konnte, warm und nach Moschus duftend, ganz anders als das süße, frische Aroma der Blumen um sie herum.

»Sie haben Neuigkeiten?«, sagte sie mit einem Keuchen. »Ich sehe es an Ihrer Miene.«

»Ja.« Er erwiderte ihr Lächeln.

Ihre Augen blitzten, und er sah, dass ihr Busen sich hob und senkte, als bemühte sie sich, ein Keuchen zu unterdrücken. Um sie zu beruhigen, hob er die Hand, als wollte er ihren Arm berühren, doch dann wurde ihm klar, wie wenig er sie im Grunde kannte. Das Verständnis für ihre Ängste, das Gefühl der Seelenverwandtschaft war einseitig. Mit Recht würde sie seine Berührung als aufdringlich empfinden, und er ließ den Arm wieder sinken.

»Vor allem ist es mir gelungen, in Erfahrung zu bringen, dass Mr. Dalgarno sein Haus zu keiner Zeit verlassen hat, die ihn mit dem Tod von Nolan Baltimore in Verbindung bringen könnte.«

Sie war verdutzt. »Wie?«, fragte sie ungläubig. »Wie kann das jemand wissen?«

»Wenn man für Einbrecher Schmiere steht«, erklärte er trocken. »Man nennt sie Luchse. Mindestens einer von ihnen war zwischen Mitternacht und Morgendämmerung auf der Straße.«

Sie atmete langsam aus, ihr Gesicht war sehr blass. »Vielen Dank. Haben Sie vielen Dank. Aber … aber was ist mit …«

»Ich habe in London und in Liverpool, wo die Gesellschaft früher ihren Sitz hatte, umfassende Nachforschungen angestellt, Miss Harcus«, sagte er. »Und ich kann keinen Beweis für irgendeinen Betrug finden.«

»Keinen …«, fing sie mit hoher Stimme an und schüttelte in einer Geste des Leugnens, des Unglaubens, sehr langsam den Kopf.

»Ein bisschen Mehrgewinn hier und da«, räumte er ein. »Aber das passiert überall.« Er sprach souverän und merkte erst hinterher, dass er das aus seinem Erinnerungsschatz heraus gesagt hatte. Statt Vermutungen anzustellen, wusste er es. »Und alles im Namen der Gesellschaft, nicht in Mr. Dalgarnos. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und so rechtschaffen wie die meisten.«

»Sind Sie sich sicher?«, flehte sie, staunend und voll von aufkommender Freude. »Ganz sicher, Mr. Monk?«

»Ich bin mir sicher, dass es nichts gibt, was an seiner Ehre zweifeln lässt«, wiederholte er. »Sie können ruhig darauf vertrauen, dass sein Ruf nicht in Gefahr ist.«

Mit weit aufgerissenen Augen zuckte sie zurück. Ein zufälliger Betrachter hätte den Unglauben in ihrer Miene leicht mit Wut verwechseln und annehmen können, er habe sie beleidigt. »Ruhig?«, sagte sie heftig. »Aber der Unfall! Was ist mit der Gefahr, dass sich das wiederholt?«

»Der Unfall in Liverpool hatte nichts mit den Gleisen zu tun«, sagte er geduldig. »Es war ein Fehler des Lokführers, und es besteht die Möglichkeit, dass die Bremser ebenfalls …«

Jetzt war sie wütend und riss die Hand zurück, fast so, als wollte sie den Menschen neben ihr schlagen. »Was – alle zusammen?«, fuhr sie ihn an. »Alle haben sich denselben Augenblick ausgesucht, um einen Fehler zu machen?«

Er erwischte ihr Handgelenk. »Nein, das sollte es nicht heißen. Es sollte heißen, dass es einer von ihnen war, und die anderen gerieten möglicherweise in Panik und wussten nicht, wie sie reagieren sollten.«

»Heißt dass, Baltimore und Söhne war unschuldig?«, wollte sie wissen. »Immer? Damals wie heute?«

»Unschuldig an dem Unfall, ja.« Er hörte seine Stimme und merkte, dass er unsicher klang. Warum? Es gab nichts, was Nolan Baltimore mit dem Unfall in Liverpool oder dem Betrug, der Arrol Dundas ruiniert hatte, in Verbindung brachte. Es waren seine eigenen Schuldgefühle, die versuchten, jemandem, an dem ihm nichts lag, die Verantwortung zuzuschieben.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. Jetzt wirkte sie fast erregt. Ihre Augen strahlten, ihre Wangen glühten, ihr Körper stand unter Spannung. Sie legte ihm die Hände auf die Brust und schloss die Finger fest um die Kanten seiner Jacke. »Gibt es einen Beweis für ihre Unschuld?«, fragte sie heiser. »Einen wirklichen Beweis? Etwas, was vor Gericht standhalten würde? Ich muss sicher sein. Es wurde schon einmal ein Unschuldiger verurteilt.«

Monk spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog und das Blut in seinen Adern pochte. Er packte ihre Handgelenke. »Woher wissen Sie das?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Es war erschreckend, wie sehr sie zitterte.

Ruckartig machte sie sich von ihm frei. Er spürte, dass sie ihm einen Knopf von der Jacke riss, aber das war unwichtig. Sie steigerte sich so hinein, dass ihre Augen und ihr Gesicht wie im Fieber brannten. Sie schaute ihn einen langen verzweifelten Augenblick an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte schier auf das Tor zu.

Monk war sich bewusst, dass sie von mehreren Passanten angestarrt wurden, aber er kümmerte sich nicht darum. Woher wusste sie von Arrol Dundas? Diese Frage ergriff so von ihm Besitz, dass er an nichts anderes mehr denken konnte. Er ging ihr nach und hatte sie am Tor des Inner Circle fast eingeholt, aber sie schritt rasch aus. Sie überquerte den Weg und folgte ihm zwischen Wiesen und Bäumen hindurch auf die Brücke zu, die über einen Arm des Sees führte. Am anderen Ende gelang es ihm, sie aufzuhalten, und auch hier reagierten Passanten erschreckt und neugierig.

»Woher wissen Sie das?«, wiederholte er seine Frage. »Was haben Sie gehört? Und von wem … von Dalgarno?«

»Dalgarno?«, sagte sie noch einmal ungläubig und brach in ein wildes, fast hysterisches Lachen aus. Aber sie antwortete ihm nicht. Stattdessen wandte sie sich wieder von ihm ab und lief die York Gate in Richtung der stark befahrenen Marylebone Road hinunter. »Ich gehe nach Hause!«, rief sie ihm über die Schulter zu.

Er lief ihr nach, holte sie wieder ein und ging neben ihr her, als sie an die Straße kam und den Sonnenschirm hob, um eine Droschke herbeizuwinken. Sogleich hielt eine an, und Monk half ihr hinein, bevor er ebenfalls einstieg.

Sie widersprach nicht, als hätte sie erwartet, dass er sie begleitete.

»Wenn nicht von Dalgarno, von wem dann?«, fragte er noch einmal, nachdem sie dem Kutscher gesagt hatte, er solle sie in die Cuthbert Street in Paddington fahren.

Sie sah Monk an. »Sie meinen den Betrugsfall vor vielen Jahren?«

»Ja, natürlich!« Er hatte die größte Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. Es war ungeheuer wichtig. Was wusste sie? Woher konnte sie überhaupt etwas wissen, wenn nicht aus Baltimores Berichten oder aus dem, was er gesagt und sie mit angehört hatte?

Sie schaute starr geradeaus und lächelte, aber ihr Blick war leer. »Haben Sie geglaubt, ich ziehe nicht auch selbst Erkundigungen ein, Mr. Monk?« Ihre Stimme war hart, heiser. »Haben Sie geglaubt, ich hätte mich nicht nach der Geschichte von Baltimore und Söhne erkundigt, als ich erfuhr, wie tief Michael darin steckte und wie sehr er hoffte, sein Glück mit ihnen zu machen?«

»Sie haben gesagt, Sie wüssten, dass damals ein Unschuldiger verurteilt wurde«, sagte er grimmig, entsetzt, wie sehr seine Stimme die Gefühle, die ihn schüttelten, verriet. »Woher wissen Sie das? Damals wusste es niemand.«

»Tatsächlich nicht?«, fragte sie und starrte vor sich hin.

»Natürlich nicht, sonst wäre er nicht im Gefängnis gestorben!« Er griff nach ihrem Arm. »Woher wissen Sie es? Was ist passiert?«

Sie drehte sich zu ihm herum, und ihr Gesicht war vor Wut dermaßen verzerrt, dass er zurückzuckte und sie losließ.

»Ein großes Unrecht, Mr. Monk«, sagte sie leise, ihre Stimme zitterte, ihre Worte waren fast ein Zischen. »Damals wurde Menschen Unrecht getan, ebenso wie heute. Aber Rache wird kommen … das verspreche ich Ihnen. Sie wird kommen … am Grab meiner Mutter … und an meinem, wenn das notwendig ist.«

»Miss Harcus …«

»Steigen Sie bitte aus!« Ihr Gesicht war jetzt aschgrau. »Ich muss nachdenken, und zwar allein.« Sie entriss ihm ihre Hand, griff nach dem Sonnenschirm und klopfte damit an die Trennwand, um die Aufmerksamkeit des Kutschers zu erregen. »Ich werde es Ihnen sagen … heute Abend.«

Sie klopfte noch einmal kräftiger.

»Ja, Miss?«, fragte der Kutscher.

»Mr. Monk möchte aussteigen. Wären Sie so freundlich anzuhalten?«, bat sie ihn.

»Ja, Miss«, sagte er gehorsam und fuhr an den Bordstein. Sie waren an der Ecke Marylebone Street, Edgeware Road, und der Verkehr brauste in beide Richtungen an ihnen vorbei.

Monk war von tiefer Sorge um sie erfüllt. Sie war so von widerstreitenden Leidenschaften zerrissen, dass sie fast krank aussah. Er hätte alles gegeben, um zu erfahren, was sie gemeint hatte, als sie so vehement behauptet hatte, Dundas sei unschuldig gewesen und dass Rache kommen würde, oder was das gegenwärtige Unrecht war, das er nicht sehen konnte. Aber jetzt, da er wusste, wo sie wohnte, konnte er sie zumindest wieder aufsuchen, wenn sie sich etwas beruhigt hatte. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen. Jetzt brauchte sie Ruhe, um sich zu sammeln.

»Ich werde Sie besuchen, Miss Harcus«, sagte er sehr viel freundlicher. »Natürlich brauchen Sie Zeit, um nachzudenken.«

Sie gab sich äußerste Mühe, sich zusammenzunehmen, atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzen wieder aus. »Vielen Dank, Mr. Monk. Das ist sehr nett von Ihnen. Sie sind sehr geduldig. Wenn Sie mich heute Abend besuchen würden – nach acht, wenn Sie so freundlich wären –, dann sage ich Ihnen, was Sie zu erfahren wünschen. Ich werde noch einmal mit Michael Dalgarno sprechen, und das wird das Ende sein, versprochen. Sie haben Ihre Rolle perfekt gespielt, Mr. Monk. Ich hätte es mir nicht besser wünschen können. Sie kommen also nach acht? Geben Sie mir Ihr Wort – unbedingt?«

»Ja«, schwor er.

»Gut.« Der schwache Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Cuthbert Street Nummer dreiundzwanzig. Sie haben mir Ihr Wort gegeben!«

»Ja. Ich werde da sein.«

Er stieg aus und stand auf dem Pflaster, als die Droschke wieder anfuhr und allmählich im Verkehrsgetümmel verschwand.

Monk fuhr nach Hause in die Fitzroy Street in ein leeres Haus. Er wusch sich und schlief dann endlich. Um zehn nach acht, als das Licht schwand, fuhr er in die Cuthbert Street dreiundzwanzig. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sie abrupt anhielten und der Droschkenkutscher hereinschaute und ihm sagte, er könnte nicht weiterfahren.

»Tut mir Leid, Sir«, sagte er entschuldigend. »Die Polizei hat die Straße gesperrt. Weiß nicht, was passiert ist, aber da vorne ist mordsmäßig was los. Kann nicht weiter. Sie müssen zu Fuß gehen, falls man Sie durchlässt.«

»Vielen Dank.« Monk stieg aus, entlohnte den Kutscher und gab ihm acht Pence Trinkgeld. Dann ging er auf die Gestalten unter den Straßenlaternen zu. Es waren drei Männer, von denen zwei miteinander stritten, der dritte, der ihm wegen seiner hohen, schlanken Gestalt bekannt vorkam, schaute auf etwas wie ein Bündel Kleider hinunter, das zu seinen Füßen lag. Es war Runcorn, der früher sein Gegner gewesen war und dann sein Vorgesetzter; der ihn stets gehasst und gefürchtet hatte, bis zu dem Streit, bei dem er Monk im selben Augenblick entließ, als dieser wütend kündigte. Der Fall des ermordeten Modells hatte sie vor wenigen Monaten wieder zusammengeführt, und in geteilten Gefühlen und schmerzlichem, unerwartetem Mitleid waren sie ein unsicheres Bündnis eingegangen.

Aber was tat Runcorn hier?

Monk machte größere Schritte, musste sich beherrschen, um die letzten Meter nicht zu laufen.

»Was ist passiert?«, fragte er, obwohl er es, als Runcorn sich zu ihm umdrehte, bereits sehen konnte. Eine Frau lag auf dem Boden. Ihr weißes, blau eingefasstes Musselinkleid war zerknittert, schmutzig und blutbefleckt. Sie lag halb auf dem Bauch, halb auf der Seite, als hätte sie sich die Wirbelsäule gebrochen. Ihr Hals war in einem merkwürdigen Winkel abgeknickt, ein Arm unter dem Körper verschränkt, die Beine gekrümmt.

Er schaute instinktiv nach oben und sah über der dritten Etage einen flachen Dachvorsprung mit einem Geländer außen herum wie bei einem Balkon. Darüber befand sich noch ein weiteres Stockwerk mit einer Wohnung, deren Tür er wegen einer Mauer von hier aus nicht sehen konnte.

Eine Welle der Übelkeit überkam ihn – und dann alles verzehrendes Mitleid. Er sah Runcorn an, und sein Mund war so trocken, dass er kein Wort herausbrachte.

»Sieht aus, als wäre sie heruntergestürzt«, antwortete Runcorn auf Monks ursprüngliche Frage. »Außer dass sie dem Augenschein nach ein wenig weit weg vom Haus liegt. Und normalerweise stürzen die Menschen rückwärts. Hat sich vielleicht in der Luft gedreht.« Er blinzelte nach oben. »Ganz schön hoch. Von da oben bekommt man sicher einen besseren Eindruck. Schätze, sie könnte auch gesprungen sein.«

Monk wollte etwas sagen, unterbrach sich jedoch.

»Was ist?«, fragte Runcorn schroff.

»Nichts«, sagte Monk hastig. Er sollte nichts sagen … noch nicht. Seine Gedanken rasten. Was, um Himmels willen, konnte da geschehen sein? Sie wäre nie im Leben gesprungen! Nicht Katrina Harcus. Sie war kurz davor gewesen, eine frühere Ungerechtigkeit zu enthüllen. Sie wollte Rache, und diese war greifbar nah gewesen. Und Dalgarno war unschuldig, was sie sich von Anfang an mehr als alles andere gewünscht hatte.

Ein Wachtmeister kam über den Bürgersteig und schob sich an den Schaulustigen vorbei, die sich inzwischen eingefunden hatten. »Hab einen Zeugen, Sir«, sagte er zu Runcorn. Sein Gesicht war verkniffen und unglücklich, die Schatten, welche die Straßenlaternen warfen, verstärkten den Ausdruck noch. »Sagt, es waren ganz sicher zwei Leute da oben. Er sah, wie sie miteinander rangen, vor und zurück. Hörte sie was schreien, und dann stolperte sie rückwärts, und er setzte ihr nach, und als Nächstes dreht er sich um, und sie fällt über die Brüstung.« Er blickte auf die Gestalt auf der Erde. »Armes Ding. Sieht aus, als wäre sie jung gewesen … und ziemlich hübsch obendrein. Eine himmelschreiende Schande.«

»Was ist mit dem Mann?«, fragte Runcorn und warf einen kurzen Blick auf Monk, bevor er wieder den Wachtmeister anschaute.

Der richtete sich auf. »Weiß nicht, Sir. Ich habe den Zeugen gefragt, aber ihn hat er nicht gesehen. Die Laterne flackerte zu sehr. Sie hat er besser gesehen, weil sie Weiß trug. Der Mann hat was sehr Dunkles getragen, und er hatte einen Umhang an, eine Art …« Er zuckte die Achseln. »Also, einen Umhang. Der Zeuge sagt, er sah, wie er sich bauschte, als sie kämpften, kurz bevor sie stürzte.«

Monk wurde übel, als er sich vorstellte, wie Katrina mit jemandem gekämpft und um Hilfe geschrien hatte, und alle hatten bloß zugeschaut! Sie wussten nicht einmal, wer mit ihr dort oben auf dem Dach gewesen war und mit ihr gekämpft … sie umgebracht hatte! Dalgarno? Ganz sicher. Er war der einzige Beteiligte. Vermutlich war er gekommen, da sie mit ihm Kontakt aufgenommen hatte, wie sie Monk ja angekündigt hatte. Sie hatte etwas gesagt, einen Beweis gefunden, den er trotz seiner akribischen Suche übersehen hatte, und das hatte Dalgar-no dazu getrieben, sich auf diese mörderische Weise zur Wehr zu setzen.

Aber was? Wie hatte er den Betrug begangen? Warum hatte Monk es nicht herausgefunden? Warum war er schon wieder so dumm, so blind gewesen? Und jetzt war noch jemand umgekommen, jemand, für den er alles in seiner Macht Stehende getan hatte, um zu helfen. Er hatte es ihr versprochen – und versagt.

Runcorn unterhielt sich noch mit dem Wachtmeister. Monk hockte sich neben die Tote. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Diese Seite ihres Gesichts hatte kaum eine Blessur davongetragen; da war nur ein winziges Rinnsal Blut. Er war klug genug, sie nicht zu berühren, aber er hätte ihr gerne das Haar aus dem Gesicht gestrichen, als könnte sie es noch auf der Haut spüren. Eine Hand lag unter ihrem Körper, die andere war ausgestreckt, und als er genauer hinschaute, entdeckte er, dass sie etwas fest hielt, etwas sehr Kleines. Hatte sie sich im letzten Augenblick, bevor er sie hinunterstürzte, an ihrem Mörder festgehalten und etwas von seinen Kleidern abgerissen?

Runcorn und der Wachtmeister waren immer noch in ein Gespräch vertieft. Monk streckte einen Finger aus und bewegte Katrinas Hand ein wenig, gerade genug, dass das Objekt sich aus dem schwachen Griff ihrer Finger löste und zu Boden fiel. Es war ein Knopf von einer Herrenjacke oder einem Herrenmantel. Er holte Luft, um es Runcorn zu sagen, und dann wurde ihm heiß, und der Schweiß brach ihm aus, und im nächsten Augenblick fror er entsetzlich. Es war sein Knopf, den sie ihm in einem aufgeregten Augenblick im Park von der Jacke gerissen hatte! Aber das war viele Stunden her!

»Was haben Sie?« Runcorns Stimme drang in sein betäubendes Entsetzen ein und setzte seiner Unentschlossenheit ein Ende. Er konnte im Augenblick nichts tun und den Knopf keinesfalls verstecken. Mit ungeschickten Fingern knöpfte er die unteren Knöpfe seiner Jacke zu, sodass der obererste auch zu war und man nicht mehr sah, dass ein Knopf fehlte, sondern annehmen konnte, er sei einfach nicht zugeknöpft. Er stand mit zitternden Beinen auf. »Ein Knopf«, sagte er heiser. Er räusperte sich. »Sie hatte einen Knopf in der Hand.«

Runcorn bückte sich, hob ihn vom Pflaster auf und drehte ihn neugierig hin und her.

Monk hielt die Luft an. Bitte, Gott, lass Runcorn nicht merken, dass es genau der gleiche ist wie an meiner Jacke! Es war dunkel, und er stand halb vom Licht der Straßenlaterne abgewandt da. Er würde so schnell wie möglich gehen.

»Allem Anschein nach von einer Herrenjacke«, bemerkte Runcorn. »Hat sie wohl bei der Rangelei abgerissen.« Er steckte ihn in seine Brusttasche. »Gutes Beweisstück.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Wachtmeister zu. »Reden Sie mit den Leuten in der Gegend. Sehen Sie zu, was Sie rausfinden. Wissen wir schon, wer sie ist?«

»Nein, Sir«, sagte der Wachtmeister. »Sie haben sie kommen und gehen sehen, aber sie hat mit niemandem gesprochen. Schien sehr anständig zu sein. Eine Miss Barker oder Marcus oder etwas in der Art, aber nicht ganz sicher.«

Dem auszuweichen wäre eine sinnlose Lüge, bei der man ihn früher oder später ertappen würde. »Harcus«, sagte Monk leise. »Katrina Harcus.«

Runcorn starrte ihn an. »Sie kennen sie?«

»Ja. Ich habe an einer Untersuchung für sie gearbeitet.« Die Würfel waren gefallen, aber er hätte es nicht geheim halten können, und das wollte er auch nicht. Es war ein Knopf, leicht zu erklären. Es waren womöglich sogar Passanten im Park gewesen, die sie gesehen hatten und sich an die Geste erinnerten, bei der sie ihn zufällig abgerissen hatte. »Ich kann helfen«, fuhr er fort. Er wollte sie rächen, herausfinden, wer das getan hatte, und ihn bestraft sehen. Das war alles, was er jetzt noch für sie tun konnte. In jeder anderen Hinsicht hatte er versagt. Nur allzu deutlich erinnerte er sich an ihr wutverzerrtes Gesicht. Sie hatte Rache gewollt, und die konnte er ihr wenigstens verschaffen.

Runcorn machte große Augen. Er atmete langsam aus. »Also waren Sie nicht zufällig hier? Ich hätte es wissen müssen. Was machen Sie um diese Abendstunde in der Cuthbert Street?« Es war eine rhetorische Frage, auf die er keine Antwort erwartete. »Was war das, der Fall, an dem Sie gearbeitet haben?«, fragte er. »Wissen Sie, wer ihr das angetan hat?«

»Nein«, antwortete Monk. »Aber ich habe eine Ahnung, und ich werde es, verdammt noch mal, herausfinden – und beweisen! Sie war die Verlobte eines Michael Dalgarno, eines leitenden Angestellten von Baltimore und Söhne, einer Eisenbahngesellschaft …«

»Moment mal!«, unterbrach ihn Runcorn. »Wurde nicht in der Leather Lane vor wenigen Wochen erst ein Nolan Baltimore umgebracht? Besteht da eine Verbindung?«

»Ich habe bislang keine entdecken können«, räumte Monk ein. »Sehen Sie, dieser Baltimore war nur dort, um seine Gelüste zu befriedigen, und wurde in einen Streit verwickelt, der böse endete. Vielleicht hat er nicht genug gezahlt, oder er war betrunken und hat Streit gesucht, was ich für wahrscheinlicher halte.«

»Und was wollten Sie hier?«, fragte Runcorn.

»Hat damit nichts zu tun«, antwortete Monk.

»Sie brauchen nicht mehr so geheimnisvoll zu tun, Monk. Sie ist tot, die Arme.« Er blickte nach unten. »Die einzige Hilfe, die Sie ihr noch geben können, ist, herauszufinden, wer sie getötet hat.«

»Das weiß ich!«, erwiderte Monk heftig. Er riss sich nur mit Mühe zusammen. »Wie gesagt, sie war mit Michael Dalgarno verlobt. Sie machte sich Sorgen, er könnte in einen Betrug verwickelt sein, der mit der neuen Eisenbahnlinie zwischen London und Derby zu tun hat.« Er sah, dass Runcorn aufmerksam wurde. »Insbesondere mit dem Ankauf von Land …«

»Und?«, fuhr Runcorn eifrig dazwischen.

»Ich konnte nichts finden, und ich habe sehr sorgfältig nachgeforscht.« Monk wusste, dass er defensiv klang. Er empfand es auch so. Wenn er den Beweis gefunden hätte, wäre Katrina vielleicht noch am Leben.

Runcorn sah ihn zweifelnd an. »Wenn es offensichtlich wäre, hätten andere es auch entdeckt.«

»Ich weiß mehr über Eisenbahnen als die meisten«, antwortete Monk und fühlte sich augenblicklich verletzlich. Er hatte zu viel von sich preisgegeben, sich dort geöffnet, wo er nur raten konnte und noch immer ein Stück nach dem anderen zusammensetzte – ausgerechnet Runcorn gegenüber!

Zwischen ihnen herrschte ein unsicherer Waffenstillstand; die alten Ressentiments waren nur abgedeckt, nicht verschwunden.

»Tatsächlich?«, sagte Runcorn überrascht. »Wie das? Dachte, Sie wären im Finanzgeschäft gewesen, bevor Sie als einfacher Polizist bei uns eingestiegen sind.« Obgleich seine Worte ebenso wie sein Tonfall einigermaßen höflich blieben, wusste Monk, dass Runcorn ihn um sein Geld, sein Selbstbewusstsein und seinen etablierten, behaglichen und eleganten Lebensstil beneidete.

»Weil Eisenbahnen finanziert werden müssen«, antwortete er. »Das Letzte, um das ich mich gekümmert habe, bevor ich die Bank verließ, war eine neue Eisenbahnlinie in der Nähe von Liverpool.«

Runcorn schwieg einen Augenblick. Vielleicht hatte er die Anspannung in Monks Stimme gehört oder etwas von seinem Kummer und seiner Wut gespürt.

»Dann konnten Sie keinen Betrug feststellen?«, fragte er schließlich. »Heißt das, dass es mit Sicherheit keinen gegeben hat?«

»Nein«, gab Monk zu. »Es bedeutet, dass er, wenn er begangen wurde, wirklich sehr gut verborgen ist. Aber sie war davon überzeugt … bei unserem letzten Treffen noch stärker als beim ersten.«

»Dann hatte sie etwas herausgefunden, auch wenn Sie nichts entdecken konnten?« Runcorn blickte ihn von der Seite an. »Hat sie angedeutet, was es war?«

»Nein. Aber sie war so überzeugt, dass etwas faul sei, weil sie in Baltimores Büro oder Haus etwas mit angehört hat. Als Dalgarnos Verlobte konnte sie an Gesprächen teilnehmen, die mir nicht offen standen.«

Runcorn stöhnte. »Dann sollten wir reingehen und nachschauen – und wehe, er hat alles mitgenommen! Vielleicht der Grund, warum er sie umgebracht hat.« Er ging auf das Haus zu.

Monk beschloss, Runcorns Worte als Einladung zu verstehen, ihn zu begleiten. Er konnte es sich nicht leisten, sie auszuschlagen. Nur allzu bereitwillig folgte er ihm, holte ihn an der Haustür ein und trat einen Schritt hinter ihm ins Haus.

Es war immer noch früher Abend, aber inzwischen hatte es sich herumgesprochen, dass eine Frau vom Dach gefallen oder hinuntergestoßen worden war und tot auf der Straße lag. Nachbarn standen herum, manchen hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen, andere flüsterten eifrig miteinander. Einer nach dem anderen wurde von den Wachtmeistern befragt, nach allem, was ihnen in dieser Nacht oder auch schon früher aufgefallen war.

Man zeigte Runcorn die Treppe zu Katrinas Wohnung. Monk war ihm dicht auf den Fersen, als gehörte er dazu, und niemand stellte ihn zur Rede.

»Also!«, sagte Runcorn, sobald sie in der Wohnung waren und die Tür hinter ihnen zuging. Das Gaslicht brannte noch, aber in den Ecken war es trotzdem stockfinster. Monk war dankbar dafür, denn er war sich des fehlenden Knopfes so deutlich bewusst, als wäre es ein Blutfleck.

»Wo hat sie wohl ihre Unterlagen aufbewahrt? Etwas, was uns vielleicht über diese Eisenbahngeschichte aufklärt?«, fragte Runcorn und blickte ihn an.

»Ich weiß nicht. Ich war noch nie hier«, antwortete Monk und wandte sich vom Licht ab.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, sie hätte Sie beauftragt? Und Sie wären heute Abend auf dem Weg hierher gewesen? Haben Sie mir doch gesagt.« In Runcorns Stimme schwang Herausforderung mit.

»Es war das erste Mal, dass ich herkam«, erklärte Monk. »Sie kam in mein Büro, oder wir haben uns im Park getroffen.« Es klang merkwürdig, als er es so sagte.

»Wieso das denn?«, fragte Runcorn neugierig und mit einer gewissen Skepsis.

»Ihr Ruf war ihr sehr wichtig«, antwortete Monk. »Sie war mit einem ehrgeizigen Mann verlobt. Sie wollte die Tatsache, dass sie mich beauftragt hatte, mit absoluter Diskretion behandeln. Deshalb sollte es so aussehen, als wären wir flüchtige Bekannte.« Er wollte die Hände in die Taschen schieben, doch als ihm klar wurde, dass das den Sitz seiner Jacke verändern und womöglich den fehlenden Knopf verraten würde, überlegte er es sich anders. »Nach dem ersten Mal trafen wir uns stets an öffentlichen Plätzen und wie zufällig. Sie ging jeden Tag um die gleiche Zeit in den Park, und wenn ich etwas zu berichten hatte, wusste ich, wo ich sie finden konnte.«

»Äußerst vorsichtig«, meinte Runcorn. »Armes Geschöpf«, fügte er sanft hinzu. »Vielleicht wusste sie, dass Dalgarno gefährlich war.« Er schüttelte den Kopf. »Komisch, was Frauen an solchen Männern finden. Das werde ich nie verstehen. Also, wir sollten besser weitermachen. Wir müssen nur suchen.«

Monk sah sich im Zimmer um. Es war einfach, aber äußerst geschmackvoll eingerichtet, und die wenigen Möbel waren von guter Qualität und verliehen dem Zimmer eine ungewöhnliche Geräumigkeit. Er war nicht überrascht. Katrina war eine Frau mit Charakter und Stärke gewesen und von großer Individualität. Wieder stieg Wut auf Dalgarno in ihm auf, und er ging hinüber zum Sekretär und öffnete ihn. Er wandte Runcorn den Rücken zu, der sich immer noch umschaute, um einen Eindruck vom Stil des Zimmers zu gewinnen, und dann instinktiv auf die Glastüren zuging, die sich zu dem Balkon öffneten, von dem sie gestürzt sein musste.

Im Sekretär fanden sich ein paar geschäftliche Unterlagen, und Monk sah sie flüchtig durch. Er wusste nicht, wonach er suchte, und falls Dalgarno Katrina umgebracht hatte, weil sie einen Beweis für seinen Betrug entdeckt hatte, hatte sie ihm diesen Beweis aller Wahrscheinlichkeit nach gezeigt, und er hatte ihn an sich genommen, um ihn zu zerstören. Trotzdem gab es vielleicht mehr als ein interessantes Schriftstück, und er musste danach suchen.

Er fand überraschend schnell etwas, aber es war nicht das, was er erwartet hatte. Es war ein Brief, der geschrieben und niemals abgeschickt worden war, adressiert an eine Frau namens Emma.

Liebe Emma, ich habe Dir versprochen, Dir alles zu berichten, was ich erfahren habe, also muss ich mein Wort halten, obwohl es äußerst schmerzlich für mich ist, einen solchen Fehler zuzugeben. Ich habe Unterlagen entdeckt, die mit dem ursprünglichen Betrug in Liverpool zu tun haben, und jetzt scheint es unstrittig zu sein, dass Mr. Monk, dem ich vollkommen vertraut habe, selbst in diese schreckliche Angelegenheit verwickelt war. Zwischen den Baltimore-Unterlagen fand ich eine alte Order, die seine Unterschrift trug!

Durch weitere Nachforschungen habe ich herausgefunden, dass er früher bei einer Handelsbank gearbeitet hat und mit den Darlehen für die Eisenbahn betraut war, die Baltimore und Söhne baute. Er hat es vor mir verheimlicht, was kein Wunder ist, denn der Betrug war groß und folgenschwer. Ein Mann starb deswegen, und eine große Geldsumme ist immer noch nicht belegt, bis zum heutigen Tag. Und dann gab es ja noch den Unfall! Mr. Monk ist tief darin verstrickt. Du kannst Dir vorstellen, wie sehr mich das grämt.

Ich habe ihn noch nicht damit konfrontiert, aber ich glaube, ich muss es tun. Wie soll ich sonst ehrenhaft handeln?

Liebe Emma, ich wünschte, Du wärest hier, damit ich mich mit Dir beraten könnte, was ich tun soll. Ich fürchte mich plötzlich sehr.

Das war alles. Monk starrte den Brief an. Wer war Emma? Wo lebte sie?

Der Brief war nicht adressiert. Was hatte Katrina ihr noch geschrieben?

Sehr sorgfältig blätterte er den übrigen Papierkram in der ersten Schublade durch und fand Rechnungen, eine alte Einladung und einen weiteren Brief, geschrieben in einer gedrängten, schräg nach links geneigten Handschrift.

Meine liebste Katrina, es ist gut, von Dir zu hören, wie immer, aber ich muss zugeben, ich gebe nichts auf das Gerede dieses Mannes, Monk, den Du beauftragt hast, und alles, was Du mir geschrieben hast, bestätigt nur meine Vorahnungen. Bitte, meine Liebe, sei sehr vorsichtig. Vertraue ihm nicht.

Den Rest überflog er nur, es war nur freundlicher Klatsch über gemeinsame Bekannte, die nur beim Vornamen genannt wurden. Wenn Runcorn diese Briefe fand, würde er glauben, Monk könnte sie getötet haben. Mit ungeschickten Fingern schob er die Briefe langsam, damit das Papier nicht knisterte, von dem Stapel.

Runcorn kam vom Balkon herein. Er hielt einen großen, ein wenig zerknitterten Herrenumhang hoch. Im Gaslicht sah er schwarz aus.

»Was ist das?«, fragte Monk und trat einen Schritt zur Seite, um die Briefe vor Runcorns Blick zu verbergen. Die andere Hand streckte er aus, um die Seiten durchzublättern und so das Rascheln der beiden Blätter, die er herausnahm, zu übertönen. Er faltete sie schnell zusammen und schob sie in sein Hemd, um die Taille herum, wo sie nicht mehr knistern würden.

»Der lag da draußen«, sagte Runcorn stirnrunzelnd. »Auf dem Boden neben der Brüstung, über die sie gestürzt sein muss.« Er betrachtete ihn. »Für sie ist er zu lang, außerdem ist es kein Damenumhang.«

Monk war überrascht. »Wie unvorsichtig, ihn zurückzulassen.«

»Muss im Eifer des Gefechts runtergefallen sein.« Runcorn legte ihn, das Futter nach außen, zusammen. »Kein Schneideretikett dran, aber wir kriegen raus, wo er herkommt und wem er gehört. Haben Sie etwas gefunden?«

»Noch nichts von Bedeutung«, antwortete Monk und hielt seine Stimme auffällig ruhig. Er blätterte weitere Unterlagen durch und entdeckte eine handgeschriebene Notiz. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er sie las.

Monk von dem Gespräch erzählen, das ich mit angehört habe, was mich sicher macht, dass es zurzeit Betrügereien bei Baltimore und Söhne gibt, und dass ich zutiefst besorgt bin, dass Michael Dalgarno darin verwickelt ist. In Kürze werden sie sehr viel Geld machen, aber die Sache muss vollkommen geheim gehalten werden.

Der Landbetrug funktioniert im Großen und Ganzen wie damals – er wird es erkennen, wenn er es sich sorgfältig anschaut. Wichtige Fragen: Ist es billiger, die Strecke umzuleiten? Und ist es dann nicht illegal, wenn man den Investoren den Unterschied vorenthält und den Profit selbst einsteckt? Oder handelt es sich um Bestechung, um entweder zu erreichen, dass die Bahnlinie über ein bestimmtes Stück Land führt oder eben nicht? Es gibt mehrere Möglichkeiten.

Noch einmal: Michael muss darüber Bescheid wissen! Die Lohnquittungen und die Instruktionen für den Ankauf von Land tragen seine Unterschrift.

Es war wohl als Gedächtnisstütze geschrieben worden.

Runcorn sah Monk an. »Und?«, wollte er wissen. »Haben Sie sich alles angesehen?«

»Ja.«

»Und doch haben Sie nichts gefunden, was diesen Dalgarno belasten könnte?« Runcorn war skeptisch. »Sieht Ihnen gar nicht ähnlich, was zu übersehen – besonders, da Sie sich doch mit Eisenbahnen auskennen! Sie waren auch schon mal besser, was?« In seiner Stimme war nur eine feine Spur der alten Feindseligkeit, aber Monk hörte sie. Die jahrelange Feindschaft hatte ihn empfindlich gemacht für jede Nuance eines Seitenhiebs. Er hatte selbst welche verteilt und dabei oft genug auf Runcorn gezielt.

»Hier gibt es keinen Landbetrug wie beim ersten Fall«, sagte er abwehrend.

Runcorn machte große Augen. »Oh … Sie konnten den von damals also aufklären!«

»Ja, natürlich!« Monk wollte Runcorn auf keinen Fall von Arrol Dundas erzählen oder irgendwas, was seine Vergangenheit mit all ihren Geheimnissen und Verletzungen preisgab. »Damals wurde beim Landkauf betrogen, und diesmal sah es aus, als wäre es genauso gelaufen, aber Dalgarno hat kein Land gekauft, also schlug er auch keinen Profit aus dem Verkauf.«

Runcorn sah ihn nachdenklich an. »Und wie funktionierte der Betrug beim ersten Mal genau?«

»Jemand hat schlechtes Land zu einem niedrigen Preis gekauft. Dann sorgte er dafür, dass die Streckenführung der Eisenbahn geändert wurde, was eigentlich nicht notwendig gewesen wäre, und verkaufte das Land der Eisenbahngesellschaft zu einem sehr viel höheren Preis«, antwortete Monk, obwohl er es überhaupt nicht gerne in Worte fasste.

»Und sie dachte irrtümlicherweise, es wäre diesmal dasselbe?«, schlussfolgerte Runcorn.

»Scheint so.«

»Und warum hat dieser Dalgarno sie dann umgebracht?«

»Ich weiß es nicht.« Es kam Monk nicht in den Sinn, dass es vielleicht gar nicht Dalgarno gewesen war. Sie hatte von ihm mit solch einem verzehrenden Hunger nach Rache gesprochen, dass nur jemand, den sie einst geliebt hatte, solch eine Wut in ihr hatte entfachen können. Ein Fremder hätte niemals eine so leidenschaftliche Reaktion auslösen können.

»Also, ich habe vor, es herauszufinden«, sagte Runcorn hitzig. »Ich werde ihn zur Strecke bringen, und ich werde ihn eigenhändig zum Galgen schleifen. Das verspreche ich Ihnen, Monk!«

»Gut. Ich helfe Ihnen – falls ich kann.«

»Helfen Sie mir, den Rest hier durchzusehen, für den Fall, dass Sie das eine oder andere erklären können – sollte es mit Eisenbahnen oder so zu tun haben«, sagte Runcorn. »Dann können Sie nach Hause gehen, und ich suche Mr. Dalgarno auf. Mal sehen, was er zu sagen hat!«

Um Viertel nach zehn war Monk zu Hause in der Fitzroy Street. Hester saß am Kamin, in dem ein kleines Feuer schwelte, aber sie stand auf, sobald sie ihn an der Tür hörte. Sie sah müde und ein wenig blass aus; ihr Haar war ziemlich schief hochgesteckt, als hätte sie es ohne Spiegel gemacht. Sie sah ihn fragend an. Falls sie etwas hatte sagen wollen, hatte der Blick in sein Gesicht wohl genügt, sie zum Schweigen zu bringen.

Das Elend seines Versagens hüllte ihn ein wie dichter Nebel. Er sehnte sich danach, ihr alles zu erzählen und sich von ihr trösten zu lassen, sie immer wieder sagen zu hören, es spiele keine Rolle, es sei wirklich nicht sein Verschulden, sondern ein Zusammentreffen widriger Umstände.

Doch selbst wenn sie all das sagte, würde er ihr nicht glauben. Er fürchtete, dass es wahr war, und er fürchtete noch mehr, dass sie die Wahrheit aus Mitleid und Loyalität leugnen und nicht aus vollem Herzen an seine Unschuld glauben würde. Sie wäre so enttäuscht. Solch eine Tat zu begehen und sie dann auch noch zu verheimlichen entsprach ganz und gar nicht ihrer Auffassung von Integrität.

Es war die Vergangenheit, die gierig nach ihm griff, um ihm alles, was er aufgebaut hatte, zu entreißen, die Gegenwart zu beschmutzen und ihn daran zu hindern, der Mann zu sein, der er zu sein versuchte.

Aber er musste ihr etwas sagen, und es musste die Wahrheit sein, wenn auch nicht die ganze.

»Ich wollte Miss Harcus besuchen«, sagte er und zog die Jacke mit dem abgerissenen Knopf aus. Er würde den Knopf ersetzen oder das Kleidungsstück loswerden müssen. »Um ihr zu sagen, dass ich keinen Beweis dafür finden kann, dass Dalgar-no irgendetwas vorzuwerfen ist … in Wahrheit sieht es nicht so aus, als gäbe es überhaupt etwas Verwerfliches.«

Sie wartete mit blassem Gesicht und großen Augen.

»Sie war tot«, sagte er ihr. »Jemand hat sie vom Balkon ihrer Wohnung gestoßen. Runcorn war da.«

»William … wie Leid mir das tut …« Sie meinte es ehrlich, sie empfand Mitleid – für ihn, aber mehr noch für die Frau, die sie nie kennen gelernt hatte. »Hast du irgendeine Vorstellung, wer …«

»Dalgarno«, sagte er, bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. Plötzlich merkte er, wie kalt ihm war, und er ging zum Feuer hinüber.

»Michael Dalgarno?«, fragte sie langsam und drehte sich um, um ihn anzusehen.

»Ja. Warum?« Er musterte ihr Gesicht, die tiefe Traurigkeit darin, die sich noch verstärkte. »Hester?«

»In welcher Beziehung stand sie zu Dalgarno?«, fragte sie, ohne den Blick abzuwenden. »Warum hat sie geglaubt, er habe sich schuldig gemacht, und warum glaubst du, dass er sie umgebracht hat, William?«

»Sie war mit ihm verlobt. Habe ich dir das nicht erzählt?«

»Nein, den Namen hast du nicht genannt.«

»Warum fragst du? Sag es mir!«

Sie senkte den Blick, dann hob sie ihn rasch wieder. »Ich habe Livia Baltimore besucht, um ihr ein wenig von dem zu berichten, was ich in Bezug auf den Tod ihres Vaters herausgefunden habe. Es ist nicht viel …« Sie musste seine Ungeduld bemerkt haben. »Ich habe Michael Dalgarno getroffen. Er war dort.«

»Er arbeitet für Baltimore und Söhne. Das ist keine Überraschung.« Als er es sagte, wusste er, dass sie ihm nicht alles erzählt hatte.

»Er hat Livia den Hof gemacht«, antwortete sie. »Und so, wie sie ihn empfangen hat, hat sie es erwartet, also tut er es schon eine ganze Weile. Wenn er mit Miss Harcus verlobt war, dann hat er sich schändlich benommen.«

Er wusste, dass sie sich bei so etwas nicht irrte. Sie kannte die Feinheiten des Werbens, auch wenn sie selbst nie herumgetändelt hatte. Sie wusste auch, wie sich eine junge Dame benehmen sollte und was sich für einen Mann gehörte und was nicht.

Dann hatte Dalgarno Katrina also in der Liebe ebenso betrogen wie in finanzieller Hinsicht. Hatte sie es gewusst? Hatte sie es heute Abend herausgefunden, als sie ihn wegen des Landbetrugs herausgefordert hatte? Hatte er sich als der absolute Opportunist erwiesen, und hatte sie ihm, als sie erfuhr, dass er sie jetzt, wo Baltimores Tochter seinem Werben nachgab, nicht heiraten würde, gedroht, den Betrug aufzudecken? Sodass er sie dann umgebracht hatte?

Monk bückte sich, um das Feuer zu schüren, ebenso froh über das Auflodern der Flammen wie über den Vorwand, Hester nicht ansehen zu müssen.

»Arme Katrina«, sagte er. »Er hat sie auf jede Weise betrogen. Zuerst war er ein Dieb, dann hat er ihr wegen einer anderen Frau den Laufpass gegeben, und als sie ihn damit konfrontierte, hat er sie … umgebracht.« Es fiel ihm schwer, es auszusprechen.

»Aber du wirst es beweisen … nicht wahr?«, sagte Hester leise. »Du lässt ihn damit nicht durchkommen …«

»Nein, niemals«, versprach er ihr und erhob sich wieder. »Ich konnte sie nicht retten, aber bei Gott, ich werde dafür sorgen, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt!«

»Ich wünschte, das wäre tröstlicher«, antwortete Hester. Sie näherte sich ihm fast scheu, dann legte sie ihm zärtlich den Kopf auf die Schulter und schlang die Arme um ihn, hielt ihn sanft fest, als wäre er körperlich verletzt worden und sie könnte ihm wehtun. Es tröstete ihn, aber der Schmerz in ihm saß zu tief, um wirklich davon berührt zu werden. Dass sie ihn liebte, war so unendlich kostbar, dass er alles, was er besaß, dafür geben würde, um sie nicht zu verlieren. Aber es gab nichts, was man dafür weggeben konnte. Er hob die Hände, strich ihr über das Haar und die Hände und hielt sie fest.

Monk schlief lange. Es war schon einige Zeit her, dass er mit Hester neben sich in seinem eigenen Bett gelegen und eine Art geistigen Frieden empfunden hatte, auch wenn dieser nur von seiner Erschöpfung herrührte und dem Wissen, dass er nichts mehr tun konnte, um Katrina Harcus zu helfen. Sie zu rächen, das war etwas anderes. Es war wichtig, aber er war nicht allein. Runcorn würde nicht lockerlassen. Monk konnte und würde ihm helfen, wenn sich die Gelegenheit ergab.

Als er am Morgen aufstand, bot er an, den Küchenherd sauber zu machen und ihn zum Frühstück einzuheizen. Hester war überrascht. Schwere Sachen trug Monk ihr bereitwillig, aber er war nicht besonders häuslich. Er war es gewöhnt, dass sich jemand um ihn kümmerte, und ließ es fraglos geschehen, ohne die Einzelheiten zu bemerken.

Als er allein in der Küche war, machte er sich daran, die alte Asche aufzurütteln, dann nahm er sie mit der Schaufel heraus und kippte sie in den Ascheneimer. Er holte ein wenig Anmachholz herein, um das Feuer rasch anzufachen, dann legte er Kohlen auf, und sobald das Feuer einigermaßen brannte, zog er die Briefe unter seinem Hemd hervor, wo er sie beim Anziehen wieder versteckt hatte, und stopfte sie in den Herd. Sie waren im Nu verbrannt, aber es waren nur zwei, und es musste noch mehr gegeben haben. Wer war Emma? Wie konnte er sie finden? Wo sollte er anfangen zu suchen? Er machte gerade die Ofentür zu, als Hester aus dem Esszimmer hereinkam.

»Es brennt gut«, sagte er lächelnd.

»Das ging schnell!« Sie sah ihn erstaunt an. »Wenn du das so gut hinkriegst, sollte ich es dir jeden Tag überlassen.«

Es war als Neckerei gemeint, und er entspannte sich, weil sie es so ungezwungen sagte. Vertrautes Geplänkel. »Zufall«, sagte er munter. »Reines Glück. Ich bekomme es womöglich nie mehr so gut hin.«

»Tu nicht so bescheiden!«, erwiderte sie mit einem Blick von der Seite.

Die Briefe waren verbrannt. Er fühlte sich schuldig deswegen, denn es waren Beweismittel, aber er spürte auch eine Welle der Erleichterung, zumindest für den Augenblick. Es gab ihm Zeit. Er wusste noch nicht, was er wegen der Jacke und des fehlenden Knopfes tun würde. »Ich dachte, du würdest Bescheidenheit schätzen«, sagte er und zog die Augenbrauen hoch.

Sie verdrehte die Augen, aber sie lächelte.

Sie waren eben erst mit dem Frühstück fertig, als Runcorn kam. Er sah angespannt und wütend aus. Zuerst lehnte er den Tee ab, den Hester ihm anbot, dann überlegte er es sich von einem Moment zum nächsten anders und setzte sich schwer an den Tisch, während sie eine frische Kanne aufgoss.

»Der Mann ist ein Schwein!«, sagte er wütend. Er hatte nicht einmal den Mantel ausgezogen, als wäre er zu wütend, um sich zu entspannen. »Ich werde dafür sorgen, dass er hängt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!« Er warf Monk einen wütenden Blick zu. »Ein Lügner von der schlimmsten Sorte. Er sagt, er habe nie die Absicht gehabt, Katrina Harcus zu heiraten. Können Sie das glauben?«

»Nein«, sagte Monk kalt. »Aber ich kann glauben, dass er, als er feststellte, dass er eine Chance bei Baltimores Tochter hatte, die Gelegenheit mit beiden Händen ergriff und Katrina ihm plötzlich nur noch lästig war.«

Runcorn erstarrte. »Sie haben es gewusst!«, beschuldigte er ihn. »Sie haben mich angelogen. Um Gottes willen, Monk, was haben Sie sich dabei gedacht? Wollten Sie ihre Gefühle schonen oder ihre Würde wahren? Sie ist tot! Und ich wette hundert zu eins, dass Dalgarno sie umgebracht hat! Es …«

»Ich habe es erst gestern Abend herausgefunden, als ich nach Hause kam!«, schnitt Monk ihm das Wort ab, und seine Stimme war schneidend vor Wut, weil Runcorn ihn vorschnell verurteilte, weil Dalgarno habgierig, falsch und grausam war, weil Katrina so leidenschaftlich einen Mann geliebt hatte, der ihrer, und jeder anderen Frau, nicht würdig war.

Runcorn betrachtete ihn ungläubig.

»Hester hat es mir gesagt«, fuhr Monk ihn an. Als er sah, dass Runcorn immer noch zweifelte, fuhr er fort: »Sie hat gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Ich habe ihr gesagt, dass Katrina Harcus tot sei und dass es aussehe, als habe Dalgarno sie umgebracht. Als sie seinen Namen hörte, sagte sie, sie habe Livia Baltimore besucht …«

»Warum?«, unterbrach Runcorn ihn.

»Weil Livia Baltimores Vater in der Leather Lane ermordet wurde, und zwar, wie alle annehmen, von einer Prostituierten«, antwortete Monk barsch. »Das wissen Sie doch. Hester hat am Coldbath Square ein Haus eingerichtet, wo Frauen medizinische Hilfe bekommen können.« Er empfand eine gewisse Befriedigung, als er die Verblüffung und dann die Bewunderung in Runcorns Miene sah. Er erinnerte sich an den tiefen und mächtigen Sinneswandel, dessen Zeuge er geworden war, als sie zusammen den Tod des Künstlermodells untersucht hatten, das in die Prostitution gezwungen worden war. Nur widerwillig hatte Monk damals Runcorns Güte erkannt, die er weder ignorieren noch gering schätzen konnte. Er hatte ihn dafür wirklich gemocht.

»Also ging sie Miss Baltimore besuchen …«, drängte Runcorn.

Hester kam mit einer Kanne frischen Tees zurück, schenkte, ohne etwas zu sagen, Runcorn eine Tasse ein und schob sie ihm hin. Er nickte dankend, wandte den Blick jedoch nicht von Monk ab.

»Ja«, antwortete Monk auf die Frage. »Dalgarno war dort, und ihre Gefühle füreinander waren nicht zu übersehen.«

Sie sahen beide zu Hester hinüber, und diese nickte.

Runcorn stieß ein entrüstetes Räuspern aus, das ohne viele Worte seine Wut und seine Verachtung ausdrückte.

»Wo war er letzte Nacht«, fragte Monk, der wusste, dass Runcorn das herausgefunden hatte.

Runcorn verzog das Gesicht plötzlich zu einem Lächeln. »Allein in seiner Wohnung«, sagte er mit tiefer Befriedigung. »So behauptet er zumindest. Aber er kann es nicht beweisen. Der Diener hatte frei, kein Pförtner, keine Besucher.«

»Also hätte er in die Cuthbert Street gehen können?« Monk war überrascht über die Mischung aus Gefühlen, die in ihm wach wurden. Hätte Dalgarno Rechenschaft über seine Zeit ablegen können, hätte das bedeutet, dass er nicht schuldig sein konnte – zumindest hätte er Katrina dann nicht eigenhändig umbringen können. Das hätte die Frage neu aufgeworfen. Monk kannte niemanden sonst, der einen Grund haben könnte, Katrina etwas anzutun. Aber es bereitete ihm auch mehr Unbehagen, als er sich hätte vorstellen können, denn er dachte daran, wie sie dem Mann entgegengetreten war, den sie so tief geliebt hatte, und in seinen Augen gesehen hatte, dass er sie umbringen wollte. Hatte sie es gleich gewusst? Oder hatte sie im Zimmer oder auf dem Balkon gewartet und bis zum letzten Augenblick nicht glauben können, dass er es tun würde, hatte dann seine starken Hände gespürt und gemerkt, wie sie rückwärts taumelte und stürzte?

»Monk!« Runcorns Stimme unterbrach ihn in seinen Gedanken.

»Ja …«, knurrte er. »Was hat er noch gesagt? Wie hat er reagiert?«

»Auf ihren Tod?« Runcorns Abscheu war offensichtlich. »Mit vorgetäuschter Überraschung – und Gleichgültigkeit. Er ist das kälteste Schwein, mit dem ich je zu tun hatte. Von seinem Betragen hätte man schließen können, die ganze Angelegenheit sei eine Tragödie, die ihn kaum berührt, eine Sache, die er anstandshalber bedauert, die ihn aber in Wahrheit völlig gleichgültig lässt. Er hat ein Auge darauf geworfen, Partner bei Baltimore und Söhne zu werden, und das ist alles, was ihn interessiert. Ich kriege ihn, Monk, ich schwöre es!«

»Wir müssen ihm ein Motiv nachweisen«, sagte Monk und konzentrierte seine Gedanken auf das Thema. Wut, Empörung und Mitleid waren verständlich, aber damit erreichte er im Augenblick nichts.

»Gier«, sagte Runcorn einfach, als sei das eine Wort Verdammnis genug. Er griff nach seiner Tasse und trank, da er sich nicht verbrennen wollte, behutsam einen Schluck.

»Das beweist nicht, dass er sie umgebracht hat«, erwiderte Monk mit mühsam beherrschter Geduld. »Viele Menschen sind gierig. Er wäre nicht der erste Mann, der um einer reichen Erbin willen einer nicht so wohlhabenden Frau gegenüber sein Versprechen bricht, sobald er sicher ist, dass er bei Ersterer eine Chance hat. Es ist zwar abscheulich, aber noch kein Verbrechen.«

»Er hat kein Alibi.« Runcorn stellte seine Tasse ab und zählte die Punkte an den Fingern auf. »Er hätte in der Cuthbert Street sein können. Er ähnelt von der Gestalt her dem Mann, den der Zeuge auf dem Dach gesehen hat. Es war zwar nur ein flüchtiger Eindruck, aber mit Sicherheit war er elegant, dunkel, ein wenig größer als sie. Wobei sie für eine Frau ziemlich groß war.« Runcorn streckte einen zweiten Finger aus. »Er brauchte nur sein Gewicht und seine Körperkraft, um sie umzubringen. Und dann ist da noch dieser Knopf, den wir in ihrer Hand gefunden haben. Wir werden alle seine Kleider untersuchen.«

Monk spürte, wie ihn ein Frösteln durchlief und ihm dann am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Er betete darum, dass Runcorn es nicht merkte. Die Jacke mit dem fehlenden Knopf war in seinem Kleiderschrank im Schlafzimmer. Gott sei Dank hatte er sie nicht mit dem Papier zusammen in den Herd gestopft. Er hatte darüber nachgedacht!

»Hoffe, er hat das Kleidungsstück nicht beseitigt«, fuhr Runcorn fort. »Aber selbst wenn, irgendjemand wird wissen, dass er einen Umhang oder Mantel besaß, und wie will er dessen Verschwinden dann erklären?«

Monk sagte nichts. Sein Mund war trocken. Wo konnte er einen Knopf auftreiben, um den fehlenden zu ersetzen? Wenn er zu einem Schneider ging, fand Runcorn es womöglich heraus.

Runcorn hielt einen dritten Finger hoch. »Und ihre Beschuldigung, er sei in einen Betrug verwickelt; wir wissen, dass sie Sie beauftragt hat, es zu beweisen!«

Monk fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Im Grunde, es zu widerlegen«, entgegnete er.

»Und er wollte sie fallen lassen und die reiche Baltimore-Erbin heiraten«, fuhr Runcorn unbarmherzig fort. »Das ist mehr als Motiv genug.«

Hester blickte schweigend von einem zum anderen.

»Nur dann, wenn wir den Betrug beim Landankauf beweisen«, meinte Monk. »Und Livia Baltimore ist zwar möglicherweise ziemlich wohlhabend, aber sie ist keine reiche Erbin.«

»Sie wird eine sein, wenn Baltimore und Söhne rollendes Material nach Indien verkauft«, antwortete Runcorn leidenschaftlich. »Es wird sie alle reich machen, und das wird nur der Anfang sein. Da wird unendlich viel Geld fließen.«

Etwas huschte Monk durch den Kopf und verschwand wieder.

»Was ist?«, wollte Runcorn wissen und sah ihn eindringlich an.

Monk saß reglos da und versuchte, sich darauf zu besinnen, es an den Rändern seines Bewusstseins zu packen, aber es war verschwunden. »Ich weiß nicht«, gab er zu.

In Runcorns Augen flackerte kurz Wut auf, die dann aber in Verständnis überging. »Also, sagen Sie's mir, wenn es Ihnen wieder einfällt. In der Zwischenzeit muss ich sehen, dass ich Dalgarno auf den Betrug festnagle.« Er hob am Ende des Satzes leicht die Stimme, als wollte er, dass Monk den Gedanken für ihn zu Ende sprach.

»Ich helfe Ihnen«, sagte Monk sofort. Es war eine Feststellung. Er wollte etwas tun, ob es Runcorn recht war oder nicht.

Runcorn hatte doch sicher Katrinas Wohnung weiter durchsucht. Hatte er Briefe von Emma gefunden? Darauf wäre bestimmt ein Absender. Konnte er es wagen, danach zu fragen? Welche Ausrede konnte er vorbringen?

Der Augenblick verstrich.

Runcorn lächelte säuerlich. »Dachte ich mir.« Er zog einen Packen Papier aus der Tasche, etwa ein halbes Dutzend Blätter, und einen Augenblick hatte Monk das Gefühl, als hätte er laut gesprochen. »Hab die in Miss Harcus' Wohnung gefunden.« Runcorn sah ihn an, jeglicher Anflug von Bitterkeit war aus seinen Augen verschwunden. »Bestellscheine und Quittungen von Baltimore und Söhne. Sie hat ihn wirklich verdächtigt. Ganz schön riskantes Unterfangen, die an sich zu nehmen. Sie war eine tapfere Frau mit einer leidenschaftlichen Liebe zur Wahrheit.« Er hielt die Papiere hoch in die Luft. »Egal, wie sehr sie ihn liebte, sie hätte ihn nicht gedeckt. Als der Verdacht in ihr aufkam, war sie noch mit ihm verlobt, und in absehbarer Zeit hätte sie mit ihm geteilt, was er herausgeholt hätte.« Er schüttelte sehr langsam den Kopf. »Warum sind Menschen solche Narren, Monk? Warum war ihm unredlich verdientes Geld wichtiger als eine wirklich anständige Frau? Und obendrein war sie gut aussehend und jung.«

»Ich nehme an, weil sie ehrlich war«, antwortete Hester an Monks Stelle. »Sie liebte ihn nicht für das, was er war, sondern trotzdem. Vielleicht konnte sein Stolz damit nicht leben. Er sucht Bewunderung.«

»Dann hätte er ein Heiliger sein müssen«, sagte Runcorn angewidert. »Wie es aussieht, wird man ihn dafür hängen. Tut mir Leid, Mrs. Monk, aber so ist es nun mal.« Er hielt Monk die Papiere hin. »Hier, nehmen Sie die, und schauen Sie nach, ob Sie etwas finden. Ich werde mir mal Baltimores Finanzen vorknöpfen. Mal sehen, wie viel Geld Dalgarno bekam, entweder jetzt oder nach der Heirat mit Miss Baltimore.« Er wandte sich an Hester. »Vielen Dank für den Tee. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie gestört habe.«

Hester lächelte und stand auf, um ihn zur Tür zu bringen.

Monk stand mitten im Zimmer, die Hände geballt und zitternd, sodass die Papiere von seinem Griff ganz zerknittert waren.

Monk las alles, was Runcorn ihm dagelassen hatte, sorgfältig durch. Nichts, was Dalgarno mit irgendetwas anderem in Verbindung brachte als dem Wunsch, einen möglichst großen Profit zu erzielen, und das hatten alle Geschäftsleute gemein. Nichts Ungesetzliches, nicht einmal eine Unterschlagung. Alles, was die Unterlagen zeigten, war, dass Dalgarno mit allen Aspekten der Vermessung und dem Angebot und Kauf von Land zu tun gehabt hatte. Aber das gehörte zu seinen Pflichten. Jarvis Baltimore war offensichtlich für den Ankauf von Bauholz, Stahl und anderen für die Strecke notwendigen Materialien verantwortlich gewesen, und Nolan Baltimore hatte das ganze Unternehmen geleitet und sich um die Regierung und die Konkurrenz gekümmert. In den Pioniertagen der Eisenbahn, etwa eine Generation vor ihnen, war der Wettstreit zwischen den Eisenbahngesellschaften sehr viel erbitterter geführt worden, aber auch heute noch brauchte man Wissen, Können und die richtigen Verbindungen, um erfolgreich zu sein.

Die einzige Sache, die sich Monk einprägte, als er die Papiere ein drittes Mal durchblätterte und Hester die wichtigsten Briefe laut vorlas, war, dass die erwarteten Gewinne nicht übermäßig hoch waren.

»Den Baltimores muss es sehr gut gehen«, bemerkte sie. »Aber ein Vermögen ist es nicht gerade.«

»Nein«, pflichtete er ihr zerknirscht bei. »Für den Besitzer einer Eisenbahngesellschaft wohl kaum.«

Ihn bestürmte die Erinnerung, dass man Dundas der Veruntreuung weit größerer Summen als hier angeklagt hatte. Sie war nur flüchtig, so kurz, dass sie schon wieder verschwunden war, bevor er sie verstehen konnte. Sie hatte womöglich nichts mit dem gegenwärtigen Thema zu tun, aber vielleicht war sie auch der Schlüssel, das eine Element, das noch fehlte. Da war etwas, das alles miteinander verband und in einen logischen Zusammenhang stellte, aber es trieb stets knapp außerhalb seiner Reichweite, schmolz in einem Augenblick zu etwas Formlosem, um sich im nächsten beinahe zu offenbaren. Er griff danach, und schon war nur noch eine diffuse Angst da.

Es gab jedoch noch mehr Angst, und zwar mit klaren Konturen: Emma, der Katrina ganz offen anvertraut hatte, dass sie Monk nicht traute. Wer war sie, und warum hatte sie sich nicht gemeldet? Irgendwoher hatte sie sicher erfahren, dass Katrina ermordet worden war, durch Freunde, Klatsch, vielleicht sogar von einem Anwalt, dem Katrina ihre Angelegenheiten anvertraut hatte. Der kurze Blick in ihre Wohnung und die Kleider, die sie bei ihren Treffen getragen hatte, deuteten darauf hin, dass sie nicht mittellos war.

Wenn sie mit solcher Offenheit korrespondierten, standen sie sich nahe, schrieben sich häufig. Unter Katrinas Unterlagen war sicher eine Notiz – ihre Adresse oder zumindest etwas, woraus er schließen konnte, wo sie lebte.

Vielleicht wusste sie sogar etwas über Dalgarno, was Katrina ihr anvertraut hatte, etwas, das Runcorn helfen konnte.

Er musste noch einmal in Katrinas Wohnung. Die Frage war: Wäre es klüger, dreist im hellen Tageslicht hinzugehen und vorzugeben, er habe die Befugnis dazu, oder in der Nacht einzubrechen und darauf zu vertrauen, dass er nicht erwischt wurde? So oder so hatte er keine richtige Erklärung. Am schlimmsten wäre, wenn man ihn mit Emmas Adresse oder einem weiteren vernichtenden Brief von ihr in der Hand erwischen würde.

Aber es war zu riskant, ihn nicht zu holen, nicht nur, weil Runcorn ihn finden könnte. Zum ersten Mal in seinem Leben lagen – soweit er sich erinnerte – seine Nerven so blank, dass sie ihn verraten konnten, zumindest Hester gegenüber, und sie war ihm noch wichtiger als das Gesetz.

Er wusste nicht, ob es die mutigere Variante war, aber er entschied sich für tagsüber. Wenn er gefragt wurde, hatte er eher die Chance zu bluffen, und es ginge schneller. Er wollte es hinter sich bringen. Das Warten fiel ihm fast so schwer wie die Vorbereitung und die Durchführung.

Katrinas Haus war nicht bewacht, aber zwanzig Meter weiter sah er einen Streifenpolizisten. Sollte er warten, bis der Mann weiterging, und sich dann hineinschleichen und sich, wenn er erwischt wurde, eine Ausrede einfallen lassen? Oder wäre es besser, kühn auf ihn zuzuschreiten, ihn anzulügen, es sei ihm etwas eingefallen und er habe Runcorns Erlaubnis, die Wohnung zu betreten? Im Grunde hatte er sie ja. Runcorn wollte, dass er Dalgarnos Schuld bewies.

Es gab nur diese zwei Möglichkeiten, und die zweite barg Gefahren, aber sie war die bessere. Er zwang sich, nicht über die Folgen nachzudenken. Angst würde sich in seinem Gesicht zeigen, und wenn der Polizist gewieft war, würde er seine Unsicherheit sehen. Also ging er forsch auf ihn zu und blieb vor ihm stehen.

»Guten Morgen, Constable«, sagte er mit einem leichten Lächeln, das nicht mehr war als eine höfliche Geste. »Ich heiße Monk. Sie erinnern sich vielleicht an mich, von der Nacht, in der Miss Harcus umgebracht wurde.« Er sah Wiedererkennen im Gesicht des Mannes und eine Welle der Erleichterung. »Da ich Miss Harcus kannte und an einem Fall für sie arbeitete, hat Mr. Runcorn mich um Hilfe gebeten. Ich muss noch einmal ins Haus und nach etwas suchen. Ich brauche Sie nicht. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, damit Sie sich keine Sorgen machen, falls Sie mich dort sehen.«

»In Ordnung, Sir. Vielen Dank«, sagte der Polizist und nickte. »Wenn Sie mich brauchen, Sir, bin ich da.«

»Gut. Falls etwas ist, schicke ich nach Ihnen. Guten Tag.« Und bevor der Mann seine Anspannung bemerken konnte, drehte er sich um und ging, so schnell er es wagte, auf das Haus zu. Er hatte keine Schlüssel. Er würde am Schloss herumfingern müssen, um sich Eintritt zu verschaffen, aber das war eine Kunst, die er in den Tagen vor seinem Unfall von einem Meister gelernt und nicht wieder vergessen hatte.

Innerhalb von Sekunden war er im Haus und ging die Treppe zu Katrinas Wohnung hinauf. Ihre Wohnungstür zu öffnen ging noch schneller, und dann war er drin. Ein eigenartiges Gefühl umfing ihn, die Stille, der feine Staubfilm, der in dem Sonnenlicht, das durch das Erkerfenster fiel, auf dem Holz zu erkennen war. Für jemand anderen mochte es aussehen wie die Wohnung von jemandem, der in Urlaub war; für ihn war hier der Tod so gegenwärtig, als würde er ihn abwartend beobachten.

Er zwang seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was hier geschehen war, sich vorzustellen, wie Dalgarno, falls er es gewesen war, da gestanden hatte, wo Monk jetzt stand, sie umgarnt oder mit ihr gestritten hatte und dann mit ihr hinaus auf den Balkon getreten war – die letzten wütenden Worte, der Kampf und dann ihr Sturz …

Er suchte nach Papieren, Briefen, Adressbüchern. Wo konnten sie sein? In dem Tisch, wo Runcorn bereits nachgeschaut hatte, oder an einem ähnlichen Platz. Er ging rasch zum Sekretär, öffnete ihn und nahm sich erst die Ablagefächer vor und dann die Schubladen. Für eine Frau, die sich selbst um ihre Angelegenheiten kümmerte, waren sie überraschend leer, und nichts reichte weiter zurück als ein paar Monate. Wahrscheinlich war das der Zeitpunkt, an dem sie nach London gekommen war.

Es gab keine weiteren Briefe an Emma, was ihn nicht überraschte. Natürlich waren sie alle aufgegeben worden. Der Gedanke, dassEmma sie womöglichhatte,ließ ihn frösteln. Und es schien, als hätte Katrina die Briefe Emmas nicht aufgehoben, zumindest nicht im Schreibtisch. Er fand auch keine Adresse. Hattesiediesesogutgekannt,dasssiesie nichtnotierenmusste?

Er sah sich um. Wo konnte sie sonst noch Schriftliches aufbewahren? Wo kochte sie? Befanden sich ihre Kochbücher und Haushaltsabrechnungen woanders? Ein Tagebuch? Wo bewahrte eine Frau ihr Tagebuch auf? Im Nachttisch oder im Schlafzimmerschrank? Unter der Matratze, wenn es etwas sehr Persönliches enthielt.

Er suchte immer verzweifelter, versuchte, nicht nervös zu werden und methodisch vorzugehen, nichts zu übersehen, alles so zurückzulassen, wie er es vorgefunden hatte. Es gab keine weiteren Briefe, kein Adressbuch, nur Kochrezepte, wie jede Frau sie hatte, und kurze Notizen, wie besonders empfindliche Stoffe zu waschen waren.

Kurz bevor er aufgeben wollte, fand er das Tagebuch. Er hatte sich mit schweißnassem Gesicht aufs Bett gesetzt, die Enttäuschung hatte seine Hände starr und ungeschickt gemacht, da spürte er etwas Hartes in dem mit Spitzen besetzten Zierkissen, das am Kopfende auf der Tagesdecke lag. Er griff in den Bezug und zog ein kleines gebundenes Buch hervor. Er wusste augenblicklich, was es war, und schlug es auf, wobei er aus Angst, was er wohl finden würde, die Luft anhielt. Es konnte alles enthalten, weitere Zweifel an ihm, Worte, die Dalgarnos Schuld bewiesen oder die eines anderen, oder auch gar nichts von Bedeutung. Und er verabscheute es, in ihre Privatsphäre einzudringen. Tagebücher waren oft schrecklich persönlich. Er wollte es nicht lesen, aber er musste.

Auf dem Vorsatzblatt war eine Widmung: »Für meine liebste Katrina, von Deiner Tante Eveline.« Er blätterte die Seiten flüchtig durch. Das erste Datum war älter als zehn Jahre, und die Einträge waren nur sporadisch erfolgt, manchmal kaum mehr als ein Datum, zuweilen eine ganze Seite, wichtige Ereignisse waren auch schon einmal auf zwei Seiten festgehalten. Er hatte keine Zeit, alle zu lesen, und so konzentrierte er sich auf die jüngsten Eintragungen, besonders seit sie Dalgarno kennen gelernt hatte.

Er hatte ein schlechtes Gewissen, als er las, was in einigen Fällen die geheimsten Gedanken einer jungen Frau waren über die Menschen in ihrem Leben und die Gefühle, die sie in ihr erweckten. Oft waren ihre Worte jedoch so rätselhaft, dass er nur Vermutungen anstellen konnte, was er lieber nicht tat. Er stellte sich vor, was er empfinden würde, hätte er je seine Gedanken dem Papier anvertraut und ein vollkommen Fremder würde sie lesen.

Er fand den Brief von Emma fast am Ende des Buches. Er war in der gleichen gedrängten, geneigten Handschrift geschrieben wie der, den er verbrannt hatte. Er war sehr viel unspezifischer, enthielt nur Worte allgemeiner Zuneigung, als sei er eine Antwort auf einen Brief von Katrina, der keiner Wiederholung bedurfte, um seinerseits verstanden zu werden.

Er las ihn zweimal, dann faltete er ihn wieder zusammen, legte ihn in das Tagebuch und schob dieses vorsichtig in seine Tasche. Offensichtlich hatte Runcorn es nicht gefunden, also würde er es auch nicht vermissen. Er konnte es später lesen und sehen, ob irgendetwas zu Emma führte.

Keine halbe Stunde nachdem er die Wohnung betreten hatte, stand er wieder auf der Straße, sagte dem Polizisten, er hätte bedauerlicherweise nichts gefunden, und dann wünschte er ihm einen guten Tag und ging mit raschen Schritten auf die große Verkehrsstraße zu.

Die Spätausgabe wurde an diesem Abend von einer Nachricht beherrscht: MICHAEL DALGARNO WEGEN DES BRUTALEN MORDES AN KATRINA HARCUS VERHAFTET. ZWEITE TRAGÖDIE FÜR BALTIMORE UND SÖHNE.

Runcorn musste glauben, dass er genug hatte, um vor Gericht zu gehen. Himmel, hoffentlich hatte er Recht!

Aber Runcorn war sich alles andere als sicher. Monk wusste es in dem Augenblick, als er ihn am nächsten Morgen zu Gesicht bekam, auch wenn er es leugnete. Sie waren in Runcorns Büro, der ganze Tisch war mit Unterlagen bedeckt, und das Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, malte helle Muster auf den Fußboden.

»Natürlich reicht es!«, antwortete Runcorn. »Er hat die Investoren von Baltimore und Söhne beim Kauf von Land betrogen, und Katrina Harcus wusste es. Sie sagte es ihm auf den Kopf zu und bat ihn, damit aufzuhören. Er hatte zwei Gründe, ihren Tod zu wünschen.« Er hielt zwei Finger in die Luft. »Damit sie wegen des Betrugs schwieg, für den sie womöglich einen Beweis hatte, den er dann vernichtete. Das hat sie Ihnen so gut wie gesagt. Und er hatte jetzt die Chance, Livia Baltimore zu heiraten, die in Kürze eine reiche Frau sein wird.« Er sah Monk herausfordernd an. »Ob er etwas mit Nolan Baltimores Tod zu tun hatte oder nicht, werden wir wohl nie erfahren. Möglich wäre es.« Er holte Luft und hielt einen weiteren Finger hoch. »Hinzu kommt, dass er nicht beweisen kann, wo er zum Zeitpunkt ihres Todes war. Er behauptet, er sei zu Hause gewesen, aber es gibt niemanden, der das bezeugen kann.«

»Was ist mit dem Umhang?«, fragte Monk und wünschte im selben Augenblick, er hätte nichts gesagt. Es erinnerte Runcorn sicher auch an den Knopf, und er hatte sich noch nicht seiner Jacke entledigt oder die Gelegenheit gefunden, einen Ersatzknopf zu besorgen, falls er das überhaupt wagte.

Runcorn seufzte gereizt. »Keine Spur davon«, sagte er. »Kann niemanden finden, der ihn in einem Umhang oder etwas Ähnlichem gesehen hat. Er hatte ein Cape für die Oper.« Sein Tonfall deutete an, was er davon hielt. »Aber das hat er noch.«

Monk war enttäuscht.

»Auch mit dem Knopf nichts«, fuhr Runcorn fort. »An keinem seiner Mäntel und Jacken fehlt einer, und sein Diener sagt, es sei alles da.«

»Dann hängt alles daran, ob es einen Betrug gibt«, meinte Monk. Er sagte es ungern, aber es war die Wahrheit. »Und das können wir nicht beweisen.«

»Das Land!«, sagte Runcorn trotzig und schob das Kinn vor. »Sie haben doch erzählt, es gäbe dort Kaninchen, Sie hätten sie mit eigenen Augen gesehen. Könnte denn ein Hügel, in den eine Kolonne von Streckenarbeitern keinen Tunnel gesprengt kriegt, so einfach von Kaninchen durchbuddelt werden, Donnerwetter noch mal?«

»Natürlich nicht. Zumindest hoffe ich das«, sagte Monk sarkastisch. »Aber selbst wenn es deswegen ein wenig mehr Gewinn gab, dann nicht, weil Dalgarno der Besitzer des Landes war, über das die Strecke nach der Umleitung führte.«

»Warum haben sie es dann getan, wenn es keinen Gewinn abwarf?«, wollte Runcorn wissen.

Monk war geduldig. »Ich habe nicht gesagt, dass es keinen Gewinn gab, nur, dass er nicht deswegen gemacht wurde, weil Dalgarno dieses Stück Land besaß. Es war nicht seines und auch nicht das der Baltimores. Vielleicht ging es um Schmiergeld. Jemand hat gut dafür bezahlt, dass die Strecke nicht über sein Land führte, aber dafür haben wir keinerlei Beweise, und ich glaube auch nicht, dass Katrina welche hatte. Zumindest hat sie mir nichts davon erzählt …« Er unterbrach sich.

»Was?«, sagte Runcorn schnell. »Was ist, Monk? Sie haben sich an etwas erinnert!«

»Ich glaube, sie wusste noch etwas, was sie mir noch nicht gesagt hatte«, räumte er ein.

»Dann war es das!« Runcorns Miene erhellte sich. »Das war der Beweis, den sie Ihnen geben wollte, aber Dalgarno hat sie vorher umgebracht! Sie wollte noch einmal versuchen, ihn zu überreden, es aufzugeben …«

»Dafür haben wir keinen Beweis!«, schnitt Monk ihm das Wort ab.

»Sehen Sie!« Runcorn ballte die Faust und konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht damit auf den Tisch zu schlagen. »Dieser Betrug ist eine Kopie des ersten, für den Arrol Dundas vor sechzehn Jahren verurteilt wurde, nicht wahr?«

Monk spürte, dass sein Körper sich anspannte. »Ja«, sagte er sehr leise.

»Worüber Nolan Baltimore Bescheid gewusst haben muss, entweder damals oder als alles vor Gericht herauskam?«, drängte Runcorn.

»Ja …«

»Gut. Also, dieser Dundas war kein Narr. Er kam eine ganze Zeit damit durch – fast hätte man ihn ja gar nicht erwischt. Nolan Baltimore wusste alles darüber, womöglich auch Jarvis Baltimore – und sehr wahrscheinlich auch Michael Dalgarno. Es gehört schließlich zur Geschichte der Gesellschaft. Finden Sie heraus, wie Dundas aufflog, Monk. Finden Sie die Einzelheiten, Stück für Stück.«

»Es war das Land«, sagte Monk müde. »Er kaufte es, bevor die Eisenbahntrasse verlegt wurde, und verkaufte es ihnen dann teuer, nachdem er den Vermessungsbericht über die Höhe und Beschaffenheit des Hügels gefälscht hatte.«

»Und Baltimore und Söhne macht diesmal genau dasselbe und leitet die Strecke wieder um?« Runcorn machte große Augen. »Und ich soll glauben, das sei alles nur Zufall? Unsinn! Dalgarno wusste alles über das erste Mal, und er hat genau den gleichen Trick angewandt … aus einem sehr guten Grund. Irgendwo steckt da für ihn ein Gewinn drin. Und Katrina fand einen Beweis dafür. Sie kennen sich mit Eisenbahnen aus, Sie wissen, wie Bankgeschäfte abgewickelt werden – finden Sie's raus, und zwar bevor wir vor Gericht gehen! Ich sorge dafür, dass Sie das Geld bekommen, um nach Liverpool oder, falls erforderlich, auch woandershin zu reisen. Bringen Sie Beweise mit.«

Monk konnte sich nicht weigern, ebenso sehr um seinetwillen wie um Runcorns oder Katrinas willen. Er streckte die Hand aus, und nachdem er ihn einen Augenblick ausdruckslos angeschaut hatte, zog Runcorn seine Schreibtischschublade auf, holte sechs Guineen heraus und drückte sie Monk in die Hand. »Ich schicke Ihnen noch was, falls Sie mehr brauchen«, versprach er. »Aber bleiben Sie nicht unnötig lange weg. Man bringt ihn sicher bald vor Gericht.«

»Ja«, meinte Monk. »Ja, vermutlich.« Er steckte das Geld in die Tasche und ging zur Tür hinaus.