Kapitel 4
Von Halannas Familie konnte nur ihr Bruder Landon das Konzert zur Sonnenwendfeier besuchen, da Halibran und seine anderen Söhne mit wichtigen Burgangelegenheiten beschäftigt waren. Das Mädchen freute sich, Landon wiederzusehen, und auch er begegnete ihr mit unverstellter Zuneigung. Er machte keinen Hehl daraus, wie sehr ihn die günstige Entwicklung seiner Schwester beeindruckte. Immer wieder betonte er, dass Halanna nicht wiederzuerkennen sei, so positiv habe sie sich entwickelt.
Merelan zog ihn auf die Seite und bemerkte freundlich: »Sie sollten sie vielleicht nicht zu viel loben, Landon.«
»Aber sie hat sich wirklich zu ihrem Vorteil verändert«, hielt er ihr entgegen.
»Gewiss, aber müssen Sie ihr das unentwegt vor Augen halten?«
»Ach so, ich verstehe, was Sie meinen.« Er rieb sich das Kinn und lächelte Merelan reumütig an. »Aber sie ist wie ausgewechselt, und das wurde auch höchste Zeit. Als kleines Kind war sie so niedlich und lieb …« Er verstummte. »Wer ist das?« fragte er überrascht, als er sah, wie ein junger, elegant gekleideter Mann Halanna auf die Tanzfläche führte.
Merelan erkannte Donkin, einen Neffen des Burgherrn von Ruatha, der zurzeit bei Lord Grogellan wohnte. Da er eine gute Tenorstimme hatte, sang er im Chor der Harfnerhalle mit. Er scharwenzelte nicht mehr und nicht weniger um Halanna herum als die anderen jungen Burschen, die zu den Sonnenwendfeierlichkeiten angereist waren. Doch da er der Blutslinie von Ruatha entstammte, wäre er selbst dem standesbewusstesten Vater ein höchst willkommener Schwiegersohn.
»Er gehört zum Geschlecht von Ruatha, sagen Sie?« wiederholte Landon, dem Donkins Eignung als Freier sogleich aufgefallen war. »Ist er an Halanna interessiert?«
»Davon weiß ich nichts.«
»Halten Sie immer noch ein Auge auf meine Schwester?«
»Wir kümmern uns um jedes junge Mädchen, das in unsere Obhut gegeben wird«, betonte Merelan spitz.
»Wie man sieht, haben Ihre Bemühungen gefruchtet.«
Merelan stieß sich ein wenig an Landons herablassender Art, doch er war selbst noch jung und hatte Halanna seit seiner Ankunft stets freundlich behandelt. »Sie hat eine Menge gelernt und die Ausbildung ihrer Stimme macht große Fortschritte. Halanna ist eine fleißige Schülerin.«
»Mein Vater sagt, sie darf noch länger in der Harfnerhalle bleiben, falls Sie keine Einwände haben.« In seiner Stimme schwang ein bittender Unterton mit.
»Sie hat gerade erst angefangen, ein Repertoire zu erlernen, das ihrem Stimmumfang angemessen ist«, erläuterte Merelan bereitwillig. »Und mittlerweile spielt sie Querflöte und Gitarre gut genug, um in einem kleinen Orchester mitzuwirken. Wir würden gern ihren Unterricht fortsetzen, wenn sie es möchte.«
»Ich glaube schon, dass es ihrem Wunsch entspricht«, entgegnete Landon, während er Halanna beobachtete, die zusammen mit Donkin die anmutigsten Tanzfiguren vollführte. Die beiden schienen sich köstlich zu amüsieren.
An diesem Abend wirkte Halanna zum ersten Mal seit dem Besuch ihres Vaters heiter und gelöst. Merelan freute sich darüber. Sie fand, es sei an der Zeit, dass das Mädchen die leidige Geschichte vergaß.
»Kommen Sie mit, Landon, Sie können nicht nur am Rande herumstehen und zuschauen, wie die anderen tanzen. Ich stelle Sie ein paar wirklich netten jungen Mädchen vor.«
»Ich würde gern mit Ihnen tanzen, wenn es Ihnen recht ist, Meistersängerin.« Er lächelte charmant und verbeugte sich vor Merelan.
Merelan blickte sich kurz nach Robie um, der am Rande der Tanzfläche mit Kindern seiner Altersgruppe spielte und sah flüchtig zu Petiron hin. Doch der war vollauf damit beschäftigt, unter lebhaftem Gestikulieren einem anderen Harfner etwas zu erklären. Sie vertraute darauf, dass er sich irgendwann besinnen würde, wie gern seine Frau tanzte, aber vorerst gab sie sich mit Landon als Tanzpartner zufrieden.
»Nichts wäre mir lieber, Burgherr Landon«, erwiderte sie und nahm seine dargebotene Hand.
***
Bei den Festivitäten zur Sonnenwende erhielt jeder die Gelegenheit zu singen oder zu musizieren, auch die Kleinsten wie Robinton und seine Klassenkameraden aus der Vorschule. Am zweiten Tag der Feiern trugen sie ein Lied vor, begleitet von den unterschiedlichsten Schlaginstrumenten wie Tamburine, Glockenspiele, Triangel, Tomtoms, Becken und Handglocken.
Robie schlug den Takt auf einer kleinen Trommel, und Merelan strahlte vor Stolz, als ihr Sohn selbst die kompliziertesten und flottesten Schlagfolgen mit Bravour meisterte.
Sie war enttäuscht, weil Petiron sich so intensiv mit Bristol, dem Harfner aus Telgar, unterhielt, dass er Robintons Vorstellung gar nicht zur Kenntnis nahm. Bristol war gleichfalls ein Komponist, wie Petiron, doch er interessierte sich mehr für Balladen, die zur Gitarre gesungen wurden, als für Chor- und Orchestermusik. Seine Melodien ließen sich leicht einprägen und konnten von jedermann gesungen werden. Merelan zog eine Grimasse, als sie merkte, in welch unloyale Richtung ihre Gedanken gingen.
Zu ihrer nicht geringen Überraschung und großen Freude bekam sie mit, wie Bristol sich später am Nachmittag Robie widmete. Robinton setzte eine ernsthafte Miene auf und schien dem Harfner etwas zu schildern. Der hörte ihm aufmerksam zu. Merelan wünschte sich, Robies eigener Vater würde sich so freundlich um den Jungen kümmern … Sie dachte daran, dass jetzt die Zeit der Sonnenwende war und der neue Planetenumlauf kurz bevorstand. Noch ein freier Tag, ehe die übliche Alltagsroutine von neuem begann. Eine Stunde lang trug sie die alten, traditionellen Weisen vor, wie es seit Gründung von Burg Fort Sitte war. Dafür erntete sie begeisterten Applaus, doch sie beschränkte sich auf drei Zugaben. Als Meistersängerin wusste sie, wann es genug war. Noch viele andere Musikanten und Sänger warteten darauf, die Bühne zu betreten.
Halanna tanzte jeden Abend einige Male mit dem jungen Donkin, doch sie wechselte die Partner und schien niemanden zu bevorzugen. Merelan war erleichtert, dass Halannas sprühendes Temperament und Lebensfreude allmählich zurückzukehren schienen. Vielleicht wirkte sich dies günstig auf ihre Stimme aus.
Zufällig schnappte Merelan eine Bemerkung Halannas auf, die sie verwirrte und beunruhigte.
»Petiron ist sehr streng und setzt immer nur sein eigenes Können als Maßstab«, vertraute das Mädchen ihrem Bruder Landon an. Dann fügte sie in völlig verändertem, beinahe hämischen Tonfall hinzu: »Ich freue mich schon darauf, wenn er erkennt, dass Robinton mehr Talent in seinem kleinen Finger hat als er es sich je träumen lassen würde. Der Junge ist seinem Vater jetzt schon haushoch überlegen, und daran ändern auch Petirons raffinierteste Kompositionen nichts.«
Woher wusste Halanna von Robintons genialer Begabung? Sie hatte dem Kind nie eine besondere Beachtung gezollt. Im Gegenteil, sie schien Robie geflissentlich zu ignorieren, selbst wenn sie in Merelans Quartier Unterricht nahm und der Kleine anwesend war. Und wieso empfand Halanna diese Schadenfreude, weil der Sohn mehr Talent besaß als der Vater?
Dieses Problem bereitete Merelan viel Kopfzerbrechen, und ständig versuchte sie sich einzureden, Petiron käme gar nicht umhin, glücklich zu sein, sowie ihm die Genialität seines Sohnes dämmerte.
Denn Robinton war ein musikalisches Genie. Er stürzte sich auf die Musik, wie andere Kinder sich auf Spielzeug oder Süßigkeiten stürzen. Sie wusste, dass er akribisch geschriebene Notenblätter mit allerhand Liedern und Melodien in einem geheimen Versteck aufbewahrte. Washell und Bosler hatten es ihr erzählt.
Sie meinten, die Stücke seien vortrefflich und hatten dabei bedeutungsvolle Blicke getauscht. Und dann entdeckte sie die Trommel, die er selbst angefertigt und dann im Perkussions-Orchester benutzt hatte.
»Meister Gorazde hat mir geholfen«, erklärte er, als er die Trommel mit nach Hause brachte. Mit seinem nicht ganz sauberen Zeigefinger fuhr er die blauen und roten Linien nach, die den Rand zierten. »Die Farbe habe ich ganz allein aufgetragen. Und ich durfte das Trommelfell zuschneiden.« Seine Augen wurden groß und rund, als er ihr vorführte, wie er das Messer handhabte. »Zum Schluss habe ich die Nägel eingeschlagen.« Merelan fiel auf, wie akkurat die Messingnägel angebracht waren. »Meister Gorazde hat die Stellen, wo die Nägel hinkamen, mit Punkten markiert, damit es später schön gleichmäßig aussieht.« Beinahe andächtig strich er mit der Fingerkuppe die glänzende Reihe von Nägeln nach. »Eine Trommel zu machen, ist schwer.« Lächelnd schaute er zu seiner Mutter hinauf.
»Liebling, eine so schöne Trommel habe ich noch nie gesehen. Ich wette, du könntest sie bei der nächsten Versammlung am Stand der Harfner verkaufen.«
Er presste die Trommel, die breiter war als er, gegen seine Brust. »Nein, die nicht. Es ist meine erste Trommel, und ich muss noch viel lernen, ehe Meister Gorazde ihr das Harfnersiegel aufdrückt.«
Merelan spürte einen leisen Stich im Herzen, als sie zusah, wie Robie die Trommel vorsichtig auf ein Regal neben dem Arbeitstisch seines Vaters absetzte. Vielleicht würde Petiron die Trommel bemerken und einen Kommentar dazu abgeben.
Zwei Tage später war sie weg. Und als Merelan die Trommel suchte, fand sie sie versteckt in den Tiefen von Robies Kleiderkiste. Er benutzte das Instrument nie wieder.
»Trommel? Welche Trommel?« fragte Petiron verblüfft, als sie wie beiläufig die Sprache darauf brachte.
»Die, die Robie für das Perkussions-Orchester zur Sonnenwendfeier gemacht hat.«
Petiron furchte die Stirn. Seine ungeheuchelte Ahnungslosigkeit fuchste sie so sehr, dass sie es bereute, ihn gefragt zu haben. Dass die kleine, mit so viel Liebe hergestellte Trommel versteckt worden war, hätte ihr als Warnung dienen müssen.
»Ach, die!« Mit einer abfälligen Handbewegung drehte er sich um und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. »Wenn ich gewusst hätte, dass Robie sie gebastelt hat, hätte ich sie niemals mit dem Harfnersiegel versehen.«
Jählings stand Merelan auf, murmelte, sie müsse ganz eilig zu Lorra, und verließ das Zimmer. Wäre sie noch einen Augenblick länger geblieben, hätte sie sich in Tränen aufgelöst oder ihrem gefühllosen Ehemann etwas an den Kopf geworfen.
Hastig warf sie sich eine Jacke über die Schultern, dann hetzte sie, ohne eine Pause einzulegen, die Treppen hinunter. Als sie hinaustrat in die abendliche Kühle, wusste sie, dass sie ihrem Mann gegenüber nie wieder Robies Musikalität erwähnen würde. Ein so talentiertes Kind hatte Petiron gar nicht verdient.
***
»Robinton ist den anderen Kindern weit voraus«, erklärte Kubisa Merelan anlässlich der alljährlichen Einstufung, die im Frühling stattfand. »Er brütet über jeden Bericht, den Ogolly ihm zum Lesen gibt. Ogolly lässt ihn sogar einige der einfacheren Dokumente über den letzten Fädenfall kopieren. Aber man sollte Robie nicht von seinen Altersgenossen absondern. Er braucht ihre Gesellschaft und muss mit Gleichaltrigen spielen können. Und eines muss man ihm lassen – er lässt sich keine Frechheiten gefallen.«
»Aber das ist doch kein echtes Problem, oder?«
Merelan wusste, dass die Kinder und Lehrlinge oftmals auf einem jungen Burschen herumhackten, der sich in den Vordergrund drängen wollte, und gelegentlich neckten sie einen Jungen, der schwer von Begriff war. Doch die Lehrer ließen keinerlei Schikanen durchgehen und bestraften jeden, der sich gewalttätig aufführte oder mit Worten zu verletzen suchte.
Lehrlinge in ihrem letzten Ausbildungsjahr neigten hin und wieder zu ernsthaften Streitereien, doch diese wurden im Allgemeinen durch einen offiziellen, von einem Gesellen beaufsichtigten Ringkampf beigelegt. Der Beruf des Harfners war hoch angesehen und brachte viele Privilegien mit sich, sodass nur wenige Lehrlinge das Risiko eingingen, wegen groben Fehlverhaltens nicht in den Gesellenstand aufsteigen zu dürfen. Doch im vierten Lehrjahr kam es unweigerlich immer wieder zu Eifersüchteleien und Rivalitäten.
»Ich will ganz ehrlich sein, Merelan. Manche Kinder sind neidisch auf Robies schnelle Auffassungsgabe.«
»Nun ja, dafür kann ich ihn ja nicht bestrafen«, versetzte Merelan hitzig.
Kubisa hob beschwichtigend beide Hände. »Schon gut, Mutter, und ich nenne bewusst keine Namen«, fügte sie rasch hinzu, ehe Merelan eine Frage stellen konnte. »Das ist mein Problem, und damit werde ich fertig. Ich frage Rob, ob er ein paar Schülern, die schwer lernen, Nachhilfeunterricht gibt. Der Junge hat sehr viel Geduld, mehr als ich, wenn ich nur an diesen kleinen Lümmel Lexey denke.«
»Lexey? Boslers Jüngster?«
»Lexey kommt in der Schule nicht so recht mit, aber Rob hat mit ihm so lange geübt, bis er die Lektionen auswendig kannte.« Kubisa stieß einen Seufzer aus. »Die Kinder von Müttern, die bei der Geburt schon etwas älter sind, bleiben nicht selten in ihrer Entwicklung zurück. Und Rob hat ein Lied komponiert, das Lexey hilft, sich die Namen der Burgen zu merken.« Aus einer Mappe zog sie ein Stück Leder, das schon so oft saubergeschabt worden war, dass es beinahe durchsichtig wirkte. Sie reichte es Merelan. »Robie ist ein sehr fürsorgliches Kind und der geborene Lehrer.«
Die Meistersängerin erkannte sofort die Handschrift ihres Sohnes. Leise summte sie die Melodie, eine schlichte Weise in C-Dur, eingängig und leicht nachzusingen.
Zuerst kam Fort, danach Süd-Boll. Ruatha folgte, und Tillek gleich darauf. Sodann gab's Benden, und später Nord-Telgar … Der Rhythmus unterstützte hervorragend den Text, den es sich zu merken galt.
»Nicht schlecht«, meinte Merelan.
»Nicht schlecht?« Kubisa funkelte sie empört an. »Für ein Kind, das erst fünf Planetenumläufe alt ist? Es ist brillant. Washell möchte, dass ich das Lied im Unterricht als Lehrballade einsetze.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Aber Petiron werden wir nichts verraten«, betonte Kubisa beinahe trotzig. »Ich fordere Rob nie auf, irgendwelche Lieder zu schreiben. Er macht es von sich aus. Soll ich es ihm etwa verbieten, Merelan?«
»Nein, natürlich nicht, Kubisa. Ich danke dir für dein Verständnis.«
Das Gespräch beunruhigte Merelan eine Zeit lang, aber sie bekam keine Gelegenheit, Petiron von den Fortschritten seines Sohnes zu berichten. Wie immer, konzentrierte er sich auf seine Arbeit. Dieses Mal schrieb er Kompositionen für eine Vermählung in Nerat.
Er komponierte ein Duett für Merelan und Halanna und ein höchst anspruchsvolles Quartett, bei dem ein begabter junger Tenor mitwirkte, der kurz davor stand, die Tische zu wechseln und zum Gesellen aufzusteigen.
Petiron klagte ständig über den Mangel an guten Tenören, und Merelan nährte insgeheim die Hoffnung, dass Robie auch nach dem Stimmbruch in dieser Tonlage singen würde. Jetzt sang er noch einen reinen, perfekten Knabendiskant, obschon sein Vater dies gar nicht zur Kenntnis nahm. Manchmal war Merelan froh, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte und auch kein Kind in Pflege nehmen durfte.
***
In diesem Frühling hatte Robinton ein Erlebnis, das einen tiefen Eindruck bei ihm hinterließ: Er begegnete zum ersten Mal einem Drachen.
Von der Existenz der Drachen hatte er gewusst, und gelegentlich sah man ein Geschwader, das im Formationsflug hoch droben am Firmament dahinstrich. Ihm war auch bekannt, dass der Fort Weyr seit mehreren hundert Planetenumläufen leer stand und niemand den Grund dafür kannte. Aus Liedern und Lehrballaden wusste er, welche Aufgabe die Drachen erfüllten: Sie bekämpften die Fäden, obwohl er nicht verstand, was an diesen Fäden so gefährlich sein sollte. Die Kleidung der Menschen bestand aus Fäden, und sie würden doch nicht etwas am Leib tragen, das ihnen Schaden zufügte.
Als er Kubisa während des Schulunterrichts danach fragte, erklärte sie, die Fäden, die in den Balladen gemeint waren, seien lebendige Organismen und nicht Fasern oder Garne, aus denen man seine Kleidung webte. Jene bösen Fäden fielen vom Himmel und fraßen gierig alles auf, was sich in ihrer Nähe befand, Gras, Herdentiere und sogar Menschen.
Ihre jungen Zuhörer wurden bei ihren Schilderungen ganz still, und kein Mucks war zu hören, als sie erklärte, wie die Drachen die Hallen und Burgen vor den Fäden schützten. Zum Schluss schlug sie einen optimistischen Ton an. Die gefährlichen Fäden könnten den Bewohnern von Pern vermutlich nichts mehr anhaben, und höchstwahrscheinlich würde keiner von ihnen jemals auch nur einen einzigen Fädenfall miterleben.
»Aber warum singen wir dann diese Balladen?« erkundigte sich Robie.
»Wir singen sie, um an die Zeiten zu erinnern, als die Drachen uns vor dieser Gefahr beschützten«, erwiderte sie.
Robinton erkundigte sich bei seiner Mutter, was es mit den Fäden auf sich hätte, und erhielt von ihr eine ähnliche Antwort. Doch die trug nicht dazu bei, seinen Wissensdurst zu stillen. Wenn die Drachen so wichtig waren, dass sie immer noch am Himmel von Pern patrouillierten, dann musste ihre Bedeutung größer sein, als die dürftigen Auskünfte besagten. Offenbar schafften sie es tatsächlich, diese verheerenden Organismen zu vernichten, doch wieso gab es dann nur noch so wenige Drachen? Früher bewohnten sie den Planeten in Scharen, und mittlerweile waren fünf Weyr verwaist. Würden die restlichen Drachen ausreichen, Pern zu schützen, wenn die Fäden eines Tages doch wiederkamen?
Lexey hatte ihm einmal erzählt – er vertraute Rob vieles an, weil der ihm zuhörte – seine Mutter würde ihn mit der Drohung in Schach halten, ihn bei einem Fädenregen draußen zu lassen, wenn er nicht brav wäre.
»Du weißt doch immer alles, Rob. Ob sie das wirklich tun würde?« erkundigte sich Lexey ängstlich. Die Warnungen seiner Mutter bewirkten immerhin, dass er sich – wenn auch nur kurzfristig – gesitteter aufführte als sonst.
»Von einer solchen Strafe habe ich noch nie gehört, egal, was jemand angestellt hat«, sinnierte Rob. »Außerdem fallen zur Zeit keine Fäden vom Himmel.«
»Ob es wohl Fäden regnen würde, wenn ich einmal richtig ungezogen wäre?«
»Erst gestern warst du doch richtig frech, und trotzdem sind keine Fäden gefallen«, hielt Rob ihm sachlich entgegen. »Als man dir sagte, du solltest mit den Malfarben sorgfältiger umgehen, hast du sie absichtlich überall hingeschmiert.«
»Ja, das war toll, nicht?« Lexey grinste selbstgefällig. »Es hat Spaß gemacht, die alte Kubisa zu ärgern.« Während Kubisa zu einer Besorgung unterwegs war, hatte er sämtliche Wände des Klassenzimmers mit Farbe beschmiert. Hinterher musste er die Wände säubern – was Lexey beinahe genauso viel Vergnügen bereitete, wie sie zu beschmutzen – und Kubisa hatte ihn ordentlich ausgeschimpft. Hinterher bekam er tüchtige Schelte von seiner Mutter, als er mit der dreckigen Kleidung nach Hause kam. »Meine Mutter war sehr wütend auf mich«, vertraute er Robie an. Auch dies schien ihm eine Art Befriedigung zu verschaffen, was Robie unbegreiflich fand; denn er bemühte sich immer, seinen Eltern keinen Ärger zu bereiten, vor allen Dingen wollte er bei seinem Vater nicht unangenehm auffallen.
Lexeys Streich mit den verschmierten Farben passierte an dem Tag, ehe die Drachen eintrafen und sich in dem großen Innenhof der Harfnerhalle niederließen. Robintons Eltern packten ihre Sachen für die Reise nach Nerat, und ihm hatte man gesagt, er solle nach draußen gehen und spielen.
Seine Mutter würde er vermissen, doch er blieb gern bei Kubisa und ihrer Tochter Libby. Dort konnte er nach Herzenslust singen, Flöte spielen oder trommeln, ohne befürchten zu müssen, seinen Vater zu stören.
Im Augenblick spielte er mit Libby Hüpfen, das heißt, er musste von einem mit Kreide gemalten Kästchen in das nächste springen, ohne die Striche auf dem Steinpflaster zu verschmieren. Mit äußerster Konzentration achtete er auf seine Füße, bis Libby laut aufschrie und mit ausgestrecktem Arm in den Himmel deutete. Vor Schreck machte Robie prompt einen Patzer.
»Das ist nicht fair …« protestierte er.
Sein Vorwurf blieb ihm in der Kehle stecken, als auch er nach oben schaute und die Drachen erblickte. Sie schienen die Harfnerhalle anzusteuern und nicht die Burg, wo sie normalerweise landeten.
Ein halbes Geschwader, sechs Drachen, näherte sich in immer enger gezogenen Kreisen. Als sie mit angelegten Schwingen und nach unten gereckten Hinterbeinen inmitten des Karrees der Harfnerhalle niedergingen, pressten sich Robie, Libby und Lexey dicht gegen eine Mauer, um nicht von ihnen erfasst zu werden. Zwei der Drachen mussten außerhalb der Umfriedung zur Landung ansetzen, da die vier anderen den Hof vollständig ausfüllten.
Der gezackte Schwanz eines Bronzedrachen lag so dicht vor Robie, dass er ihn mit den Fingern antippen konnte. Er überwand seine Scheu und streichelte die bronzefarbene Haut, derweil Lexey ihn mit weit aufgerissenen Augen anglotzte, fassungslos über diese Tollkühnheit.
»Dich lassen sie beim Fädenfall ganz bestimmt draußen, Robie«, flüsterte Lexey heiser und drückte sich noch enger an das Gemäuer heran, möglichst weit weg vom Schwanz des Drachen.
»Seine Haut fühlt sich ganz weich an«, wisperte Robie überrascht. Renner besaßen ein weiches Fell, desgleichen die Hunde; die Haut eines Wachwhers indessen war hart und ein bisschen ölig. Das wusste er, weil er den alten Nick, der die Harfnerhalle bewachte, gelegentlich kraulte. Aber waren Wachwhere nicht auch eine Art Drachen, so wie Renner zur Familie der Herdentiere gehörten?
Wachwehre sind ganz und gar nicht mit uns verwandt, ertönte eine Stimme in Robies Kopf. Der Drache drehte seinen riesigen Schädel herum, um nachzusehen, wer ihn berührte. Lexey stieß ein erschrockenes Zischen aus und Libby begann vor Angst zu wimmern. Im Gegenteil, wir sind völlig verschieden.
»Ich bitte um Entschuldigung. Ich wollte dich nicht beleidigen, Bronzedrache«, erwiderte Robie und vollführte eine ruckartige kleine Verbeugung. »Aber ich habe noch nie zuvor einen von euch aus der Nähe gesehen.«
Wir besuchen die Harfnerhalle nicht mehr so oft wie früher. Es musste der Drache sein, der zu ihm sprach, schloss Robie, denn die tiefe Stimme konnte nur von ihm stammen. Der Reiter war abgesessen und stand auf der Treppe, wo er sich mit Robies Eltern unterhielt.
»Werden meine Mutter und mein Vater auf dir nach Nerat reiten?« Robie wusste, dass die Drachen gekommen waren, um die Harfner zu den Vermählungsfeierlichkeiten zu befördern. Seine Mutter hatte es ihm erzählt. Dadurch ersparten sie sich eine lange Reise über Land, und ein Ritt auf einem Drachen galt als eine hohe Ehre.
Sind sie Harfner?, erkundigte sich der Drache.
»Ja. Meine Mutter ist die Meistersängerin Merelan, und mein Vater ist Meister Petiron. Er hat die Musik für das Fest geschrieben.«
Wir freuen uns schon darauf, sie zu hören.
»Ich wusste nicht, dass Drachen Musik lieben«, platzte Robie verblüfft heraus. In seinem Unterricht war die Musikalität der Drachen nie erwähnt worden.
Wir sind sogar ganz versessen auf Musik. Dasselbe gilt für meinen Reiter, M'ridin. Robie entging nicht, wie liebevoll der Drache den Namen seines Reiters aussprach. Er hat ausdrücklich darum gebeten, deine Mutter und deinen Vater transportieren zu dürfen. Es erfüllt uns mit Stolz, eine Meistersängerin nach Nerat zu bringen.
»Mit wem sprichst du eigentlich, Robie?« fragte Libby. Sie blickte immer noch ängstlich drein, weil Robie so anmaßend war, sich dem riesigen, Furcht einflößenden Drachen zu nähern.
»Mit dem Drachen natürlich«, antwortete Robie. Er hatte nicht das Gefühl, an diesem Dialog könne etwas Ungewöhnliches sein. »Du gibst gut auf meine Eltern Acht, nicht wahr, Drache?«
Selbstverständlich!
Robie war sich sicher, dass der Drache verstohlen lachte. »Worüber amüsierst du dich?«
Ich habe einen Namen, weißt du.
»Na klar weiß ich, dass jeder Drache einen Namen hat. Aber deinen kenne ich nicht. Wir sind uns doch gerade erst begegnet.« Aus dem Augenwinkel schielte Robie zu seinen Freunden hin. Er wollte sich vergewissern, ob sie auch mitbekamen, wie tapfer er war. Und wie höflich.
Ich heiße Cortath. Und wie heißt du, mein Kleiner?
»Robie … Robinton. Und du fliegst auch ganz vorsichtig, wenn meine Eltern auf deinem Rücken sitzen?«
Verlass dich drauf, Robinton.
Beruhigt ließ Robie das Thema fallen und ergriff die einmalige Gelegenheit um zu fragen: »Wirst du gegen die Fäden kämpfen, wenn sie zurückkommen?«
Der Schwanz zuckte so heftig, dass er beinahe Lexey und Robinton, die ihm am nächsten standen, von den Füßen fegte. Der Drache schwenkte seinen wuchtigen Leib herum und rückte mit dem riesigen Kopf ganz dicht an Robinton heran. Die Facettenaugen wirbelten wie rasend und nahmen dabei alle möglichen Farbschattierungen an, bis sie in einem feurigen Orangerot glühten.
Drachenreiter müssen streiten, wenn Silberfäden vom Himmel gleiten, lautete die unmissverständliche Antwort.
»Du kennst das Lied?« fragte Robie erfreut.
Doch ehe Cortath etwas erwidern konnte, tauchte der Reiter neben seinem Kopf auf und drehte ihn herum, damit der Bronzedrache Merelan und Petiron bemerkte, die neben ihm standen. Hinter ihnen hielt sich ein sichtlich nervöser Lehrling mit den Packsäcken bereit.
»Robinton, was hast du hier zu suchen?« herrschte Petiron seinen Sohn an und wollte ihn davonscheuchen.
»Wir haben im Hof gespielt, und Cortath landete mitten auf unseren Hüpfkästchen …« Bei diesen Worten lupfte der Drache höflich seine ausladenden Tatzen. »Schon gut, Cortath. Du hast die Striche ein bisschen mit deinem Schwanz verwischt, aber wenn du weg bist, ziehen wir sie nach.«
»Robinton!« donnerte Petiron und furchte drohend die Stirn. Robie warf einen schüchternen Blick auf seine Mutter und sah, dass sie ein Lächeln andeutete. Er verstand nicht, warum sein Vater so wütend war. Was hatte er falsch gemacht?
»Cortath sagt, er habe die Unterhaltung mit Ihrem Sohn genossen, Meister Petiron«, erklärte M'ridin mit einem leisen Lachen. »Dieser Tage gibt es nicht viele Kinder, die mit einem Drachen sprechen möchten, wissen Sie.«
Robinton hörte den bedauernden Unterton heraus. Er öffnete schon den Mund, um zu sagen, dass er sich nur zu gern jederzeit mit Cortath unterhalten würde, doch seine Mutter gab ihm ein Zeichen, still zu sein, und Petirons Miene verfinsterte sich noch mehr. Also wandte er den Kopf ab und vermied es, die Erwachsenen anzuschauen.
»Geh aus dem Weg, Junge«, drängte Petiron und fuchtelte mit dem Arm.
Robinton sauste los und flüchtete sich in die Halle. Libby und Lexey überholten ihn, nur allzu froh, endlich das Weite suchen zu dürfen.
»Auf Wiedersehen, Cortath«, rief Robinton zurück. Als er sah, wie der Drache den riesigen Kopf nach ihm umdrehte, winkte er ihm zum Abschied fröhlich zu.
Wir werden uns Wiedersehen, Robinton, tönte Cortaths Stimme laut und deutlich.
»Splitter und Scherben, Rob, hattest du ein Glück!« beschied Lexey ihm neidisch.
»Und wie mutig du warst«, fügte Libby hinzu, die Augen groß wie Untertassen in ihrem sommersprossigen Gesicht.
Robie zuckte die Achseln. Er fand, er habe Glück gehabt, sich von seinem Vater keine Maulschelle einzufangen, doch für besonders mutig hielt er sich nicht. Obwohl er vielleicht einen Schnitzer begangen hatte, als er einen Wachwher mit einem Drachen verglich. Der pikierte Beiklang in Cortaths Stimme war seinen feinen Ohren nicht entgangen, und er konnte froh sein, dass sich der Drache danach überhaupt herabgelassen hatte, mit ihm zu sprechen, anstatt einfach mit dem Schwanz nach dem dreisten Bengel zu schlagen.
»Habt ihr gehört, was Cortath mir erzählt hat?« fragte er seine Freunde.
»Sie fliegen los!« schrie Lexey und deutete auf die Drachen, die sich mit einem kräftigen Absprung in die Lüfte schwangen. Während die enormen Schwingen Steinchen und Staub hochwirbelten, wandten sich die Kinder hastig ab, um ihre Gesichter zu schützen. Als sie bald darauf wieder hochblickten, kreisten die Drachen bereits über den spitzen Dächern der Harfnerhalle.
Robinton ruderte wie wild mit beiden Armen, als er Cortaths hell schimmernden bronzenen Leib und seine Passagiere erkannte, obwohl er glaubte, dass nicht einmal seine Mutter in diesem Moment zu ihm herabschaute. Im nächsten Augenblick war das gesamte Geschwader verschwunden, und der Innenhof wirkte verlassener denn je. Robie empfand eine merkwürdige Traurigkeit, weil der Drache fort war – als sei irgendeine wichtige Angelegenheit unerledigt geblieben, er konnte sich nur nicht denken, welche.
Er vergegenwärtigte sich, dass er eigentlich gar nicht wissen wollte, ob seine Freunde den Drachen auch gehört hatten. Schließlich hatte er, Robinton, die Unterhaltung geführt, und es war einzig und allein sein Abenteuer gewesen. Ein Abenteuer, das er nie vergessen würde. Von Natur aus war er nicht egoistisch und teilte gern mit anderen Kindern, aber es gab Dinge, die man am besten für sich behielt, weil sie andere nichts angingen. Sein Erlebnis mit dem Drachen wollte er allein genießen, in aller Stille.
Als Lorra bemerkte, dass Robinton ungewöhnlich schweigsam war, führte sie es auf die Abreise seiner Eltern zurück. Auf die Abreise seiner Mutter, korrigierte sie sich in Gedanken. Doch das erklärte nicht seinen verzückten Gesichtsausdruck oder das glückliche kleine Lächeln, wie wenn er gerade an etwas Schönes dächte.
Lorra nahm den kleinen Robinton gern in ihre Obhut. Er war ihr überhaupt nicht lästig. Am liebsten saß er in einer Ecke ihrer Küche und spielte auf der Flöte, die er immer in seinem Hosenbund bei sich trug. Die Weise, die er jetzt intonierte, war ihr fremd, aber er erfand andauernd neue Melodien. Später, als sie ihn zu Bett brachte, fragte sie ihn danach.
»Ja, ich habe mir das Lied selbst ausgedacht«, antwortete er schläfrig. »Es handelt von Drachen.«
»Du warst im Hof, als sie ankamen, nicht wahr? Ja, sicher, du hast dich von deinen Eltern verabschiedet.« Lorra zog ihm die Felldecke bis unters Kinn. »Demnächst musst du mir das Lied noch einmal vorspielen.«
»Nein, es ist nur für mich bestimmt«, murmelte er so leise, dass Lorra nicht so recht wusste, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Normalerweise konnte er es nicht erwarten, ihr eine neue Weise zu präsentieren. Weil sie ihm zuhörte, dachte sie mit heimlichem Groll, im Gegensatz zu seinem Vater, der Robie völlig übersah. Doch ehe sie Robie eine weitere Frage stellen konnte, war er eingeschlafen.
***
Im Spätherbst, als allgemein bekannt wurde, dass es in der Brutstätte des Benden Weyrs ein neues Gelege gab, begegnete Robinton zum zweiten Mal Drachen. Sie befanden sich auf Kandidatensuche. Robie wusste, was es mit der Suche auf sich hatte, denn in einer Lehrballade war davon die Rede. Jede Gildehalle und jede Burg war verpflichtet, die Person, die die Drachen als geeigneten Kandidaten für eine Gegenüberstellung auswählten, freizustellen und zur Brutstätte ziehen zu lassen.
Die meisten der Jungen und Mädchen, die dann in den Weyr gingen, wurden Drachenreiter, eine hohe Auszeichnung. Wenn Drachen Musik liebten, wie Cortath ihm verraten hatte, dann gefielen ihnen vielleicht Robintons Melodien, und sie würden sich über einen Drachenreiter mit musikalischer Ausbildung freuen. Wenn er das Alter erreicht hatte, um für eine Gegenüberstellung in Frage zu kommen, wäre er mindestens schon im zweiten Lehrjahr.
Als das Geschwader im Innenhof der Burg Fort landete, spielte Robie abermals Hüpfen – mit Lexey, Libby, Curtos und Barba. Barba war nicht seine liebste Spielgefährtin, denn sie neigte dazu, andere Kinder herumzukommandieren. Doch in dem Augenblick, als die Drachen aufsetzten, fing sie an zu kreischen und rannte in die Halle. Auch Robinton hetzte los – so schnell er konnte, lief er zu den Drachen hin.
»Cortath?« rief er aufgeregt und flitzte über den großen Hof, wo sich die drei Bronzedrachen breit machten. Er wieselte an den grünen und blauen Drachen vorbei, nicht ahnend, dass genau diese Farben sensibel auf potenzielle Kandidaten reagierten.
Cortath ist heute nicht mitgekommen.
Keuchend blieb Robie stehen und bemerkte nun selbst, dass sein guter Freund nicht dabei war. »Aber ich wollte mit ihm sprechen«, erklärte er, vor Enttäuschung den Tränen nahe.
Ich werde ihm ausrichten, dass ein Harfnerjunge seine Abwesenheit bedauerte.
»Ich bin kein Harfner … noch nicht«, stellte Robinton richtig und wandte sich an den Drachen mit der ziemlich dunklen bronzenen Haut, der sich ihm gedanklich mitgeteilt hatte. »Könntest du dich vielleicht mit mir unterhalten? Im Augenblick habe ich nichts zu tun. Verrätst du mir, wie du heißt?« Zum Zeichen seines Respekts deutete er eine Verbeugung an.
Natürlich. Mein Name ist Kilminth, und mein Reiter heißt S'bran. Und mit wem habe ich es zu tun, Junge?
Als ob du dir seinen Namen merken könntest, mischte sich ein anderer Drache ein. Seine Haut besaß eine noch dunklere Färbung als die von Kilminth. Er ist doch noch ein Kind.
Ja, aber ein Kind, das sich mit Drachen verständigen kann. Ich werde mit ihm plaudern, solange unsere Reiter anderweitig beschäftigt sind. Es ist schön, einem Kind zu begegnen, das die Sprache der Drachen hört.
Als Kandidat kommt er nicht in Frage. Er ist zu jung.
Kümmere dich nicht um Calanuth, richtete Kilminth das Wort an Robie. Er ist selbst noch jung und hat keine Ahnung.
Aber du weißt wohl alles, wie?
Sei still und leg dich in die Sonne, beschied Kilminth ihm hochmütig und neigte seinen mächtigen Kopf zu Robinton hinab.
Robie wurde ein bisschen nervös, als der gigantische Schädel so dicht neben ihm auftauchte. Die Augen, die beinahe größer waren als der recht stämmige Bub, schimmerten grün und kreisten gemächlich in ihren Höhlen. In den Facetten, die ihm am nächsten waren, erkannte er sein Spiegelbild, und bei dem Anblick wurde ihm schwindelig. Die obersten Facetten jedoch reflektierten das Sonnenlicht und den Himmel. Ob einem Drachen durch die mannigfachen Wahrnehmungen auch manchmal schwindelig wurde?
Nein, aber die Facettenaugen vermögen Fäden zu erkennen, die direkt über unseren Köpfen vom Himmel fallen.
»Weißt du, wann es das nächste Mal Fäden regnen wird?«
Der Drache nahm sich so viel Zeit mit der Antwort, dass Robie anfing, seine Frage zu bereuen.
Die Sternsteine verraten es uns.
»Sie können sprechen?« Von den Sternsteinen hatte Robinton noch nie etwas gehört. Er kannte den Augenstein und den Fingerfelsen, aber nicht die Sternsteine.
Das sind die Sternsteine.
»Ach so!«
Der Drache hob seinen wuchtigen Kopf und richtete den Blick auf einen fernen Berggipfel. Die Bewegung erschreckte Robie ein wenig, der sich furchtbar winzig vorkam, doch um keinen Preis wäre er auch nur einen Schritt zurückgewichen. Das Gespräch mit einem Drachen war viel zu kostbar, um es vor lauter Angst abzubrechen. Hast du die Sternsteine von Fort Weyr noch nie gesehen?
»Niemand darf zum Weyr hochklettern«, erwiderte Robinton mit großen Augen.
Aha.
»Warum stimmt dich das traurig, Kilminth?« fragte Robie.
Der Drache senkte seinen Kopf wieder nach unten. Die sonst so lebhaft funkelnden Augen hatten sich verfinstert und in dem Blick lag eine tiefe Traurigkeit.
Der Weyr steht schon so lange leer.
»Werden die Drachen und die Weyrleute irgendwann einmal zurückkehren?« wollte Robie wissen.
Ja, wenn die Fäden fallen.
»Nanu, zumindest einen tapferen jungen Mann gibt es hier in Burg Fort.« Ein großer, schlanker Reiter kam herbeigeschlendert und zerstrubbelte Robintons Haar.
»Ich bin von der Harfnerhalle, Bronzereiter S'bran«, erklärte Robie.
»Wie ich sehe, hast du mit meinem Freund geplaudert und von ihm meinen Namen erfahren.« S'bran ging in die Hocke, um auf einer Höhe mit Robie zu sein. Seine blauen Augen blitzten fröhlich. »Ob du aus der Harfnerhalle oder aus der Burg kommst, spielt keine Rolle. Aber du bist der Richtige. Möchtest du Drachenreiter werden, wenn du groß bist?«
»Sehr gern, S'bran, aber ich werde Harfner.«
»Und das gefällt dir?«
Robinton nickte heftig mit dem Kopf. »Meine Mutter sagt, aus mir würde der beste Harfner, den es je gegeben hat. Kann man gleichzeitig Harfner und Drachenreiter sein?«
S'bran lachte, und Kilminths Augen begannen schneller zu kreisen. Robinton klappte vor Staunen den Mund auf. Lachten Drachen auf diese Art und Weise, indem sie ihre Augen wirbeln ließen?
Nein, wenn wir lachen, klingt das so. Der Laut, der aus Kilminths Kehle tönte, hörte sich an wie S'brans Lachen.
Robinton war entzückt und fing an zu kichern. »Ich wusste gar nicht, dass Drachen lachen können.«
Das Kichern des Jungen wirkte so ansteckend, dass S'bran und Kilminth einfielen, wobei der Reiter eine volle Terz höher lachte als sein Drache. Robinton war von der vollendeten Harmonie begeistert.
»Beeil dich, S'bran!« rief ein anderer Reiter über den Hof. »Wir müssen heute noch drei weitere Stationen anfliegen.«
»Schon gut, schon gut, ich komme«, rief S'bran zurück. Er stellte sich wieder aufrecht hin und zauste zum Abschied noch einmal Robies Schopf. Dann sprang er auf Kilminths erhobenen Arm und schwang sich zwischen die Rückenwülste des Drachen. »Tritt lieber ein Stück zur Seite, Junge. Beim Hochfliegen werden wir eine Menge Staub aufwirbeln.«
Robinton sauste los, drehte sich jedoch in dem Moment wieder um, als er das Schlagen der kraftvollen Schwingen hörte. Mit einem Arm schützte er sein Gesicht vor dem hochspritzenden Sand und den Steinchen, mit dem anderen ruderte er Abschied nehmend heftig in der Luft.
Bis zum nächsten Mal, Harfnerjunge, hörte er Kilminths Stimme in seinem Kopf. Dann schraubten sich die Drachen in eleganten Spiralen in die Höhe und entschwanden im Dazwischen. Abermals empfand Robinton eine innere Leere, wie damals, als Cortath weggeflogen war.
Er stieß einen schweren Seufzer aus. Auf seine Frage, ob jemand Harfner und Drachenreiter zugleich sein konnte, hatte er keine Antwort erhalten. Das hieß wohl, dass es nicht möglich war. Seine Mutter würde sich darüber freuen. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass aus ihm ein Harfner würde, und diese Ausbildung kostete viel Zeit und Arbeit. Wenn die Drachenkönigin das nächste Mal Eier legte, wäre er für eine Gegenüberstellung vielleicht schon zu alt. Auf ganz Pern gab es ja nur noch eine einzige Königin, und sie hütete nicht oft ein Gelege.
Vorsichtig in die fein gezogenen Rillen tretend, die die Drachen mit ihren Schwingen im Boden des Innenhofs hinterlassen hatten, ging Robie in die Harfnerhalle zurück. Zum Spielen hatte er keine Lust mehr. Er wollte eine Weile allein sein und in Gedanken sein Gespräch mit Kilminth Wort für Wort wiederholen. Desgleichen die Unterhaltung mit Cortath. Diese beiden Ereignisse waren für ihn ungeheuer wichtig, und sie bezogen sich ausschließlich auf ihn. Niemand sonst hatte einen Anteil an ihnen.
»Hast du nicht gerade im Burghof gespielt, als die Drachen eintrafen?« fragte ihn seine Mutter später beim Abendessen. Während der Kandidatensuche hatte sie unterrichtet.
»Ja. Einer der Bronzedrachen heißt Kilminth«, sagte er, sonst nichts. Er hatte nicht die Absicht, noch mehr zu sagen. Vorsichtshalber füllte er seinen Mund mit Bohnen, damit er keine Fragen beantworten konnte.
»Schön«, erwiderte Merelan und freute sich über den herzhaften Appetit des Jungen. Manchmal aß er zu wenig, heute jedoch schien er einen Riesenhunger zu haben. »Weißt du schon, dass sie zwei junge Burschen für die Gegenüberstellung gefunden haben? Einer stammt aus der Harfnerhalle, der andere aus der Burg.«
»Wie heißt der Junge aus der Harfnerhalle?«
»Es ist Rulyar aus Nerat, ein Lehrling im zweiten Ausbildungsjahr«, sagte Merelan.
»Er spielt Gitarre und singt Tenor«, ergänzte Robie, insgeheim triumphierend. Vielleicht konnte er doch beides sein, Harfner und Drachenreiter.
»Woher weiß der Junge das?« staunte Petiron.
»Ach, Rulyar hat ein paarmal auf Rob aufgepasst, als ich abends zu Proben musste«, erklärte Merelan wie beiläufig. »Er erzählte mir, dass er seine jüngeren Brüder vermisst«, fügte sie hinzu und warnte Rob mit bedeutungsvollen Blicken, ja nicht zu verraten, dass Rulyar ihm bereits seit Monaten das Gitarrespielen beibrachte. Robie würde Rulyar nachtrauern, sollte er in den Weyr ziehen, doch gewiss fand sich für ihn ein anderer Gitarrenlehrer.
In dieser Nacht träumte Robinton von Drachen. Die mächtigen Tiere wirkten traurig und erschöpft und versuchten ihm etwas mitzuteilen, doch er konnte sie nicht hören. Seine Ohren waren wie verstopft, als hätte sich der vom Burghof hochgewirbelte Sand in ihnen festgesetzt. Dabei wünschten sich die Drachen so sehr, dass er verstand, was sie ihm zu sagen hatten – eine dringliche, belangvolle Botschaft, die speziell an ihn gerichtet war.
Dann sah er Rulyar, plastisch und klar umrissen, der auf einem braunen Drachen ritt. Rulyar winkte ihm zu und bemühte sich gleichfalls, ihm etwas anzuvertrauen, doch für eine Verständigung war die Entfernung zu groß.
Eine Siebenspanne später erfuhr Robinton zu seiner Überraschung, dass Rulyar tatsächlich einen braunen Drachen namens Garanath für sich hatte gewinnen können. Der Junge aus der Burg wurde von einem Grünen erwählt.
»Das war ja zu erwarten«, kommentierte sein Vater, doch Robie wagte es nicht, ihn zu fragen, was er damit meinte.