6

Monk hatte alle Informationen über die Eisenbahn von Baltimore und Söhne sehr sorgfältig geprüft und weder beim Kauf von Land noch bei irgendeinem anderen Teil des Projekts einen offensichtlichen Betrug erkennen können. Aber selbst wenn aus dem Kauf oder Nicht-Kauf bestimmter Streckenabschnitte unrechtmäßiger Profit geschlagen worden war, konnte er sich nicht vorstellen, wie dies zu einem erhöhten Unfallrisiko führen sollte. Das beschäftigte ihn auf eine Weise, von der sich Katrina Harcus keine Vorstellung machte. Natürlich war eine drohende Gefahr von Wichtigkeit, und er war sich eindringlich bewusst, dass er, falls sie real existierte, sowohl die moralische Pflicht als auch den Wunsch hatte, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sie zu verhindern. Aber was ihn mit gewaltigen, erstickenden Schmerzen peinigte, war die Angst, dass der Betrug, für den Arrol Dundas gestorben war, auf irgendeine Weise zu dem Unfall geführt hatte, an den Monk sich mit solch furchtbaren Schuldgefühlen erinnerte.

Er ging über die Wiese im Regent's Park auf den Treffpunkt zu und bemerkte kaum die Menschen um ihn herum. Seine Gedanken waren zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her gerissen. Jede Zeit hielt den Schlüssel zu einer anderen Zeit, und vielleicht erhielt er von Katrina ein paar Informationen, die sie wohl verwahrt hinter ihren Gefühlen verborgen hütete. Zumindest das hatten sie gemeinsam. Sie hatte Angst um Dalgarno und das, was sie nicht über ihn wusste und von dem sie fürchtete, es könnte wahr sein. Monk hatte die gleiche Angst, nur um sich selbst.

Der strahlende Sonnenschein verlieh dem Frühlingstag eine silbrig-goldene Klarheit, und der Garten war voller Menschen. Nachdem er sich aufgerafft hatte, sie zu treffen, war er herb enttäuscht, dass er mehrere Minuten vergeblich nach ihr Ausschau halten musste. Er sah Dutzende von Frauen aller Altersstufen. Sein Blick fiel auf gefärbte Seide und Spitzen, bestickten Musselin, Hüte mit Blumen, Sonnenschirme in einem Wald aus Spitzen über den ausgebreiteten Stoffkuppeln. Sie gingen zu zweit oder dritt spazieren und lachten miteinander oder hatten sich bei einem Bewunderer untergehakt, hoch erhobenen Hauptes und die Röcke raffend. Er stand enttäuscht im Torweg. Er hatte sich für die Begegnung gewappnet, was er nun morgen aufs Neue tun musste. Er hatte keine Ahnung, wo sie lebte oder wie er sie finden sollte, und solange er nicht mit ihr gesprochen hatte, konnte er nichts weiter tun.

»Mr. Monk!«

Er drehte sich herum. Sie stand hinter ihm. Er war so froh, sie zu sehen, dass er gar nicht mitbekam, was sie trug, außer, dass es blass war und kaum gemustert. Es war ihr Gesicht mit den verblüffend dunkel bewimperten Augen, auf das er seinen Blick richtete. Er lächelte, was wahrscheinlich dazu führte, dass sie glaubte, er habe gute Nachrichten, und obwohl er wusste, dass dem nicht so war, konnte er es nicht ändern. Pure Erleichterung wallte in ihm auf.

»Miss Harcus! Ich … ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, sagte er hastig. Das war nicht genau das, was er hatte sagen wollen, aber etwas Passenderes fiel ihm nicht ein.

Sie blickte forschend in sein Gesicht. »Haben Sie Neuigkeiten?«, fragte sie fast atemlos. Erst jetzt bemerkte er, wie blass sie war. Er spürte ihre Gefühle wie seine eigenen. Sie war gespannt wie eine Sehne, die jederzeit reißen kann.

»Nein«, sagte er barscher als beabsichtigt, weil er sich darüber ärgerte, dass er sie irregeführt hatte. »Außer dass ich bei Mr. Dalgarno kein Fehlverhalten entdecken konnte.« Er unterbrach sich. In ihren Augen lag keine Erleichterung, was ihn nicht überraschte. Als wäre es ihr unmöglich, ihm zu glauben. Wenn überhaupt, dann hatte ihre Anspannung noch zugenommen. Unter dem zarten Stoff ihres Kleides waren ihre Schultern starr, ihr Atem äußerst kontrolliert. Ihm war, als würde sich ihre Anspannung körperlich auf ihn übertragen. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein … nein …«

»Ich habe alles durchsucht!«, insistierte er. »Es mag Unregelmäßigkeiten beim Ankauf von Land geben …«

»Unregelmäßigkeiten?«, fragte sie scharf. »Was bedeutet das? Ist es ehrlich oder nicht? Ich bin nicht dumm, Mr. Monk. Es sind schon Menschen wegen ›Unregelmäßigkeiten‹, wie Sie das nennen, ins Gefängnis gekommen, wenn diese mit Absicht geschahen und sie davon profitiert haben. Manchmal sogar, wenn sie nicht beabsichtigt waren, man es jedoch nicht beweisen konnte.«

Ein älterer Gentleman verlangsamte seine Schritte und sah Katrina an, als sei er sich nicht sicher, was ihr Tonfall zu bedeuten habe. Zorn oder Schmerz? Sollte er sich einmischen? Er entschied sich dagegen und ging ziemlich erleichtert davon.

Zwei Damen gingen lächelnd an ihnen vorbei.

»Ja, ich weiß«, sagte Monk sehr ruhig, und wieder kamen ihm an diesem sonnigen Tag unerträglich düstere Erinnerungen hoch. »Aber Betrug muss bewiesen werden, und ich kann nichts finden.« Katrina holte Luft, als wollte sie ihn noch einmal unterbrechen, aber er fuhr eilig fort. »Man kann zum Beispiel eine Eisenbahnlinie durch ein bestimmtes Gebiet führen statt durch ein anderes, um einem Bauern oder Gutsbesitzer den Gefallen zu tun, dass sein Land nicht zerteilt wird. Es mag Bestechung gegeben haben, aber ich wäre sehr überrascht, wenn sich das nachweisen ließe. Die Leute gehen mit so etwas normalerweise sehr diskret um.« Er bot ihr den Arm, da er fürchtete, sie würden Aufmerksamkeit erregen, wenn sie zu lange an einem Fleck stehen blieben.

Sie griff so fest danach, dass er durch den Stoff seiner Jacke ihre Finger spürte.

»Aber der Unfall!«, sagte sie mit aufsteigender Panik. »Was ist mit den Gefahren? Das ist keine Sache von« – sie schluckte

- »von persönlichem fragwürdigem Profit. Es ist« – sie flüsterte das Wort – »Mord! Zumindest moralisch.« Sie hielt ihn fest, sodass er stehen bleiben musste, und starrte ihn mit so abgrundtiefem Entsetzen an, dass er erschrak.

»Ja, ich weiß«, sagte er sanft und wandte sich ihr zu. »Aber ich bin die Trasse persönlich abgeschritten, Miss Harcus, und ich kenne mich aus mit Eisenbahnen. Beim Erwerb von Land, nicht einmal schlechtem Land, ist nichts, was das Leben der Menschen im Zug gefährdet.«

»Wirklich nicht?« Sie ließ zu, dass er langsam weiterging und mit den anderen, die zwischen den Blumenbeeten umherschlenderten, verschmolz. »Sind Sie ganz sicher?«

»Wenn das Land mehr – oder weniger – kostet als vorgesehen«, erklärte er ihr, »und der Firmenbesitzer die Differenz in seine eigene Tasche steckt statt in die der Anteilseigner, ist das Diebstahl, aber es hat keine Auswirkungen auf die Sicherheit der Eisenbahnlinie.«

Sie sah mit ernsten Augen zu ihm auf. Er sah den Schmerz und die Verwirrung in ihrer Miene, ihre wachsende Verzweiflung. Warum? Was wusste sie über Dalgarno, was sie ihm immer noch nicht erzählt hatte? »Um welche Beträge könnte es da gehen?«, unterbrach sie seine Gedanken. »Doch sicher um große, oder? Genug, dass ein gewöhnlicher Mann sich für den Rest seines Lebens eine schöne Zeit machen kann?«

Monk sah plötzlich Arrol Dundas vor sich, so lebendig, dass er sogar die Falten in Dundas' Gesicht erkennen konnte, die Form seiner Nase und die Sanftheit in den Augen, mit denen er Monk anschaute. Er war wieder bei Gericht, sah die erstaunten Gesichter der Menschen über die riesigen Summen, über die gesprochen wurde, Summen, die in ihren Augen unvorstellbaren Reichtum bedeuteten, die in der Eisenbahnwelt jedoch ganz alltäglich waren. Er sah die offenen Münder, hörte Menschen nach Luft schnappen und sich überall im Raum regen, Stoffe rascheln, Fischbeinkorsetts knarren.

Was war mit dem Geld passiert? Hatte Dundas' Witwe es? Nein, unmöglich. Niemand behielt den Gewinn aus einem Verbrechen. War es verschwunden? Um ihn zu überführen, musste bewiesen worden sein, dass er es zu irgendeinem Zeitpunkt besessen hatte.

Monk weigerte sich einfach, an die andere Möglichkeit zu glauben: dass er selbst das Geld gehabt hatte. Er wusste genug über seine Zeit im Polizeidienst, um sich sicher zu sein, dass ein solcher Wohlstand aufgedeckt worden wäre.

Katrina wartete auf eine Antwort.

Er zwang sich in die Gegenwart zurück. »Ja, es geht wohl um sehr viel Geld«, räumte er ein.

Sie hatte die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. »Genug, um Männer zu einem schweren Verbrechen zu verführen«, sagte sie heiser. »Dass Menschen bereitwillig das Schlimmste von jemandem annehmen. Mr. Monk, diese Antwort genügt mir nicht.« Sie senkte den Blick, weg von seinen Augen und dem, was er womöglich in ihren Augen lesen könnte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe solche Angst um Michael, dass ich kaum weiß, wie ich überhaupt die Nerven behalten soll. Ich bin Risiken eingegangen, die ich unter anderen Umständen niemals eingegangen wäre. Ich habe an Türen gelauscht, Gespräche mit angehört, ich habe sogar Unterlagen auf anderer Leute Schreibtischen gelesen. Und ich schäme mich, es zuzugeben.« Plötzlich schaute sie auf. »Aber ich versuche mit aller Macht, die, die ich liebe, und ganz gewöhnliche unschuldige Männer und Frauen, die nur von einer Stadt in die andere reisen möchten und darauf vertrauen, dass die Eisenbahn sie sicher transportiert, vor einer Katastrophe zu bewahren.«

»Was verschweigen Sie mir?«

Wieder starrten Passanten sie an, vielleicht, weil sie erneut stehen geblieben waren, jedoch eher, weil sie die Leidenschaft und die Not in Katrinas Miene bemerkten. Zudem hielt sie immer noch Monks Arm fest.

»Ich weiß, dass Jarvis Baltimore vorhat, für mehr als zweitausend Pfund einen Grundbesitz zu erwerben«, sagte sie atemlos. »Ich habe die Pläne gesehen. Er hat darüber gesprochen, dass er das Geld in knapp zwei Monaten zusammenhat, aus dem Gewinn, den sie aus dem Plan, über den er und Michael gesprochen haben, erzielen werden.« Sie sah ihn eindringlich an, versuchte herauszufinden, was er davon hielt. »Aber er und Michael haben gesagt, es müsse absolut geheim bleiben, sonst würde es sie stattdessen in den Ruin treiben.«

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie die beiden nicht missverstanden haben?«, fragte er. »War das nach Nolan Baltimores Tod?«

»Nein …« Es war kaum mehr als ein Ausatmen.

Also war es keine Erbschaft.

»Der Verkauf von Anteilen fremder Eisenbahngesellschaften?«

»Warum sollten sie das geheim halten wollen?«, fragte sie. »Würde man darüber nicht ganz offen sprechen? Machen Gesellschaften das nicht andauernd?«

»Ja«, sagte er.

»Es gibt ein Geheimnis, hinter das Sie noch nicht gekommen sind, Mr. Monk«, sagte sie heiser. »Etwas, das ebenso schrecklich wie gefährlich ist und Michael ins Gefängnis bringen wird, vielleicht kommt er sogar dabei um, wenn wir es nicht herausfinden, bevor es zu spät ist!«

Angst durchlief ihn wie eine brennende Welle, aber sie war namenlos und ohne Sinn. Er griff nach dem Einzigen, von dem er wusste, dass es der Gewalt und der Ungeheuerlichkeit dessen, was sie andeutete, gleichkam. »Miss Harcus! Nolan Baltimore wurde vor kurzem umgebracht. Die meisten Menschen sind davon ausgegangen, sein Tod stehe im Zusammenhang mit seinen häufigen Besuchen eines Bordells in der Leather Lane. Aber vielleicht sollten sie das ja auch denken.«

Sie hob den Kopf und sah ihn ängstlich an. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie hatte die Menschen um sie herum mit ihrer Neugier und ihrer Besorgnis vollkommen vergessen. »Sie glauben, es hat etwas mit der Eisenbahn zu tun?« Sie atmete die Wörter voller Angst aus und schlug die Hand vor den Mund, als könnte das die Wahrheit ersticken.

Er wusste um die schlimme Angst, die sie ergriffen hatte, und ihr Schmerz tat ihm weh, aber es war sinnlos, ihm jetzt auszuweichen. Er würde dadurch nicht verschwinden.

»Ja«, antwortete er leise. »Wenn Sie Recht haben, und es geht wirklich um solche großen Summen, könnte er umgebracht worden sein, damit er, falls er von dem Plan wusste, nichts verrät.«

Jetzt war sie so weiß, dass er befürchtete, sie könnte in Ohnmacht fallen. Instinktiv griff er nach ihrem Arm, damit sie nicht stürzte.

Sie ließ sich nur einen kurzen Augenblick von ihm stützen, dann zog sie sich mit einem so heftigen Ruck zurück, dass der zarte Musselin ihres Ärmels zerriss.

»Nein!« In ihrem Gesicht stand Entsetzen, und ihre Stimme verriet so viel aufgestaute Emotionen, dass mehrere Menschen in der Nähe sich umdrehten und die beiden anschauten und sich, als sie dabei erwischt wurden, verlegen abwandten.

»Miss Harcus!«, sagte er. »Bitte!«

»Nein«, erwiderte sie, aber weniger heftig. »Ich … ich kann nicht glauben, dass …« Sie ließ den Satz unvollendet.

Sie wussten beide, was sie quälte. Die Möglichkeit war allzu offensichtlich. Wenn der Betrug so immens und der Gewinn so hoch war, wie sie fürchtete, dann konnte Nolan Baltimore leicht deswegen ermordet worden sein. Er hatte es womöglich gewusst, und er und sein Mörder hatten sich gestritten, weil er einen zu großen Anteil wollte oder den Plan auf andere Weise bedroht hatte. Vielleicht war er auch nicht eingeweiht gewesen, hatte es aber herausgefunden und musste zum Schweigen gebracht werden, bevor er sie verriet. Michael Dalgarno war der erste Verdächtige. Soweit Katrina wusste, steckten nur Dalgar-no und Jarvis Baltimore dahinter.

Monk fühlte mit ihr. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, wenn man Angst vor der Wahrheit hatte und doch gezwungen war, nach ihr zu suchen. Alles Leugnen in der Welt änderte nichts, und doch würde das Wissen endgültig und unwiderlegbar alles, was wichtig war, zerstören.

Für sie würde das bedeuten, dass der Mann, den sie liebte, in gewisser Weise nie existiert hatte. Selbst bevor er an dem betreffenden Abend in die Leather Lane gegangen war, bevor irgendetwas unwiderruflich war, hatte er die Saat davon in sich getragen, die Grausamkeit und die Gier, die Überheblichkeit, die seinen eigenen Vorteil über das Leben eines anderen Mannes stellte. Er hatte sich selbst betrogen, lange bevor er Katrina oder seinen Mentor und Arbeitgeber betrogen hatte.

Und wenn Monk Arrol Dundas betrogen und auch nur das Geringste über den Eisenbahnunfall gewusst hatte oder gar daran beteiligt gewesen war, dann war er nie der Mann gewesen, den Hester in ihm sah, und alles, was er so sorgfältig und unter schmerzhaftem Verzicht auf seinen Stolz aufgebaut hatte, würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.

Plötzlich war ihm diese Frau, die er kaum kannte, näher als irgendjemand sonst. Sie empfanden beide eine Angst, die ihr Leben beherrschte und alles andere ausschloss.

Sie starrte ihn immer noch entsetzt schweigend an.

»Miss Harcus«, sagte er mit einer Zärtlichkeit, die ihn erstaunte, und diesmal zögerte er nicht, sie zu berühren. Es war nur eine kleine Geste, aber voll tiefem Verständnis. »Ich werde die Wahrheit herausfinden«, versprach er ihr. »Wenn ein Betrug begangen wurde, werde ich ihn aufdecken und zukünftige Unfälle verhindern. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um herauszufinden, wer Nolan Baltimore umgebracht hat.« Er sah sie ernst an. »Aber wenn nicht, dann hätte Michael Dalgarno kein Motiv gehabt, ihm etwas anzutun. Baltimore wurde womöglich im Streit um Geld getötet, nicht wegen eines Vermögens, sondern wegen ein paar Pfund, von denen ein betrunkener Zuhälter glaubte, er schuldete sie ihm. Vielleicht hatte man keine Ahnung, wer er war. Hatte er ein hitziges Gemüt?«

Ein winziges Lächeln huschte über ihre Lippen, und ihr Körper entspannte sich ein wenig. »Ja«, flüsterte sie. »Ja, er ging schnell in die Luft. Ich danke Ihnen mehr, als ich sagen kann, Mr. Monk. Sie haben mir zumindest Hoffnung gegeben. Daran werde ich mich festhalten, bis Sie mir Neuigkeiten bringen.« Sie senkte den Blick, dann sah sie ihn wieder an. »Ich schulde Ihnen sicher noch mehr, und Sie haben Ausgaben wegen all der Reisen, die Sie um meinetwillen unternommen haben. Würden weitere fünfzehn Pfund im Augenblick genügen? Es … es ist alles, was ich Ihnen geben kann.« Vor Verlegenheit überzog eine leichte Röte ihre Wangen.

»Das würde ausreichen«, antwortete er, nahm das Geld und schob es so unauffällig wie möglich in seine Innentasche, wobei er so tat, als suchte er nach einem Taschentuch. Er zog es heraus und sah Begreifen und Anerkennung in ihren Augen aufblitzen, als Zeichen des Dankes.

Es war Zeit, dass Monk die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog, dass Baltimores Tod nicht der Prostitutionsskandal war, den alle dahinter vermuteten, sondern ein sehr persönlicher Mord, der nur zufällig in der Nähe des Bordells in der Leather Lane begangen worden war. Falls Dalgarno oder Jarvis Baltimore den älteren Mann hatten umbringen wollen, war der Mord hinter der Maske seiner privaten Laster das perfekte Verbrechen.

Den Superintendent zu fragen, der die Untersuchung leitete, würde nichts bringen, er würde sich über Monks Einmischung nur ärgern. Der arme Mann wurde von der Obrigkeit und den empörten Bürgern, die sich moralisch verpflichtet fühlten zu protestieren, mehr als genug unter Druck gesetzt. Egal, was er tat, es würde ihnen nicht gefallen. Die einzig akzeptable Lösung wäre gewesen, dass sich die ganze Angelegenheit in Luft auflöste, ohne Spuren zu hinterlassen, und das war unmöglich. Wenn sie sich nicht beschwerten, konnte es leicht den Anschein haben, sie würden Prostitution und den Mord an einem angesehenen Bürger billigen; wenn sie sich beschwerten, lenkten sie noch mehr Aufmerksamkeit auf Gepflogenheiten, denen sie – ohne es zuzugeben – alle nur zu gerne nachgingen.

Es hatte auch wenig Sinn, mit den Polizisten zu sprechen, die ihre Runde machten und gezwungen waren, die Leute in der Gegend um die Farringdon Road gegen ihren Willen zu schützen. Wenn sie wüssten, wer Nolan Baltimore umgebracht hatte, wäre der Mörder längst verhaftet und die Angelegenheit abgeschlossen worden.

Was Monk interessierte, waren zum einen die Wege, die Nolan Baltimore in der Nacht seines Todes zurückgelegt hatte, und zum anderen, was genau Michael Dalgarno darüber gewusst hatte und wo er sich aufgehalten hatte. Wie waren sie auseinander gegangen? Welche Rolle spielte Jarvis Baltimore?

Wer konnte das wissen? Die Bewohner des Hauses Baltimore, Familie und Bedienstete, möglicherweise die Polizisten, die in der Nähe des Hauses oder, falls keiner der Männer an dem Abend nach Hause gegangen war, der Büros Streife gingen, Straßenhändler, Menschen, deren tägliche Runde sie durch diese Gegend führte.

Er fing da an, wo er am leichtesten und wahrscheinlichsten etwas Brauchbares erfahren würde. Sie saß auf einer klapprigen Kiste, die neben der Straßenecke aufgestellt war, einen Schal um den Kopf und eine Tonpfeife fest zwischen den wenigen Zähnen. Verschiedene Sorten Hustenbonbons und Weinbrandtrüffel waren in Schalen und auf Zinntellern um sie herum aufgebaut, und ein Packen quadratischer Blätter wurde von einem Stein beschwert.

»Schön'n Tag, Sir«, sagte sie in einem weichen irischen Akzent. »Was kann ich Ihnen anbieten?«

Er räusperte sich. »Hustenbonbons, wenn Sie so nett wären«, sagte er lächelnd. »Für drei Pence, denke ich.« Er fischte ein Dreipencestück aus seiner Tasche und hielt es ihr hin.

Sie nahm es und schöpfte mit einem Weißblechlöffel eine Portion klebriger Bonbons, die sie auf ein Stück Papier häufte, das sie dann zu einer kleinen Tüte drehte und ihm reichte. Sie zog fest an der Pfeife, aber die schien ausgegangen zu sein. Sie griff in ihre Tasche, aber er war schneller und hielt ihr ein Päckchen Streichhölzer hin.

»Sie sind ein Gentleman«, sagte sie, griff danach, holte ein Hölzchen heraus, zündete es an, hielt die Flamme in den Pfeifenkopf und zog kräftig. Die Pfeife begann zu qualmen, und sie paffte zufrieden. Die Streichhölzer wollte sie ihm zurückgeben.

»Behalten Sie sie nur«, antwortete er großzügig.

Sie erwiderte nichts, aber ihre hellen, halb hinter den Falten der wettergegerbten Haut verborgenen Augen blitzten auf vor Vergnügen. »Und was wollen Sie?«, fragte sie unverhohlen.

Er schenkte ihr ein breites Lächeln. Er besaß Charme, wenn er wollte. »Sie wissen ja, dass Mr. Baltimore vor ein paar Tagen in der Leather Lane ermordet wurde«, sagte er offen. Es wäre unsinnig, sie für dumm verkaufen zu wollen. Wer in ihrem Alter noch auf der Straße arbeitete, ließ sich nichts vormachen.

»Weiß das nicht ganz London?«, antwortete sie. Ihre Miene verriet ihre Geringschätzung, wahrscheinlich weniger für seine Moral als für seine Heuchelei.

»Sie haben ihn kommen und gehen sehen«, fuhr er fort und nickte in Richtung des Baltimore-Hauses die Straße runter.

»Natürlich, der Teufel soll ihn holen«, meinte sie. »Hat nicht mal an 'nem kalten Tag 'nen halben Penny rausgerückt, der nicht!« Vielleicht wollte sie Monk damit wissen lassen, dass sie kein Interesse hatte, bei der Suche nach seinem Mörder behilflich zu sein. Ob es ehrlich gemeint war oder nur ein Trick, um für ihre weitere Hilfe bezahlt zu werden, spielte keine Rolle; so oder so, wenn sie ihm irgendetwas erzählte, würde er sie gerne dafür belohnen.

»Ich halte es für möglich, dass er von jemandem ermordet wurde, der ihn gekannt hat«, gab er zu. »Haben Sie ihn an jenem Abend gesehen? Irgendeine Idee, wann er das Haus verlassen hat und ob er allein war oder in Begleitung?«

Sie sah ihn unverwandt an, um sich ein Bild von ihm zu machen.

Er erwiderte ihren Blick und überlegte, ob sie Geld wollte oder ob es ihren Stolz verletzen würde, wenn er es ungeschickt anging.

»Es wäre sehr erfreulich, wenn sich herausstellen würde, dass es nichts mit den Frauen in der Leather Lane zu tun hat«, bemerkte er.

In ihren Augen blitzte ehrliches Interesse auf. »Allerdings«, stimmte sie ihm zu. »Aber selbst wenn ich ihn gesehen hätte, und jemand wäre ihm gefolgt, heißt das noch lange nicht, dass sie weiter als bis zum Ende der Straße gegangen sind, oder?«

»Nein, keineswegs«, sagte er und versuchte, sich seine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Er wusste nicht einmal, ob er aufgeregt war oder sich fürchtete. Er wollte nicht, dass Dalgar-no schuldig war! Es war nur eine Fährte, die seinen Eifer entfachte, endlich ein Faden Wahrheit zwischen diesem Knäuel voller Knoten. »Aber wenn ich wüsste, in welche Richtung sie gegangen sind, könnte ich womöglich die Droschke finden, die sie mitgenommen hat.«

»Josiah Wardrup«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Hab ihn selbst gesehen. Fast, als hätte er den alten Mistkerl erwartet.«

»Sehr interessant«, sagte Monk aufrichtig. »Vielleicht hat er das? Vielleicht ging Mr. Baltimore diesen Weg regelmäßig um diese Zeit?«

Aus der Tiefe ihrer Kehle stieg ein anerkennendes Geräusch auf. »Ganz schön clever sind Sie, was?«

»Na, ab und zu«, meinte er. Er griff in seine Tasche und holte zwei Shilling hervor. »Ich glaube, ich belohne mich mit Weinbrandtrüffeln für ein paar Pence.«

»Klar, und für wie viele Pence soll's denn sein?«, fragte sie und nahm die zwei Shilling.

»Vier«, sagte er, ohne zu zögern.

Sie grinste und gab ihm eine großzügige Portion.

»Vielen Dank. Behalten Sie das Wechselgeld. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Sie schob sich die Tonpfeife wieder in den Mund und saugte höchst zufrieden daran. Sie hatte eine vergnügliche Unterredung genossen, ein paar Shillings für nichts verdient und vielleicht der Sache der Gerechtigkeit gedient, den armen Frauen, die in der Gegend um die Farringdon Avenue arbeiteten, die Polypen vom Hals zu schaffen. Nicht schlecht für kaum 'ne halbe Stunde Arbeit.

Monk brauchte bis zum nächsten Tag, um Josiah Wardrup zu finden, und auf nur milden Druck gab der Droschkenkutscher zu, dass er Nolan Baltimore in den letzten zwei oder drei Jahren mindestens einmal die Woche an dieser Ecke aufgenommen und zur Ecke Theobald's Road und Gray's Inn Road gebracht hatte, was nur einen Katzensprung von der Leather Lane entfernt war.

Monk war sich nicht sicher, ob es das war, was er hören wollte. Es sah sehr danach aus, als wäre Baltimore regelmäßig hierher gekommen, in diesem Fall hätte aber jeder, der ihm schaden wollte, es herausfinden und ihm folgen können.

Falls Wardrup noch jemanden gesehen hatte, dann gab er es nicht zu. Er sah Monk mit verdutztem, unschuldigem Blick an und verlangte die verdiente Anerkennung. Und nein, er hatte keine Ahnung, wohin Mr. Baltimore von dort aus zu gehen pflegte. Immer noch stand Monk dort und wartete, bis Wardrup gefahren war, was diesen merkwürdig amüsierte. Was machte ein Gentleman schon in einer solchen Gegend?

Die einzige Tatsache, die Monk einigermaßen interessant fand, war, dass es jedes Mal dieselbe Ecke gewesen war. Die Zeiten variierten, die Wochentage, aber niemals der Ort.

In dem Bordell in der Leather Lane, wo seine Leiche gefunden worden war, leugnete man jedoch, ihn je zuvor gesehen zu haben. Er sei nicht nur an jenem Abend nicht dort gewesen, sondern auch nie zuvor.

Monk mochte noch so viel schmeicheln und drohen – keine Frau sagte etwas Abweichendes, und obwohl man sie im Allgemeinen nicht für ehrlich hielt und trotz der Tatsache, dass Baltimore unzweifelhaft dort gefunden worden war, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass er ihnen glaubte. Natürlich war er sich auch bewusst, dass er bei weitem nicht der Erste war, der sie fragte, und sie mehr als genug Zeit gehabt hatten, ihre Geschichten miteinander abzusprechen.

Dennoch war Abel Smiths dubioses und alles andere als verlockendes Etablissement nicht die Art von Lokalität, die gemeinhin von wohlhabenden Männern wie Baltimore frequentiert wurde. Aber die Geschmäcker waren verschieden, die einen mochten Schmutz, die anderen Gefahr. Monk kannte allerdings niemanden, der Krankheit mochte – außer denen natürlich, die bereits infiziert waren.

Nach zwei Tagen war er kaum klüger.

Er wandte seine Aufmerksamkeit Dalgarno zu und war überrascht, wie sehr er sich vor dem, was er herausfinden würde, fürchtete. Zudem war die Suche selbst alles andere als einfach. Dalgarno war ein Mann, der sehr viele Dinge allein zu tun schien. Herauszufinden, um welche Zeit er die Büros von Baltimore und Söhne verlassen hatte, war nicht schwierig. Ein paar Erkundigungen am Empfang erbrachten diese Information, aber sie war von geringem Nutzen. Dalgarno war um sechs Uhr gegangen, fünf Stunden bevor Baltimore einen Hansom bestiegen hatte und zur Ecke Gray's Inn Road gefahren war.

Ein Zeitungsjunge hatte gesehen, wie jemand – mit großer Wahrscheinlichkeit Dalgarno – das Haus der Baltimores betreten hatte, und eine halbe Stunde später war auch Jarvis Baltimore nach Hause gekommen, aber der Zeitungsjunge hatte den Platz vor acht Uhr verlassen, und keiner der Befragten wusste mehr. Die Dienstboten der Baltimores würden es wissen, aber er hatte keine Befugnis, mit ihnen zu sprechen, und eine Entschuldigung fiel ihm nicht ein. Und selbst wenn, Baltimore konnte jederzeit zwischen Mitternacht und Morgendämmerung umgebracht worden sein. Auch bei Dalgarno ergaben Monks Nachforschungen nicht, ob er die ganze Nacht in seinem Zimmer gewesen war. Hinein- und herauszukommen war einfach, und so hatten weder der Postbote noch einer seiner Diener ihn gesehen.

Monk sprach mit dem Pfefferkuchenverkäufer an der Ecke fünfzig Meter weiter, einem kleinen, schlanken Mann, der aussah, als würden ihm eine dicke Scheibe seiner eigenen Pfefferkuchen und eine heiße Tasse Tee gut tun. Er hatte gesehen, dass Dalgarno am Abend von Baltimores Tod gegen halb zehn nach Hause gekommen war. Dalgarno war rasch gegangen, seine Miene war wutverzerrt gewesen, den Hut hatte er stramm auf dem Kopf sitzen, und er war ohne ein Wort vorbeigelaufen. Der Pfefferkuchenverkäufer hatte jedoch kurz darauf seine Sachen zusammengepackt und war nach Hause gegangen, also hatte er keine Ahnung, ob Dalgarno noch einmal weggegangen war oder nicht.

Vielleicht wusste es der Wachtmeister, der in der Nacht Dienst gehabt hatte. Er kam ab und zu auf seiner Runde hier vorbei. Aber er grinste Monk schief an und zwinkerte ihm halbherzig zu. Sicher, er kannte jemanden, der diese Straßen frequentierte, um sonst was zu treiben; in ein paar Tagen würde er sich erkundigen.

Monk gab ihm eine halbe Krone und versprach ihm weitere sieben, was zusammen einen Sovereign geben würde, wenn er ihm behilflich wäre. Allerdings brauchte er mehr als eine Aussage aus zweiter Hand. Wenn es Zeugen gab, musste er selbst mit ihnen reden. Was irgendjemand in der Straße wollte, ging ihn nichts an, danach würde er nicht fragen.

Der Wachtmeister dachte einen Moment nach, dann erklärte er sich einverstanden. Monk dankte ihm, sagte, er würde in drei oder vier Tagen wieder vorbeischauen, und verabschiedete sich.

Es war gegen drei Uhr am Nachmittag, kalt und stürmisch, grau, Regen kündigte sich an. Fürs Erste hatte er alles getan, was er in Bezug auf Dalgarno und auf Baltimores Tod tun konnte. Womöglich verhielt es sich genau so, wie es aussah und wie alle vermuteten. Er konnte die Suche, von der er von Anfang an gewusst hatte, dass er sie aufnehmen musste, nicht länger aufschieben. Er musste zurück zu Arrol Dundas' Prozess und sehen, ob die Einzelheiten seine Erinnerung wachrütteln würden und er sich daran erinnerte, was er damals über den Betrug, wie er entdeckt worden war, und vor allem über seine eigene Rolle dabei gewusst hatte.

Wo der Prozess stattgefunden hatte, wusste er nicht, aber alle Sterbefälle waren registriert, und die Akten wurden hier in London aufbewahrt. Er kannte genug Einzelheiten, um Dun-das' Akte zu finden, und dort würde der Gerichtsort verzeichnet sein. Heute Abend würde er dorthin gehen und sich seiner Vergangenheit stellen, den Deckel von seinen Albträumen lüften.

Zuerst musste er nach Hause, sich waschen, etwas essen, sich umziehen und einen Koffer packen, bereit, dorthin aufzubrechen, wohin er reisen musste.

Hester würde wohl nicht zu Hause sein, sondern entweder in dem Haus am Coldbath Square arbeiten oder unterwegs sein, um mehr Geld für Miete, Essen und Medikamente zu sammeln. Er nahm es an, weil er es sich wünschte, um der Konfrontation mit seinen eigenen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Das war feige, und er schämte sich dafür, aber er stellte sich vor, was sie empfinden würde, wenn sie gezwungen wäre, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, dass er nämlich sehr viel weniger wert war, als sie glaubte. Dazu war er noch nicht bereit. Wenn er sein Versprechen gegenüber Katrina Harcus halten und ein neues Eisenbahnunglück verhindern wollte, durfte er nicht zulassen, dass seine Gedanken von diesem Schmerz abgelenkt wurden.

Selbst das war eine Ausflucht. Er tat es um seinetwillen. Es war ein Zwang, niemals zuzulassen, dass so etwas noch einmal geschah. Er musste es tun, bevor er sich den früheren Ereignissen stellen konnte, die irgendwo in seiner Erinnerung verborgen lagen, bruchstückhaft, unvollständig, aber unleugbar.

Er öffnete die Tür und trat ein, um sich umzuziehen, zu packen, eine Tasse Tee zu trinken und eine Scheibe Brot mit kaltem Fleisch zu essen, falls überhaupt welches da war. Er würde Hester eine Nachricht hinterlassen und ihr seine Abwesenheit erklären. Stattdessen stieß er fast mit ihr zusammen, als sie lächelnd aus der Küche kam, um ihn mit einer Umarmung zu begrüßen. Aber er sah die Unsicherheit in ihren Augen, die davon sprach, dass sie um seine Einsamkeit wusste, um den Verlust der alten Offenheit zwischen ihnen. Sie war verletzt und versteckte es um seinetwillen.

Er zögerte, denn er verabscheute die Lüge und hatte gleichzeitig doch Angst vor der Wahrheit. Er durfte keine Sekunde länger zaudern, er musste eine Entscheidung fällen! Jetzt. Er tat es instinktiv. Er trat vor, nahm sie in die Arme, hielt sie zu fest, bis er spürte, wie sie nachgab und sich an ihn klammerte. Dies zumindest war ehrlich. Nie hatte er sie mehr geliebt, mit ihrem Mut, ihrer Großzügigkeit, der Heftigkeit, mit der sie andere schützen wollte, und ihrer Verletzlichkeit, die sie so gut zu verbergen glaubte und die in Wirklichkeit doch so offensichtlich war.

Er drückte die Wange in ihr weiches Haar und bewegte leise die Lippen, ohne jedoch etwas zu sagen. Zumindest hatte er sie nicht mit Worten absichtlich irregeführt. Gleich würde er ihr erzählen, dass er wieder wegfahren würde und vielleicht sogar, warum, aber für eine Weile wollte er einfach nur die Berührung sprechen lassen, ohne Komplikationen. Er würde sich später daran erinnern, es in Gedanken bewahren und in der stillschweigenden Erinnerung seines Körpers, die noch tiefer reichte.

Es war spät, als er zum Archiv kam. Er wusste nicht einmal das Datum von Dundas' Tod, nur das Todesjahr. Es konnte eine Weile dauern, bis er die richtige Akte fand, da er sich auch in Bezug auf den Ort nicht sicher war. Aber zumindest handelte es sich um einen ungewöhnlichen Namen. Wenn er noch bei der Polizei gewesen wäre, hätte er verlangt, dass das Archiv für ihn offen bliebe, bis er gefunden hatte, was er suchte. Als Privatperson konnte er das nicht.

Er fragte einfach nach dem Abschnitt, nach dem er suchte, und als er dorthin geführt wurde, setzte er sich auf einen hohen Hocker und strengte seine Augen an, um Seite um Seite krakeliger Handschrift zu lesen.

Der Angestellte trat gerade neben ihn, um ihm zu sagen, dass sie schließen würden, da sah er den Namen Dundas und den restlichen Eintrag: Er war im April 1846 im Gefängnis in Liverpool an einer Lungenentzündung gestorben.

Er schloss das Buch und wandte sich dem Mann zu. »Vielen Dank«, sagte er heiser. »Das ist alles, was ich brauche. Ich bin Ihnen sehr verbunden.« Es war irrational, dass die in Tinte festgehaltenen Worte es so viel wirklicher machten. Sie entrissen es der Sphäre der Vorstellung und Erinnerung und versetzten es in die der unauslöschlichen Fakten, die der Welt so bekannt waren wie ihm.

Er schritt durch die Tür, ging die Stufen hinunter und folgten den Straßen zurück zum Bahnhof, wo er sich ein Schinkensandwich und eine Tasse Tee kaufte und auf den letzten Zug Richtung Norden wartete.

Als der Nachtzug kurz vor der Morgendämmerung in die Lime Street Station in Liverpool einlief, stieg Monk vor Kälte zitternd und mit steifen Gliedern aus und kaufte sich etwas Heißes zu trinken und zu essen. Dann suchte er sich eine Unterkunft, wo er sich waschen und rasieren und ein sauberes Hemd anziehen konnte, bevor er sich auf die Suche nach der Vergangenheit machte.

Es war noch viel zu früh, als dass irgendein Archiv offen hatte, aber ohne zu fragen, wusste er, wo das Gefängnis war. Um sieben Uhr brach ein grauer Tag an, und vom Mersey wehte ein steifer Wind herauf. Um ihn herum gingen die Menschen mit schnellen Schritten und gesenkten Köpfen zur Arbeit. Er hörte den flachen, nasalen Liverpooler Akzent, bei dem die Stimme am Ende des Satzes angehoben wurde, den trockenen Humor und die fröhlichen Beschwerden über das Wetter, die Regierung und die Preise und stellte fest, dass ihm das alles merkwürdig vertraut war. Er verstand sogar die Alltagssprache. Er nahm eine Droschke und sagte dem Kutscher einfach, wo er abbiegen musste, Straße für Straße, bis die dunklen Mauern sich vor ihnen auftürmten und er von Erinnerungen überflutet wurde: der Geruch nasser Steine, das Gurgeln des Regens in der Dachrinne, die unebenen Pflastersteine und der kühle Wind, der um die Ecken fegte.

Er bat den Kutscher zu warten, stieg aus und starrte auf die verschlossenen Tore. In Dundas' letzten Tagen war er so oft hier gewesen, dass ihm sogar das Muster von Licht und Schatten auf den Mauern vertraut war.

Mächtiger als die Schwärze der Steine um ihn herum und der Geruch nach tief sitzendem Schmutz und Elend war das alte Gefühl der Hilflosigkeit, das mit vernichtender Macht wiederkehrte, als sei die Luft in seinen Lungen dünn und ließe ihn ersticken.

Er stand reglos da und versuchte, an etwas Greifbares heranzukommen – Worte, Fakten, Einzelheiten –, aber je mehr er sich bemühte, desto schneller entglitt es ihm. Das Gefühl zu ersticken blieb.

Hinter ihm verlagerte das Kutschenpferd sein Gewicht, Hufeisen schlugen laut auf das Pflaster, das Geschirr knarrte.

Hier war nichts zu erreichen. Aus der Erinnerung geholter Schmerz brachte ihn nicht weiter. Dass Dundas tatsächlich hier gestorben war, hatte er nie bezweifelt. Er brauchte etwas, dem er folgen konnte.

Langsam ging er zum Hansom zurück und stieg ein.

»Ich möchte mir alte Zeitungen ansehen«, sagte er zu dem Kutscher. »Von vor sechzehn Jahren. Bringen Sie mich dahin, wo ich die finde.«

»Bibliothek«, antwortete der Kutscher. »Es sei denn, Sie möchten zum Gericht?«

»Nein, vielen Dank. Die Bibliothek ist vollkommen in Ordnung.« Wenn er eine Kopie der Gerichtsakte brauchte, würde er danach fragen, aber so weit war er noch nicht. Um Akteneinsicht zu erhalten, würde er seinen Namen und seine Gründe nennen müssen. In den Zeitungsarchiven konnte er anonym etwas erfahren. Er verachtete sich für den Gedanken, doch er wusste, dass er sich aus reinem Selbsterhaltungstrieb, so gut es ging, vor dem Schmerz zu schützen bemühte. Schmerz machte einen kampfunfähig, und er musste das Katrina Harcus gegebene Versprechen halten.

So früh am Tag interessierte sich sonst niemand für alte Aufzeichnungen, und er hatte die Zeitungsordner ganz für sich. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, da hatte er den Bericht über den Prozess von Arrol Dundas gefunden. Es wusste bereits das Datum von Dundas' Tod, und von dort arbeitete er sich rückwärts. Die Schlagzeile lautete: FINANZIER ARROL DUNDAS WEGEN BETRUGS VOR GERICHT.

Er fing an zu lesen.

Es war genau das, was er befürchtet hatte. Die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen, aber er hätte die Worte aufsagen können, als wären sie in zentimetergroßen Buchstaben geschrieben. Es gab sogar eine Federzeichnung von Dun-das in der Anklagebank. Sie war hervorragend. Monk musste keinen Augenblick darüber nachdenken, ob sie den Mann so porträtierte, wie er gewesen war. Sie war so lebendig, der Charme, die Würde, der innere Anstand, es war alles da, eingefangen in ein paar Linien, und die Angst und die Müdigkeit in den feinen, aber ausgemergelten Zügen, die Nase zu spitz, das Haar ein wenig zu lang, die Falten am Hals zu tief, wodurch er insgesamt zehn Jahre älter aussah als die zweiundsechzig, die in der Zeitung standen.

Monk starrte die Zeichnung an und war wieder im Gerichtssaal, spürte den Druck der Körper um ihn herum, den Geruch von Zorn in der Luft, die schroffen Liverpooler Stimmen mit ihrem ungewöhnlichen Rhythmus und Akzent, den ihnen eigenen Humor, der sich heftig gegen das wendete, was sie für Verrat hielten. Die ganze Zeit spürte er die Enttäuschung, wie er bei seinen Bemühungen auf Schritt und Tritt behindert wurde. Hoffnung versickerte wie Wasser in trockenem Sand.

Er fand auch ein Bild des Staatsanwalts, eines großen Mannes mit einem sanften, ruhigen Gesicht, das über seinen Erfolgshunger hinwegtäuschte. Er hatte sich seinen Dialekt abgewöhnt, aber wenn er aufgeregt war, kamen die nasalen Klänge noch durch. Ab und zu vergaß er es und benutzte ein Dialektwort, was der Menschenmenge sympathisch war. Monk hatte damals nicht erkannt, wie viel Effekthascherei er betrieb, aber inzwischen hatte er vielen anderen Verfahren beigewohnt und erkannte, dass der Ankläger wie ein schlechter Schauspieler gewesen war.

Hing alles vom Können der Anwälte ab? Was, wenn Dundas jemanden wie Oliver Rathbone gehabt hätte? Wäre es am Ende vielleicht anders ausgegangen?

Er las den Bericht über die Zeugenvernehmung: zuerst andere Bankangestellte, die jedes Wissen über ungesetzliche Geschäfte abstritten, eilig ihre Hände davon freiwuschen und laut ihre Unschuld beteuerten. Er erinnerte sich an ihre gut geschnittenen Röcke und Hemden mit engen Kragen, ihre sauberen, rosigen Gesichter und korrekten Stimmen. Sie hatten ängstlich ausgesehen, als sei Schuld ansteckend. Monk spürte, dass seine eigene Wut sich in ihm zusammenballte, immer noch eindringlich und real und nicht wie etwas vor sechzehn Jahren Abgeschlossenes.

Als Nächstes kamen die Investoren an die Reihe, die Geld verloren hatten oder zumindest allmählich begriffen, dass sie nicht den erhofften Gewinn machen würden. Ausgesprochene Unkenntnis mündete in offenen Zorn, als sie sahen, dass ihr Finanzgeschick untergraben worden war. Da man hinterher immer klüger war, schrien sie nun am lautesten, voller Tücke in ihrer schlechten Meinung über Dundas' Charakter. Es hatte Monk wütend gemacht, dass er ihnen ohnmächtig zuhören musste, ohne seine Ansicht vertreten und Dundas verteidigen zu können. Es war ihm nicht erlaubt, über die Habgier dieser Männer zu sprechen, darüber, wie bereitwillig sie sich von der neuen Route hatten überzeugen lassen – ein Kauf mehr oder weniger, wenn's nur billiger wurde.

Er hätte gerne ausgesagt. Und jetzt spürte er seine Wut, als wäre es gestern gewesen. Wie hatte er den Anwalt der Verteidigung unter Druck gesetzt, damit der ihn sprechen ließ. Und jedes Mal war es ihm verweigert worden.

»Beeinflussung der Geschworenen«, hatte man ihm gesagt. »Sie können Baltimore nicht angreifen, sonst machen Sie es nur schlimmer. Seine Familie hat Geld in jedem größeren Unternehmen in Lancashire. Er ist eine Säule der Gesellschaft. Machen Sie sich ihn zum Feind, und Sie bringen das halbe Land gegen sich auf.« So war es weitergegangen, bis seine Zeugenaussage so verwässert war, dass sie im Grunde nutzlos war. Er trat in den Ring wie ein Boxer, dem man einen Arm auf den Rücken gebunden hat und der Schläge einstecken muss, die er nicht erwidern kann.

Der Grundbesitzer hatte ihn überrascht. Er hatte Empörung und Eigennutz erwartet, doch stattdessen war der Mann bestürzt gewesen, hatte vom Gefeilsche beim Verkauf berichtet und erklärt, wie man versucht hatte, die Strecke umzuleiten, um das eine oder andere Stück Land nicht zu teilen. Aber er zeigte weder Groll, noch war er verzweifelt bemüht, seinen Ruf zu wahren.

Große Summen hatten den Besitzer gewechselt, doch trotz aller Versuche des Anklägers, sie unredlich oder maßlos erscheinen zu lassen, entsprachen sie im Großen und Ganzen genau den Erwartungen.

Wie auch immer, als alle Beträge in die Beweisführung eingegangen waren, hörte Monk in dieser akribischen Auflistung das Totengeläut der Verteidigung. Selbst in seiner fragmentierten Erinnerung wusste er jetzt, wie das Urteil ausfallen würde, nicht weil es wahr war, sondern weil zu viele der Kaufverhandlungen von Dundas geführt worden waren, zu viele Verträge seine Unterschrift trugen, zu viel Geld auf seinem Konto war. Er konnte es leugnen, aber er konnte es nicht widerlegen. Er handelte im Auftrag anderer. Das war sein Beruf.

Andere Namen waren jedoch nicht schriftlich festgehalten. Er hatte ihnen vertraut. Sie behaupteten, sie hätten ihm vertraut. Wer hatte wen betrogen?

Natürlich kannte Monk das Urteil – schuldig.

Aber er musste Einzelheiten erfahren, wie man es angestellt hatte, dass der Betrug bis zum letzten Augenblick nicht aufgeflogen war. Wie hatte Dundas erwartet, damit durchzukommen?

Er fand eine Skizze von Nolan Baltimore bei seiner Zeugenaussage. Monk betrachtete fasziniert die wenigen Linien. Ein hässliches Gesicht war es, aber ungeheuer vital, die schweren Knochen verrieten Stärke und der Schwung seiner Lippen Appetit. Es war intelligent, besaß aber keine Sensibilität und wenig Scharfsinn oder Humor. Schon die Zeichnung löste Widerwillen aus. Monk konnte sich nicht erinnern, den Mann je lebend gesehen zu haben. Er war der Eigentümer von Dalgarnos Gesellschaft, der Mann, dessen Mord Hester und die Frauen, um die sie sich kümmerte, so viel Unannehmlichkeiten bereitet hatte. Er war in der Leather Lane gestorben, war aller Wahrscheinlichkeit nach von einer Prostituierten die Treppe hinuntergestoßen worden, die er wohl nicht hatte bezahlen wollen.

Oder aber der Eisenbahnbetrug hatte ihn am Ende doch eingeholt, und er war, wie Katrina befürchtete, umgebracht worden, damit es nicht noch einmal passierte oder damit es nicht an den Tag kam und weitergeführt werden konnte. Hatte er vorgehabt, auch diesen Betrug aufzudecken, diese beinahe exakte Kopie des damaligen Betrugs, der funktioniert hätte, wenn … wenn was?

Monk legte die Zeitung auf den Tisch und starrte auf die Reihen mit Aktendeckeln und Hauptbüchern vor ihm. Was hatte Arrol Dundas verraten? Warum war der Plan nicht unentdeckt geblieben? Hatte ihn jemand betrogen, oder war es Unbedachtheit gewesen, eine Überweisung, die nicht sorgfältig genug verborgen worden war, eine Eintragung, die nicht durchgezogen wurde, etwas Unvollständiges, ein Name, der nicht hätte erwähnt werden dürfen?

Wenn jemand Monk erzählt hatte, was er im Vertrauen erfahren oder aus Beobachtungen geschlussfolgert hatte, konnte er es sich jetzt nicht wieder in Erinnerung rufen, sosehr er sich auch bemühte.

Seine Augen schmerzten vom vielen Abschreiben, und die Zeilen hüpften, aber jeden Tag ging er zurück, um die Berichte über die Zeugenaussagen zu lesen. Betrugsverfahren waren stets langwierig; wollte man die komplexen Prozesse des An-und Verkaufs von Land, der Vermessung, des Aushandelns von Streckenführungen, der Erwägungen zu Methoden, Materialien und Alternativen zurückverfolgen, gab es sehr viele Einzelheiten zu beachten.

Er rieb sich die Augen und blinzelte, als sei Sand darin.

Auch er hatte ausgesagt, aber von ihm gab es keine Zeichnung. Er war nicht interessant genug, um den Leser zu fesseln. Also war, ob der Künstler ihn gezeichnet hatte oder nicht, kein Bild von ihm veröffentlicht worden. War er enttäuscht? War er damals wirklich eine unwichtige Randfigur gewesen? Es schien so.

Er las, was über seine eigene Befragung durch den Ankläger berichtet wurde. Zunächst war er verblüfft, dass der Ton der Fragen darauf hindeutete, dass offensichtlich auch er verdächtigt worden war. Aber vernünftig und ohne instinktiven Selbstverteidigungstrieb betrachtet, hätte der Mann pflichtvergessen gehandelt, hätte er die Möglichkeit nicht ebenso ernsthaft erwogen.

Wenn Monk aber damals verdächtigt worden war, warum hatte man ihn später für so unwichtig erachtet, dass man nicht einmal ein Bild von ihm gedruckt hatte? Es musste etwas zu seiner Verteidigung vorgebracht worden sein. Zu dem Zeitpunkt, als die Zeitung in Druck ging, war er tatsächlich nicht mehr betroffen. Warum? Spielte es heute noch eine Rolle? Wahrscheinlich nicht.

Den Zeitungsberichten zufolge hatte Monk einige der Kaufverhandlungen geführt. Man schien ihm nur sehr mühsam aus der Nase gezogen zu haben, dass er den Landvermesser nicht angestellt hatte, und diese Tatsache hatte ihn entlastet. Insgesamt war er keine halbe Stunde im Zeugenstand gewesen. Falls er überhaupt etwas zu Dundas' Entlastung gesagt hatte, dann stand es nicht in der Zeitung. Von der Staatsanwaltschaft war er als gegnerischer Zeuge betrachtet worden, aber die meisten Fragen betrafen Dokumente, die kaum geleugnet werden konnten.

Er konnte sich nicht daran erinnern, was er gesagt hatte, nur an das Gefühl, in der Falle zu sitzen, von der Menge angestarrt und vom Richter mit finsteren Blicken bedacht zu werden, von den Geschworenen abgewogen und eingeschätzt, vom gegnerischen Anwalt angegriffen und von Dundas Hilfe suchend angeschaut zu werden. Hilfe, die er nicht geben konnte. Das stand ihm selbst jetzt noch deutlich vor Augen. Er empfand Schuld, weil er nicht clever genug gewesen war, Dundas zu helfen.

Dann sah er ganz deutlich ein anderes Gesicht, das, aus welchem Grund auch immer – vielleicht aus Mitleid –, nicht gezeichnet worden war: Dundas' Frau. Sie hatte während des ganzen Prozesses mit schrecklicher Ruhe dagesessen. Ihre Loyalität war das Einzige, was zu loben selbst der Ankläger sich genötigt gesehen hatte. Er hatte mit Respekt über sie gesprochen, war er sich doch sicher, dass ihr Glaube an ihren Mann echt und unerschütterlich war.

Monk erinnerte sich daran, wie sie hinterher gewesen war, wie tief ihr leiser Kummer gewesen war, als sie ihm von Dun-das' Tod erzählt hatte. Er konnte sich das Zimmer vergegenwärtigen, das Sonnenlicht, ihr blasses Gesicht, die Tränen auf ihren Wangen, als gäbe es nur noch diesen, den verborgenen, tiefsten, nie endenden Schmerz. An sie dachte er mehr als an Dundas, sie, deren Kummer größer war als sein eigener.

Da war auch noch etwas anderes, aber er konnte es nicht wieder hervorholen. Er saß da und blickte auf die alten Zeitungen mit ihren vergilbten Rändern und mühte sich, es wieder lebendig werden zu lassen. Immer wieder schien es in Reichweite zu sein, und dann zersplitterte es in sinnlose Bruchstücke.

Er gab auf und wandte sich dem nächsten Verhandlungstag zu. Weitere Zeugen, diesmal die der Verteidigung. Buchhalter wurden aufgerufen, Menschen, die Einträge in Hauptbücher gemacht hatten, die Bücher führten, Geldanweisungen, Kaufverträge für Land, Eigentumsurkunden und Prüfberichte abhefteten. Bei diesen äußerst komplizierten Vorgängen war die Hälfte von ihnen im Kreuzverhör unsicher geworden. Der heftigste Stoß der Verteidigung war nicht der gewesen, dass es keinen Betrug gab, sondern dass auch Nolan Baltimore verdächtig war.

Während Nolan Baltimore jedoch im Zeugenstand war, saß Arrol Dundas auf der Anklagebank – das machte den Unterschied. Es hing davon ab, wem man glaubte. Sämtliche Beweise konnten so oder so gedeutet werden. Monk wusste, wie es gelaufen war, trotzdem konnte er in dem Gewirr keine Spur finden, die zur Wahrheit führte.

Niemand bezweifelte, dass Dundas auf eigenen Namen minderwertiges Ackerland gekauft hatte, und zwar zu einem Marktpreis, der niedrig genug war, wenn man lediglich Schafe darauf halten wollte. Als die ursprüngliche Streckenführung der Eisenbahn allerdings geändert wurde und um einen Hügel herum und genau über dieses Ackerland führte, musste es zu einem erheblich höheren Betrag gekauft werden, und Dundas machte in kürzester Zeit einen riesigen Gewinn.

An sich war das nichts weiter als eine außergewöhnlich glückliche Spekulation, auf die man neidisch blickte, ohne sie jedoch zu tadeln. Man mochte sich darüber ärgern, dass man nicht das Gleiche getan hatte, aber nur ein engstirniger Mann hasst jemanden für einen solchen Gewinn.

Der Verdacht des Betrugs kam erst auf, als sich herausstellte, dass die Verlegung der Strecke nicht nur unnötig gewesen war, sondern auch auf Dokumentenfälschung und Dundas' Lügen basierte. Auch wenn ein bestimmter Gutsbesitzer gegen die Strecke zu Felde zog, weil sie durch sein Jagdgebiet führte und ihm den Ausblick auf die prächtige Landschaft ruinierte, wäre man bei der ursprünglichen Streckenführung geblieben. Den Hügel, der als Vorwand für die Verlegung diente, gab es wirklich, und er lag auch tatsächlich auf der ursprünglichen Streckenführung, aber in Wirklichkeit war er weniger hoch als in der Vermessung, von der sie ausgegangen waren, die in Wahrheit von einem anderen Hügel stammte, der ähnliche Umrisse hatte, aber höher war und aus Granit. Die Gitternetzmarkierungen waren in einem einfallsreichen Betrugsmanöver gefälscht worden. Der eigentliche Hügel, der die Streckenführung störte, hätte mit einem einfachen Durchstich und leichter Steigung bezwungen werden können. Zur Not hätte es auch ein kurzer Tunnel getan. Die Kosten dafür waren in Dundas' Kalkulation viel zu hoch angesetzt, und zwar so hoch, dass es nicht auf Unfähigkeit zurückzuführen war.

Alle früheren Pläne von Dundas wurden überprüft, und nirgends fand man einen Fehler, der mehr als einen Meter ausmachte. Dieser Kalkulationsfehler hier jedoch machte über dreißig Meter aus. Addierte man das zu seinem Gewinn durch den Landverkauf hinzu, kam man zwangsläufig zu dem Schluss, dass er vorsätzlich betrogen hatte.

Unfähigkeit, Fehleinschätzung und zufälligen Gewinn hätte man sicher erfolgreich verteidigen können, aber auf dem Kaufvertrag und auf dem Vermessungsbericht stand Dundas' Name, und das Geld lag auf seinem Konto, nicht auf Baltimores.

Angesichts der Beweise fällten die Geschworenen das einzig mögliche Urteil. Arrol Dundas wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Innerhalb weniger Monate starb er.

Monk fror, während er von Erinnerungen durchdrungen wurde. Erneut empfand er die Niederlage als überwältigend. So stark war der Schmerz, dass er ihn körperlich spürte. Es tat ihm weh um Dundas willen, der blass und eingesunken dasaß, als habe das Alter ihn eingeholt und ihn innerhalb von einem Tag zwanzig Jahre älter gemacht. Auch um seiner Frau willen. Bis zum Ende hatte sie gehofft und eine Stärke an den Tag gelegt, die sie alle getragen hatte, aber jetzt gab es nichts mehr zu hoffen. Es war vorbei.

Und auch um seiner selbst willen. Zum ersten Mal hatte er bittere und schreckliche Einsamkeit erleben müssen. Es war ein Wissen um Verlust, darum, dass etwas wirklich Kostbares aus seinem Leben verschwunden war.

Wie viel hatte er damals gewusst? Er war viel jünger gewesen, ein guter Bankangestellter, aber was kriminelle Machenschaften anging, hoffnungslos naiv. Das war vor seiner Zeit als Polizist. Er war es gewöhnt, den Charakter von Menschen einzuschätzen, aber noch hatte er nicht das Auge für Unredlichkeit, das er später entwickeln würde. Noch hatte er nichts über alle möglichen Arten von Betrug, Veruntreuung und Diebstahl gewusst – und noch hatte sich der Argwohn nicht so tief in jede einzelne seiner Gedankenbahnen eingegraben.

Er hatte Dundas glauben wollen. All seine Gefühle und seine Loyalität hingen an dessen Ehrlichkeit und Freundschaft. Es war, als würde man gezwungen zu akzeptieren, dass der eigene Vater einen jahrelang getäuscht hatte und alles, was man von ihm gelernt hatte, nicht nur gegenüber der Welt, sondern besonders einem selbst gegenüber mit Lügen befleckt war.

Hatte er Dundas deshalb geglaubt? Und die anderen nicht? Alle Beweise existierten nur auf dem Papier. Jeder hätte Papiere beibringen können, jeder einzelne der an dem Unternehmen Beteiligten, sogar Baltimore selbst. Aber Dundas hatte sich kaum gewehrt! Zuerst hatte es so ausgesehen, dann allerdings war er in sich zusammengesunken, als spürte er die Niederlage, noch bevor er überhaupt zu kämpfen begonnen hatte.

Aber Monk war sich seiner Unschuld so sicher gewesen!

Hatte er etwas gewusst, was er vor Gericht nicht gesagt hatte, etwas, was bewiesen hätte, dass entweder keine bewusste Täuschung vorlag, oder wenn doch, dann von Seiten Baltimores? Schließlich gab es keinen Beweis dafür, dass es Dundas' Idee gewesen war, die Strecke umzuleiten. Es gab auch keinen Beweis dafür, dass er den Landbesitzer getroffen oder irgendein – finanzielles oder anderweitiges – Geschenk von ihm angenommen hatte. Die Bücher des Landbesitzers waren von der Polizei nicht überprüft worden, um Geldtransaktionen zu verfolgen. Auf Dundas' Konto wurde nichts anderes gefunden als der Gewinn aus dem Verkauf seines eigenen Grundstücks. Schlimmstenfalls hätte man hier von besonderer Geschäftstüchtigkeit sprechen können, so etwas geschah ja täglich. Das lag nun einmal im Wesen der Spekulation. Jede zweite Familie in Europa hatte schließlich ihr Glück auf Wegen gemacht, über die man nicht zu reden beliebte.

Was konnte er selbst gewusst haben? Wo mehr Geld war? Warum hatte er geschwiegen? Um Dundas' Tat zu verschleiern? Damit das Geld nicht eingezogen wurde? Für wen – für Mrs. Dundas oder für ihn selbst?

Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, seine verspannten Muskeln schmerzten. Er zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Er musste herausfinden, welche Rolle er dabei gespielt hatte – das war der Kern dessen, wer er damals gewesen war.

Damals? Er benutzte das Wort so, als könnte er sich damit von dem Mann distanzieren, der er damals gewesen war, und sich somit jeglicher Verantwortung entledigen.

Schließlich blickte er der Sache ins Gesicht, die fest mit der Geschichte verwoben war und die er, indem er den Aussagen über das Geld nachgegangen war, ignoriert hatte – dem Unfall. In den Berichten über das Verfahren wurde er nicht erwähnt, nicht einmal indirekt. Entweder war der Unfall irrelevant, oder er war zu der Zeit noch nicht passiert. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden.

Monk blätterte weiter und sah sich nur noch die Überschriften an. Sie würde sicher in dicken schwarzen Buchstaben gedruckt sein.

Genau das war sie – fast einen Monat später, oben auf der ersten Seite: EISENBAHNUNGLÜCK TÖTET ÜBER VIERZIG KINDER, ALS KOHLENZUG IN SONDERZUG AUS LIVERPOOL RAST.

Die Worte waren ihm nicht vertraut, obwohl er sie damals sicher gelesen hatte. Er hatte auf jeden Fall darüber Bescheid gewusst. Die Überschrift an sich hatte ihm sicher nichts bedeutet. Es war nur irgendein Bericht über ein unsagbares Grauen. Als er jetzt auf die Zeilen schaute, bedeuteten sie ihm alles. Lange hatte er nicht gewusst, ob er die Wahrheit wirklich finden oder sie für immer begraben lassen wollte, war hin und her gerissen gewesen zwischen dem Zwang, sie zu erfahren, und der großen Angst, sie am Ende bestätigt zu finden, sodass es kein Albtraum mehr war, sondern die Wirklichkeit, der man niemals mehr ausweichen und die man niemals mehr leugnen konnte.

Vergangene Nacht stieß ein Sonderzug, in dem sich rund einhundert Kinder befanden, die von einem Ausflug aufs Land in die Stadt zurückkehrten, mit einem Güterzug zusammen und entgleiste. Der Unfall ereignete sich auf der neuen, vor kurzem von Baltimore und Söhne eröffneten Eisenbahnstrecke in der Kurve hinter der alten St.-Thomas-Kirche, wo die Schienen auf etwa anderthalb Kilometern durch zwei Durchstiche nur einspurig verlaufen. Als ein schwerer, mit Kohlen beladener Güterzug kurz vor der Stelle, wo die Schienen zusammenlaufen, die Neigung herunterkam, schaffte er es nicht anzuhalten. Er stieß mit dem Personenzug zusammen und schleuderte diesen den Hang hinunter ins flache Tal. Durch das Gas von der Beleuchtung fingen viele Eisenbahnwagen Feuer. Schreiende Kinder waren darin gefangen und verbrannten oder wurden hinausgeschleudert. Etliche wurden unter den Trümmern eingeklemmt, viele wurden verstümmelt und zum Krüppel gemacht, und nur einige wenige entkamen mit einem Schock und blauen Flecken. Beide Zugführer wurden durch den Zusammenprall getötet, ebenso wie die Heizer und Bremser.

Monk überflog die nächsten Absätze, in denen von den Rettungsversuchen und dem Transport der Verletzten und Toten in die nächste Ortschaft berichtet wurde. Danach folgte die Beschreibung des Kummers und Entsetzens der Verwandten und das Versprechen, die Sache gründlich zu untersuchen.

Mit steifen Fingern und benommenem Kopf suchte er in den Ausgaben der folgenden Wochen und Monate, fand jedoch keine zufrieden stellende Erklärung der Unfallursache. Am Ende wurde der Unfall menschlichem Versagen seitens des Zugführers des Güterzugs zugeschrieben. Er lebte nicht mehr, um sich zu verteidigen, und niemand hatte eine andere Unfallursache zu Tage gefördert. Die Schienen waren sicher durch den Unfall aufgerissen und verbogen worden, und nichts deutete darauf hin, dass sie schon vorher fehlerhaft gewesen waren. Die mit Bauholz beladenen Güterzüge, die zuvor die Strecke befahren hatten, hatten keine Probleme gehabt und waren sicher und pünktlich an ihrem Ziel angekommen.

Wie er bereits vom Sekretär erfahren hatte, waren die Schienen in Ordnung – es gab keine wie auch immer geartete Verbindung zu dem Betrug oder zu Dundas und daher auch nicht zu Monk.

Mit überwältigender Erleichterung sagte er sich dies immer wieder. Er würde nach London fahren und Katrina Harcus versichern, dass es keinen Grund gab, auf der neuen Strecke einen Zusammenstoß zu befürchten. Baltimore und Söhne hatte nichts mit dem Unfall in Liverpool zu tun gehabt, und Baltimore selbst war in Dundas' Prozess von dem Vorwurf des Betrugs entlastet worden.

Was nicht hieß, dass er unschuldig war.

Aber wenn heute im gleichen Umfang wie damals beim Landkauf betrogen wurde, dann war es nicht abwegig, anzunehmen, dass Nolan Baltimore darin verwickelt war und nicht Michael Dalgarno. Das zumindest konnte Monk Katrina sagen.

Im selben Augenblick wusste Monk, dass sie mehr fordern würde als Hoffnung, sie würde Beweise verlangen – ebenso wie er.

Er ging zurück zum Bahnhof, wo er noch den Abendzug nach London erwischte. Er hatte fast den ganzen Tag gelesen und in der letzten Nacht wenig und schlecht geschlafen, und so wurde er trotz der Holzsitze und der unbequemen aufrechten Position von den rhythmischen Bewegungen des Zuges und dem Rattern der Räder in den Schlaf gelullt und in eine Dunkelheit getrieben, in der ihm die Geräusche umso bewusster waren. Sie schienen die Luft zu erfüllen und überall um ihn herum zu sein und immer lauter zu werden. Sein Körper war verkrampft, sein Gesicht prickelte, als wehte ein kalter Luftzug an ihm vorbei, und doch konnte er rote Funken in der Nacht sehen wie kleine Feuer.

Es gab etwas, was er tun musste: Es war wichtiger als alles andere, selbst wenn er sein Leben dabei riskierte. Es beherrschte Geist und Körper, löschte alle Gedanken an seine eigene Sicherheit, körperliche Schmerzen und Erschöpfung aus und trug ihn sogar über die Angst hinweg – und es gab vieles zu fürchten! Es brauste und wogte im Dunkeln um ihn herum und versetzte ihm Schläge, bis er voller schmerzender blauer Flecken war und sich fest an … was … klammerte, gegen … was kämpfte? Er wusste es nicht! Es gab etwas, was er tun musste. Das Schicksal aller, die ihm wichtig waren, hing davon ab – aber was war es?

Er zerbrach sich den Kopf und fand nur den brennenden Zwang zu siegen. Der Wind strömte an ihm vorbei wie flüssiges Eis. Er stemmte sich gegen eine Kraft, warf sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, aber sie wollte nicht weichen.

Es war ein unbeschreiblicher Lärm, ein Aufprall, und dann lief er davon, kroch weg, blind vor Angst. Von allen Seiten durchzuckten ihn Schreie wie körperlicher Schmerz, und er konnte nichts tun! Er war von Aufruhr umgeben, schlug sinnlos um sich, stieß in einem Augenblick im Dunkeln mit irgendetwas zusammen, wurde im nächsten von Flammen geblendet, spürte die Hitze im Gesicht und die Kälte hinter ihm. Seine Füße waren wie Blei, hielten ihn fest, während ihm am Körper der Schweiß hinunterlief.

Wieder erschien das Gesicht über dem Kollar, dasselbe wie zuvor, diesmal – grau vor Entsetzen – kletterte der Geistliche über die Trümmer und schrie die ganze Zeit.

Monk wachte mit einem heftigen Ruck auf, sein Kopf pochte, seine Lungen schmerzten, und sein Mund war trocken. Sobald er sich bewegte, merkte er, dass er tatsächlich schwitzte, die Kleider klebten ihm am Leib, obwohl es in dem Waggon kalt war, und die Füße waren ihm eingeschlafen.

Er war allein in dem Abteil. Den Geruch nach Rauch hatte er sich nur eingebildet, aber die Angst war real, ebenso wie die Schuld. Das Wissen um sein Versagen lastete auf ihm, als sei es fest mit seinem Leben verwoben und beflecke alles, krieche in jede Ecke und verderbe jede andere Freude.

Aber welches Versagen? Er hatte Dundas nicht gerettet, aber das wusste er seit Jahren. Und jetzt war er sich nicht mehr ganz sicher, ob Dundas wirklich unschuldig war. Er fühlte es, aber was waren seine Gefühle wert? Sie entstammten der Loyalität und Unwissenheit eines jungen Mannes, der jemandem, der wie ein Vater zu ihm gewesen war, sehr viel schuldete. Er hatte diesen Mann so gesehen, wie er ihn zu sehen wünschte, wie es Millionen vor ihm und Millionen nach ihm taten.

Er hatte von einem Zusammenstoß geträumt – das war offensichtlich. Aber war es ein wirklicher Zusammenstoß oder ein eingebildeter, angeregt von den vielen Augenzeugenberichten derer, die ihn erlebt hatten, oder von einem Besuch vor Ort zur Untersuchung dessen, was geschehen war?

Die Strecke war es nicht. Auch nicht der Landbetrug, der keine anderen Folgen hatte als finanzielle.

Warum empfand er dann diese schreckliche Verantwortung, diese Schuld? Was war so fürchterlich, dass er es anzusehen immer noch nicht ertrug? War es Dundas – oder er selbst?

Konnte er es herausfinden? Wurde er genau wie Katrina Harcus getrieben, eine Wahrheit zu finden, die alles, was ihm etwas bedeutete, zerstören konnte?

Zitternd und frierend kauerte er auf seinem Sitz und ratterte durch die Dunkelheit auf London zu, während seine Gedanken von den Schienen weg durch Tunnel eilten – zu einem weiteren, einem anderen Zusammenstoß.