5

Hester hatte nach Monks Rückkehr einen merkwürdigen, unglücklichen Abend verbracht. Sie war sich bewusst, dass da etwas sehr Machtvolles in ihm war, an das sie nicht herankam. Er war entweder nicht willens oder nicht in der Lage, sich ihr mitzuteilen. Sie hatte ihn vermisst, als er weg war, und die Gelegenheit genutzt, in dem Haus am Coldbath Square so viel Arbeit wie möglich zu erledigen, und sie wäre überglücklich gewesen, sehr viel später oder auch gar nicht hinzugehen, hätte er nur einmal gesagt, er würde sich freuen, wenn sie zu Hause bliebe.

Aber das tat er nicht. Er war reizbar, in Gedanken versunken und wirkte fast erleichtert, als sie sich kurz vor zehn Uhr verabschiedete und in die von Straßenlaternen erleuchtete Dunkelheit hinaustrat und mit dem nächsten Hansom zum Coldbath Square fuhr.

Die Nacht war kühl, und als sie die Tür der Ambulanz öffnete und eintrat, war sie froh über die Wärme, die sie umfing. Bessie saß am Tisch und nähte Knöpfe an eine weiße Bluse. Sie schaute auf, und Freude überzog ihr Gesicht, als sie Hester sah.

»Sie sehen bedrückt aus«, sagte sie besorgt. »'ne hübsche Tasse heißer Tee wird Ihnen gut tun.« Sie legte die Näharbeit weg und stand auf. »Mit 'nem Tropfen von dem harten Zeug?« Sie griff nicht danach, weil sie wusste, dass Hester ablehnen würde. Das tat sie stets, aber Bessie bot ihr immer wieder etwas an. Es war eine Art Ritual.

»Nein, vielen Dank«, antwortete Hester mit einem Lächeln und hängte ihren feuchten Mantel an den Haken an der Wand. »Aber lassen Sie sich durch mich nicht stören.«

Das war auch ein Ritual. »Jetzt, wo Sie es erwähnen«, meinte Bessie, »machen Sie sich nichts draus, wenn ich's tue.« Sie ging zum Herd, um dafür zu sorgen, dass das Wasser im Kessel bald kochte, und Hester schaute nach den Patientinnen.

Fanny, das Mädchen mit der Stichverletzung, fieberte und hatte große Schmerzen, aber es schien ihr nicht schlechter zu gehen, als Hester erwartet hatte. Solche Wunden heilten nicht schnell, doch ihr Fieber schien bereits leicht zurückzugehen.

»Haben Sie etwas gegessen?«, fragte Hester sie.

Fanny nickte. »Ein wenig«, flüsterte sie. »Man hat mir etwas Rindfleischbrühe gebracht. Vielen Dank.«

Bessie kam auf sie zu, ein großer, mildtätiger Schatten zwischen den Betten, beleuchtet von dem Licht am anderen Ende des Raums.

»Mr. Lockhart war sehr zufrieden mit ihr«, sagte sie erfreut. »Kam gegen Mittag. Stocknüchtern.« Das letzte Wort sprach sie voller Stolz aus, als sei es zum Teil ihr Verdienst, was es vielleicht sogar war.

»Haben Sie ihm Mittagessen gegeben?«, fragte Hester, ohne Bessie anzusehen.

»Und wenn schon!«, meinte Bessie. »Ein bisschen Gemüse und Kartoffeln und ein oder zwei Würstchen sollten wir doch für ihn übrig haben.«

Hester lächelte, denn sie wusste, dass Bessie es aus ihrer eigenen kärglichen Vorratskammer mitgebracht hatte. »Natürlich haben wir das«, sagte sie und tat so, als wüsste sie es nicht. »Als Lohn für das, was er tut, ist das wenig genug.«

»Da haben Sie Recht!«, sagte Bessie leidenschaftlich, warf Hester einen argwöhnischen Blick zu und sah dann wieder weg. »Und er hat nach Alice geschaut, dem armen Ding. Meinte, es gehe ihr einigermaßen. Hat sich 'ne ganze Weile mit ihr unterhalten. Er und Miss Margaret haben ihr Arnikaumschläge gemacht, wie wir gestern, es schien ihr ein wenig zu helfen.« In Bessies Stimme lag Angst. Hester wusste, dass sie wissen wollte, ob Alice überleben würde, und doch hatte sie zu viel Angst vor der Antwort, um die Frage zu stellen.

Die Tatsache, dass Alice seit ihren Verletzungen bereits drei Tage überlebt hatte, war ein äußerst hoffnungsvolles Zeichen. Hätte sie, wie sie fürchteten, innere Blutungen gehabt, wäre sie inzwischen gestorben.

Hester ging zu ihr und sah, dass sie halb schlief, immer wieder wegdämmerte und leise murmelte, als würde sie von Träumen geplagt. Sie konnten nichts für sie tun. Entweder heilte ihr Körper mit der Zeit, oder sie bekam Fieber oder Brand und starb. Wenn sie wacher war, würden sie ihr nachher ein wenig mehr zu trinken geben, sie mit einem Schwamm mit kaltem Wasser abwaschen und ihr ein frisches Nachthemd anziehen.

Hester ging zu dem Tisch am anderen Ende des Raums zurück, wo Bessie den Tee ziehen ließ und einen ordentlichen Schuss Whiskey in ihre eigene Tasse goss.

In der Gegend um den Coldbath Square waren immer noch viele Polizisten unterwegs, die Fragen stellten und die Leute schikanierten. Hester hatte sie bemerkt, sie sahen zutiefst unglücklich aus, konnten dem Unvermeidlichen aber nicht entkommen. Die meisten stammten aus der Gegend und kannten die Frauen – und die Männer, die regelmäßig kamen, um sich ihr Vergnügen zu holen. Im gegenwärtigen Klima waren das jeden Tag weniger. Auch in anderen Bereichen liefen die Geschäfte schlecht; alle, die sich am Rande des Gesetzes bewegten, waren nervös und reizbar. Es gab kein Geld, das für kleine Genüsse wie Pfefferminzwasser, Blumen, Schinkensandwiches, einen neuen Hut oder ein Spielzeug für ein Kind ausgegeben werden konnte. Die Einzigen, die noch etwas verdienten, waren Verkäufer von Streichhölzern und Schnürsenkeln.

Kurz vor Mitternacht kam Jessop wieder vorbei, um noch einmal mehr Miete zu verlangen. Er stand, die Daumen in die Armlöcher seiner roten Brokatweste gehakt, mitten im Raum, wollte ihnen Einschränkungen auferlegen und wurde richtig lästig. Die wenigen Patientinnen beschwerten sich schon über seine Anwesenheit. Er verunsicherte sie, denn er verkörperte, wenn auch nur am Rande, die Autorität. Hester wies ihn darauf hin und bat ihn zu gehen. Er lächelte zufrieden und blieb umso länger, bis Bessie die Geduld verlor und den Eimer mit heißem Wasser, Lauge und Essig füllte. Sie machte sich daran, den Fußboden zu schrubben, und schüttete dabei den Inhalt des Eimers absichtlich über seine Stiefel, sodass er sich verärgert davonmachte. Dann unternahm Bessie noch einen eher halbherzigen Anlauf, den Fußboden zu putzen, doch schon nach ein paar Quadratmetern schüttete sie das Wasser weg. Sie und Hester legten sich in zwei leere Betten schlafen, wobei sie den größten Teil der Nacht nicht von Patientinnen gestört wurden und nur zweimal aufstanden, um Alice zu helfen.

»Ich habe ihm das Messer auch noch selbst in die Hand gedrückt!«, sagte Margaret zerknirscht, als Hester ihr früh am nächsten Morgen von Jessops Besuch erzählte. Sie kam kurz nach neun, als Bessie schon unterwegs war, um ein paar Einkäufe zu erledigen.

Margaret war zu aufrichtig, als dass Hester sie mit Ausflüchten hätte abspeisen können. Heute vor allem hatte sie das brennende Bedürfnis, ehrlich zu sein.

»Ich fürchte, ja«, sagte sie, jedoch mit einem entschuldigenden Lächeln, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. Sie waren damit beschäftigt, von den benutzten und gewaschenen Binden die auszusortieren, die noch zu brauchen waren, denn sie konnten sich keine unnötigen Ausgaben leisten. »Aber ich glaube, dass es bald keinen Unterschied mehr macht. Wir müssen so schnell wie möglich eine neue Bleibe finden. Bei der ersten Gelegenheit wird er uns rausschmeißen. Das hat er doch schon immer gewollt.«

Margaret antwortete nicht. Ihre Finger bewegten sich flink über die Stoffrollen, warfen einige weg, legten andere zur Seite. »Was sollen wir in Bezug auf die Wucherer und die misshandelten Frauen tun?«, fragte sie schließlich.

Genau darüber hatte Hester nachgedacht, seit sie von Alice die Wahrheit erfahren hatte, und war zu dem Schluss gekommen, dass sie allein nichts tun konnten, was die Situation nicht noch schlimmer gemacht hätte. Wucherei war kein Verbrechen, das vom Gesetz auf dem gewöhnlichen Weg verfolgt werden konnte. Sie hatte verschiedene Ideen durchgespielt, aber noch keinen in sich geschlossenen, durchführbaren Plan gefasst.

An diesem Morgen fühlte sie sich angesichts des Schmerzes noch hilfloser als sonst, weil ihr eigenes Glück getrübt war, ihr Selbstvertrauen überschattet von der Tatsache, dass Monk eine Distanz zwischen ihnen aufgebaut hatte. Etwas schmerzte ihn, und er war nicht fähig, sich ihr mitzuteilen.

»Wir brauchen Hilfe«, sagte sie laut. Sie fasste einen Entschluss. »Jemanden, der das Gesetz sehr viel besser kennt als wir.«

»Mr. Monk?«, fragte Margaret schnell.

»Nein, ich meinen einen Anwalt.« Hester wollte nicht zulassen, dass der Gedanke, sich nicht an Monk zu wenden, ihr wehtat. »Jemand, der sich mit Wucherei und derlei auskennt«, antwortete sie. »Ich glaube, sobald die Anwaltsbüros offen haben, sollten wir uns auf den Weg machen. Bis dahin ist Bessie zurück, und ich halte es für unwahrscheinlich, dass am Vormittag jemand kommt, der nicht auf unsere Rückkehr warten könnte.«

»Aber wer sollte sich für Fälle wie den von Fanny oder Alice interessieren?«, wollte Margaret wissen. »Zudem haben wir kein Geld übrig. Es ist bereits alles für Miete und Material verplant.« Sie sagte das sehr bestimmt, nur für den Fall, dass Hester etwas Unpraktisches im Sinn hatte und ihre Prioritäten aus dem Auge verlor.

»Ich weiß zumindest, wo wir anfangen können«, sagte Hester sachlich. »Und das Geld für unsere Ausstattung werde ich nicht ausgeben, versprochen.« Sie wollte Margaret noch nicht sagen, dass sie vorhatte, Sir Oliver Rathbone aufzusuchen. Er war einst kurz davor gewesen, Hester zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle. Er hatte gezögert und die Worte dann nicht ausgesprochen. Vielleicht hatte er in ihrer Miene gesehen, dass sie noch nicht bereit war, eine solche Entscheidung zu treffen, oder auch, dass sie nie jemand anderen mit der gleichen Heftigkeit und Magie lieben würde wie Monk. Sie konnte nicht anders, ob Monk ihre Gefühle je erwiderte oder nicht, was sie damals noch nicht gewusst hatte. Erst später hatte sie herausgefunden, dass Monk ihre Gefühle leidenschaftlich und tief erwiderte und endlich akzeptiert hatte, dass seine Gefühle zu unterdrücken bedeuten würde, sowohl das Beste als auch das Veletzlichste in sich zu verleugnen.

Sie waren zwar Freunde, sie drei, doch mehr schlecht als recht. Rathbone empfand immer noch starke Zuneigung zu ihr. Sie wusste es, und auch Monk war sich dessen bewusst. Aber in einem Fall, der Vorrang hatte vor persönlichen Verletzungen und Verlusten, waren sie Verbündete. Mochte der Fall auch noch so schwierig und aussichtslos sein – wenn er an ihn glaubte, hatte Rathbone noch nie abgelehnt, erst recht nicht, wenn Monk ihm die Sache antrug.

Sie und Margaret würden in die Vere Street gehen und Oliver alles, was sie wussten, erzählen. So konnten sie sich die Last zumindest teilen. Plötzlich wusste Hester, dass es ihr gut tun würde, ihn zu sehen, seine Wärme und sein Vertrauen in sie zu spüren.

Es war dann doch schon nach elf Uhr, als Hester und Margaret in Rathbones Büro geführt wurden. Der Schreibtisch hatte eine wunderschöne Lederauflage, die Schränke waren voller Bücher, und die hohen Fenster überblickten die Straße.

Rathbone kam mit einem breiten Lächeln auf Hester zu. Er war durchschnittlich groß, und sein Charme lag in seinen intelligenten Zügen, seinem verschrobenen, trockenen Humor und der überragenden Sicherheit seines Betragens. Er war ein richtiger Gentleman, und er besaß die Zwanglosigkeit, die Privilegien und Bildung verliehen.

»Hester, was für eine Freude, Sie zu sehen, auch wenn es ein Problem sein muss, das Sie hierher führt«, sagte er aufrichtig. »Wer wird fälschlicherweise wessen beschuldigt? Ich vermute, es geht um Mord? Darum geht es doch gewöhnlich bei Ihnen.«

»Noch nicht«, antwortete sie. Allein die Freundlichkeit in seiner Stimme hüllte sie schon mit Wärme ein. Sie wandte sich um, um Margaret vorzustellen, dabei bemerkte sie ein interessiertes Flackern in seinen dunklen Augen, als würde er sie wiedererkennen oder etwas in ihr, das er gerne sah. »Miss Margaret Ballinger«, sagte sie schnell. »Sir Oliver Rathbone.«

Margaret holte Luft, um zu antworten, und eine leise Röte überzog ihre Wangen.

»Wir sind uns schon einmal begegnet«, meinte Rathbone, bevor Margaret etwas sagen konnte. »Auf einem Ball, ich habe vergessen, wo, aber wir haben getanzt. Es war kurz vor dieser dummen Angelegenheit mit dem Architekten. Es ist mir eine Freude, Sie wieder zu sehen, Miss Ballinger.« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass seine Worte ehrlich gemeint und keine bloße Höflichkeitsfloskel waren.

Margaret atmete tief durch, ein wenig zittrig. »Vielen Dank, dass Sie uns empfangen, obwohl wir unangemeldet kommen, Sir Oliver. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Hester kommt immer mit den faszinierendsten Problemen«, wandte er ein und bat sie mit einer Geste, doch Platz zu nehmen. Als sie saßen, setzte er sich hinter seinen Tisch. »Sie sagten, bisher sei noch niemand ermordet worden. Soll ich daraus schließen, dass Sie glauben, dass das noch passieren wird?« Sein Ton war ohne jeden Spott, er war leicht, aber vollkommen ernst.

»Zwei Menschen wurden sehr schwer verletzt, und das sind noch nicht die letzten«, sagte Hester ein wenig schneller, als sie beabsichtigt hatte. Sie merkte, dass Rathbone Margaret die gleiche Aufmerksamkeit widmete wie sie ihm. Wie wenig sie über sein Leben wusste! Dabei ging es nicht nur um reine Fakten, sondern um das Wertvolle, das er im Menschen sah, um die Gefühle, das Lachen und die Verletzungen, die Träume, die diesen Mann im Innern ausmachten.

Er wartete darauf, dass sie fortfuhr.

»Miss Ballinger und ich haben am Coldbath Square ein Haus gemietet, in dem wir hilfsbedürftige Frauen medizinisch behandeln«, sagte sie, die merkwürdige Mischung aus Zärtlichkeit, Bewunderung und Entsetzen in seinem Blick ignorierend.

»Vor kurzem hatten wir ein paar, die sehr übel zugerichtet worden waren«, fuhr sie fort. »Eine von ihnen hat gesagt, sie sei früher Gouvernante gewesen, bevor sie heiratete und von ihrem Mann in Schulden gestürzt wurde. Sie hat sich Geld geliehen und konnte es dann nicht zurückzahlen.« Sie sprach zu schnell, also drosselte sie ihr Tempo. »Der Wucherer hat ihr angeboten, sich für Männer zu prostituieren, die gerne einst respektable Frauen demütigen und missbrauchen.« Sie sah die Entrüstung in seiner Miene. Könnte er ihr zuhören, ohne etwas zu empfinden, würde sie ihn dafür verachten.

Rathbone warf einen Blick auf Margaret, und ihre Wut besänftigte ihn.

»Fahren Sie fort«, sagte er und wandte sich wieder Hester zu.

»Ich glaube wohl, Sie wissen, dass vor etwas mehr als einer Woche ein Mr. Nolan Baltimore in der Leather Lane ermordet wurde?«, fragte sie.

Er nickte. »Ja.«

»Seither patrouillieren mehr Polizisten als gewöhnlich in der Gegend, mit dem Ergebnis, dass diese Frauen kaum noch Geschäfte machen. Sie verdienen nur wenig oder gar kein Geld und können den Wucherer nicht bezahlen. Sie werden geschlagen, weil sie ihre Schulden nicht tilgen können.« Die Erinnerung an die zwei Frauen löschte für einen Augenblick jedes Gefühl ihrer eigenen Einsamkeit aus. Entschlossen beugte sie sich vor. »Bitte, Oliver, irgendetwas müssen wir doch dagegen tun können. Sie sind viel zu verängstigt und beschämt, um sich zu wehren.« Sie sah, wie er nach Worten für eine freundliche Absage suchte. Sie verlangte zu viel. Gerne hätte sie sich zurückgezogen, wäre vernünftig gewesen, aber der Schmerz brannte zu heiß in ihr.

»Hester …«, setzte er an.

»Ich weiß, dass die ganze Welt um den Coldbath Square und die Leather Lane außerhalb des Gesetzes steht«, sagte sie schnell, bevor er sie fallen lassen konnte. »Das sollte nicht so sein! Müssen wir immer warten, bis Menschen zu uns kommen, bevor wir ihnen helfen können? Manchmal müssen wir das Problem schneller erkennen und es einfach angehen.« Margaret erstarrte. Vielleicht war sie es nicht gewöhnt, dass eine Frau so freimütig mit einem Mann sprach. Es war ungebührlich, und auf diesem Weg gewann oder hielt man keinen Ehemann.

»Sie meinen, für sie entscheiden?«, sagte Rathbone mit einem trockenen Lächeln. »Das klingt aber gar nicht nach Ihnen, Hester.«

»Ich bin Krankenschwester und keine Anwältin!«, sagte sie scharf. »Ich muss sehr oft Menschen helfen, die längst nicht mehr für sich selbst entscheiden können. Es ist meine Aufgabe zu wissen, was sie brauchen, und es dann auch umzusetzen.«

Diesmal war sein Lächeln voller Wärme und ungekünstelter Freundlichkeit. »Ich weiß. Diese Zivilcourage bewundere ich an Ihnen, seit ich Sie kenne. Doch weil ich selbst keine besitze, finde ich sie ein wenig überwältigend.«

Sie spürte, dass Tränen in ihren Augen brannten. Sie wusste, dass es ihm ernst war damit, und es bedeutete ihr mehr, als sie erwartet hatte. Trotzdem wollte sie noch weiterstreiten. Bloß, dass das Frauen wie Alice und Fanny nichts nützte. »Oliver …«

Margaret beugte sich vor. »Sir Oliver«, sagte sie drängend. Ihre Wangen hatten sich gerötet, doch ihr Blick war fest. »Wenn Sie den Körper dieser armen Frau gesehen hätten, ihre gebrochenen Arme und Beine, ihre Angst, ihren Schmerz und die Scham, die sie empfindet, weil sie sich prostituieren muss, um die Schulden ihres Mannes zu bezahlen, würden Sie das Gleiche empfinden wie wir. Wenn wir ihr den täglichen Schmerz erleichtern und sie gesund pflegen, nur um sie dann wieder hinaus auf den Coldbath Square zu schicken, wo sich alles wiederholt, weil ihre Schulden immer größer werden …«

»Miss Ballinger …«

»Dann …« Sie hielt abrupt inne, die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich, als ihr bewusst wurde, wie dreist sie war. »Es tut mir Leid«, sagte sie zerknirscht. »Sicher interessiert ein solcher Fall Sie nicht. Und wir haben kein Geld, um Sie zu bezahlen.« Sie stand auf, die Augen vor Verlegenheit gesenkt. »Es war ein Akt der Verzweiflung …«

»Miss Ballinger!« Auch er stand auf und ging um den Tisch auf sie zu. »Bitte«, sagte er freundlich. »Ich wollte gar nicht ablehnen, ich weiß nur einfach nicht, was ich tun könnte! Aber ich verspreche Ihnen, dass ich der Sache meine Aufmerksamkeit widmen werde, und wenn ich eine gesetzliche Möglichkeit sehe, werde ich es Ihnen sagen und Ihre Anweisungen entgegennehmen. Geld spielt keine Rolle. Ich zögere nur, weil ich nichts versprechen möchte, was außerhalb meiner Macht steht.«

Margaret schaute rasch zu ihm auf, ihr Blick war offen und direkt und ihr Gesicht voller Dankbarkeit. »Vielen Dank …«

Hester war erstaunt und schockiert darüber, dass Rathbone bereit war, einer Bitte nachzukommen, die ihn nicht interessierte und ihm völlig gegen den Strich ging, um Margaret nichts abzuschlagen. Es war nicht wie früher Hester, der er einen Gefallen tun wollte. Sie war natürlich froh, dass er einverstanden war, und dankbar, aber sie empfand es als Abfuhr, dass es nicht um ihretwillen geschah. Es war nicht offensichtlich – er war in keiner Weise weniger freundlich zu ihr gewesen, aber die Natur seiner Freundlichkeit war eine andere. Sie spürte es so deutlich wie eine Veränderung der Lufttemperatur. Sie hätte sich für die beiden freuen sollen. Sie freute sich! Sie wollte nicht, dass Rathbone den Rest seines Lebens in sie verliebt war. Aber gerade heute war es, als sei eine Tür vor ihr zugeschlagen, und das schmerzte sie.

Rathbone hatte sich ihr zugewandt. Sie konnte nicht anders, sie musste lächeln.

»Vielen Dank«, fügte sie Margarets Worten hinzu. »Ich glaube, wir haben Ihnen alles erzählt, was wir wissen. Es geht bisher mehr um das Prinzip als um die einzelnen Frauen, aber wenn wir noch etwas erfahren, werden wir Sie natürlich informieren.«

Es gab nichts mehr zu sagen, und sie wussten, wie liebenswürdig es von ihm gewesen war, sie überhaupt zu empfangen und andere Mandanten warten zu lassen. Sie entschuldigten sich und dankten ihm noch einmal, und fünf Minuten später saßen sie in einem Hansom, der sie zurück zum Coldbath Square brachte. Sie schwiegen, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Margarets Wangen waren immer noch gerötet, ihre Augen waren weit aufgerissen und von Hester abgewandt, sie starrte aus dem Fenster auf die vorbeihuschenden Straßen. Keine Worte hätten beredter von der Tatsache berichten können, dass sie ihr erstes Zusammentreffen mit Rathbone ganz offensichtlich nicht vergessen hatte, und der Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, hatte sich in der Zwischenzeit nicht abgenutzt. Aber das war zu heikel, um darüber zu sprechen. Umgekehrt hätte Hester auch nichts gesagt, und sie wollte sich jetzt nicht aufdrängen. Sie und Margaret verband eine offene und herzliche Freundschaft. Zu einer solchen Freundschaft gehörten Respekt und das Wissen darum, wann man besser schwieg.

Auch sie wollte ihre privaten Gedanken für sich behalten. Außer die oberflächlichen, etwa, wie schwierig es sein würde, die Frauen zu finden, die dem Halsabschneider Geld schuldeten, wie man ihnen klar machen sollte, dass Hilfe möglich war – falls sie das denn war –, und die Anstrengung, die notwendig sein würde, um sie davon zu überzeugen, dass sie, wenn sie mutig wären, etwas anderes erreichen könnten als weiteren Schmerz. Vor allem mussten sie absolut sicher sein, dass das auch stimmte.

Aber Margaret arbeitete lange genug am Coldbath Square, um das selbst zu wissen, also sah auch Hester auf die Straßen hinaus und dachte an praktische Dinge.

Am Nachmittag wurde eine weitere Frau gebracht, die wegen Schulden zusammengeschlagen worden war. Sie war nicht sehr schwer verletzt, aber sie hatte große Angst, und das war es, wodurch sie sich von der Wut und dem Elend der Verletzten unterschied. Sie sagte fast nichts, während Hester und Margaret sich um ihre schmerzhaften, nicht sehr tiefen Schnittwunden kümmerten. Sie wollte nicht sagen, wer sie ihr zugefügt hatte, weder Lügen noch die Wahrheit, aber ganz offensichtlich waren sie ihr absichtlich zugefügt worden. Kein Unfall konnte zu so vielen bösen Stichwunden führen.

Sie blieb ein paar Stunden, bis sie sicher waren, dass die Blutungen gestillt waren und die Frau sich wenigstens ein wenig von dem Schock erholt hatte. Gerne hätte Margaret es gesehen, wenn sie länger geblieben wäre, aber sie griff kopfschüttelnd nach ihrem zerrissenen Schal, der mit seinen Fransen und Blumen sicher einst sehr hübsch gewesen war, und ging hinaus auf den Platz in Richtung Farringdon Road.

Margaret stand mitten im Raum und sah sich um, betrachtete die reinlichen Schränke, die geschrubbten Tische und den Fußboden.

Hester zuckte die Achseln. »Ich nehme an, wir sollten froh sein, dass nicht noch jemand verletzt wurde«, sagte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Möchten Sie nach Hause gehen? Es gibt wirklich nichts zu tun, und Bessie kommt später, wenn etwas sein sollte.«

Margaret verzog das Gesicht. »Und hinter Mama herlaufen und nette Damen besuchen, die mich mit freundlicher Verzweiflung anschauen und sich fragen, warum ich ein vernünftiges Heiratsangebot nicht angenommen habe?«, sagte sie ironisch. »Dann nehmen sie an, dass mit mir irgendetwas Schreckliches nicht stimmt – zu skandalös, um es zu erwähnen, und sie glauben, ich hätte meine Tugend verloren!« Sie stieß ein leises enttäuschtes Stöhnen aus. »Warum schreibt man jungen Frauen nur zwei Tugenden zu – Keuschheit und Gehorsam?«, wollte sie mit plötzlicher Heftigkeit wissen. »Was ist mit Mut oder geistiger Selbstständigkeit, statt immer nur nach dem zu greifen, was einem sowieso schon gehört?«

»Weil das den Leuten unbehaglich ist«, antwortete Hester ohne Zögern, warf Margaret dabei aber ein schiefes, mitfühlendes Lächeln zu.

»Können Sie sich etwas Einsameres vorstellen, als mit jemandem verheiratet zu sein, der stets sagt, was Sie hören möchten, ungeachtet dessen, was er eigentlich denkt?«, fragte Margaret, die Augenbrauen zu einem Stirnrunzeln zusammengezogen. »Es wäre, als lebte man in einem Raum voller Spiegel, wo jedes andere Gesicht, das man sähe, nur das eigene Spiegelbild wäre.«

»Ich glaube, das wäre eine ganz besondere Art der Hölle«, entgegnete Hester, und ein Schauer aus Verwunderung und Mitleid überkam sie, dass irgendjemand wirklich glaubte, sie wollten so etwas, und doch kannte sie viele Männer, die das tatsächlich glaubten. »Sie haben das Talent, es in sehr deutliche Worte zu kleiden«, fügte sie bewundernd hinzu. »Vielleicht sollten Sie versuchen, es irgendwann einmal bildlich darzustellen?«

»Das wäre etwas, das zu zeichnen sich wirklich lohnen würde«, erwiderte Margaret. »Es langweilt mich, das Vorhersagbare zu tun, und nur das, was ich vor mir sehe, einfach so nachzubilden.«

»Ich kann kaum eine gerade Linie zeichnen«, räumte Hester ein.

Margaret warf ihr ein Lächeln zu. »In der Kunst gibt es keine geraden Linien – außer vielleicht beim Meereshorizont. Soll ich rausgehen und sehen, ob ich uns etwas Warmes zum Mittagessen besorgen kann? An der Ecke Mount Pleasant und Warner Street ist ein guter Straßenhändler.«

»Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Hester begeistert. »Mit Blätterteig, bitte, und viel Zwiebeln.«

Am späten Nachmittag kam Bessie mit einem Korb voller Kräuter, Tee, einer Flasche Brandy und einem Laib Brot. Sie stellte alles auf den Tisch und sah sich im Raum um.

»Niemand!«, sagte sie empört, legte Cape und Hut ab und hängte sie an die Haken neben der Tür. »In den Straßen trifft man auch kaum eine verdammte Seele, außer die verfluchten Polypen! Angeblich war's die ganze Nacht so.« Sie sah Hester vorwurfsvoll an, als hätte diese es versäumt, etwas dagegen zu unternehmen.

»Ich weiß!«, antwortete Hester scharf. »Sie stehen immer noch unter Druck, den Mörder von Nolan Baltimore zu finden.«

»Irgendein Zuhälter, den er hintergangen hat«, erwiderte Bessie. »Wer sonst? Glauben die wirklich, irgendjemand würde ihnen was erzählen, wenn sie nur oft genug fragen? Denken doch, dass außer dem, der's war, keiner was weiß. Und der wird nix sagen. Würde im Handumdrehen am Ende eines Stricks baumeln.« Sie ging zum Schrank hinüber und schob die Sachen darin zur Seite, um ihre Einkäufe zu verstauen. »Witzig, was? Irgendein Halsabschneider prügelt ein Mädchen halb zu Tode, und allen ist es scheißegal! Wenn aber so'n feiner Pinkel, der sich weigert, seine Schulden zu bezahlen, umgebracht wird, ist die halbe Londoner Polizei auf der Straße und vergeudet ihre Zeit mit Fragen, auf die sie sowieso keine Antworten kriegt. Manchmal glaub ich wirklich, die sitzen auf ihrem Hirn und denken mit dem Hintern!« Sie warf einen wütenden Blick in den Korb. »Hab keine Butter bekommen. Gibt's eben nur Brot und Marmelade.«

Margaret hörte auf, den Herd zu rütteln, und schob den Kessel auf die Kochstelle.

»Niemand arbeitet!«, fuhr Bessie unerbittlich fort. »Die, die das Geld reinbringen, haben Angst, vor der Polizei … und dem ganzen ›Haltet die Straßen sauber‹-Mist. Und die von hier machen keine Geschäfte, weil keiner Geld hat! Das ist richtig mies.«

Darauf gab es keine Antwort. Es war, wie Hester bemerkte, sinnlos, dass Hester und Margaret den ganzen Nachmittag dort blieben. Bessie stimmte ihr zu.

»Sie gehen jetzt.« Sie nickte. »Hier wird nicht viel passieren. Wenn der fette Faulpelz Jessop kommt und Sie sucht, geb ich ihm 'ne hübsche Tasse Tee!« Sie grinste teuflisch.

»Bessie!«, sagte Hester drohend.

»Was?« Sie machte große Augen. »Wenn's ihm nicht bekommt, geb ich ihm was, damit er's wieder auskotzt! Ich lass den Scheißkerl schon nicht krepieren, mein Wort drauf.« Sie spuckte aus und legte sich umständlich die Hand aufs Herz.

Hester blickte zu Margaret hinüber, und die beiden lächelten leicht.

Aber auf dem Heimweg und für den Rest des Abends, bis Monk müde nach Hause kam, dachte Hester über die Frauen und die Polizei in der Gegend um die Farringdon Road und den Coldbath Square nach. Die Polizeipräsenz wieder zu reduzieren wäre keine moralische Antwort auf das Böse, sondern eine praktische Antwort auf den Rückgang der Geschäfte, der alle lähmte und die Gemüter erhitzte.

Sie hatte versucht, nicht zu diesem Schluss zu kommen, aber er war zwangsläufig: Das Einzige, was die Polizei vertreiben würde, war die Aufklärung des Mords an Nolan Baltimore. Wenn die Polizei dazu fähig wäre, hätte sie es inzwischen längst geschafft. Das Viertel hatte sich, wie nicht anders zu erwarten, gegen sie verschworen. Keiner würde etwas Wichtiges verraten, um sich nicht mit Prostitution oder dergleichen zu belasten. Die meisten Bewohner der Gegend um die Leather Lane hatten, zumindest am Rande, damit zu tun. Da wurde mit gestohlener Ware gehandelt und Geld gefälscht und manchmal auch Papiere, es gab Taschendiebstähle, Einbrüche, Falschspielerei und ein weiteres Dutzend ungesetzlicher Betätigungen.

Wenn sie Monk schon nicht um praktische Hilfe bitten konnte, so doch wenigstens um einen Rat. Er kannte sich mit Mord aus und wusste, wie man ermittelte. Vielleicht lag es auch im Interesse seines eigenen Falles, so viel wie möglich über den Mann zu erfahren, der bis vor ein oder zwei Wochen dem Unternehmen Baltimore und Söhne vorgestanden hatte. Von einem Betrug hätte er sicher gewusst; womöglich hatte er ihn sogar selbst begangen. Dass sein Tod etwas damit zu tun hatte, klang doch gar nicht so abwegig?

Der unangenehme, hässliche Gedanke, dass Michael Dalgarno ihm in die Leather Lane gefolgt war und ihn umgebracht hatte, war de facto unwiderlegbar, denn er wusste von dem Betrug und hätte ihn aufgedeckt.

Warum hatte Monk das nicht in Erwägung gezogen?

So beschäftigt war er herauszufinden, worin der Betrug bestand und ob er eine Katastrophe auslösen konnte, dass er den Mord an Nolan Baltimore einfach ignorierte.

Sie wartete auf ihn, ohne viel darüber nachzudenken, was sie noch tun könnte. Ab sechs Uhr lauschte sie auf Hufgeklapper auf der Straße, auf das Öffnen und Zuschlagen der Tür und auf seine Schritte. Als sie schließlich gegen Viertel vor acht zu hören waren, war sie doch überrascht und stürzte fast in die Halle.

Er sah ihr erwartungsvolles Gesicht, schenkte ihr ein kurzes Lächeln und sah dann weg. Seine Müdigkeit und Besorgnis waren so offenkundig, dass sie einen Augenblick unsicher zögerte, ob sie mehr sagen sollte als ein paar Worte zur Begrüßung. Sollte sie ihn fragen, ob er hungrig war oder ob er gegessen hatte, oder ihm eine Frage nach seinen Fortschritten stellen, die er mit ein paar höflichen Worten beantworten konnte – oder auch ehrlich, falls er das wollte? Sie konnte es nicht einfach auf sich beruhen lassen. Wenn er die Mauer nicht einriss, musste sie es tun.

»Hast du noch etwas über den Betrug herausgefunden?«, fragte sie, und zwar nicht beiläufig, sondern so, als warte sie dringend auf eine Antwort.

»Nichts, was mir weiterhilft«, antwortete er, zog sein Jackett aus und hängte es an den Haken. »Es gibt zweifelhafte Gewinne beim Ankauf von Land, aber vermutlich nicht mehr als bei den meisten Gesellschaften. Es gibt auch einige Verluste.«

Ihr war, als hätte er eine Tür geschlossen. Es gab kaum noch etwas, was sie fragen konnte, aber sie wollte noch nicht aufgeben. Sie sah ihm zu, wie er rastlos im Zimmer herumging, ohne sie direkt anzusehen, Dinge anfasste, sich aufrichtete, sie wieder wegstellte. Bemutterte sie ihn genau dann, wenn er eher das schweigende Verständnis eines Freundes brauchte? War sie selbstsüchtig, weil sie erwartete, dass er ihr seine Aufmerksamkeit widmete, ihr zuhörte, über ihre Probleme nachdachte, wenn er erschöpft war?

Oder wollte sie nur rechtzeitig die Mauer durchbrechen, solange diese noch dünn und leicht zu bezwingen war, bevor das Schweigen zur Gewohnheit wurde?

»Wir müssen herausfinden, wer Nolan Baltimore umgebracht hat«, sagte sie sehr deutlich.

»Tatsächlich?« In seiner Stimme schwang Zweifel mit. Er stand beim Kaminsims und schaute in die glühenden Kohlen. Es war ein frostiger Abend, und sie hatte das Feuer angefacht, um es warm und gemütlich zu haben. »Ich wüsste nicht, was seine persönliche Schwäche mit einem Eisenbahnbetrug zu tun haben sollte, falls das überhaupt stimmt.«

»Wenn er jemanden um Geld betrogen hat, dann ist die Leather Lane doch ein ausgezeichneter Ort, um ihn umzubringen«, erwiderte sie und wünschte, er würde sie anschauen. »Perfekt, um den Verdacht in eine andere Richtung zu lenken, und obendrein eine hübsche Revanche zu Lasten seines guten Rufes.«

Diesmal schaute er auf und lächelte, aber ohne Freude. Einen kurzen Augenblick flackerte in seinen Augen Offenheit auf, als hätte es keinen Schatten gegeben, dann war sie wieder verschwunden. Die Besorgnis war wieder da, und damit die Distanz zwischen ihnen.

»Mit ›wir‹«, verbesserte Hester sich, »habe ich eigentlich Margaret Ballinger und mich gemeint. Oder vielleicht uns alle in Coldbath. Immer mehr Frauen werden verprügelt, weil sie ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Überall ist Polizei, sodass niemand Geschäfte macht.«

»Du möchtest also herausfinden, wer Baltimore umgebracht hat, damit die Polizei verschwindet und die Prostituierten wieder ihrem Geschäft nachgehen können«, sagte er mit einem Anflug von Spott, der ihr nicht entgehen konnte. »Du hast ja merkwürdige moralische Überzeugungen, Hester.«

War das in seiner Stimme jetzt Schmerz? Hatte sie ihn enttäuscht? Hätte sie einen puritanischeren Standpunkt einnehmen müssen? Er war frustriert, und sie fühlte sich zurechtgewiesen.

»Wenn ich die Welt verändern könnte, damit keine Frau mehr als Prostituierte arbeiten müsste, würde ich das tun!«, sagte sie wütend. »Vielleicht kannst du mir verraten, wo ich anfangen soll? Vielleicht jeder Frau ein anständiges Auskommen durch ordentliche Arbeit besorgen? Oder verhindern, dass Männer sich ihr Vergnügen außerhalb der eigenen vier Wände kaufen wollen – oder müssen?« Sie sah die Überraschung in seiner Miene, ging jedoch darüber hinweg. »Vielleicht sollten alle Männer verheiratet sein und alle Frauen sich den Wünschen ihrer Ehemänner beugen? Noch besser wäre, wenn kein Mann Bedürfnisse hätte, die er nicht ehrenvoll erfüllen kann … das würde schon die Hälfte retten! Dann müssen wir nur noch der Wirtschaft auf die Sprünge helfen … danach sollte die Veränderung der menschlichen Natur nur noch ein Klacks sein!«

»Du hast deine Forderungen ganz schön in die Höhe geschraubt«, sagte er ruhig. »Ich dachte, du wolltest eigentlich nur, dass ich den Mord an Nolan Baltimore aufkläre.«

Ihr Zorn verpuffte. Sie wollte nicht mit ihm streiten. Sie wünschte sich sehnlichst, ihn in den Armen zu halten und das mit ihm zu teilen, was ihn so sehr verletzte, ihm wenn schon nicht das Ganze, dann doch zumindest die Hälfte davon abzunehmen, mit ihm zu kämpfen, an seiner Seite.

Es war besser, es zu versuchen und eine Abfuhr zu bekommen, als es überhaupt nicht versucht zu haben. Selbst Zurückweisung würde nicht mehr wehtun als diese Distanz, die ein wenig wie ein kleiner Tod war. Sie ging auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen, zwang ihn, ihr entweder in die Augen zu schauen oder den Blick abzuwenden.

»Alles, was ich will, ist, dass du mir einen Rat gibst«, sagte sie. »Was soll ich tun? Was für Fragen soll ich stellen? Einige der Frauen vertrauen mir, wo sie der Polizei nicht trauen.«

»Hester, lass es.« Er hob eine Hand, als wollte er ihre Wange berühren, dann ließ er sie wieder sinken. »Es ist zu gefährlich. Du glaubst, sie vertrauen dir, und das tun sie auch, damit du dich um ihre Verletzungen kümmerst. Aber du bist keine von ihnen, und das wirst du auch nie sein.«

»Aber, William, darum geht's doch gerade!« Sie bekam seine Hand zu fassen und hielt sie fest. »Das hätte mir doch genauso passieren können! Diese Schuldnerinnen waren vor kurzem noch ganz ehrbare Frauen. Gouvernanten, Stubenmädchen, Ehefrauen, die verlassen wurden oder deren Männer sich in Schulden gestürzt haben. Vielleicht sogar Krankenschwestern! Ich habe mir meinen Lebensunterhalt im Haus fremder Leute verdient, bevor ich dich geheiratet habe. Ein Fehler, ein Missgeschick, und ich hätte mir Geld leihen und anschaffen gehen müssen, um es zurückzuzahlen.« Sie verzog spöttisch das Gesicht. »Zumindest wenn ich ein wenig jünger wäre.«

»Nein«, sagte er sehr sanft, aber mit unerschütterlicher Sicherheit. »Du hättest niemals so etwas getan, in keinem Alter. Du hättest rebelliert oder ein Schiff nach Amerika genommen oder dem Kerl vielleicht sogar ein Messer zwischen die Rippen gejagt, aber du hättest dich nicht widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen.«

»Manchmal schätzt du meinen Mut zu hoch ein«, erwiderte sie, auch wenn der Gedanke, wie stark seine Bewunderung war, sie innerlich wärmte. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Gott sei Dank wurde ich nie vor die Frage gestellt.«

Er stand einen Augenblick schweigend da, dann beugte er sich über sie und küsste sie lange und mit einer schmerzlichen Zärtlichkeit, die ihr Tränen in die Augen trieb.

Dann ließ er sie los, ging in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür.

Sie war schon eingeschlafen, als er zu Bett ging. In der Nacht wachte sie auf und spürte, dass er neben ihr lag, aber er bewegte sich nicht und berührte sie auch nicht, als sie näher zu ihm heranrückte.

Am Morgen war er weg. Auf der Frisierkommode lag ein Brief:

Hester, ich werde weitere Überprüfungen durchführen, was den Landkauf für die Eisenbahn angeht, zum Teil, weil es der einzige Betrug ist, den ich im Fall Baltimore entdecken kann, doch vor allem, weil ich weiß, dass Arrol Dundas unter – wie es scheint – fast identischen Umständen des Landbetrugs für schuldig erklärt wurde. Es könnte sogar dieselbe Gesellschaft sein: Baltimore und Söhne. Es bestehen noch Zweifel, aber ich bin mir ziemlich sicher. Ich hoffe, Du verstehst, warum ich das unbedingt herausfinden muss.

Wenn ich irgendwie dafür sorgen kann, dass Dalgarno nicht wie Dundas damals für etwas, das er nicht getan hat, im Gefängnis landet, dann muss ich es tun. Ich werde ihn nicht ebenso im Stich lassen. Ich muss vielleicht sogar noch einmal zu dieser Stelle nach Derbyshire fahren.

Bitte, Hester, sei vorsichtig! Es ist genug, dass Du in der Gegend um den Coldbath Square arbeitest und Menschen beistehst, die es hart erwischt hat und die es Dir nicht vergelten können, nicht einmal, indem sie Dir die Wahrheit sagen. Und wenn Du die Aufmerksamkeit der Männer auf Dich ziehst, die sie derart misshandeln, können sie Dich auf keinen Fall schützen.

Wenn Du nicht um Deinetwillen oder um meinetwillen auf Dich Acht gibst, dann tu es wenigstens um ihretwillen. An wen sollen sie sich wenden, wenn Du verletzt wirst oder Dir Schlimmeres zustößt?

Die Generäle auf der Krim, die ihre Truppen in der Manier von Don Quichote vergeudeten, hast du früher in aller Schärfe kritisiert. Und zu Recht. Du hast oft gesagt, eine Frau wäre verantwortungsvoller vorgegangen und hätte weniger nach Ruhm gestrebt – beweis es jetzt!

Ich hoffe, wenn ich zurückkehre, werde ich feststellen, dass Du Dich um Deine Angelegenheiten kümmerst – und nicht um meine –, dann werde ich Dir, wenn ich kann, helfen, den Mörder von Nolan Baltimore zu finden – falls die Polizei das bis dahin noch nicht getan hat.

Auch wenn es nicht immer den Anschein erweckt, ich liebe Dich von ganzem Herzen, und ich bewundere Dich sehr viel mehr, als Du glaubst. William

Sie hielt das Blatt in den Händen, als könnte es ihr einen Teil von ihm bringen oder als würde er die Gefühle in ihrem Innern kennen, die Liebe und das Bedürfnis, die Einsamkeit ohne ihn, die Sehnsucht, ihm bei dem persönlichen Kampf, den er ausfocht, zu helfen.

Warum konnte er ihr so offen schreiben, es ihr aber nicht von Angesicht zu Angesicht sagen? Noch während sie die Frage formulierte, wusste sie die Antwort schon. Es war offensichtlich – weil sie einen Brief in Händen halten und ihn ein ums andere Mal lesen und ihn mit sich herumtragen konnte, ohne jedoch in der Lage zu sein, weitere Antworten von ihm zu fordern. Monk indessen war gegangen – allein.

Und sie war hier – ebenso allein. Er liebte sie, sicher. Aber warum konnte er ihr nicht auch vertrauen – ihrer Loyalität, ihrem Verständnis, ihrem Mut? Welcher Teil von ihr, glaubte er, werde ihn enttäuschen?

Es schmerzte sie, darüber nachzudenken. Sie würde zum Coldbath Square fahren und arbeiten. Dort würde sie etwas zu tun haben, selbst wenn sie sich nur hinsetzte und überlegte, wie Geld aufzutreiben war. Vielleicht sollten sie anfangen, nach anderen Räumlichkeiten zu suchen? Dabei war Margarets Freundschaft, selbst wenn sie seit dem Besuch bei Rathbone ein wenig an Leichtigkeit und Ungezwungenheit eingebüßt hatte, von unschätzbarem Wert.

Sie durfte keine Eifersucht zeigen, das wäre engherzig und unglaublich hässlich! Sie würde sich dafür verachten.

Und natürlich musste sie versuchen, alles über Nolan Baltimores Tod herauszufinden, und dabei vorsichtig vorgehen, um sich niemanden zum Feind zu machen.

Margaret kam spät zum Coldbath Square, aber das war im Augenblick nicht wichtig. Überall in der Gegend lagen die Nerven der Menschen bloß, also kam es zu etlichen Streitereien, und viele schlugen vor Enttäuschung oder Angst um sich, aber die Opfer waren meist Männer, und die Verletzungen waren von der Art, die mit der Zeit ohne viel Aufhebens heilten – blaue Flecken, leichte Schnittwunden und Kopfschmerzen. Die Zuhälter achteten mehr darauf, ihren Frauen keine blauen Flecken oder Schnittwunden zuzufügen, waren sie doch ihr einziges Kapital auf einem schrumpfenden Markt.

Natürlich wussten alle, dass das nicht ewig so weitergehen würde, aber es dauerte schon lange genug, um einigen das Leben wirklich schwer zu machen. Das Ende war noch lange nicht in Sicht, sie lebten von einem Tag zum nächsten.

»Wie geht es Fanny?«, fragte Hester, als sie aus dem Nieselregen hereintrat und Mantel und Hut ablegte. »Und Alice?«

»Leidlich«, antwortete Bessie, die an dem bis auf ihre halb ausgetrunkene Tasse Tee leeren Tisch saß und ihr einen unheilvollen Blick zuwarf. »Ruhig ist es. Wie auf einem verdammten Friedhof. Hatte zwei Mädchen mit Krankheiten hier, das war alles. Kann nicht viel für sie tun, die armen Dinger. Miss Ballinger ist noch nicht da. Täte mich nicht wundern, wenn sie da draußen in den feinen Häusern unterwegs wäre. Hab noch nie erlebt, dass sich jemand so verändert hat!« Sie sagte das mit grimmiger Befriedigung und ohne das leiseste Lächeln. »Als sie das erste Mal hier reinkam, kriegte sie den Mund nicht auf. Und jetzt ist sie frech wie Oskar. Fragt jeden nach Geld. Ich wette einen Sixpence, dass sie mit 'nem Grinsen im Gesicht hier reingetanzt kommt und uns erzählt, sie hat wieder 'n paar Pfund für uns aufgetrieben.«

Hester lächelte, trotz des trüben Morgens. Es stimmte, Margaret hatte bei der Arbeit sehr viel Selbstsicherheit und Freude entwickelt. Abgesehen von ihren Heilversuchen an Patientinnen, die sich womöglich hinterher nur wieder in die gleichen Schulden und Misshandlungen zurückbegaben, war das allein schon eine Leistung.

Bessie hatte Recht; eine halbe Stunde später kam Margaret herein und strahlte eine Zufriedenheit aus, die wie ein heller Sonnenstrahl war.

»Ich habe zwanzig Guineen!«, sagte sie stolz. »Und das Versprechen auf mehr!« Sie hielt sie Hester mit strahlenden Augen und glühendem Gesicht hin.

Hester musste sich zwingen, den Erfolg anzuerkennen, da sie selbst das Gefühl hatte, auf der ganzen Linie zu versagen. »Das ist hervorragend«, sagte sie lobend. »Das wird Jessop 'ne Weile in Schach halten und gibt uns Zeit. Vielen Dank.«

Margaret machte ein gequältes Gesicht. »Sie werden ihm doch nicht etwa mehr gegeben als verabredet?«

Hester entspannte sich ein wenig, sie musste fast lachen. »Nein, ganz sicher nicht!«

Margaret erwiderte ihr Lächeln und machte sich daran, Jacke und Hut auszuziehen. »Was können wir heute tun? Wie geht's Fanny und Alice?« Dabei schaute sie zu den Betten hinüber.

»Schlafen«, antwortete Bessie für Hester. »Sie können nichts für sie tun, außer dafür zu sorgen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben, und ihnen ab und zu mal was zu essen zu geben.« Sie runzelte die Stirn über den Regen, der ans Fenster klatschte. »Ich nehme an, das Beste, was ich tun kann, ist, zum Markt zu gehen.«

»Bleiben Sie noch eine Weile im Trockenen.« Hester fasste einen Entschluss. »Margaret und ich haben in einer halben Stunde einen Botengang zu erledigen. Einen wichtigen.«

Bessie war misstrauisch. »Ach ja?« Sie traute Hester nicht zu, dass sie auf sich aufpassen konnte, aber sie wagte es nicht, das offen auszusprechen. »Und was haben Sie vor, was ich nicht für Sie erledigen könnte?«

Was Hester jedenfalls nicht vorhatte, war, Bessie ins Vertrauen zu ziehen, zum Teil aus reiner Vorsicht und zum Teil auch, weil sie sich nicht sicher war, ob ihr Plan Aussicht auf Erfolg hatte. Jetzt überlegte sie es sich plötzlich anders und beschloss, aufrichtig zu sein.

»Wenn wir dieses Problem, dass die Polizei überall herumläuft und die Frauen deswegen keine Arbeit haben, lösen wollen«, sagte sie forsch, bevor sie die Nerven verlor, »müssen wir herausfinden, was Nolan Baltimore zugestoßen ist.« Sie achtete weder auf Margarets ungläubigen Blick noch auf Bessie, die die Luft durch die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen einsog. »Ich habe vor, wenigstens ein paar Fragen zu stellen. Mit mir reden die Leute vielleicht eher als mit der Polizei.«

»Wie wollen Sie das denn hinkriegen?«, fragte Bessie mit Ablehnung in der Stimme. »Wer soll Ihnen denn was erzählen? Und überhaupt, wen wollen Sie eigentlich fragen?«

»Die Leute in der Leather Lane natürlich«, antwortete Hester und breitete ihren Umhang zum Trocknen aus. »Wir müssen wissen, ob Baltimore regelmäßig dort verkehrte oder ob es sein erster Besuch war. Wenn er oft dort war, wird irgendjemand was über ihn wissen: wen er sonst noch kannte, was für ein Mann er außerhalb von Heim und Familie war. Ich würde gerne wissen, ob er wegen der Frauen dort war oder noch etwas anderes vorhatte. Vielleicht ist ihm jemand von zu Hause bis hierher gefolgt? Es könnte doch sein, dass sein Tod gar nichts mit den Leuten aus der Gegend hier zu tun hat.«

Bessie strahlte. »Mensch! Das wär ja was!«

»Aber die Leute in der Leather Lane kennen seinen Namen vielleicht gar nicht«, wandte Margaret ein. »Ich glaube nicht, dass er ihn benutzt hat.«

»Glaube ich auch nicht«, stimmte Hester ihr zu. »Wir brauchen ein Bild, das wir den Leuten zeigen können.«

Margaret machte große Augen. »Ein Bild! Woher sollen wir ein Bild auftreiben? Nur die Familie hat eines, und die gibt es uns sicher nicht.«

Hester atmete tief durch und wagte sich mutig vor. »Also … da habe ich schon eine Idee. Ich kann nicht sehr gut zeichnen, aber Sie.«

»Ach!« Margarets Stimme schoss abwehrend in die Höhe, und sie schüttelte den Kopf, aber sie blickte Hester weiter unverwandt in die Augen. »Ach, nein!«

»Haben Sie denn eine bessere Idee?«, fragte Hester mit unschuldiger Miene.

Bessie begriff – mit wachsendem Entsetzen. »Sie werden doch nicht!«, sagte sie zu Hester. »Das Leichenschauhaus! Sie wollen einen Toten zeichnen?«

»Ich nicht«, verbesserte Hester sie. »Wenn ich ihn zeichnen würde, würde nicht mal seine eigene Mutter ihn wiedererkennen, aber Margaret zeichnet sehr gut. Sie kann ein Gesicht wirklich einfangen, auch wenn sie zu bescheiden ist, um es zuzugeben.«

»Das ist es nicht …«, setzte Margaret an, verstummte dann jedoch. Sie starrte Hester an, und Unglaube verwandelte sich langsam in Begreifen. »Wirklich?«, flüsterte sie. »Glauben Sie … ich meine … würde man uns das erlauben …«

»Also, wir müssen die Geschichte an ein oder zwei Stellen noch etwas frisieren«, gab Hester trocken zu. »Aber ich habe vor, mein Bestes zu versuchen.« Sie wurde sehr ernst. »Es ist wirklich wichtig.«

»Solange Sie das mit dem Frisieren übernehmen«, sagte Margaret in einem letzten Versuch, vernünftig zu sein.

»Natürlich«, meinte Hester, obwohl sie noch keine klare Vorstellung von dem hatte, was sie sagen würde. Sie hatte auf den anderthalb Kilometern zum nächsten Leichenschauhaus, wohin man Baltimore gebracht hatte, viel Zeit, darüber nachzudenken.

»Ich habe weder Bleistift noch Papier«, sagte Margaret. »Aber ein paar Shillings … Ich meine, die nicht für das Haus sind …«

»Ausgezeichnet«, freute Hester sich. »Dann kaufen wir, was Sie brauchen, in Mrs. Clarks Laden an der Ecke Farringdon Road. Und ich würde sagen, auch einen Radiergummi. Wir haben vielleicht nicht die Zeit, immer wieder von vorne anzufangen.«

Margaret zuckte die Achseln und stieß ein nervöses Lachen, fast ein Kichern aus. Hester hörte darin einen Anflug von Hysterie.

»Alles in Ordnung!«, sagte Margaret schnell. »Ich dachte nur gerade, was mein Zeichenlehrer wohl sagen würde, wenn er das wüsste. Sein Gesicht möchte ich sehen. So richtig altbacken, ließ mich immer sittsame junge Damen zeichnen. Meine Schwester und ich mussten uns gegenseitig zeichnen. Noch nicht mal einen Gentleman durften wir zeichnen. Allein der Gedanke daran war schlimm genug – er würde einen Anfall kriegen, wenn er wüsste, dass ich eine Leiche zeichnen will! Die wird doch hoffentlich mit einem Laken oder so zugedeckt sein.«

»Wenn nicht, haben Sie meine ausdrückliche Anweisung, eines zu zeichnen«, versprach Hester, während sie vor Lachen übersprudelte – nicht, weil sie es lustig fand, sondern weil der Gedanke an die Absurdität der Situation das einzig Erträgliche daran war.

Sie zogen sich Mäntel und Hüte an und machten sich auf den Weg, raschen Schrittes gingen sie durch den Regen. Sie kauften einen Block, Bleistifte und einen Radiergummi und eilten zum Leichenschauhaus, einem hässlichen Steingebäude, das ein wenig von der Straße zurückgesetzt stand.

»Was soll ich sagen?«, fragte Margaret, als sie nebeneinander die Stufen hinaufgingen.

»Sagen Sie einfach das Gleiche wie ich«, antwortete Hester flüsternd. Sobald sie durch die Tür waren, standen sie vor einem älteren Herrn mit weißem Backenbart und beängstigend hoher Stimme, beinahe Falsett.

»Guten Morgen, meine Damen. Womit kann ich Ihnen dienen?« Er verbeugte sich leicht, womit er ihnen den Durchgang so effektiv blockierte, als hätte er den Arm ausgestreckt. Ohne zu blinzeln, fixierte er Hesters Gesicht und wartete darauf, dass sie sich erklärte.

Hester starrte ihn unverwandt an. »Guten Morgen, Sir. Ich hoffe, dass Sie in Anbetracht der misslichen Situation von Miss Ballinger unserer Bitte entsprechen können.« Mit kummervoller Miene zeigte sie auf Margaret. »Sie ist eben erst aus dem Ausland zurückgekehrt, wo sie ihre Mutter besucht hat, die in ein wärmeres Klima gezogen ist – wegen ihrer Gesundheit, Sie verstehen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Nur um vom schrecklichen und äußerst tragischen Tod ihres Onkels zu hören.« Sie wartete ab, ob er ein Zeichen des Mitgefühls zeigte. Vergeblich. Sie wagte nicht, Margaret anzusehen, um seine Aufmerksamkeit nicht auf deren verblüffte Miene zu lenken.

Der Leichenschauhauswärter räusperte sich. »Ja?«

»Ich habe sie begleitet, damit sie ihrem Onkel, Mr. Nolan Baltimore, ihre letzte Ehre erweisen kann«, fuhr Hester fort. »Sie kann nicht bis zur Beerdigung bleiben. Der Himmel weiß, wann die sein wird.«

»Sie möchten eine der Leichen sehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen abraten, meine Damen. Kein schöner Anblick. Wenn ich Sie wäre, würde ich ihn so in Erinnerung behalten, wie er war.«

»Meine Mutter wird mich nach ihm fragen«, sagte Margaret schließlich mit heiserer Stimme.

»Sagen Sie ihr, er habe in Frieden geruht«, sagte der Wärter fast ausdruckslos. »Sie wird's nicht merken.«

Margaret brachte es fertig, ein schockiertes Gesicht zu machen. »Ach, das würde ich nicht wagen!«, sagte sie hastig. »Außerdem … sie wird mich bitten, ihn zu beschreiben, und es ist so lange her, dass ich ihn gesehen habe, ich könnte einen Fehler machen. Dann würde ich mich schrecklich fühlen. Ich … ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie mir einfach erlauben würden, ein paar Augenblicke bei ihm zu verweilen. Sie können natürlich auch die ganze Zeit bei uns bleiben, wenn Sie das Gefühl haben, dass sich das so gehört.«

Hester knirschte mit den Zähnen und fluchte innerlich. Eine Beschreibung von Nolan Baltimore würde ihr nichts nützen. Sie brauchten Skizzen, die sie den Leuten zeigen konnten! Hatte Margaret das denn nicht begriffen? Sie versuchte, Margarets Blick auf sich zu lenken, aber Margaret sah sie nicht an; sie konzentrierte sich vollkommen auf den Wärter – auch um wegen des feuchten, modrig-süßlichen Geruchs nicht umzukippen.

»Also …«, sagte er nachdenklich. »Mir macht's ja nichts aus, und ihm wohl auch nicht. Aber machen Sie mich nicht verantwortlich, wenn Sie ohnmächtig werden!« Er sah Hester an. »Stellen Sie sich daneben. Falls eine von Ihnen umkippt, hole ich Ihnen keinen Quacksalber. Sie stehen selbst wieder auf, verstanden?«

»Sicher«, sagte Hester schroff. Dann erinnerte sie sich an die Rolle, die sie sich auferlegt hatte, und änderte ihre Haltung. »Sicher«, wiederholte sie mit erheblich mehr Respekt. »Sie haben ganz Recht. Wir sollten uns entsprechend verhalten.«

»Also gut.« Er drehte sich um und führte sie durch die Tür und den Gang hinunter zum Kühlraum, wo die Leichen aufbewahrt wurden, wenn sie für einen längeren Zeitraum gebraucht wurden.

»Warum haben Sie ihn denn bloß aufgefordert, uns zu begleiten?«, flüsterte Hester mit erstickter Stimme.

Der Bedienstete blieb stehen und drehte sich um. »Wie bitte?«

Hester spürte, dass sie rot anlief. »Ich … ich sagte, wie nett von Ihnen, dass Sie sagten, Sie würden uns begleiten«, log sie.

»Muss ich ja schließlich«, sagte er mürrisch. »Ich bin für die Leichen hier verantwortlich. Man hält es für unwichtig, aber Sie wären überrascht, was manche so mit Leichen anstellen. Tatsache ist, dass es ganz schön viele Verrückte gibt!« Er schnaubte. »Es gibt Leute, die stehlen Leichen, um sie aufzuschneiden, Gott steh uns bei!«

Margaret schluckte, ihr Gesicht war bleich, aber sie wahrte bewundernswert die Fassung. »Alles, was ich möchte, ist einen Blick auf Onkel Nolan werfen«, sagte sie heiser. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich das tun könnte, ohne mir noch mehr solche … Scheußlichkeiten anhören zu müssen. Ich weiß anzuerkennen, warum Sie … und … und Sorgfalt ist notwendig. Ich bin sehr dankbar dafür.«

»Tue nur meine Pflicht«, sagte er steif, öffnete die nächste Tür und schob sie in einen kleinen, sehr kalten Raum mit nackten, weiß getünchten Wänden. »Sie sagten Nolan Baltimore? Der Letzte da drüben.« Er ging über den feuchten Steinfußboden zum vierten Tisch, wo eine Gestalt auf dem Rücken lag, zugedeckt mit einem großen ungebleichten Baumwolllaken. Der Wärter warf Margaret einen skeptischen Blick zu, als wollte er einschätzen, wie wahrscheinlich es war, dass sie ohnmächtig wurde oder ihm sonst wie zur Last fallen würde. Schließlich gab er auf und zog mit einem resignierten Seufzen das Laken vom Kopf und von den Schultern des Toten.

Margaret stieß mit einem leisen Zischen die Luft zwischen den Zähnen aus und schwankte, als wäre der Boden unter ihren Füßen ein Schiffsdeck.

Hester trat rasch einen Schritt vor, legte die Arme eng um sie und drückte so fest, dass es wehtat.

Margaret schrie kurz auf, aber Hesters fester Griff schien sie zu stabilisieren.

Sie schauten auf das gefleckte grau-weiße Gesicht hinunter. Es hatte grobe Züge, fleischige Wangen und Kinnpartie. Die großen Augen waren jetzt geschlossen, aber die Augenhöhlen deuteten ihre Form an. Er hatte eine beginnende Stirnglatze, sein Haar war wellig und von dunkler, rötlich gelber Farbe. Er war offensichtlich groß, mit breiter Brust und kräftigen Armen. Es war schwer, seine Größe zu schätzen, wahrscheinlich um einen Meter achtzig.

Das Schwierigste war, sich Leben und Farbe in den Zügen vorzustellen, wie sie wohl gewesen waren, als Intelligenz sie belebt hatte. Denn um eine Gesellschaft wie Baltimore und Söhne aufzubauen, musste er Sachkenntnis, Vorstellungskraft und sehr viel Ehrgeiz besessen haben.

»Vielen Dank«, flüsterte Margaret. »Er… er sieht so friedlich aus. Wie ist er gestorben?«

»Wir tun unser Bestes«, sagte der Wärter, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht.

»Wie?«, wiederholte sie mit kratzender Stimme.

»Weiß nicht. Die Polizei meint, er sei wahrscheinlich 'ne Treppe runtergefallen. Man kann nicht sehen, wie kaputt er innen ist. Und natürlich waschen wir sie.«

»Vielen Dank«, wiederholte Margaret und hatte Mühe zu atmen. Die Kälte und der Karbolgestank waren unerträglich.

Hester starrte auf die Gestalt auf dem Tisch. Sie hatte schon viele tote Männer gesehen, obwohl die meisten von ihnen nicht so ordentlich und sauber ausgestreckt dagelegen hatten wie dieser hier. Aber auch ohne ihn zu berühren oder zu bewegen, bemerkte sie, dass er nicht ganz gerade dalag. Gewaschen oder nicht, sie vermutete, dass viele seiner Knochen gebrochen oder ausgerenkt waren. Es musste ein harter Aufprall gewesen sein. Als sie seinen Kopf betrachtete, fielen ihr feine Kratzer am Hals auf, die sich von unterhalb des linken Ohrs bis zur Kehle erstreckten und dann vorne über dem Brustbein wieder anfingen. Fingernägel? Es waren Kratzer, keine Schnitte, und die Kanten waren frisch und roh, jetzt natürlich ohne Blut, aber die Haut sah abgerissen aus, als habe sie nicht mehr heilen können.

»Genug gesehen?«, fragte der Wärter, sah Margaret an und runzelte die Stirn.

»Ja … ja, vielen Dank«, antwortete Margaret. »Ich … ich sollte jetzt gehen. Ich habe meine Pflicht getan. Armer Onkel Nolan. Vielen Dank für Ihre …« Sie verstummte, unfähig, die Fassung zu wahren und den Satz zu beenden.

Hester erkannte, dass Margaret am Ende ihrer Kraft war. Womöglich war es das erste Mal, dass sie einen toten Mann sah, obwohl in dem Haus am Coldbath Square schon einmal eine Frau gestorben war, aber das war anders gewesen, mit einer Art von Frieden am Ende. Und die Frau war alt gewesen.

Sie legte Margaret den Arm um die Schultern und ging mit ihr hinaus in den Durchgang. Sie musste ihre Enttäuschung herunterschlucken. Zumindest hatte sie ein Bild vor Augen, das sie mit Worten beschreiben konnte.

Am Eingang dankten sie dem Bediensteten noch einmal und traten dann so schnell, wie es anständigerweise möglich war, hinaus auf die Straße in den leise fallenden Regen.

»Tee!«, keuchte Margaret. »Und hinsetzen, irgendwo, wo es trocken ist!«

»Möchten Sie nicht lieber zum Coldbath Square zurück?«, fragte Hester besorgt. »Ich bin mir nicht sicher, welche Art von Etablissement hier in der Gegend …«

»Ich möchte ihn zeichnen, bevor ich ihn vergesse!«, zischte Margaret. »Das geht hier im Regen nicht.«

Hester war vollkommen verdutzt. »Können Sie … ich meine, könnten …«

»Natürlich! Wenn ich es tue, solange er mir noch deutlich in Erinnerung ist! Im Augenblick fühlt es sich zwar an, als wäre er das für immer, aber der gesunde Menschenverstand und eine gewisse Hoffnung sagen mir, dem wird nicht so sein.« Margaret schaute sich um und schritt, um einen solchen Ort zu finden, energisch aus, und Hester musste ein paar Schritte laufen, um mit ihr mithalten zu können, und sie dann am Arm packen, damit sie nicht in einen Straßenhändler lief, der ihnen gerne ein paar Schnürsenkel verkauft hätte.

Schließlich fanden sie eine Schänke, wo sie sich an einen Tisch in der Ecke setzten und zwei halbe Pint Apfelwein und zwei heiße Pasteten bestellten. Sobald dies serviert worden war, nahm Margaret Papier und Bleistift heraus und fing an zu zeichnen. Ab und zu trank sie einen Schluck, aber die Pastete rührte sie nicht an. Vielleicht war ihr der Gedanke, etwas zu essen, während sie das Gesicht eines toten Mannes vor sich sah, unerträglich.

Hester war plötzlich sehr hungrig. In ihrem Fall wog die Erleichterung schwerer als Empfindlichkeit, und alles, an was sie denken konnte, war, wie geschickt Margaret Charakter und Leben in ein auf Papier geschaffenes Bild brachte. Nolan Baltimores Gesicht nahm vor ihren Augen Form an, bis sie das Gefühl hatte, sie müsste ihn gekannt haben.

»Das ist ja unglaublich!«, sagte sie mit großem Respekt, wischte sich die Finger an ihrem Taschentuch ab und trank den letzten Schluck Apfelwein. »Wenn wir das den Leuten zeigen, wissen sie bestimmt, ob sie ihn schon einmal gesehen haben oder nicht.«

Margaret schaute zu ihr auf, ihre Augen strahlten vor Freude über das Lob. »Ich mache besser gleich noch eine«, sagte sie ernst. »Wenn wir die verlieren, wird's schwierig.« Und sofort begann sie, Baltimore aus einem etwas anderen Blickwinkel noch einmal zu zeichnen, im Halbprofil.

Hester holte noch zwei Gläser Apfelwein und sah geduldig zu, wie Margaret eine dritte Zeichnung anfertigte, bemerkenswert detailliert und schattiert, um eine fast dreidimensionale Ähnlichkeit zu zeigen.

Bevor sie das Risiko eingingen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, packten sie die Zeichnungen ein und zahlten, dann traten sie hinaus auf die feuchte Straße. Der Himmel war klar, und eine milde Brise versprach, dass das auch so bleiben würde.

Sie hatten einen sehr ruhigen Nachmittag in Coldbath. Hester machte zur Vorbereitung für das, was sie einen Großteil der Nacht wach halten würde, ein kleines Nickerchen. Sie wusste, dass Monk nicht zu Hause war und sie folglich nicht zu erklären brauchte, warum sie auch nicht zu Hause sein würde. Sie hatte nicht die Absicht, Margaret mitzunehmen. Margaret hatte heute bereits großartige Arbeit geleistet.

Zudem war es für den Fall, dass Mr. Lockharts Hilfe gebraucht wurde, notwendig, dass zwei Personen hier waren. Jemand musste ihn holen, und das war meist Bessie. Sie schien die magische Fähigkeit zu besitzen, ihn immer und überall aufzutreiben. Vielleicht spürten seine Freunde ihre Zuneigung zu ihm, und ihre eigene Vergangenheit hatte sie gelehrt, weder zu fragen noch zu urteilen.

Margaret wollte widersprechen, aber als Hester ihr klar machte, dass Bessie im Fall einer ernsthaft Verletzten nicht allein zurechtkäme, stand in ihren Augen eine gewisse Erleichterung.

»Ja, das stimmt wohl«, sagte sie zögernd. »Aber was ist mit Ihnen? Sie sollten auch nicht allein unterwegs sein! Es könnte Ihnen alles Mögliche zustoßen, und wir wüssten es nicht mal. Warum machen Sie nicht …« Sie hielt inne.

Hester lächelte. »Warum mache ich was nicht? Ihnen fällt auch kein besserer Plan ein. Ich werde wirklich sehr vorsichtig sein, versprochen. Ich sehe doch mehr oder weniger aus wie die Frauen, die hier in der Gegend wohnen, und die gehen auch allein herum. Im Augenblick ist überall in den Straßen Polizei. Das wissen die anderen so gut wie wir. Solange ich nicht den Eindruck erwecke, ich sei auf Geschäfte aus, und das werde ich tunlichst vermeiden, bin ich so sicher wie alle anderen auch.« Ohne auf weitere Einwände von Margaret, Bessie oder einer zur Vorsicht mahnenden Stimme in ihrem Kopf zu warten, nahm sie ein altes Umhängetuch aus dem Schrank und trat hinaus auf die Straße. Der Abend war schön und ziemlich warm. Sie richtete den Blick geradeaus und ging schnell in Richtung Leather Lane.

Sie wollte mit dem Haus beginnen, in dem Nolan Baltimore gefunden worden war, aber sie musste vorsichtig sein. Sie durfte nicht die Aufmerksamkeit der durch die Straßen und Gassen patrouillierenden Polizei auf sich ziehen, insbesondere nicht die von Constable Hart, der sie sofort erkennen und wahrscheinlich ahnen würde, was sie vorhatte.

Sie verlangsamte ihre Schritte, bis sie ungefähr so langsam war wie die Frau mittleren Alters vor ihr, hielt etwa sechs Meter Abstand und versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie kam an die Ecke, wo die Bath Street in die Lower Bath Street überging, dann die breite Hauptverkehrsstraße Theobald's Road querte und in die Leather Lane mündete.

An der Ecke stand ein Polizist, der müde und niedergeschlagen aussah. Wie sollte sie irgendjemandem das Bild zeigen, ohne seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Das ging nur unter einer der wenigen Straßenlaternen. Denn in den düsteren Schatten in der Nähe der Mauern oder in einem Torweg oder einer Gasse würde ihn wohl kaum jemand auf dem Bild erkennen können.

Der Wachtmeister beobachtete sie, ohne etwas zu sagen und ohne offensichtliches Interesse. Gut. Das hieß, dass er sie für eine Anwohnerin hielt, was zwar nicht schmeichelhaft war, aber im Augenblick genau das, was sie brauchte. Angespannt lächelnd ging sie die Leather Lane hinunter.

In der Nähe der nächsten Straßenlampe stand ein Mädchen. Das Licht, das auf sie herunterschien, ließ ihr Haar erstrahlen. Sie war noch längst nicht zwanzig und auch nicht besonders hübsch, aber sie hatte doch eine bestimmte Frische an sich. Hester kannte sie nicht, und plötzlich war sie sehr nervös, einer vollkommen Fremden ihre Fragen zu stellen.

Aber vielleicht kannte nur ein Fremder die Antwort, und sie wollte nicht nach Coldbath zurückgehen und erzählen, dass sie zu feige gewesen war zu fragen! Das wäre schlimmer als alles, was das Mädchen zu ihr sagen konnte.

»Entschuldigen Sie bitte«, fing sie zaghaft an.

Das Mädchen sah sie an, Feindseligkeit blitzte in ihren Augen. »Bleib bloß nich' hier stehen«, sagte sie mit tiefer, ruhiger Stimme. »Das ist mein Revier, und mein Alter poliert dir die Fresse, wenn du's hier versuchst. Such dir 'nen eigenen Platz.« Sie betrachtete Hester mit mehr Aufmerksamkeit. »Hübsch biste ja nich' gerade, gehst aber herum, als wärst du was Besseres. Gibt einige, die das mögen. Versuch's mal da oben.« Sie zeigte in Richtung der hohen Mauern der Brauerei in der Portpool Lane.

Hester schluckte ihren Ärger mühsam hinunter. Die Beleidigung schmerzte, was lächerlich war. Sie wusste sehr wohl um ihre eigene Leidenschaft, dazu erinnerte sie sich an zu viele Nächte, aber sie konnte es trotzdem nicht leiden, wenn jemand ihr sagte, sie sehe nicht besonders gut aus. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, das zurückzugeben, was sie hatte einstecken müssen.

»Ihren Platz möchte ich nicht«, sagte sie kühl. Ihr besserer Verstand sagte ihr, dass das Mädchen nur ums Überleben kämpfte. Sie musste wahrscheinlich um alles kämpfen, was sie bekam, und dann weiterkämpfen, um es zu behalten. »Ich möchte nur wissen, ob Sie einen bestimmten Mann schon mal in der Gegend hier gesehen haben.«

»Sieh mal«, antwortete das Mädchen mitleidig, »wenn dein Alter herkommt, um sein Vergnügen zu haben, solltest du wegschauen und dich an dein Haus und deine Kinder halten. Mit 'nem Dach überm Kopf und was zu essen im Bauch braucht man nicht den Mond anzuheulen. Davon kriegst du nur 'nen wunden Hals – und wenn du andere Leute ärgerst, kriegste noch 'nen Eimer kaltes Wasser über – oder Schlimmeres.«

Hester zögerte. Welche erfundene Geschichte würde das Mädchen ihr glauben und ihr dann noch die nötigen Informationen geben? Das Mädchen wandte sich schon ab. Vielleicht war die Wahrheit die einzige Lösung.

»Es ist der Mann, der umgebracht wurde«, sagte sie abrupt und spürte, wie Hitze durch ihren Körper wallte, und dann Kälte, als sie sich unwiederbringlich kompromittierte. »Ich will, dass die Polizei aus der Gegend verschwindet und alles wieder normal wird.« Sie sah den Unglauben im Gesicht des Mädchens. Jetzt gab es keine andere Möglichkeit, als fortzufahren. »Die kriegen nicht raus, wer es war!«, sagte sie abrupt. »Die einzige Möglichkeit, sie endlich von hinten zu sehen, ist, dass jemand anderes es rausfindet.« Sie griff in ihre Tasche und zog das Bild von Nolan Baltimore hervor.

Das Mädchen warf einen Blick darauf. »Isser das?«, fragte sie neugierig. »Hab ihn nie gesehen. Tut mir Leid.«

Hester musterte das Gesicht des Mädchens und versuchte herauszufinden, ob sie ihr glauben konnte oder nicht.

Das Mädchen lächelte freudlos. »Nee. Ich weiß, dass er bei Abel Smith gefunden wurde, aber ich hab ihn hier noch nie nich' gesehen.«

»Vielen Dank.« Sie überlegte, ob sie dieses sehr selbstbeherrschte Mädchen auch noch fragen sollte, wo das Bordell war, in dem höher stehende Frauen wie sie arbeiteten. Womöglich war es das des Wucherers. Sie holte Luft.

Das Mädchen starrte sie wütend an, das warnende Flackern war wieder in ihren Augen.

»Vielen Dank«, wiederholte Hester, schob das Bild in ihre Tasche zurück und ging weiter bis fast zur High Holborn und dann die Farringdon Road hinauf und über die Hatton Wall zurück zur Leather Lane. Von all den Leuten, die sie ansprach, um ihnen die Zeichnung zu zeigen, wollte niemand zugeben, Nolan Baltimore je gesehen zu haben.

Inzwischen war es richtig dunkel und entschieden kälter. Nur wenige Leute waren unterwegs. Ein Mann in einem zu großen Mantel eilte den Gehweg entlang. Er zog einen Fuß ein wenig nach, sein Schatten krümmte sich auf den Steinen, als er unter der Straßenlaterne durchging.

Auf der anderen Straßenseite stolzierte eine Frau gemächlich vorbei, sie hielt den Kopf hoch, als sei sie voller Selbstvertrauen. Als sie um die Ecke in die Hatton Wall einbog, verlangsamte ein Hansom. Hester sah nicht, ob die Frau einstieg oder nicht.

Ein Bettler verschwand in einer engen Türöffnung, als wollte er sich für die Nacht dort niederlassen.

Hester hatte nichts erreicht. Sie war sich nicht einmal sicher, ob die Leute aus Angst oder Halsstarrigkeit logen oder ob tatsächlich niemand Baltimore gesehen hatte.

Hieß das, dass er nicht hier gewesen war? Oder war er einfach nur äußerst vorsichtig gewesen? Würde ein Mann wie Nolan Baltimore nicht automatisch vorsichtig sein, um nicht erkannt zu werden? Wozu war er hierher gekommen? Ein geheimes geschäftliches Treffen, das mit Landbetrug zu tun hatte? Oder, sehr viel wahrscheinlicher, um einer Vorliebe für ein derbes Vergnügen und Praktiken nachzugehen, was er zu Hause nicht konnte.

Zumindest wusste sie, wo Abel Smiths Etablissement war, und sie beschloss als letzte Rettung, dorthin zu gehen und ihm gegenüberzutreten. Sie lenkte ihre Schritte wieder die Leather Lane hinunter und trat schließlich in eine kurze Gasse, die von der Straße abzweigte und eine schiefe Treppe hinaufführte. Sie hörte schwaches Tropfen, das Knarren von Holz und ab und zu das Huschen kleiner Klauen. Das letzte Geräusch erinnerte sie an die Ratten in dem Krankenhaus in Scutari, und sie biss die Zähne zusammen und ging ein wenig schneller.

Die Tür ging auf, als sie just davor stand, und erschrocken zuckte sie zusammen. Ein kahlköpfiger Mann mit einem freundlichen Gesicht stand vor ihr. Das Licht hinter ihm verwandelte die wenigen weißen Haare auf seinem Schädel in einen Heiligenschein.

»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte er zischend, als hätte er einen abgebrochenen Zahn. Erst als sie die oberste Treppenstufe erreichte, bemerkte sie, dass er einige Zentimeter kleiner war als sie.

»Das hängt davon ab, ob dies das Haus von Abel Smith ist oder nicht«, antwortete sie, froh, dass sie, wenn sie schon ohne Verstand, dann nicht auch noch außer Atem war. »Denn wenn es das ist, dann bin ich genau da, wo ich sein will.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ja bereit, so manches zu versuchen, aber für hier taugen Sie nichts.« Er sah sie von oben bis unten an. »Wenn Sie in Not sind, gebe ich Ihnen ein Bett für die Nacht, aber morgen müssen Sie sich was anderes suchen. Mit Ihnen mache ich kein Geschäft.«

»Nein«, stimmte sie ihm zu. »Aber ich kenne ein paar Mädchen, die gut hierher passen. Ich führe das Haus in Coldbath, das sich um kranke und verletzte Frauen kümmert.«

Er kniff die Augen zusammen und pfiff durch die Zahnlücke. »Hier gibt's keine Kranken, und ich hab nicht um einen Hausbesuch gebeten!«

»Deswegen bin ich auch nicht hier«, erwiderte sie und beschloss, die Wahrheit ein bisschen weiter auszulegen. »Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass die Polizei die Gegend wieder verlässt und wir alle zu unserem normalen Alltag zurückkehren können.«

»Ach ja? Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?« Skeptisch betrachtete er ihren schlanken, kerzengeraden Körper und ihren offenen Blick. »Sie sagen, weil dieser ermordete Lackaffe hier in meinem Haus war … aber das war er nie, außer als er tot war!« Er schniefte. »Ich habe noch nie im Leben einen Freier kaltgemacht! Wär ja auch ziemlich dämlich. Aber denken Sie, die Blödmänner würden mir glauben?«

»Wo ist die Treppe, die er angeblich hinuntergefallen ist?«, fragte sie.

»Warum? Was interessiert Sie denn das?«, fuhr er sie an.

»Warum wollen Sie sie mir nicht zeigen?«, erwiderte sie.

»Gehen Sie! Raus hier!« Er wedelte mit den Händen vor ihr herum. »Sie machen nur Ärger. Gehen Sie!«

Irgendwo hinter ihr stieß eine Ratte ein leere Kiste um. Sie schlug mit einem gedämpften Geräusch auf.

Hester rührte sich nicht vom Fleck. »Ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen, Sie Narr!«, sagte sie wütend. »Wenn er nicht hier gestorben ist, dann ist er woanders gestorben! Es hatte womöglich überhaupt nichts mit Frauen zu tun, und wenn ich das beweisen kann, dann hört die Polizei auf, uns zu schikanieren, und wir können uns alle wieder unserem Alltag zuwenden! Möchten Sie das oder nicht?«

Seine Augen waren kaum mehr als Schlitze in seinem rosafarbenen Gesicht. »Warum?«, fragte er vorsichtig. »Ich dachte, Sie seien nur 'ne Wohltäterin, die versucht, die Seelen der gefallenen Frauen zu retten. Sie haben doch sonst noch was vor, was?« Er nickte mehrmals. »Was ist das? Was machen Sie in dem Haus da oben in Coldbath?«

»Das geht Sie nichts an!«, fuhr sie ihn an und ergriff die Chance. »Müssen wir das hier draußen vor der Tür klären, wo uns jeder hören kann?«

Zögernd trat er einen Schritt zurück und hielt ihr die Tür auf. Sie trat hinter ihm ein und fand sich auf einem schmalen Treppenabsatz, von dem ein halbes Dutzend Türen abgingen. Er ging mit einem seltsam schlingernden Gang vor ihr her, als wäre er lange auf See gewesen. An der vierten Tür blieb er stehen und trat ein. Sie folgte ihm in ein Wohnzimmer, dessen Möbel, einst grün und rot, jetzt verblichen und abgenutzt, in den verschiedenen Braunschattierungen verwelkter Blätter prangten. Ein Tisch an der Rückwand war mit Papier übersät. Vor ihr stand ein weicher Sessel, und es gab einen sehr kleinen offenen Kamin, in dem sich aber nur graue Asche häufte. Der Geruch nach abgestandener Luft war erdrückend. Wärme hätte es nur noch schlimmer gemacht.

»Ich würde gerne mit einigen Ihrer Mädchen sprechen.«

»Die wissen nichts«, sagte er teilnahmslos.

»Ich kümmere mich nicht um Ihr erbärmliches Geschäft!« Sie wusste, dass ihre Stimme schriller wurde, konnte aber nichts dagegen tun. »Sie haben diesen Mann vielleicht auf der Straße gesehen. Jemand hat ihn hergebracht. Sie sagten, er sei nicht reingekommen … wer hat ihn dann reingebracht? Haben Sie sich nicht gefragt, wer Ihnen das angetan hat?«

»Das habe ich, verdammt!«, fauchte er, und sein Gesicht verlor plötzlich den rosafarbenen, unschuldigen Ausdruck und brannte stattdessen wie das eines übel gelaunten Säuglings, was böse wirkte und merkwürdig aussah, weil es so lächerlich war. Plötzlich hob er die Stimme. »Ada!«, rief er mit überraschender Lautstärke.

Unten war etwas zu hören, aber niemand erschien.

»Ada!«, brüllte er.

Die Tür flog auf, und eine dicke Frau, etwa so groß wie er, platzte ins Zimmer, schwarze Ringellöckchen umrahmten ihr rotes Gesicht, ihre Augen loderten vor Empörung. Sie sah erst ihn an, dann Hester.

»Nicht gut«, sagte sie, ohne gefragt worden zu sein. »Zu dünn. Wozu rufst du mich, du dämlicher Affe? Siehst du das nicht selbst? Hast wohl Mitleid mit ihr, was?« Sie wies mit einem kurzen, dicken Finger auf Hester. »Also, nicht in diesem Haus, du Miststück von …« Sie hielt inne, weil er keinen Versuch machte, sich zu rechtfertigen. Sie bemerkte ihren Irrtum und drehte sich um, um Hester anzusehen. »Also, was wollen Sie dann? Haben Sie Ihre Zunge verschluckt?«

Hester zog die Zeichnung von Nolan Baltimore hervor und zeigte sie ihr.

Ada warf kaum einen Blick darauf. »Er ist tot«, sagte sie ungerührt. »So 'n Haufen Scheiße, der bei uns abgeladen wurde, aber er hat nichts mit uns zu tun. Hab ihn noch nie vorher gesehen, da kann uns keiner das Gegenteil beweisen!«

»Da steht Ihr Wort gegen das der anderen«, wandte Hester ein.

Ada war ungemein praktisch veranlagt. Sie hatte zu viel durchgestanden, um lange herumzufackeln. »Und was wollen Sie? Was geht's Sie an, wer ihn hier abgelegt hat?«

»Ich möchte herausfinden, wer ihn umgebracht hat, damit die Polizei wieder verschwindet und uns in Ruhe lässt. Und ich möchte herausfinden, wer den Frauen Geld leiht und sie es zurückzahlen lässt, indem er sie anschaffen schickt«, antwortete Hester. Sie wagte sich weit vor, und ihre Haut prickelte.

Ada riss ihre schwarzen Augen noch weiter auf. »Wirklich? Wieso?« Ihre Frage kam herausgeschossen wie ein Projektil.

»Weil es, solange die Polizei überall herumläuft, nichts zu verdienen gibt«, erwiderte Hester. »Und die Leute können ihre Schulden nicht bezahlen. Die Gemüter erhitzen sich, und es werden immer mehr Frauen zusammengeschlagen.«

Ada war immer noch misstrauisch. »Und seit wann kümmern sich so anständige Frauen wie Sie drum, ob Frauen wie wir ihren Geschäften nachgehen können oder nicht?«, sagte sie und kniff die Augen zusammen. »Dachte, Sie wären Feuer und Flamme, die Straßen zu säubern und aus der Ecke hier wieder 'ne anständige Gegend zu machen.« Die letzten Worte waren mit der Schärfe eines offenen Rasiermessers gesprochen.

»Wenn Sie glauben, dazu bräuchte man nur Polizei an jede Ecke zu stellen, sind Sie eine Närrin!«, entgegnete Hester. »Es gibt kein ›wie ich‹ und ›wie Sie‹. Alle Frauen können in Schwierigkeiten geraten und gezwungen sein, anschaffen zu gehen, um das Geld zurückzuzahlen. Sie müssen womöglich spezielle Bedürfnisse bedienen, aber sie nehmen, was sie kriegen können. Immer noch besser, als halb zu Tode geprügelt zu werden.«

»Das tun wir niemandem an«, sagte Ada entrüstet, aber hinter ihrer Selbstgerechtigkeit klang in ihrer Stimme auch Aufrichtigkeit mit, und Hester hörte es.

»Erfüllen Sie spezielle Bedürfnisse?«, fragte Hester.

»Jedenfalls nicht mit Mädchen, die hier sind wegen Schulden«, antwortete Ada. »Es sind ganz gewöhnliche Mädchen, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen möchten und den Hals nicht voll genug kriegen.«

Hester sah sich im Raum um. Was Ada sagte, klang ziemlich glaubwürdig, obwohl es auch möglich war, dass es ein zweites Etablissement gab oder auch ein drittes, das anders war als dieses hier. Aber soweit sie es sagen konnte, hatte niemand Nolan Baltimore hier in der Gegend gesehen. Falls Abel Smith noch andere Häuser hatte und Baltimore dort umgebracht worden war, hätte Smith die Leiche wohl kaum hier abgelegt. Hester war geneigt, den beiden zu glauben.

Ihr Schweigen entnervte Ada. »So was tun wir nicht!« Ada wiederholte sich. »Nur das Übliche. Und geschlagen wird hier auch keine.« Sie schniefte wütend. »Außer sie werden hochnäsig und benehmen sich nicht. Man muss für Disziplin sorgen, sonst kommt man nicht weit. Vor einem großen, weichen Kerl wie dem da haben die Leute keinen Respekt!« Sie warf Abel einen Blick voller Verachtung zu.

»Könnte ich mit ein paar von Ihren Mädchen sprechen, um sie zu fragen, ob eine von ihnen Mr. Baltimore hier irgendwo in der Gegend gesehen hat oder weiß, wohin er gegangen sein könnte?«, fragte Hester.

Ada dachte einen Augenblick darüber nach. »Geht in Ordnung«, sagte sie schließlich. Offensichtlich hatte sie über das nachgedacht, was Hester gesagt hatte, und beschlossen, ein wenig Vertrauen würde ihr eher weiterhelfen. »Aber nicht die ganze Nacht! Die Zeiten sind hart. Wir dürfen keine Gelegenheit versäumen!«

Hester schwieg.

Sie unterhielt sich fast eine Stunde lang mit einer gelangweilten oder verängstigten Frau nach der anderen, aber soweit sie sehen konnte, hatte keine von ihnen blaue Flecken. Keine von ihnen war bereit zuzugeben, dass sie Nolan Baltimore je in der Leather Lane gesehen hatte, nur am Fußende der Treppe in der Nacht seines Todes.

»Blöde Frage, wenn Sie's wissen wollen«, sagte eine Frau namens Polly verächtlich. »Der war doch so 'n Feiner. Dem kam doch das Geld aus den Ohren raus.« Ihr Lachen wurde zu einem Zähnefletschen, das mehr Ekel als Wut ausdrückte. »Sehen Sie uns an, Lady! Glauben Sie wirklich, so einer kommt zu Frauen wie uns? Der will was Besonderes, und er kann dafür zahlen.« Sie zuckte die Achseln und zog das Kleid, das ihr über die Schulter gerutscht war, mit einem Ruck wieder hoch. »Vielleicht geht er zu Squeaky Robinson. Dem seinen Preis kann er bestimmt mit links zahlen.«

»Squeaky Robinson?«, wiederholte Hester, die es fast nicht glauben konnte. »Wer ist das?«

»Weiß nicht«, sagte Polly sofort. »In der Nähe von Coldbath und der Brauerei. Hatton Wall oder auch Portpool Lane. Will's gar nicht so genau wissen. Sollten Sie auch nicht, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist.«

»Vielen Dank.« Hester stand auf. »Sie haben mir sehr geholfen. Ich weiß das zu schätzen.«

»Ich hab nix gesagt«, leugnete Polly unverblümt, zog das Kleid noch einmal hoch und fluchte leise.

»Nein«, sagte Hester. »Außer, dass Baltimore nicht hier gestorben ist. In Wahrheit hat er hier überhaupt nichts zu suchen gehabt.«

»Richtig«, sagte Polly mit Nachdruck. »Gar nichts!«

Hester glaubte ihr. Den ganzen Weg zurück zum Coldbath Square ließ sie es sich immer wieder durch den Kopf gehen. Sie war sich sicher, dass Nolan Baltimore seinem Mörder woanders begegnet war und in Abel Smiths Haus geschafft worden war, um dem die Schuld zuzuschieben.

Aber in der Frage, wo oder warum er umgebracht worden war, war sie keinen Schritt weitergekommen, obwohl sie den Namen Squeaky Robinson nicht vergessen würde, ebenso wenig wie die Tatsache, dass man sich in seinem Etablissement um Männer mit teuren und exquisiten Vorlieben kümmerte.