7
In dem Haus am Coldbath Square war kaum etwas zu tun, denn die Frauen, die sonst kamen, arbeiteten nicht und kamen folglich auch nicht zu Schaden. Die Anwohner hatten zum Großteil Möglichkeiten gefunden, der ständigen Polizeipräsenz aus dem Weg zu gehen, und betätigten sich jetzt anderswo, aber auf den ersten Blick war die Farringdon Road fast so wie immer. Nur ein geübtes Auge sah, wie zurückhaltend sich die Straßenhändler benahmen und dass die Menschen sich ständig über die Schulter sahen, nicht weil sie Taschendiebe oder Kleinganoven fürchteten, sondern wegen der allgegenwärtigen Polizisten, die in frustrierter Langeweile überall herumstanden.
»Sitzen uns im Nacken wie ein Jockey, der sein Pferd prügelt, das nicht laufen will«, sagte Constable Hart unglücklich und hielt einen Becher heißen Tee in beiden Händen. Er saß Hester gegenüber an dem kleineren der beiden Tische. »Und wir laufen nicht, weil wir nicht können!«, fuhr er fort. Es war Nachmittag, und es regnete. Sein nasser Umhang hing an einem Haken neben der Tür. »Wir stehen nur rum und sehen dumm aus und machen alle wütend auf uns«, beschwerte er sich. »Nur damit die Familie Baltimore und ihre Freunde das Gefühl haben, wir räumen London auf.« Seine empörte Miene brachte seine Gefühle eindeutig zum Ausdruck.
»Ich weiß«, sagte sie mitleidig.
»Das ist noch niemandem gelungen, und das wird auch niemandem gelingen«, fügte er hinzu. »London will nicht aufgeräumt werden. Die Straßenmädchen sind nicht das Problem. Das Problem sind die Männer, die sie aufsuchen!«
»Natürlich«, räumte Hester ein. »Möchten Sie etwas Toast?«
Die Frage war, wie vorauszusehen gewesen war, natürlich vollkommen überflüssig. Sein Gesicht erhellte sich.
Er räusperte sich. »Haben Sie Schwarze-Johannisbeer-Marmelade?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Natürlich.« Sie lächelte, und er wurde ein bisschen rot. Sie stand auf und schnitt Brot, röstete es, auf eine Gabel gespießt, am Herdfeuer und brachte es dann zusammen mit Butter und Marmelade an den Tisch.
»Danke«, sagte er mit vollem Mund.
Sie und Margaret hatten in den letzten Tagen versucht, mehr Spendengelder aufzutreiben, und weitere Gespräche mit Jessop geführt, die je nach Stimmung von beschwichtigend bis streitbar verlaufen waren. Noch nie hatte Hester eine so starke Abneigung gegen jemanden empfunden. »Sind Sie der Aufklärung des Mordes an Baltimore einen Schritt näher gekommen?«, fragte sie Hart.
Er starrte finster auf die Krümel auf seinem Teller und zuckte die Achseln. »Nicht, soweit ich weiß«, räumte er ein. »Die Mädchen von Abel Smith versichern hoch und heilig, dass sie es nicht waren, und ich für meinen Teil glaube ihnen. Was nicht heißt, dass die hohen Tiere auf das hören würden, was ich sage.« Als er aufschaute, war sein Gesicht voller Zorn.
»Aber ich will verflucht sein, wenn ich zulasse, dass irgendein armes Weib für Mord gehängt wird, nur um Baltimores Familie und seinesgleichen zufrieden zu stellen und die Lage wieder zu beruhigen. Sie können noch so sehr beteuern, dass sie es gerne anders hätten!«
Hester fröstelte. »Glauben Sie, jemand würde so etwas tun wollen?«
Er hörte den Zweifel in ihrer Stimme. »Sie sind eine nette Dame, anständig erzogen. Sie gehören nicht hierher«, sagte er freundlich. Er sah sich in dem großen Raum mit den Eisenbetten, den gemauerten Spülsteinen am anderen Ende und den Krügen und Eimern mit Wasser um. »Klar, wenn's draufankommt. So kann's ja nicht mehr lange weitergehen. Richtig und Falsch bekommt 'nen anderen Anstrich, wenn man 'ne Weile hungrig gewesen ist oder in einer Türöffnung geschlafen hat. Ich hab's gesehen. Es verändert die Menschen, und wer wollte ihnen was vorwerfen?«
Sie überlegte, ob sie ihm von Squeaky Robinson und seinem Etablissement der besonderen Art erzählen sollte, das offensichtlich irgendwo in der Nähe der Brauerei Reid's an oder in der Portpool Lane lag. Sie hörte ihm nur halb zu, während sie darüber nachdachte.
»Aber sicher«, stimmte sie ihm geistesabwesend zu. Wenn sie es Hart erzählte, würde er sich verpflichtet fühlen, es seinen Vorgesetzten zu berichten, und sie würden hineinstolpern und Robinson womöglich warnen, ohne irgendetwas über Baltimore zu erfahren. Robinson würde es abstreiten wie alle anderen. Wahrscheinlich hatte er das längst getan.
»So sicher bin ich mir gar nicht, dass wir die Wahrheit herausfinden möchten«, fuhr Hart düster fort. »Wenn man bedenkt, was wohl dabei rauskommt.«
Jetzt wurde sie aufmerksam. »Nicht herausfinden?«, sagte sie. »Sie meinen, sie bleiben einfach, so lange sie lustig sind, und sagen dann, sie geben auf? Sie können die halbe Polizei von London ja nicht ewig in Coldbath abstellen.«
»Höchstens noch ein paar Wochen«, stimmte er ihr zu. »Letztendlich wäre es einfacher.«
»Einfacher für wen?« Ohne ihn zu fragen, schenkte sie ihm noch Tee ein, und er dankte ihr mit einem Nicken.
»Für die, die ihr Vergnügen in den Häusern hier suchen«, meinte er. »Aber in erster Linie für diejenigen, die bei der Polizei das Sagen haben.« Er schnitt eine Grimasse und schüttelte leicht den Kopf. »Möchten Sie der Familie Baltimore erzählen müssen, dass Mr. Baltimore herkam, um sich zu befriedigen und sich am Ende womöglich weigerte zu bezahlen, was er schuldig war, und deswegen irgendwo in einer Gasse Streit mit einem Zuhälter bekam? Aber der Zuhälter hat die Oberhand gewonnen und ihn umgebracht. Vielleicht wollte er es nicht mal, aber als es passiert war, war's zu spät, und dann hat er die eine oder andere alte Rechnung beglichen, indem er den Toten bei Abel Smith abgeladen hat?«
Sie kniff die Lippen zusammen und runzelte die Stirn.
»Wir wissen, dass es so gewesen sein kann«, fuhr er fort. »Aber wissen und sagen sind zwei verschiedene Dinge. Und dafür zu sorgen, dass andere Leute es erfahren, ist noch mal was völlig anderes! Einiges sagt man besser nicht laut.«
Damit war ihr Entschluss gefasst. Wenn die Wahrheit die war, die Hester fürchtete – wenn der Mord an Baltimore aus persönlicher Rache geschehen war, entweder weil er sich als Kunde einer Prostituierten schlecht benommen hatte oder weil er in den Eisenbahnbetrug verwickelt war, den er oder ein anderes Familienmitglied angezettelt hatte –, dann wäre die Polizei auf keine dieser beiden Antworten erpicht.
»Sie haben Recht«, stimmte sie ihm zu. »Möchten Sie noch etwas Toast mit Marmelade?«
»Das ist sehr höflich von Ihnen, Miss«, dankte er ihr und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ach ja, warum nicht?«
Hester wusste, dass sie eine Ausrede brauchte, um Squeaky Robinson einen Besuch abzustatten. Kurz nachdem Hart gegangen war, kam Margaret, und die beiden kümmerten sich erst einmal um Fanny und Alice, die sich allmählich erholten. Als der Nachmittag dahinschwand und die Luft deutlich kühler wurde, holte Hester mehr Kohlen für den Kamin herein und überlegte, ob sie Margaret nach Hause schicken sollte. Die Straßen waren ruhig, und Bessie würde die ganze Nacht da sein.
Margaret saß am Tisch und schaute unglücklich auf den Medizinschrank, den sie vor kurzem wieder aufgefüllt hatte.
»Ich habe noch einmal mit Jessop gesprochen«, sagte sie mit angespannter Miene. Die Verachtung ließ die Linien ihres Mundes hart werden. »Als ich ein Kind war, hat meine Gouvernante mir immer gesagt, eine gute Frau sehe in jedem Menschen nur die guten Seiten.« Sie zuckte bedauernd die Achseln. »Ich habe ihr geglaubt, vermutlich, weil ich sie wirklich gern hatte. Die meisten Mädchen rebellieren gegen ihre Lehrer, aber sie war so nett und witzig. Sie hat mir alles Mögliche beigebracht, was nicht von praktischem Nutzen, aber einfach interessant war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich jemals irgendwo Deutsch sprechen muss. Und sie ließ mich auf Bäume klettern und Äpfel und Pflaumen pflücken – solange ich ihr welche abgab. Sie liebte Pflaumen!«
Hester hatte ein Bild vor Augen, wie die junge Margaret, das Haar zu Zöpfen geflochten, in einem fremden Obstgarten gegen das Verbot ihrer Eltern auf einen Apfelbaum kletterte, ermutigt von einer jungen Frau, die ihre Stellung aufs Spiel setzte, um einem Kind eine Freude zu machen und ihr ein kleines verbotenes, aber weitgehend harmloses Vergnügen zu bereiten. Sie lächelte. Es war ein anderes Leben, eine ganz andere Welt als diese hier, wo Kinder stahlen, um zu überleben, und nicht wussten, was eine Gouvernante war. Nur wenige gingen, wenn überhaupt, in eine Armenschule. Geschweige denn, dass sie Privatunterricht erhielten oder in den Genuss von Lektionen über Moral kamen.
»Aber selbst eine Miss Walter hätte wohl nichts Gutes an Mr. Jessop finden können«, schloss Margaret. »Ich wünschte mir leidenschaftlich, wir hätten nicht ausgerechnet ihn als Vermieter.«
»Ich auch«, meinte Hester. »Nur um ihn loszuwerden, suche ich schon die ganze Zeit nach etwas anderem, aber bislang habe ich noch nichts gefunden.«
Margaret wandte den Blick von Hester ab, über ihre Wangen zog sich eine leichte Röte. »Glauben Sie, Sir Oliver kann den Frauen, die bei dem Wucherer in der Kreide stehen, helfen?«, fragte sie vorsichtig.
Wieder empfand Hester die merkwürdige Beklommenheit einer Veränderung, einer ganz schwachen Einsamkeit, da Rathbone sie nicht mehr so verehrte wie früher. Sie waren immer noch in Freundschaft verbunden, und wenn sie sich nicht gerade danebenbenahm, würde das auch so bleiben. Mehr als Freundschaft hatte sie ihm nie geboten. Monk jedoch liebte sie. Und wenn sie auch nur ein kleines bisschen ehrlich war, dann hatte sie das schon immer getan. Liebe unter Freunden fühlte sich anders an, ruhiger und so viel sicherer. Diese Wärme verbrannte weder Fleisch noch Herz, doch entzündete sie auch nicht das Feuer, das alle Dunkelheit vertrieb.
Darum ging es doch. Wenn sie etwas für Rathbone oder Margaret empfand, und sie lagen ihr beide am Herzen, dann sollte sie sich für sie freuen, voller Hoffnung sein, dass sie kurz davor standen, die Art von Glück zu entdecken, die alle Kraft und alle Verpflichtung forderte, die man geben konnte.
Margaret schaute sie wartend an.
»Ich weiß, dass er sein Bestes tun wird«, sagte Hester. »Wenn etwas getan werden kann, dann wird er das tun.« Sie holte tief Luft. »Aber ganz unabhängig davon möchte ich vorher noch ein paar Erkundigungen darüber einholen, wo Mr. Baltimore umgebracht wurde, denn ich glaube Abel Smith, dass es nicht in seinem Haus geschah.«
Margaret warf ihr einen raschen Blick zu, und in ihren Augen lag jetzt eine andere Angst. »Hester, bitte seien Sie vorsichtig. Soll ich mit Ihnen kommen? Sie sollten nicht allein gehen. Wenn Ihnen etwas zustieße, würde niemand es je erfahren …«
»Sie würden es herausfinden«, unterbrach Hester sie. »Aber wenn Sie mich begleiteten, wüsste es niemand, außer Bessie vielleicht. Ich glaube, ich würde mich lieber darauf verlassen, dass Sie mich retten.« Sie lächelte, um der Bemerkung ihre Schärfe zu nehmen. »Aber ich verspreche Ihnen, dass ich vorsichtig sein werde. Ich habe eine Idee, die, selbst wenn ich nichts erfahre, für uns von Vorteil sein könnte. Jedenfalls was Spendengelder anbelangt, und zudem ein Knüppel zwischen Mr. Jessops Beine wäre, was mir wirklich gefallen würde.«
»Mir auch«, meinte Margaret. »Aber nicht, wenn Sie sich dafür in Gefahr begeben.«
»Es ist nicht gefährlicher, als jeden Abend hierher zu kommen«, versicherte Hester ihr, wobei sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Aber sie fand, es war das Risiko wert, zumal dieses alles in allem nur gering war. Sie stand auf. »Sagen Sie Bessie, ich bin spätestens gegen Mitternacht wieder da. Wenn nicht, können Sie Constable Hart informieren und einen Suchtrupp nach mir ausschicken.«
»Ich bleibe auch hier«, antwortete Margaret. »Sagen Sie mir, wohin Sie gehen, damit ich weiß, wo sie suchen sollen.« Sie lächelte zurückhaltend, aber ihre Augen waren vollkommen ernst.
»In die Portpool Lane«, sagte Hester. »Ich habe so ein Gefühl, dass ich einen Mr. Robinson aufsuchen sollte, der dort ein Etablissement unterhält.« Sie fühlte sich besser, als sie es Margaret gesagt hatte, und während sie ihr Umschlagtuch umlegte und die Tür zum Coldbath Square öffnete, war sie zuversichtlicher als noch wenige Augenblicke zuvor. In der Tür drehte sie sich um. »Vielen Dank«, sagte sie ernst und ging, bevor Margaret antworten konnte, rasch durch den Regen über den Gehsteig und bog in die Bath Street ein.
Auch als sie außer Sichtweite des Coldbath Square war, verlangsamte sie ihr Tempo nicht, denn eine Frau, die allein unterwegs war, erweckte besser den Eindruck, sie habe ein Ziel. Zudem wollte sie sich nicht die Zeit geben, noch einmal darüber nachzudenken, was sie vorhatte, um nicht die Nerven zu verlieren. Dass Margaret sie besonders für ihren Mut so überaus bewunderte, war, wie Hester nun überrascht feststellte, sehr kostbar. Die flatternde Angst in ihrer Magengrube zu überwinden, nur um zum Coldbath Square zurückkehren und sagen zu können, dass sie ihren Plan ausgeführt hatte, egal, ob sie etwas in Erfahrung brachte oder nicht – das war es ihr wert.
Es ging nicht um Stolz, obwohl sie zugeben musste, dass er auch dazugehörte. Sie wollte auch Margarets hoher Meinung von ihr gerecht werden. Desillusionierung war bitter, und womöglich hatte sie Margaret bereits enttäuscht. Sie war ein paar Mal kurz angebunden gewesen und hatte in Situationen, wo es angemessen gewesen wäre, mit Lob gegeizt. Das Wissen, dass Monk etwas vor ihr verbarg, was ihn quälte, hatte sie in eine ungewohnte Isolierung hineingetrieben, was sich auch auf ihre Freundschaften auswirkte.
Sie konnte zumindest die Rolle der Tapferen so spielen, wie man es von ihr erwartete. Auch für sie selbst war es wichtig, allem, was sie sich vornahm, gewachsen zu sein. Körperlichen Mut zu beweisen war leicht, verglichen mit der inneren Stärke, die man brauchte, um seelisches Leid zu ertragen.
Wie auch immer, Squeaky Robinson war womöglich ein ganz gewöhnlicher Geschäftsmann, der nicht die Absicht hatte, gegen jemanden anzugehen, wenn er nicht bedroht wurde, und sie würde sich vorsehen. Sie unternahm nur eine kleine Expedition, um sich umzusehen und etwas zu erfahren.
Die riesigen Mauern der Brauerei erhoben sich dunkel in den regengepeitschten Himmel, und in der Luft lag ein süßer, fauliger Geruch.
Dort, wo die Portpool Lane direkt unter den gewaltigen Mauern entlanglief, war Hester gezwungen, stehen zu bleiben. Sie sah nicht mehr, wohin sie trat. Unaufhörlich tropfte es von den Dachvorsprüngen. In den Torwegen lagen Schatten, Bettler ließen sich für die Nacht nieder. Eingedenk der Tatsache, dass sie sich in unmittelbarer Nähe eines Bordells befand, in dem sie selbst hätte landen können, wäre das Schicksal nicht so gnädig zu ihr gewesen, war die Chance, dass man sie für eine Prostituierte hielt, ziemlich hoch. Aber keine hundert Meter von hier war sie erst an einem Wachtmeister vorbeigekommen. Sicher, er war nicht mehr in Sichtweite, aber seine Gegenwart reichte, solche Kunden abzuschrecken, die mehr als häufig hier verkehrten.
Sie lehnte sich an die Mauer der Brauerei, blieb von der Kante des schmalen Randsteins weg, wo das Licht der Straßenlaternen auf die nassen Pflastersteine schien. Mit dem Schultertuch auf dem Kopf, das den größten Teil ihres Gesichts verdeckte, sah sie nicht gerade aus, als wollte sie Aufmerksamkeit erregen. Die Gasse war mehrere hundert Meter lang und führte in die Gray's Inn Road, eine breite Straße, auf der bis weit nach Mitternacht Betrieb herrschte. Gleich um die Ecke lag das Rathaus. Squeaky Robinson hatte sein Haus wahrscheinlich eher in einer der düsteren Gassen an diesem Ende, hier gegenüber der Brauerei. Sicher liebten seine Kunden es so diskret wie möglich.
Ob sich Männer mit bestimmten Neigungen wohl schämten? Sicher wollten sie es vor der Allgemeinheit geheim halten, aber auch voreinander? Würden sie hierher kommen, auch wenn ihresgleichen es wüsste? Sie hatte keine Ahnung, aber vielleicht sollte ein solches Haus klugerweise mit mehr als einem Eingang ausgestattet sein – vielleicht sogar mit mehr als zwei Türen? Eignen würden sich für Hinterausgänge die gegenüberliegenden Gassen, nicht am anderen Ende, wo sich ein großes vornehmes Gebäude und ein Hotel befanden, sondern hier.
Jetzt, da sie sich entschieden hatte, hatte es keinen Sinn, länger zu warten. Sie richtete sich auf, atmete tief ein, ohne an den süßlich, modrigen Geruch zu denken, und wünschte sich, sie wäre nicht so gedankenlos gewesen, denn sie musste husten und keuchen, wobei sie noch mehr einatmete. Sie sollte nie vergessen, wo sie war, keinen einzigen Augenblick! Ihre Unaufmerksamkeit verfluchend, überquerte sie die Straße und ging flott die erste Gasse rechts hinauf bis zum Ende, wo das Gebäude liegen musste, von dem aus man Zugang zu beiden Gassen und auf die schmale Straße auf der anderen Seite hatte.
Die Gasse war eng, aber weniger verdreckt, als sie erwartet hatte, und an einer Wandkonsole den halben Weg hinunter hing eine Lampe, die den Weg über die unebenen Steine beleuchtete. War es Zufall, oder kümmerte Squeaky Robinson sich um die Empfindlichkeiten seiner Kunden, indem er dafür sorgte, dass sie auf dem Weg zu ihrem Vergnügen nicht über Abfall stolperten?
Sie kam ans Ende der Gasse, und am Rand des Lampenscheins sah sie Stufen und eine Türöffnung. Sie hatte sich bereits zurechtgelegt, was sie sagen würde, und es gab keinen Grund zu zögern. Sie trat an die Tür und klopfte.
Diese wurde augenblicklich von einem Mann geöffnet. Er trug einen dunklen Anzug, der an den Rändern abgetragen und ihm trotz seiner durchschnittlichen Größe zu groß war. So wie er dastand, war er bei Bedarf jederzeit zu einem Kampf bereit. Er sah aus wie ein Raufbold, der einen heruntergekommenen Butler nachäffte. Vielleicht gehörte das zum Image des Etablissements. Er betrachtete sie ohne Interesse. »Ja, Miss?«
Sie sah ihm direkt in die Augen, denn sie wollte nicht für eine in Not geratene Bittstellerin gehalten werden, die im Bordell unterkommen wollte, um ihre Schulden zu begleichen.
»Guten Abend«, antwortete sie förmlich. »Ich würde gerne mit dem Besitzer sprechen. Ich glaube, einem Mr. Robinson? Wir haben vielleicht gemeinsame Geschäftsinteressen, bei denen wir einander von Nutzen sein könnten. Wären Sie so freundlich, ihm zu sagen, dass Mrs. Monk vom Coldbath Square ihn sprechen möchte?« Sie sagte es in dem Befehlston, den sie früher in ihrem alten Leben, vor ihrem Krim-Aufenthalt, gegenüber Dienstboten angeschlagen hatte, wenn sie die Tochter eines Freundes ihres Vaters besuchte.
Der Mann zögerte. Er war es gewöhnt, der Kundschaft zu gehorchen – das gehörte zum Geschäft –, aber Frauen waren »Inventar«, und als solche sollten sie tun, was man ihnen sagte.
Sie sah ihm weiterhin fest in die Augen.
»Verstehe«, räumte er ungnädig ein. »Sie kommen wohl besser rein.« Beinahe hätte er noch etwas hinzugefügt, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und führte sie den Gang hinunter in ein sehr kleines Zimmer, das kaum mehr war als ein großer Schrank, in dem ein Stuhl stand. »Warten Sie hier«, sagte er, ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.
Sie tat, wie ihr geheißen. Jetzt war nicht der Augenblick, Risiken einzugehen. Sie würde nichts erfahren, wenn sie herumschnüffelte, und sie hatte noch kein Interesse an dem Innern eines Bordells und hoffte, auch nie ein solches zu entwickeln. Es war leichter, mit den verletzten Frauen umzugehen, wenn sie nicht viel über deren Leben wusste. Sie kümmerte sich lediglich um medizinische Belange. Wenn man sie erwischt hätte, hätte sie sich Squeaky Robinson gegenüber nicht erklären können, und es war wichtig, dass er ihr glaubte. Sie musste die Wahrheit ohnehin schon beugen und dehnen.
Etwa eine Viertelstunde musste sie warten, bis die Tür wieder aufging und der Möchtegernbutler sie weiter in das Labyrinth des Gebäudes geleitete. Der Gang war schmal und niedrig. Die Fußböden unter den alten roten Teppichen waren zwar uneben, aber die Dielen knarrten nicht. Sie waren mit großer Sorgfalt festgenagelt worden, damit niemand sich durch einen Schritt verriet. Es war kein Geräusch zu hören, außer einem zufälligen Knacken im Gebäude, das Seufzen eines alten Balkens, der langsam faulte. Die Treppen waren steil und führten von dem einen Korridor nach oben und nach unten, als wären zwei oder drei verschachtelte Häuser miteinander verbunden worden, um ein Dutzend Ein- und Ausgänge zu schaffen.
Schließlich blieb der Butler stehen, öffnete eine Tür und bedeutete Hester mit einer Geste einzutreten. Das Zimmer überraschte sie, obwohl sich Hester erst beim Eintreten ihrer Erwartung bewusst wurde. Statt Düsterkeit und Gewöhnlichkeit fand sie einen großen Raum mit niedriger Decke, dessen Wände fast vollständig mit Regalen und Schränken voll gestellt waren. Der Holzfußboden war mit Teppichen belegt, und das wichtigste Möbelstück war ein riesiger Tisch mit einer Vielzahl von Schubladen. Auf ihm stand eine hell brennende Öllampe, die ein gelbliches Licht in alle Richtungen warf. Der Raum wurde von einem schwarzen Ofen an der gegenüberliegenden Wand gewärmt, und es war unaufgeräumt, aber sauber.
Der Mann, der in dem lederbezogenen Sessel saß, hatte ein schmales Gesicht, scharfe Augen, widerspenstiges grau-braunes Haar und leicht hochgezogene Schultern. Er betrachtete Hester mit intelligenter Wachsamkeit, aber nicht mit der üblichen Neugier angesichts einer Unbekannten. Es würde sie nicht wundern, wenn es sich bis hierher herumgesprochen hätte, dass sie das Haus am Coldbath Square führte.
»Also, Mrs. Monk«, sagte er ruhig. »Und welches Geschäft soll das sein, das Sie und mich verbinden sollte?« Seine Stimme war hell und weich, ein wenig nasal, aber nicht so quietschend, dass sie seinen Spitznamen erklärt hätte. Hester überlegte, wer ihm den wohl gegeben hatte.
Sie setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht abwimmeln lassen würde, bevor die Angelegenheit nicht zu ihrer Zufriedenheit geregelt war.
»So viele Frauen wie möglich für die Arbeit gesund zu halten, Mr. Robinson«, antwortete sie.
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Ich dachte, Sie, Mrs. Monk, seien eine wohltätige Frau. Würden Sie die Frauen nicht lieber in den Fabriken sehen, wo sie sich ihren Lebensunterhalt auf eine Weise verdienen, die von dem Gesetz und der Gesellschaft akzeptiert wird?«
»Mit gebrochenen Knochen verdient sich niemand seinen Lebensunterhalt«, entgegnete sie. Sie unterdrückte Wut und Verachtung und versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. Sie war hier, um ein Ziel zu erreichen, nicht um sich zu amüsieren. »Und meine Interessen gehen Sie nichts an, außer wenn sie sich mit Ihren überschneiden, die, wie ich vermute, darin bestehen, so viel Gewinn wie möglich zu machen.«
Er nickte langsam, und als das Licht über sein Gesicht zuckte, sah sie die Sorgenfalten darin, sah, wie grau seine Haut war, obwohl er gut rasiert war, selbst zu dieser frühen Abendstunde. In seinen Augen war ein winziges überraschtes Aufflackern zu erkennen, so winzig, dass es leicht missverstanden werden konnte.
»Und welche Art von Gewinn erwarten Sie?«, fragte er. Er griff nach einem Papiermesser und spielte damit herum. Seine langen, tintenverschmierten Finger waren ständig in Bewegung.
»Das ist meine Angelegenheit«, sagte sie schneidend und richtete sich so gerade auf, als säße sie in einer Kirchenbank.
Er war sichtlich verblüfft. Dass sie auch seine Neugier geweckt hatte, konnte er besser verbergen.
Sie lächelte. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Konkurrenz zu machen, Mr. Robinson«, sagte sie leicht belustigt. »Ich nehme an, Sie haben von meinem Haus am Coldbath Square gehört?«
»Das habe ich«, räumte er ein und sah sie eindringlich an.
»Ich habe einige Frauen behandelt, die, wie ich glaube, für Sie gearbeitet haben, aber das ist nur eine Vermutung«, fuhr sie fort. »Sie sagen es mir nicht, und ich frage sie nicht danach. Ich erwähne es nur, um Ihnen deutlich zu machen, dass sich unsere Interessen überschneiden.«
»Das sagten Sie bereits.« Er rollte das Papiermesser unablässig zwischen den Händen hin und her. Auf dem Tisch waren Papiere verstreut, die wie Bilanzunterlagen aussahen. Es waren Linien darauf und mehr Zahlen als Wörter. Die fehlenden Einkünfte setzten ihm sicher mehr zu als den meisten, was sie sich schon gedacht hatte. Und das stärkte sie.
»Das Geschäft läuft für niemanden gut«, bemerkte sie.
»Ich dachte, Sie machen's umsonst«, erwiderte er abrupt. »Insofern vergeuden Sie meine Zeit.«
»Dann will ich auf den Punkt kommen.« Sie konnte es nicht zulassen, dass er sie wegschickte. »Was ich tue, dient auch Ihren Interessen.« Sie formulierte es als Tatsache und ließ ihm nicht die Zeit, ihr zuzustimmen oder zu widersprechen. »Um meine Arbeit zu tun, muss ich Räumlichkeiten anmieten, und im Augenblick habe ich gewisse Probleme mit meinem Vermieter. Er stellt sich quer und droht immer wieder, die Miete zu erhöhen.«
Sie sah, dass sich sein Körper unter dem dünnen Jackett anspannte, eine leichte Veränderung der Sitzposition auf dem großen Stuhl. Sie überlegte, wie viel ihn die gegenwärtige Situation wohl schon gekostet hatte. War er knapp bei Kasse? War er selbst der Wucherer oder nur dessen Geschäftsführer? Von der Antwort auf diese Frage konnte ziemlich viel abhängen.
»Ich bin Geschäftsmann, Mrs. Monk, kein Wohltätigkeitsverein«, sagte Robinson scharf. Seine Tonlage stieg höher, seine Hände packten das Papiermesser noch fester.
»Natürlich«, sagte sie mit unveränderter Miene. »Ich erwarte aufgeklärtes Eigeninteresse von Ihnen, keine Spende. Sagen Sie mir, Mr. Robinson, haben Sie seit dem unglücklichen Tod von … Mr. Baltimore, wie er, glaube ich, hieß, viel eingenommen?«
Er kniff die Augen zusammen. »Sie kannten ihn?«, fragte er misstrauisch.
»Durchaus nicht«, antwortete sie. »Ich sagte ›unglücklich‹, weil sein Tod etwas unterbrochen hat, das man für diese Gegend als leidlich zufrieden stellende Lage der Dinge bezeichnen könnte, und für eine Polizeipräsenz gesorgt hat, ohne die wir alle besser zurechtkämen.«
Er schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann jedoch anders. Sie sah, dass er etwas schneller atmete und erneut sein Gewicht verlagerte, als täten ihm die Knochen weh.
»Die Polizei wird so lange bleiben, bis sie den Mörder gefunden hat«, fuhr sie fort. »Und das wird ihr vermutlich nicht gelingen. Man glaubt, dass er in Abel Smiths Haus in der Leather Lane gestorben ist.« Sie blickte ihn unverwandt an. »Ich halte das für unwahrscheinlich.«
Robinson schien kaum noch zu atmen. »Wirklich?« Er dachte sorgfältig über ihre Worte nach, woraufhin sie überlegte, ob er Angst hatte, und wenn ja, vor was oder wem.
»Es bestehen mehrere Möglichkeiten.« Sie blieb bei ihrem lässigen Ton, als besprächen sie etwas von nur geringer Wichtigkeit. »Und niemand wird bei der Entscheidung behilflich sein«, fügte sie hinzu. »Er wurde woanders umgebracht, entweder absichtlich oder zufällig. Und derjenige, der dafür verantwortlich ist, wollte verständlicherweise nicht dafür verantwortlich gemacht werden oder die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenken, und so hat er, ebenso verständlich, die Leiche woandershin gebracht. Das hätte jeder so gemacht.«
»Ich habe nichts damit zu tun«, erwiderte Robinson, aber sie bemerkte, dass sich seine Hände zu Fäusten ballten.
»Außer dass Sie es, wie wir alle, gerne sehen würden, wenn die Polizei abzöge und uns alle wieder unser normales Leben führe ließe.«
In seinen Augen flackerte für einen Augenblick Hoffnung auf, sehr kurz, aber unmissverständlich.
»Und Sie wissen, wie man das erreichen kann?«, fragte er. Jetzt waren seine Hände reglos, als müsste er sich mit aller Kraft auf sein Gegenüber konzentrieren.
Wenn sie es nur wüsste! Jeder Plan wäre in dieser Situation von Vorteil. Wenn dies das Haus war, wo Fanny und Alice gearbeitet hatten, würde sie alles daransetzen, ihn mit gesetzlichen Mitteln zu erledigen, sodass er und seine Partner, falls er welche hatte, den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen würden, vorzugsweise in der Tretmühle.
»Ich habe da gewisse Ideen«, wich sie aus. »Aber im Augenblick gilt meine größte Sorge der Suche nach neuen Räumlichkeiten zu besseren Bedingungen. Da es in Ihrem Interesse liegt, dass die … verunglückten … Frauen rasch, kostenlos und absolut diskret behandelt werden, dachte ich, Sie seien der geeignete Mann, mir in dieser Angelegenheit … einen Rat zu geben.«
Robinson saß ganz still da und musterte sie, während sich die Sekunden zu Minuten dehnten. Auch sie versuchte, ihn einzuschätzen. Sie erwartete keine Hilfe bei der Suche nach einem neuen Quartier; das war nur eine Ausrede, um ihn kennen zu lernen und sich das Haus anzusehen. Hatten Fanny, Alice und die anderen Frauen hier gearbeitet? Wenn sie Rathbone einen Namen und eine Adresse geben konnte, hatte er wenigstens eine erste Spur. War dieser schmalgesichtige Mann mit den sehnigen Schultern und dem sorgfältig rasierten Gesicht tatsächlich der profitgierige und prügelnde Wucherer? Oder war er nur ein einfacher Bordellbesitzer mit einem etwas besseren Etablissement?
Wegen irgendetwas war er nervös. Die hektischen Bewegungen seiner langen, dünnen Finger, die Blässe seines Gesichts, seine körperliche Anspannung, all das verriet Angst. Oder ging es ihm einfach nicht gut, und machte er sich um etwas ganz anderes Sorgen? Vielleicht ging er tagsüber nie nach draußen, und seine Blässe war Folge seines Lebenswandels.
Sie hatte wenig erfahren. Wenn sie etwas erreichen wollte, musste sie sich etwas weiter vorwagen. »Sie machen bestimmt Verluste«, sagte sie kühn.
Etwas in ihm veränderte sich. Es war so subtil, dass sie es nicht hätte beschreiben können, aber es schien, als hielte ihn eine verborgene Angst noch fester in ihren Klauen. Sie verlor den Mut. Sicher war sie am falschen Ort. Squeaky Robinson hatte weder die Nerven noch die Intelligenz für solch ein dreistes und kompliziertes Unternehmen. Um so etwas durchzuziehen, musste man langfristig planen können, den Gewinn im Auge behalten und dabei ruhig Blut und einen kühlen Kopf bewahren. Squeaky Robinson machte auf sie nicht den Eindruck, als besäße er auch nur eine dieser Eigenschaften. Die Panik in ihm war schon jetzt, da sie einander anstarrten, zu sehr spürbar.
Doch lag das sicher nicht an ihr. Sie hatte keine Drohung ausgesprochen, weder direkt noch indirekt. Sie besaß gar nicht die Macht, ihm an den Kragen zu gehen, und hatte auch nichts dergleichen angedeutet.
Fürchtete er sich womöglich vor seinem Partner? Der dies alles aufgebaut hatte und sich darauf verließ, dass er es Gewinn bringend führte, ohne das Auge des Gesetzes auf sich zu ziehen? War es das?
»Vielleicht sollten Sie sich lieber mit Ihrem Partner beraten, bevor Sie eine Entscheidung fällen«, sagte sie laut.
Squeaky fuhr so plötzlich zusammen, dass er sich mit dem Papiermesser stach und aufschrie. Er schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch rasch wieder. »Ich habe keinen Partner!« Er starrte wütend auf den roten Fleck an seiner Hand, dann blickte er sie zornig an, als wäre es ihre Schuld, dass er sich verletzt hatte.
Sie lächelte erstaunt.
»Sie suchen nach anderen Räumlichkeiten?«, sagte er vorsichtig.
»Womöglich«, antwortete sie. »Aber zu einem sehr guten Mietzins, und ohne Hin und Her, wie's Ihnen gerade passt, sondern mit einer richtigen geschäftlichen Vereinbarung. Wenn Sie sich mit niemand anderem beraten müssen, dann lassen Sie sich das, was ich gesagt habe, durch den Kopf gehen, und überlegen Sie sich, ob Sie mir helfen können. Es ist in Ihrem eigenen Interesse.«
Squeaky kaute auf der Lippe herum. Er wusste offensichtlich nicht, was er tun sollte, und der Druck, eine Entscheidung treffen zu müssen, brachte in noch mehr in Bedrängnis.
Hester beugte sich ein wenig vor. »Mr. Robinson, es wird noch schlimmer kommen. Je länger die Polizei hier ist, desto wahrscheinlicher ist doch, dass Ihre Freier gezwungen sind, sich andere Orte zu suchen, um sich zu amüsieren, und dann …«
»Was soll ich denn tun?«, platzte es aus ihm heraus, und jetzt quietschte seine Stimme so hoch, dass sie seinen Spitznamen rechtfertigte. »Ich weiß nicht, wer ihn umgebracht hat.«
»Ich auch nicht«, antwortete sie. »Sie vielleicht schon. Ein Mann, der ein solches Haus hier führen kann, muss gewiss die Ohren offen halten. Sie wären nicht so erfolgreich, wenn Sie nicht …« Sie stockte. Ihm schien so unwohl zu sein, dass sie fürchtete, er habe tatsächlich körperliche Schmerzen. Auf seiner Haut glänzte der Schweiß, und seine Knöchel traten vor lauter Anspannung weiß hervor.
»… wenn Sie nicht ausgezeichnet über die Gegend und alles, was sich hier abspielt, Bescheid wüssten«, fuhr sie fort. Der Mann, der ihr gegenübersaß, war dermaßen angespannt, dass sie plötzlich nur noch wegwollte. Die Verzweiflung in seiner Miene wollte nicht so recht zu seiner Verschlagenheit passen. Er wirkte, als wäre er einer Sicherheit beraubt worden, die für ihn lange selbstverständlich gewesen war, sodass er sich seiner neuen Blöße noch nicht richtig bewusst war und keine Zeit gehabt hatte, sich zu schützen oder damit umgehen zu lernen.
»Ja!«, sagte er barsch. »Natürlich weiß ich das!« Er war jetzt in der Defensive, als müsste er sie überzeugen. »Ich werde darüber nachdenken. Wir müssen wieder zum Normalzustand zurückkehren. Wenn ich etwas über diesen Baltimore erfahre, werde ich zusehen, ob wir nicht … etwas arrangieren können.« Er breitete die Hände aus und wies auf die Papierstapel. »Jetzt muss ich mich um das hier kümmern. Ich habe keine Zeit mehr, um … um zu reden … wo es nichts zu reden gibt.«
Sie erhob sich. »Vielen Dank, Mr. Robinson. Und Sie werden nicht vergessen, Ihrem Partner gegenüber zu erwähnen, ob es nicht ein Haus zu mieten gäbe … sehr preisgünstig, in unser aller Interesse?«
Er zuckte wieder hoch. »Ich habe keinen …«, setzte er an, und dann glättete sich seine Miene zu einem Lächeln. Es war ein gespenstisches Lächeln, mehr wie ein Zähnefletschen. »Ich sag's ihm. Ha, ha!« Er lachte heftig. »Mal sehen, was er dazu sagt!«
Sie verabschiedete sich und wurde erneut von dem Mann in dem zu großen dunklen Anzug durch die Korridore geführt. Dann stand sie wieder in der Gasse, die in die Portpool Lane mündete. Im Nebel wirkte die einsame Wandlaterne wie hinter einem Schleier. Hester stand ein paar Augenblicke still, um sich an die kühle Luft und den Geruch von der Brauerei zu gewöhnen, die sich gewaltig gegen den Himmel erhob und genau wie das Coldbath-Gefängnis am Platz mit seinem massiven Schatten alle anderen Umrisse auslöschte. Dann machte sie sich auf den Weg, wobei sie sich, um nicht aufzufallen, nah an den Mauern hielt und hoffte, nicht auf jemanden zu treten, der auf den Pflastersteinen des Gehwegs schlief oder in einem Tür-weg kauerte.
Nachdem sie mit Squeaky Robinson gesprochen und seine Reaktionen gesehen hatte, war sie sich fast sicher, dass er das Bordell führte, wo junge Frauen wie Fanny und Alice arbeiten mussten, um ihre Schulden an den Wucherer abzuzahlen. Aber wegen irgendetwas war Squeaky in Panik! Etwa wegen der momentanen Flaute? Wenn er der Wucherer war, konnte er es sich sicher leisten zu warten, bis die Polizei entweder herausfand, wer Baltimore umgebracht hatte, oder aufgab.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn er nur ein Teilhaber war und der andere ihn unter Druck setzte? Wer war dieser andere, und warum brach Squeaky der Angstschweiß aus, wenn man nur seine Existenz erwähnte?
Sie überquerte die Portpool Lane und bog mit eiligen Schritten in den Coldbath Square ein. Es waren noch andere Menschen unterwegs. Die Lichter einer Gastwirtschaft fielen auf das Pflaster, als jemand eine Tür öffnete. An einer Ecke stand ein Straßenhändler, an einer anderen ein Constable, der gelangweilt aussah und zu frieren schien, wahrscheinlich, weil er die ganze Zeit auf einem Fleck stehen musste. Er war allen im Weg und hatte die Hoffnung, etwas Nützliches zu erfahren, längst aufgegeben.
Hatte Squeaky Robinson solche Angst, weil er denjenigen, der Kopf und treibende Kraft des Unternehmens war, verloren hatte? Wie? War der Partner im Gefängnis, krank – oder sogar tot? War Squeaky Robinson in Panik, weil er plötzlich allein war und nicht wusste, wie er ohne Hilfe weitermachen sollte? Nach der Unterhaltung war sie überzeugt, dass er nicht der Wucherer war. Er hatte nicht die Ausstrahlung, nicht das Selbstvertrauen, um die jungen Frauen zu umgarnen und sie dann auszubeuten. Sonst hätte er sich von ihr nicht dermaßen aus der Fassung bringen lassen.
Was war mit dem Wucherer passiert? Hoffnung wallte wie ein Geysir in ihr auf, und sie beschleunigte ihre Schritte. Wenn Squeaky so nicht weitermachen konnte, spielte es kaum eine Rolle, warum oder wohin er verschwunden war. Vielleicht war seine Angst der Grund dafür, dass er gewalttätig geworden war und Fanny und Alice entweder selbst halb zu Tode geprügelt oder, was wahrscheinlicher war, jemanden wie den Möchtegernbutler damit beauftragt hatte. Aber seine Tage waren gezählt. Es würden keine Frauen mehr umgarnt werden, und wenn der Wucherer weg war, konnte er die Rückzahlung nicht mehr erzwingen, jedenfalls kaum vor einem Gericht? Am Ende konnte Oliver Rathbone wahrscheinlich doch helfen!
Als sie zum Coldbath Square zurückkam, fand sie Margaret im Raum auf und ab gehend und auf sie wartend. Sobald Hester durch die Tür trat, erhellte sich ihr Gesicht.
»Ich bin so erleichtert, Sie zu sehen!«, sagte sie und stürzte sich auf sie. »Alles in Ordnung?«
Hester strahlte vor Freude. Sie hatte Margaret wirklich sehr gern. »Ja, danke. Mir ist nur kalt«, antwortete sie freiheraus. »Eine Tasse Tee wäre jetzt wunderbar, um den Geschmack von diesem Haus von der Zunge zu kriegen.« Sie legte ihr Umschlagtuch ab und hängte es an einen Haken, während Margaret schon zum Ofen eilte.
»Was haben Sie rausgekriegt?«, fragte Margaret, während sie noch überprüfte, ob der Kessel voll war, und ihn auf die Kochstelle schob. Sie wandte den Blick nicht von Hester ab, und ihr Gesicht war gespannt, die Augen groß und glänzend.
»Ich glaube, die Frauen bei Abel Smith haben mir die Wahrheit erzählt«, antwortete Hester, während sie zwei Becher aus dem Schrank holte. »Es ist das Haus, wo sie sich um ›individuellere Bedürfnisse‹ kümmern.« Sie benutzte diese Umschreibung mit heftiger Abscheu und sah ihre eigenen Gefühle in Margarets Miene widergespiegelt. »Ich habe Squeaky Robinson getroffen …«
»Wie war er?« Margaret tat nicht einmal mehr so, als achte sie auf den Kessel. Ihre Stimme war schrill vor Erwartung.
»Sehr nervös«, antwortete Hester knapp. »Ich würde sogar sagen, absolut verängstigt.« Sie stellte die Becher auf den Tisch.
Margaret war erstaunt. »Warum? Glauben Sie, Baltimore wurde dort umgebracht?«
Der Gedanke an Squeaky Robinsons Partner und die Möglichkeit, dass er für immer verschwunden war und infolgedessen das Wucherergeschäft zusammenbrach, hatte Hester so beschäftigt, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, Squeaky könnte sich weniger vor dem finanziellen Ruin fürchten als vor der Polizei. Aber der Strick war eine unendlich viel schlimmere Perspektive als Armut, selbst für den habgierigsten Mann der Welt.
»Das wäre möglich«, sagte sie ein wenig zögerlich und erklärte, was sie sich erhoffte.
»Vielleicht hat der Wucherer ihn umgebracht?«, meinte Margaret, auch wenn ihr anzusehen war, dass sie das eher wünschte, als wirklich glaubte. »Vielleicht konnte er nicht zahlen, und dem Wucherer sind die Nerven durchgegangen. Es kann auch ein Unfall gewesen sein. Schließlich liegt es nicht in ihrem Interesse, einen Kunden umzubringen, oder? Das kann doch nicht gut sein fürs Geschäft. Es ist ja nicht so, als müsste man unbedingt dorthin gehen. Es gibt jede Menge andere Orte, auch in anderen Stadtteilen.«
»Und genau wie er gesagt hat, haben sie die Leiche in Abel Smiths Haus geschafft«, stimmte Hester ihr zu. »Ja, das klingt plausibel.« Sie konnte eine leichte Enttäuschung nicht verbergen. Hätte Baltimores Tod etwas mit dem Landbetrug bei der Eisenbahn zu tun gehabt, könnte auch Monk bei seinen Nachforschungen davon profitieren. Es hätte die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft und seinen Glauben, dass Arrol Dun-das unschuldig war, bestätigt. Allerdings hätte es auch Monks Schuldgefühl verstärkt, dass er das damals nicht hatte beweisen können.
»Sollen wir das Constable Hart erzählen?«, fragte Margaret hoffnungsvoll. »Das würde helfen, den Mord aufzuklären, und die Polizei würde verschwinden.« Hinter ihr fing der Kessel an zu pfeifen. »Und wir würden gleichzeitig die treibende Kraft hinter dem Wucherer loswerden!« Sie drehte sich zu dem Kessel um und schwenkte die Teekanne aus, dann tat sie Teeblätter hinein und goss kochendes Wasser auf.
»Noch nicht«, sage Hester vorsichtig. »Erst würde ich noch gerne ein bisschen mehr über Mr. Baltimore erfahren, Sie nicht?«
»Doch. Aber wie?« Margaret trug die Teekanne zum Tisch hinüber und stellte sie neben die Milch und die Becher. »Kann ich helfen? Ich könnte mich bei jemandem anbiedern und Fragen stellen … Oder lieber Sie? Ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte.« Ihre Wangen wurden von einer leichten Röte überzogen, und sie wich Hesters Blick aus. »Wenn wir eine Verbindung nachweisen könnten, wäre das ganz nützlich für Sir Oliver.« Sie sagte es sehr beiläufig, und Hester lächelte, da sie genau wusste, was in Margaret vor sich ging und warum sie es selbst vor ihrer besten Freundin – oder vielleicht gerade besonders vor ihr – verbergen musste.
»Das wäre eine gute Idee«, meinte sie. »Ich schreibe an Livia Baltimore und frage sie, ob ich ihr morgen Abend einen Besuch abstatten und ihr ein paar Fragen über den Tod ihres Vaters stellen kann. Wenn ich den Brief per Boten schicke, habe ich eine Antwort, lange bevor ich losgehen muss.«
Margaret sah verblüfft aus. »Was wollen Sie ihr sagen? Doch sicher nicht, dass ihr Vater in der Portpool Lane war?«
»Also, jedenfalls nicht, aus welchem Grund.« Hester lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln und griff nach der Teekanne.
Am frühen Morgen schickte Hester den Brief von der Fitzroy Street ab. Sie zahlte einen Boten, damit der ihn zum Haus der Baltimores am Royal Square brachte, und vor dem Mittagessen erhielt sie die Antwort, Miss Baltimore würde sich freuen, sie am Nachmittag zu empfangen, und erwarte ihren Besuch.
Inzwischen hatte Margaret diskrete Erkundigungen eingeholt und für sich und Hester einen Besuch bei ihrem Schwager arrangiert, der mit geschäftlichen Angelegenheiten vertraut war und ihnen erzählen konnte, was über Baltimore und Söhne bekannt war, und vielleicht auch, was man insgeheim glaubte. Sie verabredete sich mit ihm für den nächsten Abend.
Am Nachmittag machte sich Hester auf den Weg. Sie trug einen blassblauen Rock und eine Jacke und einen Hut – ein Kleidungsstück, das sie normalerweise verabscheute – und hatte gegen die helle Sonne einen Sonnenschirm dabei. Er war ein Geschenk, und bisher hatte sie ihn nie benutzt. Er verlieh ihr jedoch einen Hauch Respektabilität, da er an junge Damen erinnerte, die die Zeit hatten und sich die Mühe machten, ihren Teint vor der Sonne zu schützen.
Von der Tottenham Court Road nahm sie einen Omnibus und war froh, die letzten paar hundert Meter zum Haus der Baltimores am Royal Square zu Fuß gehen zu können. Sie wurde umgehend eingelassen und in ein kleines Wohnzimmer geführt, in dem die Damen des Hauses ihren Besuch empfingen. Es war auf sehr weibliche Art möbliert. An den Fenstern hingen Vorhänge in einem hellen, zarten Gelbton, die Stühle waren gepolstert, und pastellfarbene Kissen machten sie besonders einladend. In einer Ecke stand ein Stickrahmen, daneben ein Korb mit gefärbter Seide und Wolle. Der Funkenschirm vor dem Kamin war mit Blumen bemalt, und an dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers verströmte eine große Porzellanschale mit weißen und gelben Tulpen einen zarten, angenehmen Duft.
Livia Baltimore erwartete sie voller Neugier. Sie war in das obligatorische Trauerschwarz gekleidet, was ihre helle Haut jeglicher Farbe beraubte. In dem Augenblick, in dem Hester das Zimmer betrat, erhob sich Livia von dem Stuhl, legte ein Lesezeichen in ihr Buch und trat auf sie zu.
»Wie freundlich von Ihnen, hierher zu kommen, Mrs. Monk. Ich hatte gehofft, dass Sie mich über all Ihrer Arbeit an den Leidenden nicht vergessen. Sie hätten sicher gerne eine Tasse Tee?« Ohne auf eine Antwort zu warten, nickte sie dem Mädchen zu, um ihre Anweisung zu unterstreichen.
»Nehmen Sie bitte Platz.« Sobald die Tür geschlossen war, deutete sie auf einen Stuhl und nahm selbst wieder Platz. »Sie sehen sehr gut aus. Ich hoffe, es geht Ihnen auch gut?«
Es wäre wahrscheinlich höflich gewesen, über eine Vielzahl von Themen zu sprechen, wie man das gemeinhin tat. Auch wenn keines eine Rolle spielte, so war es doch eine Möglichkeit, miteinander bekannt zu werden. Es kam nicht darauf an, was man sagte, sondern wie. Aber dies war eine gesellschaftlich ungewöhnliche Bekanntschaft, sicher würden sie sich niemals wiedersehen. Es gab nur eines, was sie zusammenbrachte, und ungeachtet dessen, was die Konventionen verlangten, war es das Einzige, was den beiden Frauen am Herzen lag.
»Ja, danke«, antwortete Hester und machte es sich auf dem Stuhl bequem. »Natürlich gibt es bei uns im Augenblick ziemliche Probleme, und Frauen werden geschlagen, einfach aus Gereiztheit und Enttäuschung darüber, dass die Geschäfte nicht laufen.« Während sie sprach, beobachtete sie Livias Miene und sah, wie die junge Frau bei dem Wort »Geschäfte« gegen ihren Widerwillen ankämpfte. Dieses Thema war ihr doch recht fremd. Wohlerzogene junge Damen kannten sich mit Prostitution kaum aus, geschweige denn mit dem Leben der Betroffenen. Wäre sie vor dem Tod ihres Vaters gefragt worden, hätte sie noch weniger darüber gewusst, aber unfreundliche Zungen hatten dafür gesorgt, dass sie inzwischen zumindest mit den wichtigsten Tatsachen vertraut war.
»An jeder Ecke steht ein Polizist«, fuhr Hester fort. »Seit Wochen hat es keine Taschendiebstähle gegeben, aber es ist auch kaum noch etwas in den Taschen, das die Mühe lohnen würde. Wer kann, geht natürlich woandershin. Wie kommt es, dass die Polizei selbst ehrbare Leute nervös macht?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Livia. »Wer unschuldig ist, hat doch sicher nichts zu befürchten?«
»Vielleicht sind die wenigsten von uns wirklich vollkommen unschuldig«, wandte Hester ein. Sie sagte es so sanft wie möglich, denn sie wollte diese junge Frau, deren Leben so plötzlich von einer Tragödie heimgesucht worden war, nicht kränken. Zudem hatte sie Dinge erfahren müssen, auf die sie niemand vorbereitet hatte und mit denen sie unter anderen Umständen niemals konfrontiert worden wäre. »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich mich weiterhin umgehört habe, auch nach den Umständen von Mr. Baltimores Tod.«
Livia saß reglos da. »Ja?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie blinzelte, ohne auf die Tränen zu achten, die ihr in den Augen standen.
Hester tat, als bemerkte sie es nicht. »Ich bin zu dem Haus in der Leather Lane gegangen, wo man seine Leiche gefunden hat«, sagte sie ernst. Sie kannte Livia nicht gut genug, um sich ihr aufzudrängen. »Ich habe mit den Leuten dort gesprochen, und sie haben mir gesagt, dass sie nichts damit zu tun haben. Er starb woanders und wurde dorthin geschafft, um sie mit hineinzuziehen und, wie ich vermute, den Verdacht von jemand anderem abzulenken.«
»Glauben Sie ihnen?« Livias Stimme verriet weder Zustimmung noch Ablehnung, als versuchte sie mit aller Macht, sich nicht allzu viele Hoffnungen zu machen.
»Ja«, sagte Hester.
Livia entspannte sich und lächelte unwillkürlich.
Hester empfand so heftige Schuldgefühle, dass sie sich fragte, ob sie überhaupt in diesem Haus sein und der jungen Frau Dinge erzählen sollte, die wahr waren und doch bei weitem nicht die ganze Wahrheit. Das, was die junge Frau hier erfuhr, würde die Erinnerungen an Glück und Unschuld ihrer Jugend für immer zerstören.
»Dann ist er vielleicht einfach auf der Straße überfallen worden?«, fragte Livia, und die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Der Mörder meines Vaters wollte Mr. Smith eine alte Geschichte heimzahlen und natürlich selbst der Verfolgung entkommen. Haben Sie das der Polizei gesagt?«
»Noch nicht«, sagte Hester vorsichtig. »Ich möchte zuerst noch mehr erfahren, damit sie mir auch glauben. Wissen Sie, warum er in der Gegend um die Farringdon Road war? War er dort öfter?«
»Ich habe keine Ahnung.« Livia blinzelte ein paar Tränen weg. »Papa ist oft abends weggegangen, mindestens zwei- oder dreimal die Woche. Manchmal in seinen Club, aber meistens aus geschäftlichen Gründen. Er war … ich meine, wir waren …« Sie schluckte, als die Erkenntnis sie wieder überwältigte. Sie zwang sich, ihre Stimme ruhig zu halten. »Wir stehen kurz vor einem großen Durchbruch. Er hat hart dafür gearbeitet; es schmerzt uns, dass er nicht mehr da ist, um den Erfolg zu erleben.«
»Die Eröffnung der neuen Eisenbahnstrecke in Derbyshire?«, fragte Hester.
Livia machte große Augen. »Sie wissen davon?«
Hester merkte, dass sie zu viel verraten hatte. »Ich habe es wohl jemanden erwähnen hören«, erklärte sie. »Schließlich sind der weitere Ausbau von Verkehrswegen und neue, bessere Eisenbahnverbindungen von allgemeinem Interesse.« Das Mädchen kam mit dem Tee herein, und Livia dankte ihr und entließ sie. Sie wollte selbst einschenken.
»Es ist sehr aufregend«, meinte sie und reichte Hester eine Tasse. Einen Augenblick verriet ihre Miene gemischte Gefühle – ein Hochgefühl, das Gefühl, kurz vor der Vollendung einer wunderbaren Neuerung zu stehen, und gleichzeitig Trauer um den Verlust des Vertrauten.
Hester war sich nicht sicher, ob es um Baltimores Tod ging oder um Monk, aber sie war begierig, mehr zu erfahren. »Wird das für Sie Veränderungen bedeuten? Dieses Haus ist bezaubernd. Man könnte sich nur schwerlich etwas Schöneres denken.« Sie griff nach ihrer Tasse und trank den heißen, duftenden Tee.
Livia lächelte. Es machte ihre Züge weicher und ließ sie wie das junge, etwas schüchterne Mädchen aussehen, das sie vor einem Monat noch gewesen sein musste. »Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ich bin hier stets glücklich gewesen. Aber mein Bruder versichert mir, dass es dort, wo wir hinziehen, noch besser ist.«
»Sie ziehen um?«, fragte Hester überrascht.
»Wir werden dieses Haus für die Londoner Saison behalten«, erklärte Livia mit einer leichten Handbewegung. »Aber unser Wohnsitz soll in Zukunft ein großes Landgut sein. Das Einzige, was die Sache trübt, ist die Tatsache, dass mein Vater nicht mehr hier ist. Er wollte das alles für uns bauen. Es ist so ungerecht, dass er den Lohn für seine lebenslange Arbeit, für die er alles riskiert und in die er all sein Können gesteckt hat, nicht erhalten soll.« Sie griff ebenfalls nach ihrem Tee, ohne jedoch davon zu trinken.
»Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein«, meinte Hester und hatte dabei das Gefühl, ihre Heuchelei müsste ihr ins Gesicht geschrieben stehen. Denn sie verachtete Baltimore.
»Allerdings«, sagte Livia, die das Lob so bereitwillig entgegennahm, als könnte es das Herz ihres Vaters noch immer erwärmen.
Hester fragte sich, wie gut Livia ihn gekannt hatte. War die Veränderung ihres Tonfalls der Tatsache geschuldet, dass sie weniger aus der Erinnerung, sondern vielmehr aus Wunschdenken schöpfte?
»Er muss sehr klug gewesen sein«, sagte Hester. »Und sehr energisch. Ein schwacher Mann wäre niemals fähig gewesen, andere so zu befehligen, wie das für den Bau einer Eisenbahn notwendig ist. Jedes Zeichen von Unentschlossenheit, jede Abweichung von Prinzipien, und er wäre gescheitert. Man muss einen solchen Geist … bewundern.«
»Ja, er war sehr stark«, sagte Livia gefühlvoll. »In Papas Nähe fühlte man sich immer beschützt, solch eine Sicherheit strahlte er aus. Ich nehme an, das ist bei Männern so – zumindest bei den besten, denen mit Führungsbefähigung.«
»Ich glaube, die Führungspersönlichkeiten sind diejenigen, die uns ihre Unsicherheiten nicht sehen lassen«, antwortete Hester. »Denn kann jemand, der seinen eigenen Entscheidungen nicht traut, von uns erwarten, dass wir ihm bereitwillig folgen?«
Livia dachte einen Augenblick nach. »Sie haben Recht«, sagte sie mit einem plötzlichen Verständnis. »Wie scharfsinnig Sie sind. Doch, Papa war immer … ich glaube, mutig ist das richtige Wort. Ich weiß heute, dass er, als ich noch ein Kind war, schwere Zeiten hatte. Viele Jahre haben wir auf den großen Erfolg gewartet. Und jetzt steht er vor uns.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Es ist nicht nur die Eisenbahnlinie, wissen Sie, es ist eine neue Erfindung, die mit rollendem Material – also Waggons und Güterwagen und so weiter – zu tun hat. Ich bitte um Verzeihung, falls ich Ihnen Dinge erzähle, die Sie schon wissen.«
»Keineswegs«, versicherte ihr Hester. »Ich weiß nur, was man im Allgemeinen so lesen oder aufschnappen kann. Welche Art von Erfindung?«
»Ich fürchte, das weiß ich nicht so genau. Papa hat zu Hause nur wenig darüber erzählt. Er und mein Bruder Jarvis haben bei Tisch nicht über Geschäftliches geredet. Er hat immer gesagt, es schicke sich nicht, in Gegenwart von Damen darüber zu sprechen.« In ihren Augen war der Schatten einer leichten Unsicherheit, aber noch kein Zweifel. »Er war der Meinung, man sollte Familie und Geschäft voneinander trennen.« Ihre Stimme verlor sich. »Das war ihm sehr wichtig … dass das Zuhause ein Ort des Friedens und der Güte bleiben und nicht von Geld und geschäftlichen Problemen gestört werden sollte. Wir haben über das wirklich Wichtige gesprochen: Schönheit und Klugheit, die Erforschung der Welt, die Sphären des Geistes.«
»Wie wunderbar für Sie«, sagte Hester und gab sich Mühe, ehrlich zu klingen. Sie wollte Livias Gefühle nicht verletzen, aber sie wusste, dass wahre Schönheit nur möglich war, wenn man eine Wahrheit anstrebte, die Hässlichkeit und Schmutz mit einbezog. Aber darüber zu sprechen war weder die Zeit noch der Ort. »Sie waren wohl sehr glücklich«, fügte sie hinzu.
»Ja«, meinte Livia, »das waren wir.« Sie zögerte und trank einen Schluck Tee.
»Mrs. Monk …«
»Ja?«
»Halten Sie es für wahrscheinlich, dass die Polizei je herausfinden wird, wer meinen Vater umgebracht hat? Bitte, seien Sie ehrlich … Versuchen Sie nicht, mich mit tröstlichen Lügen abzuspeisen, weil Sie glauben, das mache es mir leichter.«
»Es ist möglich«, sagte Hester vorsichtig. »Ich weiß nicht, wie wahrscheinlich es ist. Es hängt womöglich davon ab, ob es ein persönliches Motiv gab oder ob er einfach durch einen unglücklichen Zufall im falschen Augenblick durch die falsche Straße ging. Wissen Sie, ob er dort mit jemandem verabredet war?« Das war die Frage, auf die sie am dringendsten eine Antwort wollte, und doch war sie sich bewusst, dass die Lösung des Falles Baltimores Familie ruinieren konnte, besonders Li-via, die jung und noch unverheiratet war.
Livia schaute sie verdutzt an, dann schien sie etwas sagen zu wollen, hielt jedoch inne, dachte nach und stellte ihre Tasse wieder weg. »Ich weiß nicht. Er hat uns bestimmt nichts gesagt, aber er hat ja, wie gesagt, mit Mama und mir nie über Geschäftliches gesprochen. Mein Bruder weiß es vielleicht. Ich könnte ihn fragen. Glauben Sie, dass es wichtig ist?«
»Möglich.« Wie offen sollte sie sein? Bereits ihr Besuch war Livia gegenüber nicht ehrlich. Sie dachte an Monk, der unbedingt etwas über den Betrug herausfinden musste, und an Fanny und Alice und all die anderen jungen Frauen – im Grunde an alle Frauen in der Gegend um den Coldbath Square, die immer noch anschaffen gingen, aber wegen der ständigen Polizeipräsenz nichts verdienten. Sie war nicht auf der Suche nach dem Mörder von Nolan Baltimore, um den Kummer seiner Familie zu lindern oder weil sie nach abstrakter Gerechtigkeit strebte.
»Ich weiß, was die Leute denken«, sagte Livia leise, und ihre Wangen röteten sich. »Ich kann es nur einfach nicht glauben. Unmöglich.«
Niemand würde das so mir nichts, dir nichts vom eigenen Vater glauben. Auch Hester nicht. Der Verstand sagte einem, dass der eigene Vater ein Mensch war wie jeder andere, aber das Herz und der Wille leugneten die Vorstellung, dass er sich dazu herabließ, seine sinnlichen Gelüste bei einem käuflichen Weib zu befriedigen. Es war ein unvorstellbarer Verrat.
»Natürlich können Sie das nicht«, sagte Hester verständnisvoll. »Vielleicht weiß Ihr Bruder, ob er vorhatte, sich mit jemandem zu treffen, oder doch zumindest, wohin er wollte.«
»Ich habe es bereits versucht«, sagte Livia ebenso verlegen wie wütend. »Er hat mir nur gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, die Polizei würde die Sache schon aufklären, und ich solle nicht auf das hören, was die Leute sagen.«
»Kein schlechter Rat«, räumte Hester ein. »Zumindest Letzteres.«
Es klopfte, und Livia hatte kaum darauf geantwortet, da ging schon die Tür auf. Ein dunkelhaariger Mann Mitte dreißig kam herein und zögerte den Bruchteil einer Sekunde, als er Hester sah. Er strahlte ein Selbstvertrauen aus, das arrogant, wenn nicht sogar aggressiv wirkte, und doch hatte er eine gewisse Anziehungskraft. Es lag an seiner Energie, die fast wie ein Feuer war, gleichzeitig gefährlich und lebendig. Er bewegte sich anmutig und trug seine Kleidung, als wäre ihm Eleganz auf den Leib geschneidert. Er erinnerte Hester flüchtig an Monk, wie er mit Anfang dreißig gewesen sein musste. Dann war der Eindruck verschwunden. Diesem Mann mangelte es an Tiefe. Sein Feuer war eine Sache des Kopfes, nicht des Herzens.
Livia sah zu ihm hinüber, und ihre Miene erhellte sich augenblicklich. Es geschah nicht bewusst, und doch war es unmöglich, ihre Freude zu übersehen.
»Michael! Dich habe ich gar nicht erwartet!« Sie wandte sich an Hester. »Ich möchte Ihnen Mr. Michael Dalgarno vorstellen, den Partner meines Bruders. Michael, dies ist Mrs. Monk, die so freundlich war, mich im Zusammenhang mit einer Wohltätigkeitseinrichtung, für die ich mich interessiere, aufzusuchen.« Sie wurde kaum rot bei der Lüge. Sie war vollkommen an die Erfordernisse des gesellschaftlichen Umgangs gewöhnt.
»Guten Tag, Mrs. Monk.« Dalgarno verbeugte sich leicht. »Ich bin erfreut, Sie kennen zu lernen, und ich bitte um Verzeihung, das ich hier so hereinplatze. Ich wusste nicht, dass Miss Baltimore Besuch hat, sonst wäre ich nicht so einfach hereingeschneit.« Er sah Livia an und schenkte ihr ein überwältigend charmantes Lächeln. Es besaß eine Offenheit, die so intim war wie eine Berührung.
Röte stieg Livia ins Gesicht, und weder Hester noch Dalgar-no hätten an Livias Gefühlen für ihn zweifeln können.
Er legte die Hand auf die Rückenlehne von Livias Stuhl, so sanft, als wäre es ihre Schulter. Die Geste war merkwürdig besitzergreifend. Jede weitere Bekundung wäre so kurz nach dem Tod ihres Vaters und unter den gegebenen Umständen vielleicht unangemessen gewesen, aber die Geste war unmissverständlich.
Hester schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Livia Baltimore als Tochter eines wohlhabenden Mannes, die durch den Verkauf des rollenden Materials noch um einiges wohlhabender werden würde, eine ganze Menge Heiratskandidaten erwarten konnte, von denen viele sich nicht unbedingt von edlen Motiven leiten lassen würden. Dalgarno kannte sie immerhin schon eine Weile. War es eine aufrichtige Liebe, die lange vor dem in Aussicht stehenden Wohlstand aus Freundschaft entstanden war, oder war es ein klassischer Fall von Opportunismus seitens eines ehrgeizigen jungen Mannes? Sie würde es nie erfahren, und das musste sie auch nicht, aber sie hoffte zutiefst, dass Ersteres zutraf.
Da sie alles erfahren hatte, was sie erfahren konnte, wollte sie nicht länger bleiben und das Risiko eingehen, etwas zu sagen, das Livias Lüge über den Grund für Hesters Anwesenheit aufdecken konnte. Die einzige Wohltätigkeitseinrichtung, mit der sie zu tun hatte, war das Haus am Coldbath Square, und es sah nicht so aus, als würde es Mr. Dalgarno leicht fallen zu glauben dass Livia sich dafür interessierte.
Sie erhob sich. »Vielen Dank, Miss Baltimore«, sagte sie lächelnd. »Sie waren äußerst liebenswürdig, und wenn Sie möchten, werde ich Sie wieder aufsuchen oder auch nicht weiter belästigen, falls Sie das Gefühl haben, wir hätten ….«
»Aber nicht doch!«, unterbrach Livia sie hastig und erhob sich ebenfalls mit einem Rascheln ihrer gestärkten Röcke. »Ich würde mich sehr gerne wieder mit Ihnen unterhalten, falls … falls Sie so freundlich wären?«
»Selbstverständlich«, sagte Hester. »Noch einmal vielen Dank für Ihre Liebenswürdigkeit.« Sie wandte sich an Dalgar-no. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. Dalgarno.« Er ging, um ihr die Tür zu öffnen. Sie trat hinaus und wurde von einem Diener zur Haustür begleitet, wobei sie an einem hoch gewachsenen, blonden jungen Mann vorbeikam, der eben das Haus betrat. Seine Vitalität war ebenso bemerkenswert wie seine großen Ohren. Er beachtete sie nicht, sondern schritt auf Dalgarno zu und sprach ihn schon von weitem an. Unglücklicherweise war Hester gezwungen, auf die Straße hinauszutreten, bevor sie irgendetwas mit anhören konnte.
Am folgenden Abend trafen sich Hester und Margaret wie verabredet im Haus von Margarets Schwester, um möglichst viel über Nolan Baltimore zu erfahren.
Hester kleidete sich entsprechend sorgfältig und zog eine gedeckte Jacke und einen passenden Rock an, was sie sonst nur getragen hätte, wenn sie eine private Anstellung als Krankenpflegerin gesucht hätte. Margaret trug ein kleidsames, äußerst modisch geschnittenes Kleid in dunklem Weinrot. Gemeinsam bestiegen sie einen Hansom, der sie kurz nach sechs in der Weymouth Street, südlich des Regent's Parks absetzte. Es war ein sehr beeindruckendes Haus, und als sie den Gehweg überquerten und die Stufen zur Haustür hinaufstiegen, bemerkte Hester in Margaret eine leichte Veränderung. Sie bewegte sich weniger flott, ihre Schultern waren nicht mehr ganz so straff, und fast zaghaft zog sie am Messingknauf der Glocke.
Auf der Stelle wurde die Tür von einem Diener geöffnet. Er war ungewöhnlich groß und hatte bemerkenswerte Beine, Eigenschaften, die in seinem Beruf sehr gefragt waren.
»Guten Abend, Miss Ballinger«, sagte er förmlich. »Mrs. Courtney erwartet Sie und Mrs. Monk. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen.« Er geleitete sie hinein, und Hester konnte nicht umhin, sich genauestens in dem wohlproportionierten, schwarz-weiß gefliesten Flur umzusehen, der zu einem prächtigen Treppenhaus führte. An den Wänden hingen alte Rüstungen, Schwerter und Steinschlossgewehre, deren Schäfte mit Golddraht- und Perlmuttintarsien verziert waren.
Der Diener öffnete die Salontür, kündigte sie an und bat sie hinein. Hester sah, dass Margaret tief Luft holte, bevor sie eintrat.
Eichenholzvertäfelte Wände und schwere pflaumenfarbene Vorhänge umrahmten die hohen Fenster, die auf einen gepflegten Garten hinausführten. Drei Personen erwarteten sie. Die Frau war offensichtlich Margarets Schwester. Sie war nicht ganz so groß und, ihrer Haut und ihrer etwas fülligeren Figur nach zu urteilen, vier oder fünf Jahre älter als diese. Sie sah auf durchschnittliche Weise gut aus und strahlte eine äußerste Zufriedenheit aus mit dem, was sie umgab. Sie war modisch, aber unauffällig gekleidet, als habe sie das nicht nötig, um bemerkt zu werden.
Sobald sie Margaret sah, trat sie vor und strahlte vor Freude übers ganze Gesicht. Entweder freute sie sich wirklich, ihre Schwester zu sehen, oder sie war eine äußerst begabte Schauspielerin.
»Meine Liebe!«, sagte sie und gab Margaret einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann trat sie einen Schritt zurück, um sie mit großem Interesse zu betrachten. »Wie schön von dir, herzukommen. Es ist schon viel zu lange her. Ich schwöre, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben!« Sie wandte sich an Hester. »Sie müssen Mrs. Monk sein, Margarets neue Freundin.« Dieses Willkommen war bei weitem nicht so herzlich – in Wahrheit war es kaum höflich zu nennen. In ihren Augen lag Zurückhaltung. Hester erkannte mit einem Blick, dass Marielle Courtney sich überhaupt nicht sicher war, ob sie es gutheißen sollte, dass Hester so viel Einfluss auf ihre Schwester hatte. Womöglich hatte sich ihr eigener dadurch verringert, und das nicht unbedingt mit den gewünschten Folgen. Und dass sie Hester sozial nicht einordnen konnte, wurde bei der Einschätzung ihrer Vorzüge negativ bewertet.
»Guten Abend, Mrs. Courtney«, antwortete Hester mit einem höflichen Lächeln. »Ich halte so viel von Margaret, dass es mir eine große Freude ist, ihre Verwandten kennen zu lernen.«
»Nett von Ihnen«, murmelte Marielle und wandte sich an den Mann, der rechts hinter ihr stand. »Darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen? Mr. Courtney.«
»Guten Abend, Mrs. Monk«, antwortete er pflichtschuldig. Er hatte ein langweiliges Gesicht und war annähernd vierzig, bereits ein wenig korpulent, aber voller Selbstvertrauen und bereit, die Familie seiner Frau und deren Gäste einigermaßen korrekt zu empfangen.
Die dritte Person im Zimmer war diejenige, wegen der sie hier waren, der Mann, der ihnen womöglich mehr über Nolan Baltimore erzählen konnte. Er war schlank und von ungewöhnlicher Erscheinung. Das dicke Haar hatte er sich aus der hohen Stirn zurückgekämmt, an den Schläfen war es leicht grau, was andeutete, dass er älter war, als sein ungezwungenes Verhalten und seine elegante Kleidung vermuten ließen. Seine Züge waren adlerartig, sein Mund humorvoll. Marielle stellte ihn als Mr. Boyd vor und machte dabei mehr Getue um Margaret, als Hester erwartet hatte.
Sie sah, dass Margaret sich innerlich zusammenzog und ihre Wangen sich röteten, obwohl sie ihr Unbehagen so gut wie möglich verbarg.
In aller Formalität wurden die üblichen Erfrischungen herumgereicht. Marielle lud sie ein, zum Abendessen zu bleiben, doch Margaret lehnte, ohne Hester zu fragen, ab, indem sie eine Verpflichtung vorbrachte, die es nicht gab.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie hergekommen sind, um uns mit Ihren Informationen weiterzuhelfen, Mr. Boyd«, sagte sie ein wenig umständlich. »Ich hoffe, es verdirbt Ihnen nicht den Abend.«
»Keineswegs, Miss Ballinger«, antwortete er mit einem leichten Lächeln. Schalk blitzte ihm aus den Augen, als sehe er einen Witz, der zwar unausgesprochen blieb, über den man sich jedoch gemeinsam amüsieren konnte. »Bitte, sagen Sie mir, was Sie wissen wollen, und wenn ich Ihnen eine Antwort darauf geben kann, will ich das gerne tun.«
»Ich verstehe die Vorbehalte«, sagte sie hastig. »Ich bin mir sicher, Sie wissen, dass Mr. Baltimore vor etwas mehr als zwei Wochen … in der Leather Lane auf tragische Weise ums Leben kam?«
»Ja.« Falls er Widerwillen empfand, dann war er zu wohlerzogen, ihn sich anmerken zu lassen.
Hesters Achtung vor ihm stieg. Sie sah, wie Marielle mit regem Interesse immer wieder zwischen Boyd und Margaret hin und her blickte, als könnte sie etwas von höchster Bedeutung feststellen. Blitzartig wurde Hester klar, warum Margaret von zu Hause wegwollte: Sie wollte dem Druck entkommen, wie Marielle und – falls sie noch welche hatte – ihre anderen Schwestern eine angemessene Ehe eingehen zu müssen. Hester erinnerte sich, dass eine jüngere Schwester erwähnt worden war, die zweifellos ungeduldig darauf wartete, an die Reihe zu kommen.
War Boyd sich dessen bewusst? Wusste er, dass er freundlich, aber beharrlich in die gewünschte Richtung gedrängt wurde? Er machte den Eindruck, als wäre er durchaus in der Lage, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Er wurde nicht von einer ambitionierten Mutter oder Schwester dirigiert, da war Hester sich ganz sicher. Es waren vielmehr Margarets Gefühle, um die sie sich sorgte.
»Ich arbeite dort in der Gegend in einer Wohltätigkeitseinrichtung«, fuhr Margaret fort. Ihre Freimütigkeit ließ Marielle zusammenzucken, während ihr Mann zunächst verblüfft und dann unglücklich dreinschaute.
»Wirklich, Margaret …«, sagte er missbilligend. »Ein wenig Geld für die Armen zu sammeln ist eine Sache, aber du solltest dich persönlich nicht zu sehr engagieren, meine Liebe …«
Margaret überhörte ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit weiter auf Boyd. »Mrs. Monk war als Krankenschwester auf der Krim«, fuhr sie unerbittlich fort. »Sie bietet Frauen, die sich keinen Arzt leisten können, medizinische Hilfe. Ich habe die Ehre, ihr, so gut ich kann, zu helfen und Geld für Miete und Medikamente zu sammeln.«
»Bewundernswert«, sagte Boyd aufrichtig. »Ich verstehe nicht, was ich beitragen kann, abgesehen von Geld, was ich Ihnen gerne anbiete. Was hat die Sache mit Nolan Baltimore damit zu tun? Er war gut situiert, aber auch wieder nicht so gut. Zudem ist er jetzt, wie Sie bemerkten, tot.«
Hester beobachtete sein Gesicht, konnte aber keinen persönlichen Kummer und keine Spur von Überraschung oder Bestürzung darin erkennen. Ebenso wenig die halbwegs erwartete Empörung.
»Er wurde umgebracht«, fügte Margaret hinzu. »Wie Sie sich vorstellen können, hat das in der Gegend für Wirbel gesorgt, starke Polizeipräsenz …«
»Das ist doch klar!«, sagte Marielle heftig und trat einen Schritt vor, als wollte sie sich zwischen Margaret und Hester drängen, die schuld an dieser bedauernswerten Entwicklung ihrer Schwester war. »Es ist zutiefst schockierend, dass ein ehrbarer Mann auf der Straße von unmoralischen und räuberischen Kreaturen, die an solchen Orten leben, überfallen und ermordet wird.« Sie wandte Hester die Schulter zu. »Ich weiß nicht, warum du überhaupt über solche Dinge reden willst, Margaret. Noch nie warst du im Gespräch so kühn.« Sie sah Boyd an. »Ich fürchte, Margarets weiches Herz lenkt sie zuweilen in merkwürdige, um nicht zu sagen unangebrachte Bahnen …«
»Marielle …«, setzte Mr. Courtney an.
»Es ist nicht notwendig, dass du dich für mich entschuldigst!«, fuhr Margaret dazwischen. Dann sah sie Boyd freimütig an und fuhr, bevor ihre Schwester etwas sagen konnte, fort: »Mr. Boyd, Mrs. Monk und ich haben Grund zu der Annahme, dass Mr. Baltimore womöglich von einem Konkurrenten und nicht von einer Prostituierten ermordet wurde.« Dass Marielle hier nach Luft schnappte, ignorierte sie beflissen. »Und wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie erzählen würden, was Sie möglicherweise über seine geschäftlichen Interessen und seinen Charakter gehört haben. Ist es möglich, dass er sich mit jemandem, mit dem er geschäftlich zu tun hatte, an einem Ort wie der Leather Lane oder deren Umgebung treffen wollte und nicht in seinem Büro?«
Hester fühlte sich verpflichtet, ihr beizustehen. »Was seine Familie über seine geschäftlichen Interessen und sein Verhalten sagt, wissen wir. Ich bin mit seiner Tochter bekannt. Aber ihre Sicht ist wenig hilfreich, weil sie befangen ist. Was für einen Ruf hatte er denn in der Stadt?«
»Sie sprechen sehr offen, Mrs. Monk.« Boyd richtete den Blick auf sie, und sie wusste augenblicklich, dass er es aus Respekt gesagt hatte und nicht aus Missbilligung, obwohl immer noch ein leichter Anflug von Humor in seinen Augen war. Sie stellte fest, dass sie ihn mochte. Wäre sie an Margarets Stelle und hätte Oliver Rathbone noch nicht kennen gelernt, hätte sie sich womöglich äußerst unbehaglich gefühlt, diesem Mann dermaßen aufgedrängt zu werden, statt ihn von sich aus gewählt zu haben. Seine nähere Bekanntschaft könnte sich als höchst vergnüglich erweisen.
»Genau«, sagte sie. »Die Angelegenheit duldet keine Missverständnisse. Ich bitte um Verzeihung, wenn es Sie kränkt.« Sie wusste, dass dem nicht so war. »Ich fürchte, meine guten Manieren haben durch die Arbeit in der Krankenpflege etwas gelitten.« Plötzlich lächelte sie ihn breit an. »Das ist untertrieben. Ich hatte nie welche.«
»Dann sollte ich Ihrem Beispiel folgen«, antwortete er mit einer angedeuteten Verbeugung. Seine Augen funkelten. »Nolan Baltimore war ein Mann mit großen Zielen, und er nahm außerordentliche Risiken auf sich, um sie zu erreichen. Er besaß Mut und Vorstellungskraft, wofür er hoch geschätzt wurde.« Beim Sprechen beobachtete er sie abschätzend, um zu sehen, wie sie seine Worte aufnahm.
»Und …«, drängte sie ihn.
Er bewunderte ihre Auffassungsgabe. »Und einige der eingegangenen Risiken zahlten sich wohl aus; andere nicht. Er kam besser durch als manch anderer seiner Freunde. Er war nicht gerade für seine Loyalität bekannt.«
»Ganz allgemein?«, fragte Hester. »Oder im Besonderen?«
»Ich hatte nie persönlich mit ihm zu tun.«
Sie wusste, dass er wegen Courtney so taktvoll war. Er erwartete von ihr, dass sie das, was unausgesprochen blieb, ebenso verstand wie das, was er sagte.
»Freiwillig?«, fragte sie schnell.
»Ja.« Er lächelte.
»Könnte irgendeines der … Risiken … ihn in die Leather Lane geführt haben?«, fragte sie.
»Dubiose Finanzgeschäfte?« Er machte große Augen. »Auszuschließen ist das nicht. Wenn jemand Geld braucht und die gewohnten Quellen nicht zur Verfügung stehen, geht er woandershin. Ein kurzfristiges Darlehen, das zurückgezahlt wird, wenn eine Investition einen hohen Profit abwirft, kann man an einem solchen Ort sicher bekommen. In dem ein oder anderen Laster steckt eine Menge Geld. Menschen, die es auf diese Art und Weise erwerben, investieren es gerne in ein legitimes Geschäft.«
»Wirklich … Boyd!«, knurrte Courtney. »Ich glaube, das ist kein Thema, das man in Anwesenheit von Damen besprechen sollte!«
»Wenn Mrs. Monk als Krankenschwester bei der Armee war und jetzt in der Gegend um den Coldbath Square arbeitet, James, bezweifle ich, dass ich ihr etwas erzählen kann, was sie nicht bereits besser weiß als ich«, meinte Boyd mehr mit Humor als mit Verärgerung.
»Ich dachte an meine Schwägerin!«, sagte Courtney ein wenig bissig, blickte rasch zu Marielle und wieder zurück, als würde er sich mehr auf sie beziehen als auf seine eigenen Gedanken. »Und meine Frau«, fügte er hinzu, ohne zu merken, dass er Hester damit beleidigte.
Boyd sah ihn einen Augenblick kalt an und bemerkte, dass er errötete. Dann wandte er sich an Margaret. »Es tut mir Leid, wenn ich Sie beunruhigt habe, Miss Ballinger«, sagte er mit einem leichten Lächeln und fragendem Blick.
»Ich würde eine Entschuldigung erwarten, wenn Sie mich für nicht in der Lage hielten, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, oder weniger als Mrs. Monk!«, antwortete Margaret hitzig. »Sie haben uns sehr freimütig geantwortet, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Bitte verderben Sie Ihren Respekt für unsere Aufrichtigkeit nicht dadurch, dass Sie jetzt ausweichen.«
Boyd ignorierte Courtney und Marielle, als wären sie gar nicht anwesend.
»Dann muss ich Ihnen sagen«, antwortete er, »dass ich glaube, dass Nolan Baltimore ebenso wahrscheinlich aus dem allgemein angenommenen Grund in die Leather Lane gegangen sein kann wie aus geschäftlichen Gründen, ehrbar oder auch nicht. Sein Lebensstandard, die Kosten für Kleidung, Kutschen, Essen und Wein deuteten nicht darauf hin, dass die Firma in Geldverlegenheiten war.« Er winkte Courtney, der etwas einwenden wollte, ungeduldig ab und fuhr, ohne den Blick von Margaret zu nehmen, fort. »Seit ich ihn das erste Mal in der City gesehen habe, hat er sich nie einschränken müssen. Es geht das Gerücht, dass seine Gesellschaft kurz vor einem großen Durchbruch steht. Vielleicht hat er wider Erwarten etwas geliehen oder hatte einen Geldgeber mit sehr tiefen Taschen. Doch wenn Sie mich fragen, wer das gewesen sein könnte: Ich habe absolut keine Ahnung. Nicht einmal eine wohl begründete Vermutung. Es tut mir Leid.«
Ein abwegiger Gedanke ging Hester durch den Kopf, anfangs nur wie ein seltsames Flackern, aber je mehr Zeit verrann, je weniger unsinnig schien er ihr. »Bitte, entschuldigen Sie sich nicht, Mr. Boyd«, sagte sie aufrichtig. »Sie haben uns sehr geholfen.« Sie ignorierte Margarets überraschten Blick und Marielles deutliches Missfallen.
Boyd lächelte sie an, Neugier und Befriedigung im Gesicht.
»Welch ein Glück«, sagte Marielle kühl und erklärte das Thema damit für beendet. »Hast du schon die neue Ausstellung im British Museum gesehen, Margaret? Mr. Boyd hat uns eben erzählt, wie faszinierend sie ist. Ägypten wollte ich immer schon einmal besuchen. Die Vergangenheit muss dort sehr gegenwärtig sein. Es würde einem eine ganz andere Perspektive auf die Zeit eröffnen, findest du nicht?«
»Nur leider hätte ich dann immer noch nicht mehr davon«, sagte Margaret, indem sie versuchte, ungezwungen auf dieses peinliche Manöver zu reagieren. Sie blickte Boyd an. »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit, Mr. Boyd. Ich hoffe, Sie entschuldigen uns, dass wir uns so plötzlich verabschieden, aber falls jemand eine Verletzte zu dem Haus am Coldbath Square bringen sollte, werden wir dort gebraucht.« Sie sah ihre Schwester an. »Vielen Dank für deine Großzügigkeit, Marielle. Ich bin dir äußerst dankbar.«
»Beim nächsten Mal musst du wirklich länger bleiben«, sagte Marielle verärgert. »Du musst zum Abendessen kommen oder uns ins Theater begleiten. Im Augenblick werden viele ausgezeichnete Stücke gespielt. Deine Interessen werden zu einseitig, Margaret. Das ist nicht gut für dich!«
Margaret hörte nicht auf sie, verabschiedete sich von allen, und ein paar Augenblicke später standen sie und Hester draußen in der kühlen Luft auf der Straße und gingen zu der Ecke, wo sie am ehesten einen Hansom finden würden.
»Was hat er denn so Hilfreiches gesagt?«, wollte Margaret wissen. »Ich begreife nicht, was das alles bedeutet und was davon wirklich von Nutzen sein soll.«
»Mr. Boyd hat angedeutet, dass Baltimore neben der Eisenbahngesellschaft noch andere Einkommensquellen hatte«, sagte Hester vorsichtig.
»Er ging also aus geschäftlichen Gründen in die Leather Lane?« Margaret war unsicher. »Bringt uns das etwas? Wir haben keine Ahnung, welche Geschäfte oder mit wem. Und haben Sie nicht gesagt, er sei gar nicht in der Leather Lane gestorben?«
»Genau. Ich habe gesagt, es könnte sehr gut sein, dass er in der Portpool Lane starb.«
Mit einem Ruck blieb Margaret stehen und drehte sich zu Hester um. »Sie meinen … in dem Bordell, das von dem Wucherer geführt wird?«
»Ja … genau.«
»Er hatte Gefallen daran … junge ehemals anständige Frauen zu demütigen?« Abscheu und Wut waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Möglicherweise«, meinte Hester. »Aber was war seine andere Einkommensquelle? Seine Familie wird nichts darüber wissen, ebenso wenig wie die Steuereintreiber. Es würde sehr gut erklären, wieso er mehr Geld für seine Vergnügungen ausgeben konnte, als Baltimore und Söhne abwarf. Und sein Tod trifft zufällig genau mit Squeaky Robinsons Panik zusammen. Vielleicht hat die Sache nichts mit der Eisenbahn zu tun. Vielleicht sollten wir uns fragen … ob er als Kunde umgebracht wurde, weil er zu weit ging, oder als Wucherer, weil er zu gierig wurde?«
Margaret war angespannt, aber ihr Blick war fest, nicht so ihre Stimme. »Was müssen wir jetzt tun? Wie können wir das herausfinden?«
»Ich habe noch keinen Plan«, antwortete Hester. »Aber ich werde mir sicher etwas einfallen lassen.«
Sie sah einen Hansom, trat vom Bordstein zurück und hob die Hand.
Margaret folgte ihr mit gleicher Entschlossenheit.