Kapitel 17
Im zweiten Monat des neuen Planetenumlaufs tauchte Nip völlig abgekämpft bei Robinton auf. Es war bereits spät in der Nacht.
»Fax ist wieder auf Beutezug«, verkündete er. Er warf seine abgewetzte Lederjacke auf den Boden, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es in einem Zug aus.
»Ich kann dir eine heiße Suppe geben«, schlug Robinton vor, als er Nips bläuliche Lippen bemerkte. Nip lehnte ab, schenke sich Wein nach und ging zum Kamin. »Was treibt er denn so?«
Robinton räumte seinen Platz, und dankbar ließ Nip sich in den freien Sessel sinken. Dann goss er sich selbst ein Glas Wein ein und rückte für sich einen Stuhl ans Feuer.
»Er hat sich eine perfide Methode ausgedacht, wie er sich kleine und größere Pachthöfe aneignen kann.«
»Erzähl. Ich bin ganz Ohr.« Robinton füllte Nips leeres Weinglas wieder auf. Er kredenzte den guten Benden Wein.
»Zuerst stattet er seinem anvisierten Opfer einen Besuch ab, macht ihm Komplimente, wie gut er sein Anwesen bewirtschaftet. Kauft auf, was immer die Höfe anzubieten haben, bezahlt mehr als den üblichen Preis …«
»Mit anderen Worten, er biedert sich an«, kommentierte Robinton.
»Genau. Dann schickt er einen seiner Männer in die betreffende Ansiedlung, unter dem Vorwand, er solle lernen, wie man unter den jeweils gegebenen Umständen so ertragreiche Ernten erzielt. Es ist erstaunlich, wie selbst kluge, umsichtige Menschen sich so leicht hinters Licht führen lassen.«
»Manche dieser Anwesen liegen so isoliert, dass die Bewohner höchstens einmal pro Planetenumlauf an einer Versammlung teilnehmen können – wenn überhaupt.«
»Das ist wahr.« Nip seufzte. »Nebenbei versucht er, durch Anspielungen oder offene Hetze – je nachdem, auf wie bereitwillige Zuhörer er stößt – der Harfnerhalle zu schaden. Er führt Beispiele für so genannte ›Harfnerlügen‹ an. Als Nächstes lädt er den Grundbesitzer samt seiner Familie ein, die Versammlung im Hochland zu besuchen. Und wenn derjenige zusagt, bietet er ihm an, ein paar seiner Leute auf sein Anwesen zu schicken, die die Felder bestellen oder das Vieh versorgen, bis der Pächter wieder daheim ist.«
»Und während dieser Zeit machen sich Fax' Handlanger gründlich mit den regionalen Gegebenheiten vertraut.«
»Richtig.« Schlückchenweise trank Nip den guten Wein. »Eine Pächterfamilie ist von ihrem Besuch im Hochland nie wieder aufgetaucht, und auf diese Weise gelangte Fax in den Besitz von Keogh. Eine kleinere Burg.«
»Wie viele Burgen nennt er jetzt sein eigen?«
»Vier.«
»Nicht schlecht.«
Robinton merkte, wie Nip trotz des Weines und des Kaminfeuers fröstelte. »Ich helfe dir, die Stiefel auszuziehen. Sie scheinen völlig durchnässt zu sein.«
»Du bist der Einzige, dem ich dieses Privileg gewähre«, scherzte Nip, streckte das linke Bein aus und stemmte den rechten Fuß gegen Robintons Hinterteil. »Obwohl ich eine Menge Leute kenne, die dem Meisterharfner von Pern gern einen Tritt in den Hintern geben würden.« Dann stieß er heftig zu – natürlich nur, damit Robinton ihm den Stiefel abstreifen konnte.
***
In der nächsten Zeit begnügte sich Fax damit, seine immer ausgedehnteren Grenzen abzureiten und seine Pächter zu noch mehr Fleiß anzufeuern.
Robinton konnte nicht ständig darüber nachgrübeln, was Fax im Schilde führte, denn er musste sich mit den Angelegenheiten der Harfnerhalle beschäftigen, die immer komplizierter wurden, weil die Vorurteile gegen diesen Berufsstand zunahmen. Doch als er hörte, dass Nemorth tatsächlich zu einem Paarungsflug aufgestiegen war und von Simanith begattet wurde, sandte er seine Glückwünsche. F'lon stattete ihm einen Besuch ab, und Robinton fiel auf, wie überaus selbstgefällig sein Freund dreinschaute.
»Wie ist es dir überhaupt gelungen, Nemorth zum Aufsteigen zu bewegen?« erkundigte sich Robinton und schenkte den Wein ein, den F'lon zur Feier des Tages mitgebracht hatte.
»Zuerst hungerten wir die beiden aus. Ich hätte nie gedacht, dass eine Drachenkönigin so viele Schwierigkeiten machen könnte. Sämtliche Bronzedrachen waren nötig, um ihr jede Beute wegzunehmen, die sie gerissen hatte. Des Nachts stahl sie sich aus dem Weyr auf der Suche nach Futter.«
»Wer? Jora oder Nemorth?«
F'lon blinzelte, und dann lachte er schallend. »Eigentlich sprach ich von Nemorth, aber ich glaube, Jora hatte jede Menge Proviant bei sich versteckt, denn sie nahm kein Gramm ab. Unsere Hauptsorge galt Nemorth. Wie die Reiterin, so der Drache. Als sie das nächste Mal in Hitze kam und ihre Haut glänzte wie flüssiges Gold, sorgten wir dafür, dass sie nichts fraß, sondern nur das Blut trank. Es war nicht einfach, sie zu befliegen, aber Simanith gab nicht auf. Fing sie ein und hat es ihr gut besorgt.«
Robinton verbiss sich ein Schmunzeln. Er fragte sich, wie F'lon seine korpulente Gefährtin bei dieser Gelegenheit beschlafen hatte, doch über bestimmte Dinge redete man nicht einmal mit seinem besten Freund.
»Dann wird sie also im kommenden Winter ihr Gelege absetzen.«
»Hoffen wir's.«
»Vielleicht wird es ja größer als die letzten.«
»Wir könnten wahrlich mehr Drachen gebrauchen. Ein Hoch auf die Drachen und ihre Reiter.« F'lon leerte sein Glas und warf es in den Kamin. Robinton folgte seinem Beispiel, obwohl er den Verlust der schönen Gläser bedauerte. »Zur Gegenüberstellung hole ich dich ab. Meine beiden Söhne stehen als Kandidaten zur Verfügung.«
Ehe Robinton ausgerechnet hatte, dass der Jüngste dann erst zehn wäre, war F'lon schon wieder zur Tür hinaus.
»Er muss es wissen, schließlich ist er der Weyrführer«, brummte Robinton. »Und die Drachen werden sicher die richtige Wahl treffen.« Wenigstens hoffte er es.
Noch in derselben Siebenspanne erhielt er einen weiteren Überraschungsbesuch.
Silvina klopfte an seine Tür. »Hier sind zwei Leute, die dich sprechen wollen, Rob«, erklärte sie lächelnd und ließ die Gäste eintreten.
Robinton stand auf, um die Ankömmlinge zu begrüßen: Ein grauhaariger Mann und ein schlaksiger, schüchterner Junge, der so ängstlich dreinblickte, dass Robinton ihm betont herzlich zulächelte. Mit einer Hand, an der zwei Finger fehlten, schob der Alte den Burschen nach vorn. Dann vollführte er vor dem Meisterharfner eine feierliche Verbeugung.
»Du kannst dich sicher nicht mehr an mich erinnern«, begann er das Gespräch. »Ich bin Merelans Vetter.«
Die verstümmelte Hand, die tiefe Stimme, das braune, wettergegerbte Gesicht und die vage vertrauten Züge des Mannes gaben Robinton einen Hinweis.
»Rantou?« rief er aus.
»Der bin ich.« Der Mann grinste breit. »Rantou aus den Wäldern. Ich hätte nie gedacht, dass du dich nach so langer Zeit noch an meinen Namen erinnerst.«
Robinton schüttelte die dargebotene Hand und bot den Besuchern an, Platz zu nehmen. Silvina entfernte sich, um für Erfrischungen zu sorgen.
»Es ist tatsächlich eine Ewigkeit her«, meinte Robinton. »Aber ich denke oft an diesen Sommer zurück, als ich im Meer schwimmen durfte und meine zahlreichen Cousins und Cousinen kennen lernte.«
»Wie ich hörte, starb Merelan vor einiger Zeit«, erwiderte Rantou mit ernster Miene. »Hin und wieder hörte ich sie auf Versammlungen in Süd-Boll singen.«
»Du hattest auch eine sehr schöne Stimme.«
Der Alte strahlte, und der Knabe rutschte verlegen auf seinem Stuhl hin und her, offenbar unsicher, wie er sich verhalten sollte.
Rantou räusperte sich und beugte sich nach vorn. »Nun, eine andere schöne Stimme ist der Grund für meinen Besuch.«
»Ach was!«
»Ja.« Rantou legte eine Hand auf die Schulter des Jungen. »Das ist mein Enkelsohn, Sebell. Er kann singen. Ich möchte ihn zum Harfner ausbilden lassen, falls sein Talent ausreicht.«
»Aber das ist ja herrlich, Rantou.«
»Hier hat er es besser als in den Wäldern. Ich werde nie vergessen, was dein Vater damals zu uns sagte«, fuhr er augenzwinkernd fort. »Viel hat er ja nicht von uns gehalten.«
»Oh, ich …«
»Streite es bloß nicht ab, Junge – ich meine, Meisterharfner.« Rantou erinnerte sich, dass er eine so bedeutende Persönlichkeit nicht kritisieren durfte.
Robinton lachte. »Du hast ja Recht. Aber er reagierte nur so ungehalten, weil er fand, hier würde ein großes musikalisches Talent verschwendet.«
»Deshalb möchte ich Sebell die Chance geben, etwas Besseres zu werden«, sagte Rantou. »Er ist klug, spielt Flöte – er hat sie übrigens selbst angefertigt – und auf unserer alten Gitarre. Kennt sämtliche Lehrballaden. Bei uns lässt sich nur selten ein Harfner blicken, unsere Gemeinde ist einfach zu klein, aber wir haben ihm beigebracht, was wir konnten.«
Robinton wandte sich an den Jungen, der nun tapfer das Kinn vorreckte. Er hatte denselben gebräunten Teint wie sein Großvater, einen von der Sonne gebleichten Haarschopf und weit auseinander stehende dunkle Augen, die neugierig das gesamte Zimmer inspizierten, angefangen von den Musikinstrumenten an den Wänden bis hin zu den Notenreihen auf dem Sandtisch.
Er mochte zehn oder elf Planetenumdrehungen alt sein, war sehr dünn, aber mit einem kräftigen Knochenbau ausgestattet. Die Hose, die er trug, war abgeschabt und viel zu kurz an den Knöcheln, aber peinlich sauber.
»Mein erstes Musikinstrument war auch eine Flöte«, erklärte Robinton freundlich und zeigte auf das Regal, auf dem sie lag.
Der Knabe blickte überrascht drein.
»Hast du deine Flöte mitgebracht?« erkundigte sich Robinton.
»Er hat sie immer bei sich«, antwortete sein Großvater stolz und nickte Sebell aufmunternd zu.
Der Junge fasste hinter sich und zog aus dem Hosenbund eine Flöte, die von dem lose fallenden Hemd verdeckt wurde.
Robinton stand auf und holte seine eigene Flöte aus den Kindertagen. Er schmunzelte, als seine Finger Mühe hatten, die Löcher zu bedecken, denn die Flöte war für die Hände eines Kindes bestimmt. Dann spielte er eine schnelle Tonfolge und sah Sebell auffordernd an. Der Junge grinste verschmitzt und wiederholte die Melodie fehlerfrei.
»Und wie ist es damit?« Robinton spielte ein kompliziertes Arpeggio.
Das Lächeln des Knaben zog sich in die Breite, als er die Flöte an die Lippen setzte und die Weise perfekt imitierte.
»Welche Lehrballade gefällt dir am besten?« fragte Robinton.
Der Junge begann mit der Ballade über die Pflichten, kein simples Stück, und Robinton begleitete ihn, indem er auf seiner Flöte Variationen der Melodie improvisierte. Sebells Augen funkelten angesichts der Herausforderung, und das Lied endete mit einem wahrhaft furiosen Finale, denn Sebell flocht eigene Modulationen ein.
Robinton lächelte erfreut. »Könntest du die Ballade jetzt singen, während ich dazu spiele?«
Der Knabensopran klang glockenrein, und man merkte, dass die Stimme bereits geschult worden war. Sebell kannte zumindest die Grundzüge der Atemtechnik. Der Text wurde mit exakt dem richtigen Maß an Betonung und Gefühl vorgetragen. Shonagar würde aus dem Häuschen sein über diesen neuen viel versprechenden Schüler.
»Man merkt, dass er mit dir verwandt ist, Rantou.«
»Er ist auch mit dir verwandt, Meister Robinton.«
»Ja, sicher, daran hatte ich noch gar nicht gedacht!« Robinton verdrängte den plötzlich aufkeimenden Wunsch, Sebell wäre sein Sohn und nicht der arme zurückgebliebene Camo. »Wir beide sind miteinander verwandt«, bekräftigte er und streckte dem Jungen die Hand entgegen. »Die Harfnerhalle nimmt dich mit Freuden auf, Sebell. Wir können uns glücklich schätzen, ein neues Talent ausbilden zu dürfen.«
»Selbstverständlich erwartet er keine Bevorzugung, auch wenn er dein Verwandter ist, Meister Robinton«, warf Rantou ein.
»Ich täte ihm gewiss keinen Gefallen, wenn ich ihn bevorzugen würde«, entgegnete Robinton.
In diesem Augenblick brachte Silvina die Erfrischungen. Sebell schielte nach den Keksen und schluckte.
»Silvina, ich möchte dir Sebell vorstellen, Rantous Enkel. Sie kommen aus der Heimatburg meiner Mutter und sind mit mir verwandt«, sagte Robinton.
Silvina stellte das Tablett auf den Tisch und streckte die Hand nach Sebell aus. Der sprang von seinem Sitz hoch und machte eine schüchterne Verbeugung, ehe er die Hand ergriff.
»Ein neuer Lehrling?« fragte Silvina interessiert.
»Und ein neuer Sopran, den Shonagar ausbilden kann. Der Junge spielt auch ausgezeichnet Flöte«, erzählte Robinton stolz. Vor Freude über diesen talentierten Neuzugang zauste er die weißblonden Haare des Buben. »Als ich Rantou kennen lernte, war ich jünger als Sebell …«
»Ihr seid Verwandte der Meistersängerin Merelan?« vergewisserte sich Silvina, während sie Klah ausschenkte und die Süßwürze herumreichte.
»Ja, und wir waren sehr stolz auf sie«, antwortete Rantou mit schlichter Würde.
»Und das zu Recht«, räumte Silvina ein. Sie bedachte den neuen Lehrling der Harfnerhalle mit einem wohlwollenden Lächeln, und befangen lächelte der Junge zurück, als sie ihm den Teller mit Keksen hinhielt.
Sebell zog in die Harfnerhalle, ein ruhiger Junge, doch extrem wissbegierig, wenn es um Musik ging. Er schloss sich eng an Robinton an und folgte ihm wie ein Schatten. Nach einer Weile begann er mit Camo zu spielen. Er zeigte ihm, wie man einen Trommelstock hielt und damit die kleine Trommel bearbeitete, die Robinton für seinen Sohn gebaut hatte. Wenn Robinton die beiden Jungen zusammen sah, versetzte es ihm jedes Mal einen Stich ins Herz.
»Der Junge ist sehr lieb zu Camo«, erzählte Silvina ihm eines Abends. »Er ist gar nicht wie die anderen Lehrlinge, die immer irgendwelchen Schabernack aushecken, und den kleinen Camo scheint er aufrichtig gern zu haben.« Sie unterbrach sich und sah Robinton an. »Weißt du, Rob, in Sebell hast du einen Sohn ganz nach deinem Herzen. Und Sebell ist nicht der einzige Lehrling, der dich vergöttert. Gib ihnen ruhig die Liebe, die Camo nicht erwidern kann. Die anderen Jungen haben deine Zuneigung verdient, jeder auf seine Weise, und du nimmst Camo ja nichts weg.«
»Ich wünschte mir, ich könnte etwas für unser Kind tun«, seufzte Robinton.
»Du tust schon sehr viel für Camo. Er liebt dich. Wenn er deine Stimme hört, fängt er gleich an zu lächeln.«
Er sah ein, dass Silvinas Rat, er solle seine Aufmerksamkeit auf seine »vielen Söhne« konzentrieren, ein vernünftiger Vorschlag war. Also hörte er auf, darüber nachzugrübeln, was Camo alles nicht konnte, und akzeptierte ihn genauso unbefangen wie seine Mutter es längst tat. Er erfreute sich an seinem fröhlichen Lächeln und lobte ihn für jeden Fortschritt, den er machte. Mit der Zeit lernte Camo laufen, selbständig essen und einfache Arbeiten für seine Mutter zu erledigen – bei denen Sebell ihm oftmals half.
Gelegentlich erhielt Robinton Besuch von F'lon. Nemorth hatte immerhin vierundzwanzig Eier in den warmen Sand der Brutstätte gelegt, und nun wartete man gespannt auf das Schlüpfen.
Wenn Robinton manchmal um einen Transport auf einem Drachen bat, schickte F'lon den blauen Reiter C'gan. Robinton freute sich stets auf diese Treffen, denn C'gans unverwüstliche gute Laune wirkte auf ihn wie ein belebendes Elixier. C'gan holte ihn auch ab, als im Benden Weyr die Gegenüberstellungszeremonie kurz bevorstand und Robinton in seiner Eigenschaft als Meisterharfner dabei sein musste. Leider geschahen diese Ereignisse viel zu selten. Die Aufzeichnungen der Harfnergilde besagten, dass in früheren Zeiten wesentlich mehr Gegenüberstellungen stattfanden. Allerdings hatte es damals auch noch sechs Weyr gegeben.
»Der ältere Junge ist groß gewachsen, aber ich finde, Manoras Sohn ist noch ein wenig zu jung«, erzählte C'gan dem Meisterharfner, als sie zu dem blauen Tagath eilten, der ungeduldig im Hof wartete. Der blaue Reiter hatte Robinton nur wenige Minuten Zeit gelassen, um sich ein passendes Festtagsgewand anzuziehen, und nun hob er ihn beinahe auf Tagaths Rücken. »Aber F'lon setzt alles auf eine Karte, damit beide Jungen Drachenreiter werden. Es gibt ja wirklich nicht mehr viele Gelege, die zudem noch wesentlich kleiner ausfallen als früher. Für häufige Paarungsflüge ist Nemorth auch viel zu fett. Und nun hoch mit dir!«
»Guten Tag, Tagath«, grüßte Robinton und streichelte die blaue Schulter, während er sich zwischen die Nackenwülste setzte. Die Gitarre hielt er auf dem Schoß.
Tagath drehte den Kopf und sah Robinton an. Jeder Tag, an dem junge Drachen schlüpfen, ist ein guter Tag, Harfner.
»Er hat mir geantwortet!« freute sich Robinton.
»Mein Tagath ist nicht besonders gesprächig. Auch mit mir unterhält er sich nicht oft. Es tut ihm gut, wenn er mal mit einem Außenstehenden plaudert.«
Tagath sprang mit einem wuchtigen Satz in die Höhe, und Robintons Nase prallte gegen die Stimmwirbel seiner Gitarre. Robinton betastete noch seine Nase, um festzustellen, ob sie blutete, da gab C'gan auch schon das Kommando zum Sprung ins Dazwischen.
Im nächsten Moment schwebten sie über dem Benden Weyr, und Robinton stockte der Atem. Im Kraterkessel wimmelte es von Leuten, die zur Brutstätte strömten. Drachen zogen immer engere Kreise über dem erloschenen Vulkankegel, ließen sich auf felsigen Galerien nieder und fädelten sich durch die engen Tunnel der Bergflanke, die zu der Brutkaverne führten. Facettenaugen glühten in allen Schattierungen von Blau und Grün, durchsetzt von gelben Funken, die von ihrer Aufregung zeugten.
Tagath landete unweit des Eingangs zur Brutstätte. Ein durchdringendes Summen verriet Robinton und C'gan, dass das Schlüpfen kurz bevorstand.
Robinton glitt von Tagaths Rücken hinunter, bedankte sich für den Ritt und schloss sich den Menschen an, die in die Kaverne eilten.
»Hierher, Rob!« brüllte F'lon und winkte ihn zu sich. Er saß auf einer erhöhten Felsenplatte, auf der auch Nemorth hockte. »Ich habe schon auf dich gewartet.«
Zur anderen Seite der Drachenkönigin hatte sich Jora breit gemacht. Ihr giftgrünes Gewand vermochte ihre Fettleibigkeit nicht zu kaschieren und ihr einstmals hübsches Gesicht besaß überhaupt keine Konturen mehr. Robinton verbeugte sich höflich vor ihr und dann vor Nemorth, deren Aufmerksamkeit dem kleinen Gelege in der Arena mit heißem Sand galt. Jora lächelte nervös, derweil ihre feisten Finger hektisch an ihrem Kleid zupften und feuchte Knitterfalten hinterließen. Robinton bemühte sich immer, nett zu ihr zu sein, denn er wusste, dass F'lon ihr das Leben schwer machte.
»Ich hatte schon befürchtet, du seist nicht in der Harfnerhalle«, erklärte F'lon, griff nach Robintons Hand und drückte sie so fest, dass Robinton aufschrie.
»Brich mir nicht die Finger, F'lon«, beschwerte er sich, zog die Hand zurück und tat so, als untersuche er sie auf Verletzungen.
»Das hätte gerade noch gefehlt. Sollten meine Söhne heute ausgewählt werden, wirst du dieses Ereignis doch hoffentlich in einer Ballade verewigen.«
F'lon schwankte offensichtlich zwischen der Zuversicht, dass beide Jungen einen Drachen für sich gewinnen konnten, und der Furcht, sie könnten leer ausgehen.
»Zeig mir deine Jungen«, bat Rob. »In diesem Alter wachsen Kinder so schnell, dass ich sie auf Anhieb gar nicht erkenne.«
»Es sind die beiden Buben dort links … Siehst du sie? Alle Jungen tragen natürlich weiße Sachen, aber Fallarnon hat meine Haarfarbe, und Famanoran ähnelt seiner Mutter. Du erinnerst dich doch an Manora? Sie behielt einen kühlen Kopf in der Nacht, als S'loner starb.«
»Deine Jungen gleichen einander«, meinte Robinton, der die Knaben entdeckt hatte. »Und jetzt entspann dich, F'lon. Es wird schon klappen.«
»Bist du sicher?« F'lon war äußerst nervös.
»Das fragst du mich?«
»Ja, ich frage dich.«
Er fragt dich wirklich, ließ sich Simanith vernehmen.
»Natürlich werden alle beide Drachenreiter sein. Etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Ruhig Blut, F'lon. Genieße den erhabenen Augenblick.«
F'lon wirkte genauso zappelig wie Jora. Ständig peilte sie um Nemorths Kopf herum. Robinton verspürte Mitleid mit der armen Frau, die von ihrer Aufgabe als Weyrherrin sichtlich überfordert war.
»Simanith schließt sich meiner Meinung an«, fügte Robinton hinzu und spähte zu dem Bronzedrachen hinauf, der auf dem Felssims über seiner Königin Posten bezogen hatte. Simanith zwinkerte mit den schimmernden, gemächlich kreisenden Augen.
»Er muss es ja wissen, nicht?« gab F'lon zurück. Beim ersten knackenden Geräusch, das das Zerplatzen einer Eischale anzeigte, umklammerte er Robintons Arm mit einem schraubstockähnlichen Griff.
Robinton wehrte sich nicht, obwohl ihm die Umklammerung wehtat. Ein bisschen amüsierte er sich über den sonst so zuversichtlichen, stolzen und kampfeslustigen Weyrführer, der nur noch ein Nervenbündel war.
»Es ist ein Bronzedrache!« schrie F'lon und drückte mit der Hand noch fester zu.
»Vorsicht«, warnte Rob seinen Freund. »Ich möchte keine Blutergüsse haben.«
»Aber wenn ein Bronzedrache als Erster schlüpft, gilt das als gutes Omen«, beharrte F'lon.
»Immer mit der Ruhe!«
Mit einem energischen Nasenstüber befreite sich der junge Bronzedrache aus seiner Eischale.
»Gut gemacht!« schrie F'lon. »Hast du das gesehen, Robinton?«
Robinton nickte. Aber ihm entging nicht der Ausdruck auf Joras erhitztem und angespanntem Gesicht. Auch für sie war der Ausgang dieser Gegenüberstellung wichtig.
Der kleine Bronzedrache kreischte vor Hunger und drehte auf seinen Tatzen einen Halbkreis. Nach kurzem Zögern watschelte er direkt auf F'lons Söhne zu. Gebieterisch stubste er den größeren Jungen an, derweil der jüngere Bruder zur Seite wich.
»Er heißt Mnementh!« rief der Junge überglücklich und drückte den feuchten Kopf des Jungdrachen an seine Brust.
F'lon stieß einen Laut aus, der halb wie ein Jubelschrei, halb wie ein Schluchzen klang. »Er hat es geschafft! Er hat es geschafft!«
Er schüttelte Robinton, hob ihn kurz hoch und stellte ihn wieder auf die Füße. Im nächsten Augenblick hetzte der Weyrführer über den heißen Sand, um dem frisch verbundenen Paar zu helfen.
Jora gab ein Schluchzen von sich, und Tränen strömten ihr über die Wangen. Der Blick, den sie Robinton zuwarf, war triumphierend und jämmerlich zugleich.
Drei weitere Eier zerplatzten, und Bronzedrachen kletterten heraus. Robinton fragte sich, ob dies für den Weyr ein gutes oder ein schlechtes Omen bedeutete. Dann beobachtete er den Vorgang, in dem Mensch und Tier aufeinander geprägt wurden. Laute Hochrufe und Freudenschreie aus einer bestimmten Gruppe zeigten an, dass zumindest ein neuer Drachenreiter aus der Burg stammte. Auch die danach schlüpfenden blauen und grünen Jungdrachen suchten sich ihre Partner nicht aus den Reihen der Weyrjungen aus, sondern entschieden sich für Knaben, die in Burgen aufgewachsen waren. Als Letzter kämpfte sich ein brauner Drache aus seiner Eihülle.
Er kreischte laut und drehte den Hals nach rechts und links, als suche er die anderen Jungdrachen. Plötzlich stieß sein Kopf vor und er watschelte auf den jüngsten Knaben zu, der an der Brutstätte stand: Famanoran, F'lons und Manoras Sohn. Famanoran hatte bloß ruhig seinen Platz eingenommen und das Schlüpfen mit unbewegter Miene beobachtet. Doch als er nun merkte, dass der kleine Braune zu ihm – und nur ihm allein – wollte, lief er über den Sand auf ihn zu.
»F'lon!« brüllte Robinton, um den infernalischen Lärm zu übertönen, den die Drachen und die Zuschauer verursachten. Mit dem Finger deutete er auf das letzte Paar.
F'lon schwenkte herum. Seine Kinnlade sackte nach unten, und er ließ den feierlichen Moment der Prägung auf sich einwirken.
»Sein Name lautet Canth!« rief Famanoran mit Freudentränen in den Augen und tätschelte den Hals seines neuen Freundes.
»Ich hab's dir doch gesagt«, bemerkte Robinton einige Male am selben Abend, als die Festlichkeiten in vollem Gange waren. Mit F'lar und F'nor, wie die beiden Jungen gemäß der Tradition der Drachenreiter jetzt hießen, hatte er bereits gesprochen.
»F'lon hätte es uns nie verziehen, wenn wir übergangen worden wären«, hatte F'lar dem Harfner anvertraut.
»Mir hätte es nicht so viel ausgemacht, wenn ich keinen Drachen mitbekommen hätte«, meinte F'nor gleichmütig.
Robinton schmunzelte. »Für einen Braunen ist dein Canth ziemlich groß, findest du nicht auch?«
»Doch, ja, das stimmt«, gab F'nor stolz zu.
Robinton entdeckte Manora, die darauf achtete, dass das Essen auf die vielen Tische verteilt wurde und jeder Gast einen Sitzplatz bekam. Er gratulierte ihr, und sie lächelte zerstreut, während sie jeden Winkel der Unteren Kavernen im Auge behielt.
»Heute war ein erfolgreicher Tag«, erklärte sie zufrieden.
»Du musst sehr stolz auf die beiden sein.«
»Das bin ich auch«, pflichtete sie ihm bei. Mit der ihr eigenen dezenten Würde nahm sie ihren Platz neben Jora ein, die ziemlich abgesondert von der restlichen Gesellschaft an der Hohen Tafel saß. Die Weyrherrin kümmerte sich um nichts, was sich in ihrer unmittelbaren Umgebung abspielte, sondern stopfte nur alles Essbare in sich hinein, das sich in ihrer Reichweite befand. Manora aß langsam und mit offensichtlichem Genuss. Ihre mädchenhafte Anmut und ihre ruhige Ausstrahlung hatte sie nicht verloren.
Robinton tat sich gütlich an dem exzellenten Weißwein aus Benden. Lord Raid war gleichfalls anwesend, wie es sich für den örtlichen Burgherrn gehörte. Als Robinton zu ihm ging und mit ihm ein paar Worte wechselte, machte er einen unverkrampften, vergnügten Eindruck.
Als Robinton in die Harfnerhalle zurückkehrte, war Nip da gewesen und hatte ihm eine Nachricht hinterlassen.
»Um was wettest du mit mir, dass er demnächst Nabol einkassiert?«
Auf diese Wette wollte sich Robinton lieber nicht einlassen. Selbst ein Berufsspieler aus Bitra hätte in diesem Fall passen müssen.
Vielleicht trug Fax' erneute Aggression mit dazu bei, dass Tarathel eine große Versammlung ausrichtete, zu der er jeden einlud, einschließlich Fax. Vendross, Tarathels Hauptmann der Wache, hatte eine Horde von Fax' Männern in den Vorbergen von Telgar erwischt, wo Fremde nichts zu suchen hatten. Da Vendross' Trupp ihnen zahlenmäßig überlegen war, wagten Fax' Handlanger keinen Waffenstreich.
Sie behaupteten, sie hätten aufgrund der winterlich schlechten Straßenverhältnisse einen Umweg über Telgar machen müssen, eine Ausrede, die Vendross ihnen nicht abnahm. Auf kürzestem Wege geleitete er die Meute ins Hochland zurück. Tarathel war fest entschlossen, mit diesem Burgherrn von eigenen Gnaden ein ernstes Wort zu reden, um ihn davon abzuhalten, Gebiete von Telgar zu vereinnahmen. Nip und Robinton wunderten sich, dass Fax die Einladung zur Versammlung annahm.
»Wie ihr sehen könnt, unterstehen mir gut ausgebildete Kompanien von Wachleuten«, erklärte Tarathel Robinton und F'lon, die bereits am frühen Morgen in Telgar eingetroffen waren. Tatsächlich schien es in der Burg und auf dem umliegenden Gelände von Gardisten zu wimmeln.
F'lon nickte beifällig. »Man muss diesem Emporkömmling Paroli bieten, Tarathel.«
Der Burgherr von Telgar zog die Stirn kraus, da er es nicht gewöhnt war, von einem viel jüngeren Mann derart vertraulich angeredet zu werden. Dabei focht es ihn nicht an, dass F'lon als Weyrführer ihm rangmäßig ebenbürtig war. Robinton versetzte seinem Freund einen Rippenstoß, um ihn zu mehr Taktgefühl zu bewegen, doch F'lon ignorierte diesen Wink.
»Und euch Burgherren kommt es zu, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Denn wenn der Fädenfall wieder einsetzt, ist er außerstande, die Burgen, die er in Besitz genommen hat, angemessen zu beschützen.«
Tarathel hob die buschigen schwarzen Augenbrauen, die ihm ein dämonisches Aussehen verliehen. »Was soll diese Bemerkung, Weyrführer? Ich hatte ja keine Ahnung, dass der Fädenfall unmittelbar bevorsteht. Darf ich fragen, was der Benden Weyr unternimmt, um uns adäquat zu verteidigen?«
F'lon erstarrte, und Robinton bemühte sich, eine neutrale Miene zu bewahren. Soweit er wusste, hatte noch nie zuvor ein Burgherr den Weyr so offen provoziert. F'lon parierte die Herausforderung auf seine für ihn typische Art.
»Der Benden Weyr ist bereit, den Kampf gegen die Fäden aufzunehmen, Lord Tarathel, wann immer diese Plage Pern heimsuchen wird. Darauf kann sich jeder verlassen«, konterte er hochmütig.
»Falls es überhaupt dazu kommt«, brummte Tarathel und wandte sich ab, um eine Gruppe von neu eintreffenden Gästen zu begrüßen.
»Ich bitte dich, F'lon«, wandte sich Robinton an den Weyrführer. »Musst du immer wieder die Burgherren verprellen? Dir und dem ganzen Weyr gereicht es nicht zum Vorteil, wenn du die Lords dauernd vor den Kopf stößt.«
»Ich würde gern höflich bleiben, aber dieser Tarathel ist genauso engstirnig wie Raid, und das will was heißen.«
»Wenn die Fäden kommen, ist Tarathel längst tot. Ich an deiner Stelle würde versuchen, den jungen Larad zu überzeugen. Es sei denn, Fax fordert ihn zum Duell und eliminiert einen weiteren Rivalen.«
»Hmm!«
F'lon schien auf Robintons Ratschlag zu hören. Bei der erstbesten Gelegenheit suchte er ein Gespräch mit dem jungen Mann, der sich wie alle Burschen in seinem Alter gern in Gesellschaft des Weyrführers sehen ließ.
Was dann am Nachmittag passierte, war so entsetzlich, dass Robinton sich später die größten Vorwürfe machte, den jungen Larad überhaupt erwähnt zu haben.
Robinton war dabei, als alles anfing: Ein junger Kerl, der Fax' Farben trug, stieß mit Larad zusammen, der sich mit F'lon unterhielt. In gespielter Empörung verlangte Fax' Kreatur, Larad solle sich bei ihm entschuldigen.
Verblüfft setzte Larad zu einer Abbitte an, doch F'lon gebot ihm zu schweigen.
»Du Flegel hast Lord Larad absichtlich angerempelt«, bezichtigte er Fax' Gefolgsmann. »Also wirst du ihn um Verzeihung bitten. Er steht im Rang weit über dir.«
»Ich bin nur Lord Fax verpflichtet, Drachenreiter!« höhnte der Rüpel.
Robinton steuerte auf die Streitenden zu, doch ehe er bei ihnen war, hatte F'lon dem Anrempler eine blutige Lippe geschlagen.
»Hüte deine Zunge, Bürschchen. Du entschuldigst dich jetzt sofort bei Lord Larad, dessen Vater der örtliche Burgherr ist. Ob du deinen Vater kennst, du Bastard, wage ich zu bezweifeln.«
»Kepiru? Wer hat dich blutig geschlagen?« Ein vierschrötiger Kerl, der gleichfalls Fax' Farben trug und den Schulterknoten eines Hauptmanns – obwohl dieses Abzeichen eigentlich Schiffskapitänen vorbehalten war – drängte sich durch die Menge.
Robinton spürte die aufgeheizte Stimmung, als er F'lon und Larad erreichte.
»Darf ich fragen, was hier los ist?« begann Robinton in versöhnlichem Ton.
Aufatmend wandte sich Larad an den Meisterharfner. Der junge Lord war sichtlich bestürzt und verlegen.
Großspurig ergriff der bullige Hauptmann das Wort. »Dieser … Drachenreiter …« – betonte er verächtlich – »hat meinen jüngeren Bruder geschlagen und unsere Abstammung in Frage gestellt. Ich fordere Satisfaktion.«
»Lord Larad dürfte wohl derjenige sein, der Genugtuung einfordern kann – von deinem Bruder«, konterte F'lon angriffslustig.
Robinton hielt F'lon am Arm fest, um ihn zu beschwichtigen. Er fürchtete, dieser Vorfall sei bewusst inszeniert worden, eine abgekartete Sache zwischen Fax und seinen Waffenknechten. Der schmalbrüstige Typ, der Larad geschubst hatte, war mit Sicherheit nicht der Bruder des grobschlächtigen Hauptmanns.
»Ich habe den Zwischenfall gesehen«, warf Robinton ruhig ein. »Es geschah ohne böse Absicht.« Er drückte F'lons Arm, weil er merkte, dass sein Freund vor Wut kochte. »Wir sind hier auf einer friedlichen Versammlung, zusammengekommen, um uns zu amüsieren, und nicht, um Händel auszutragen.«
Die Worte hätte er sich sparen können. Weder F'lon noch die beiden Typen, die zu Fax' Gefolgschaft gehörten, wollten einen Streit vermeiden.
Wie um F'lons Groll zu bestätigen, spreizte Simanith, der auf den Felszinnen der Burg hockte, seine Schwingen und stieß einen schmetternden Trompetenton aus.
»Larad besteht auf einer Entschuldigung«, zischte F'lon. »Dieser Strolch hat ihn absichtlich angestoßen.«
»F'lon, wir befinden uns auf einer Versammlung«, raunte Robinton seinem Freund ins Ohr, während er eifrig Ausschau nach Leuten hielt, die ihnen eventuell beistehen konnten. Zu seiner Erleichterung erspähte er Nip und gab ihm heimlich ein Zeichen. Nip verstand und flitzte los. »Bei so vielen Leuten gibt es immer wieder ein Gedränge, und es passiert, dass man jemanden aus Versehen schubst.«
»Das reicht!« F'lon löste sich aus Robintons Griff. »Diese Pöbelei geschah genauso absichtlich wie die ständigen Schmähungen gegen die Drachenreiter.«
»Ha! Drachenreiter, dass ich nicht lache!« spottete der Hauptmann. »Ein weibisches Volk seid ihr.«
F'lon geriet in Rage. »Ich werde dir zeigen, wie weibisch ich bin«, schrie er und zog das Messer aus seinem Gürtel.
Im nächsten Augenblick hielt auch der Hauptmann ein Messer in der Hand, und Robinton sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Entschlossen rüstete er sich zum Einschreiten.
»Aus dem Weg, Harfner!« kläffte der Hauptmann. »Deine Farben schützen weder dich noch ihn!«
Beim ersten Aufblitzen des Stahls rückte die Menge von den am Streit beteiligten Männern ab und formierte sich zu einem Kreis. Plötzlich drehte sich Kepiru auf dem Absatz um und huschte davon.
»Misch dich nicht ein, Robinton. Das ist meine Sache!« brüllte F'lon. Er stieß seinen Freund zur Seite und nahm eine halb geduckte Haltung an.
»Wartet! Man hat den Burgherrn gerufen!«
»Dann soll er zusehen, wie der Weyrführer stirbt!« höhnte der Hauptmann. In seine Augen trat ein wilder Blick. Er wich seitwärts aus, doch anstatt sich gegen den Drachenreiter zu wenden, stürzte er sich auf Robinton und versetzte ihm eine Schnittwunde. Robinton hielt sich den Arm, während das Blut den Ärmel seines Hemdes rot färbte.
F'lon stieß einen unartikulierten Schrei aus und griff den Hauptmann an. »Das wird er bereuen, Rob!«
»Harfner und weibische Drachenreiter. Ihr seid nichts als ein Haufen feiger Memmen!«
»Behalte einen kühlen Kopf!« rief Robinton F'lon zu. Vor Aufregung spürte er keine Schmerzen, und dankbar bemerkte er, dass jemand ein Tuch um die blutende Wunde wickelte.
Simanith kreischte pausenlos, und die anderen Drachen stimmten lautstark in die ohrenbetäubende Kakophonie ein. Der Lärm musste die anderen Drachenreiter alarmieren und den Burgherrn auf den Plan bringen, sagte sich Robinton. Vielleicht gelang es im letzten Moment, den Kampf zu verhindern.
Der Hauptmann schien das Gleiche zu denken, und er wollte Blut sehen, ehe man ihn von seinem Gegner trennte. Trotz seiner Massigkeit war er flink, geübt im Umgang mit der Klinge, und zu allem entschlossen. F'lon war ebenfalls ein geschickter Kämpfer, doch seine Wut machte ihn leichtsinnig.
Der Hauptmann führte den ersten Streich und brachte F'lon eine Verletzung am Brustkorb bei. Vor Schmerzen sog F'lon zischend die Luft ein, und danach ließ er alle Vorsicht fahren. Er attackierte den Hauptmann, umklammerte dessen Hand, die die Waffe hielt, und stach mit seinem eigenen Messer blindlings zu. Der Kerl war stärker als F'lon und behielt die Nerven.
F'lon war an faires Kämpfen gewöhnt, und an Gegner, die sich hüteten, das Leben eines Drachenreiters zu gefährden. Der Hauptmann indessen kannte keine Skrupel und wandte jeden schmutzigen Trick an, den er in seinen vermutlich zahlreichen Messerstechereien gelernt hatte. Er stellte F'lon ein Bein, und während die Zuschauer protestierten, verlor der Drachenreiter die Balance und stürzte zu Boden. Der Hauptmann nutzte seine Chance, warf sich auf F'lon und trieb ihm die Klinge zwischen die Rippen.
F'lon bäumte sich noch einmal auf und starb.
Simanith gab einen fürchterlichen Schrei von sich und sprang ins Dazwischen, noch ehe sein Reiter den letzten Atemzug tat. Robinton war wie gelähmt vor Entsetzen.
Eine beklemmende Stille legte sich über die Versammlung. Selbst die Leute, die nicht mitbekommen hatten, welches Drama sich hier abspielte, waren durch den Schrei des Drachen und sein plötzliches Verschwinden aufgeschreckt. Dann setzte das Wehklagen der anderen Drachen ein, und jeder Besucher wusste, dass ein Drachenreiter gestorben war.
»Ergreift ihn! Lasst ihn nicht entkommen!« brüllte Robinton und zeigte auf den Hauptmann.
Er kniete neben F'lon nieder, dessen bernsteinfarbene Augen weit aufgerissen waren und langsam ihren Glanz verloren. Robinton drückte die Lider zu. Vor Erschöpfung ließ er den Kopf hängen. Dieser sinnlose, vermeidbare Tod laugte ihn emotional und körperlich aus.
»Dabei wollte ich mich entschuldigen«, ertönte eine dünne, ängstliche Stimme.
Robinton blickte hoch, stand auf und legte eine Hand auf Larads Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe, Larad. Dich trifft keine Schuld.«
»Aber er ist tot«, beharrte Larad mit brüchiger Stimme. »Ein Drachenreiter ist gestorben.«
»Was ist hier los? Was …? Splitter und Scherben!« Lord Tarathel zwängte sich durch die Menge. Larad rannte zu seinem Vater und barg weinend den Kopf an seiner Brust.
»Das war kein Unfall, Lord Tarathel«, sagte Robinton so leise, dass nur Tarathel ihn hören konnte. »Es handelte sich um ein Mordkomplott.«
Der Hauptmann wehrte sich gegen ein paar kräftige Männer, die ihn festhielten. Keiner der Umstehenden hatte einen Finger gerührt, um den Zweikampf zu verhindern, doch niemand hatte den Tod eines Drachenreiters gewollt.
R'gul und S'lel, dichtauf gefolgt von C'gan, trafen ein. Ihre Mienen drückten fassungsloses Entsetzen aus. Beim Anblick von F'lons reglosem Körper spiegelten sich auf R'guls Züge die widersprüchlichsten Emotionen, die Robinton höchst stutzig machten. Er wusste nicht, wie er R'guls Reaktion deuten sollte.
S'lel hingegen war aufrichtig betroffen, und über C'gans jungenhaftes Gesicht strömten die Tränen.
»Ich habe ihn oft genug gewarnt«, rief R'gul kopfschüttelnd. »Aber er wollte ja nicht hören.«
Frustriert wandte Robinton sich ab, und in diesem Moment bemerkte Tarathel seinen blutenden Arm.
»Allein dafür kann man den Kerl auf die Inseln verbannen«, knurrte Tarathel empört. »An deinen Rangabzeichen muss er doch gesehen haben, wer du bist.«
»Der Rang eines Menschen kümmert ihn nicht. Man sieht ja, was er dem Weyrführer angetan hat«, erwiderte Robinton. Verstohlen suchte er in der Menge nach Fax, der sich doch bestimmt davon überzeugen wollte, ob seine perfide Rechnung aufgegangen war.
Robinton machte sich auf die nächste Katastrophe gefasst. Denn der vorsätzliche Mord an einem Drachenreiter wurde laut Gesetz mit Verbannung auf eine der Inseln im Ostmeer bestraft. Gab es für die Schandtat Zeugen, war keine Gerichtsverhandlung erforderlich. »R'gul«, rief er mit vernehmlicher Stimme. »Deportiere F'lons Mörder zu den Inseln. Das ist doch korrekt, oder, Lord Tarathel?«
»Ganz gewiss«, bekräftigte Tarathel. Von seinem Sohn hatte er sich den Tathergang schildern lassen. »Bronzereiter, erfülle deine Pflicht.«
»Aber es hat keinen Prozess gegeben«, protestierte R'gul.
»Beim Ersten Ei, R'gul!« beschied ihm C'gan, der sich über die zögerliche Haltung seines Kameraden ärgerte. »Wenn du dazu nicht bereit bist, bringe ich ihn selbst hin.« Er trat vor und packte den Hauptmann beim Arm.
»Gib sofort meinen Hauptmann frei!« donnerte Fax und pflügte sich rücksichtslos durch die Zuschauer. Er wollte den Mann aus C'gans Griff befreien.
Der blaue Reiter zückte sein Messer. Er war viel schmächtiger als Fax oder der Hauptmann, doch er fühlte sich absolut im Recht und dachte nicht daran, nachzugeben. Er hielt weiterhin den Arm seines Gefangenen umklammert.
»Dein Hauptmann hat soeben den Weyrführer getötet«, erklärte Tarathel, der genauso energisch auftrat wie C'gan.
»Er bekam nur, was er verdient hat«, entgegnete Fax. Er setzte ein unverschämtes Grinsen auf und blickte um Beifall heischend in die Runde.
»Du weißt, welche Strafe das Gesetz bei Mord vorsieht, Fax«, beschied ihm Tarathel. »Und wenn jemand gar einen Drachenreiter tötet, gibt es für ihn keinen Pardon. C'gan, nimm den Gefangenen und …«
»Er ist nicht von einem Gericht verurteilt worden«, schnitt Fax dem Burgherrn das Wort ab.
»Seit wann achtest du auf Recht und Gesetz?« erwiderte Tarathel drohend und legte eine Hand auf seinen Dolch. »Ich bin hier der Burgherr. Der Mord geschah auf meinem Land und obendrein während einer Versammlung, zu der ich eingeladen habe. Dein Hauptmann hat sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht. Er beleidigte meinen Sohn, verletzte den Meisterharfner und tötete den Weyrführer. Seine Strafe steht zweifelsfrei fest.«
»Das finde ich nicht«, widersprach Fax. »Gebt ihn frei.«
Plötzlich drängten sich weitere Männer brutal nach vorn und bezogen neben Fax Posten. Ihre aggressive Haltung verhieß nichts Gutes. Alle trugen Fax' Farben. Tarathels Augen blitzten vor Zorn.
»Nein!« rief Robinton und wandte sich an die Umstehenden. Fax' Waffenknechte mochten abgefeimte Halunken sein, aber seine Bande war nur acht Mann stark, derweil um die einhundert Gäste die Versammlung besuchten. »Leute von Telgar! Verteidigt euren Burgherrn!«
Ein allgemeiner Aufschrei ging durch die Menge. Fax und seine Männer wurden überwältigt und daran gehindert, die Waffen zu ziehen. Sogar R'gul und S'lel halfen mit, während C'gan mit dem Hauptmann kämpfte, der sich zu befreien versuchte. Plötzlich stieß der blaue Reiter einen erschrockenen Schrei aus und rief um Hilfe. Der Hauptmann sackte in sich zusammen, und in einem seiner Augen steckte ein Dolch.
Im selben Moment fingen alle Drachen triumphierend an zu trompeten.
Ein Blick auf den Griff des schmalen Wurfmessers verriet Robinton, wer es geschleudert hatte. Er wunderte sich, wie Nip in dem allgemeinen Aufruhr dieser akkurate Treffer gelungen war.
Fax und seine Männer wurden schleunigst in ihr Lager bugsiert, wo sie ihre Sachen packen mussten. Eine aus fünfzig Pächtern und Handwerkern bestehende Truppe begleitete die unwillkommenen Gäste bis an die Grenze. Denjenigen aus der Eskorte, die nicht beritten waren, stellte Lord Tarathel Renner zur Verfügung.
R'gul, S'lel und die anderen Drachenreiter brachten F'lons Leichnam nach Benden. Robintons Verletzung hinderte ihn daran, sich dem Zug anzuschließen, doch er trommelte die traurige Botschaft an alle Burgen und Gildehallen. Erst danach gönnte er sich Ruhe.
***
Spät in dieser Nacht schlüpfte Nip in Robintons Gästezimmer und weckte ihn aus einem unruhigen Schlaf.
»Ist die Wunde schlimm?« erkundigte sich Nip.
»Sie ist lästig«, erwiderte Robinton und setzte sich mühsam auf. Nip stopfte ihm Kissen in den Rücken. Jede Bewegung mit dem Arm verursachte Schmerzen. Der Heiler von Burg Telgar hatte ihn getadelt, weil er mit der Verletzung die Trommelbotschaften abgeschickt hatte. Die Wunde musste genäht werden. Halb betäubt von einer großzügigen Dosis Fellis hatte Robinton die Prozedur über sich ergehen lassen. »Guter Wurf.«
»Hast du mein Messer verwahrt? Ich arbeite gern damit. Es ist perfekt ausbalanciert«, erzählte Nip.
»Es liegt in der obersten Kommodenschublade. Wusstest du, was Fax im Schilde führte?«
»Nein.« Nip holte sich sein Messer. »Andernfalls hätte ich euch gewarnt. Im Übrigen hätte ich nie gedacht, dass sich jemand am Weyrführer vergreifen würde. Diese Schandtat hätte ich nur Fax persönlich zugetraut. Mit der Einladung zur Versammlung verschaffte Tarathel ihm die ideale Gelegenheit, seine Waffenknechte vorzuführen. Sie versuchten bewusst, Kämpfe zu provozieren. Ich sah ein paar Männer, die durch die Menge stromerten und nach Opfern Ausschau hielten. Sie gingen immer zu zweit, ziemlich ungleiche Paare. Der eine, schmächtigere, sollte mit jemandem Streit anfangen, der dann von seinem kräftigen Gefährten handfest beendet würde.«
»Vermutlich war alles von langer Hand geplant«, seufzte Robinton und griff nach der Taubkraut-Salbe.
Als er unbeholfen den Arm aus der Schlinge ziehen wollte, kam Nip ihm zu Hilfe. Mit unverhofft sanften Fingern verteilte er die schmerzstillende Paste auf die Wunde. Sofort trat eine Linderung ein.
»Zuerst war mir gar nicht aufgefallen, dass Gifflen dich verletzt hat.«
»Gifflen?«
»So hieß der Mann. Ich kannte ihn bereits als Unruhestifter. Aus mehreren Burgen sowie aus seiner Handwerkshalle wurde er hinausgeworfen, weil er ständig Streit suchte. Er hat viele Menschen umgebracht. Ich bin froh, dass er tot ist.«
Robinton nickte. »Dafür hast du gesorgt. Ich danke dir.«
»Du hast klug gehandelt, als du die Leute von Telgar zu Hilfe riefst. Das hat sie aus ihrer Passivität aufgeschreckt.«
Robinton holte tief Luft. »Wir sind bequem geworden. Und verweichlicht.«
»Das ist ja der Grund, weshalb Fax sich alles herausnehmen kann«, versetzte Nip grimmig. »Rob, du musst die Burgherren wachrütteln, ehe er noch mehr Anwesen überfällt.«
»Ich habe getan, was ich konnte. Groghe lässt Bewaffnete drillen, und Oterel folgt seinem Beispiel. Nach diesem Vorfall wird Tarathel auch besser Obacht geben.«
»Und was ist mit Kale in Ruatha?«
»Ich habe vor, ihm auf meinem Heimweg einen Besuch abzustatten.«
»Wie lange wird es dauern, bis du dich von einem Drachen transportieren lassen kannst?«
»Ich glaube, auf diese Möglichkeit kann ich nicht mehr zurückgreifen.«
»Schick C'gan eine Trommelbotschaft. Er kommt dich bestimmt abholen. Schade, dass F'lons Söhne noch so jung sind.«
Robinton furchte die Stirn. »Ich müsste sie aufsuchen …«
»Als Erstes solltest du dich schleunigst nach Ruatha begeben«, fiel Nip ihm ins Wort. Dann stand er auf und ging zur Tür. »Bis später. Wir bleiben in Verbindung.«
»Nip, wohin …?« Doch die Tür schloss sich bereits leise hinter dem Kurier.
Trotz des Fellis-Saftes und des Taubkrauts dauerte es eine geraume Weile, bis Robinton einschlief.
***
Zwei Tage später brach Robinton trotz Tarathels Bedenken und der Ermahnungen des Heilers auf. Tarathel gab ihm sechs Mann als Geleitschutz mit.
»Hab gut Acht auf dich, Meister Robinton«, gab der Burgherr ihm mit auf den Weg. »Die Halle hat die Übergriffe auf Harfner vertuscht, aber ich weiß davon. Man munkelt sogar, dass Evenek auf Fax' Geheiß hin nach Crom gelockt wurde, weil man an ihm ein Exempel statuieren wollte.« Er räusperte sich. »Kann er eigentlich wieder musizieren?«
»Er spielt Instrumente. Aber er kann nicht mehr singen.«
»Ich wünschte mir, du wärst bereits sicher in der Harfnerhalle angelangt«, fuhr Tarathel fort. »Ein ehrloser Geselle wie Fax würde vielleicht versuchen, dich umzubringen, wenn du ohne bewaffnete Eskorte unterwegs wärst. Vielleicht solltest du künftig deine Reisen etwas einschränken oder zumindest schlagkräftige Begleiter mitnehmen.«
»Ich muss dorthin gehen, wo man mich braucht. Das verlangt mein Amt.«
»Dann sei wenigstens vorsichtig.« Tarathel drückte ihm kurz die Schulter des unverletzten Arms. »Ich stelle dir einen meiner besten Renner zur Verfügung.«
Robinton bedankte sich bei Tarathel, obwohl ihm mulmig zumute wurde, als er sich in den Sattel schwingen wollte. Drei Knechte waren nötig, um den Rappen zu bändigen. Doch sowie Robinton auf seinem Rücken saß, wurde der Renner lammfromm … zumindest seinem Reiter gegenüber. Er keilte nach jedem aus, der Anstalten machte, Robinton die Satteltaschen zu reichen. Man musste das Tier überlisten, damit Robinton sein Gepäck verstauen konnte.
Der Renner besaß eine geschmeidige Gangart, neigte jedoch dazu, ein forsches Tempo anzuschlagen. Robintons Eskorte musste ihre Reittiere antreiben, um ihren Schutzbefohlenen nicht aus den Augen zu verlieren. Allmählich lernte Robinton, Big Black zu zügeln, und als er ihm reichlich Klumpen von Süßwürze zu fressen gab, fasste der Rappe zu ihm Vertrauen.
Der Ritt ging zügiger vonstatten, als es Robintons Verletzung gut tat, und er atmete erleichtert auf, als sie Burg Ruatha sichteten und endlich in den Hof galoppierten.
***
Die Reise hatte sieben Tage gedauert. Robinton bedauerte es, dass ihm kein Drache zur Verfügung stand, doch vom Sattel eines Renners aus lernte er die Gegend besser kennen. Dieses Wissen konnte ihm vielleicht von Nutzen sein. Es war kein Problem, ungehindert nach Ruatha zu gelangen. Robinton hätte sich etwas mehr Wachsamkeit seitens des örtlichen Burgherrn gewünscht. Er nahm sich vor, Lord Kale zu raten, Wachposten aufzustellen und Signalfeuer bereit zu halten, falls Fax ein Auge auf die wohlhabende Burg mit ihrer berühmten Rennerzucht geworfen hatte.
»Dieser Hauptmann muss doch einen Grund gehabt haben, F'lon anzugreifen«, meinte Lord Kale bei ihrem ersten Gespräch.
Er war ein groß gewachsener schlanker Mann mit dunklem Haar und grauen Augen. An der Art, wie er mit seinen Untergebenen umging, merkte Robinton, dass er ein guter Burgherr war, der für seine Leute sorgte. Lord Kale machte einen sehr friedfertigen, jovialen Eindruck. Seine Pächter profitierten von seiner Gutmütigkeit, doch ein gewissenloser Schurke wie Fax hätte mit ihm vermutlich leichtes Spiel. Robintons Besorgnis wuchs.
»Wenn du dabei gewesen wärst, Burgherr«, erwiderte Macester, der Führer der Eskorte, »hättest du sofort erkannt, dass das Ganze kein Zufall oder Unglück war, sondern eigens inszeniert, um den unbequemen Weyrführer loszuwerden. Meister Robinton kann sich glücklich schätzen, dass er nicht auch noch zu Tode kam. Gifflen führte von Anfang an Böses im Schilde.«
»Ein Heißsporn, der im Eifer des Gefechts zu weit ging«, mutmaßte Lord Kale großzügig.
Just in diesem Moment kam ein kleines Mädchen angelaufen. An den großen grauen Augen erkannte man, dass sie Kales Tochter sein musste, und als sie ihren Vater erreichte, breitete sie die Arme aus.
»Lessa, mein Schatz, nicht jetzt.« Doch er nahm sie auf den Arm und trug sie zur Tür, wo das Kindermädchen, dem sie entwischt war, ihren Schützling in Empfang nahm.
Das Mädchen schrie und zappelte mit den Beinen. Dabei bog sie sich zur Seite, sodass Robinton das schmale, von wilden schwarzen Locken umrahmte Gesicht mit den auffallend großen Augen sah.
»So jung und schon so eigensinnig,« bemerkte Kale mit nachsichtigem Lächeln.
»Lord Kale, als Meisterharfner von Pern bitte ich dich inständig, den Beispielen der Burgherren im Westen zu folgen und eine Schutztruppe aufzustellen. Ruatha muss um jeden Preis verteidigt werden, sollte es Fax einfallen, seine gierigen Hände danach auszustrecken. Ich rate zu Grenzpatrouillen, die im Ernstfall Signalfeuer …«
Kale hob gelassen eine Hand. »Meine Leute haben mit den anfallenden Routinearbeiten mehr als genug zu tun, Meister Robinton. Gerade jetzt, im Frühling, müssen wir uns verstärkt um die Herden kümmern und die jungen Renner an den Sattel gewöhnen.«
»Und genau eure Renner sind es, die für Fax von unschätzbarem Wert wären«, betonte Robinton. »Falls er plant, über die Steppe nach Telgar zu reiten.«
»Meister Robinton, Fax kauft unsere Renner, und wir haben schon viele gute Geschäfte mit ihm gemacht«, erwiderte Kale schmunzelnd. »Darf ich dir noch etwas Klah anbieten? Du bleibst doch hoffentlich über Nacht? Ruatha würde sich geehrt fühlen.«
Doch Robinton verspürte keine Lust mehr, sich mit diesem naiven, vertrauensseligen Lord abzugeben. Er stand auf und wollte die Einladung ausschlagen, doch dann fiel sein Blick auf Macester, der einen müden Eindruck machte. Er schien nichts dagegen zu haben, eine Nacht im behaglichen Gästequartier von Ruatha zu verbringen.
»Sei bedankt, Lord Kale, wir nehmen die Gastfreundschaft gern in Anspruch«, entgegnete Robinton mit ausgesuchter Höflichkeit.
Die Tür zu Lord Kales Arbeitszimmer stand offen, und man hörte, wie draußen Männer mit einem temperamentvollen Tier kämpften.
»Schon wieder Big Black«, mutmaßte Macester und lief zur Tür. Robinton folgte ihm. Auch Kale trat neugierig auf den Hof, wo Big Black versuchte, den Knecht, der ihn am Zügel hielt, zu beißen.
»Ein prachtvolles Tier«, schwärmte Kale und ließ das Bild auf sich wirken. »Führ ihn langsam im Kreis herum, Jez«, rief er dem Knecht zu. »Der Renner stammt aus Tarathels Zucht, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Robinton. Er holte einen Klumpen Süßwürze aus seiner Tasche, trat an das aufgeregte Tier heran und nahm Jez die Zügel ab.
»Ruhig, Big Black«, sprach Robinton mit sanfter Stimme auf den Renner ein. Der streckte das Maul nach der Süßwürze aus, die Robinton ihm auf der flachen Hand entgegenhielt.
»Nicht einfach zu bändigen«, bemerkte Kale.
»Sowie man im Sattel sitzt, wird er fügsam«, erwiderte Robinton. Er war stolz, dies einem so geschickten Reiter wie Lord Kale in aller Aufrichtigkeit sagen zu können.
Kale lachte leise. »Und nun, Macester, führt eure Tiere auf die Koppel, und dann lasst euch eure Unterkünfte zeigen.«
»Vielleicht sollte der ortsansässige Heiler sich Meister Robintons Arm ansehen«, schlug Macester vor, Robintons Einwände ignorierend. »Die Verletzung ist nicht gering.«
»Tatsächlich?« staunte Kale.
»Sie musste immerhin mit sieben Stichen genäht werden«, ergänzte Macester.
Kale drängte Robinton in die Burg zurück und ließ den Heiler kommen.
»Dabei hatte ich mich so sehr auf einen musikalischen Abend gefreut«, bedauerte der Burgherr.
»So behindert bin ich nicht, dass ich nicht meinen Beitrag leisten könnte«, hielt Robinton ihm entgegen. »Außerdem ist da noch Struan …« Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinem alten Schlafsaalgefährten, der nun ein tüchtiger Harfnergeselle war. »Und wie ich weiß, gilt Lady Adessa als virtuose Harfenspielerin.
»Aber deine Wunde …«
»Ich kann immer noch singen, Lord Kale.« In Gedanken ging Robinton bereits die Balladen durch, die Kale vielleicht aus seiner Sorglosigkeit und Lethargie reißen konnten. In normalen Zeiten wäre Lord Kale der Inbegriff eines guten Burgherrn gewesen – tolerant, umgänglich und liebenswürdig. Doch Fax hatte dafür gesorgt, dass diese an sich positiven Eigenschaften immer mehr an Wert verloren.
Nachdem der Heiler der Burg Robintons Arm neu verbunden hatte, kletterte der Harfner auf die Spitze des Trommelturms und bat den Dienst habenden jungen Burschen um die Erlaubnis, eine Nachricht an die Harfnerhalle schicken zu dürfen. Er wollte seine baldige Rückkehr ankündigen.
Die kleine Lessa ließ sich kurz nach dem Beginn der abendlichen Unterhaltung blicken und schlief dann auf dem Schoß des Vaters ein. Robinton amüsierte sich darüber, denn er hatte gerade ein mitreißendes Lied gesungen, bei dem die Zuhörer im Takt klatschten und mit den Füßen stampften. Ein in der Nähe wohnender Pächter, der zum Essen geladen war, entpuppte sich als geschickter Löffel-Spieler und gesellte sich zu den anderen Musikanten.
Ruathas Haupthalle besaß eine ausgezeichnete Akustik, und es bereitete Robinton viel Vergnügen, darin zu singen. Vielleicht lag es auch an den Wandteppichen, dass die Musik so vortrefflich klang. Von seinem Platz aus konnte Robinton den größten Wandbehang sehen. Er zeigte ein spektakuläres Bild von Drachenreitern, die über Burg Ruatha schwebten. Am auffälligsten waren die goldenen Drachenköniginnen. Ihre Reiterinnen hielten lange Stäbe, aus denen Flammengarben schossen. Die am Boden tätigen Menschen waren mit denselben flammenden Stöcken ausgerüstet.
Man merkte an vielen Dingen, dass Lady Adessa in Ruatha Einzug gehalten hatte. Robinton entsann sich, wie die Haupthalle zu Lord Ashmichels Lebzeiten ausgesehen hatte. Damals hatte der Saal eine düstere, verwahrloste Atmosphäre ausgestrahlt, und die Details auf den wunderschönen Wandbehängen waren vor Schmutz unkenntlich gewesen. Lautete nicht ein neues Sprichwort, neue Besen kehren gut?
Am nächsten Morgen, nach einem erholsamen Schlaf in einem breiten, komfortablen Bett, fühlte sich Robinton erfrischt genug, um seine Reise fortzusetzen. Als er sich auf Big Blacks Rücken schwang, hoffte er nur, Lord Kale würde etwas mehr Misstrauen gegenüber Fax an den Tag legen. Aber der Burgherr hatte immerhin genug Einsicht gezeigt, um seine Grenzposten zu verstärken. Außerdem wollte er Holzstapel für Signalfeuer aufschichten lassen.
»Obwohl ich nicht glaube, dass dieser Aufwand nötig ist«, meinte Kale beim Abschied.
Unterwegs kreiste ein Lied in Robintons Kopf, das sich mit neuen Gemahlinnen und neuen Besen beschäftigte. Melodien fielen ihm zu den unpassendsten Zeitpunkten ein, doch er war froh, dass seine Spontaneität zurückkehrte.
***
Wenige Wochen später traf Nip in der Harfnerhalle ein. Er sah erschöpft und mitgenommen aus.
»Du bleibst hier, bis Meister Oldive dich wieder für diensttauglich erklärt«, beharrte Robinton, während er den Kurier zu dem Heiler begleitete.
»Lass mich zuerst berichten, Robinton«, bettelte Nip.
»Ich höre dir erst zu, wenn Oldive dich untersucht hat, du ein Bad genommen und etwas gegessen hast«, erklärte Robinton resolut.
Nip wusste, wann er nachzugeben hatte.
Meister Oldive betrachtete kopfschüttelnd die Blutergüsse, Schürfwunden und die zwei geschwollenen und blaurot angelaufenen Zehen an einem Fuß.
Meister Oldives deformiertes Rückgrat schien Nip zu faszinieren, obwohl er sich taktvoll bemühte, nicht ständig hinzusehen. Aber Oldive hatte sich längst an neugierige Musterungen gewöhnt, und sie machten ihm nichts mehr aus.
»Ich verordne ein ausgiebiges heißes Bad, eine doppelte Portion von Silvinas gutem Essen und ein paar Tage Bettruhe«, verkündete Oldive nach der Untersuchung. »Dann dürften deine Blessuren ausgeheilt sein.«
»Ein paar Tage? Unmöglich!« Nip sah aus, als wäre er am liebsten vom Untersuchungstisch gesprungen. »Gegen ein Bad und eine anständige Mahlzeit hätte ich allerdings nichts einzuwenden.«
Er bekam beides. Und er merkte nicht, dass Oldive, der sich später zu ihm und Robinton gesellte, etwas in sein Klah gemischt hatte. Kaum war Nip mit Essen fertig, da setzte die Wirkung der Droge ein. Sein Kopf sackte auf den Tisch und wäre um ein Haar in der kleinen Pfütze aus Puddingsauce gelandet, die er verschüttet hatte.
»Du hast genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, Oldive«, lobte Robinton.
»Ja, ich bin auch ganz stolz auf mich.«
Silvina bedachte die Männer mit einem tadelnden Blick. »Ihr seid zwei unverschämte Kerle. Wie könnt ihr den armen Nip so hereinlegen?«
»Es geschieht nur zu seinem Besten, glaub mir, mein Liebling«, versetzte Robinton. Er und Oldive hievten den schlaffen Körper des Kuriers hoch und beförderten ihn in Robintons Quartier. Silvina lief vor ihnen her und hielt ihnen die Türen auf. In Robintons Wohnung legten sie Nip auf das Bett im Gästezimmer und deckten ihn fürsorglich zu, damit er sich endlich einmal ausschlafen konnte.
***
»Das war ein gemeiner Trick, Robinton«, beschwerte sich Nip, als er anderthalb Tage später aufwachte. Dann lächelte er und räkelte sich genüsslich. »Ah, die Ruhe hat mir gut getan.« Er nahm den Becher Klah in Empfang, den Robinton ihm reichte.
»Jetzt höre ich mir an, was du zu erzählen hast«, erklärte der Harfner. Über Nips Eintreffen in der Harfnerhalle war er sehr froh gewesen, denn das lange Fortbleiben des Kuriers hatte ihm Sorgen bereitet. »Oder möchtest du zuerst etwas essen?«
»Nein, denn bei meinem Bericht kann einem der Appetit vergehen. Ich nehme später etwas zu mir.«
Aus dieser Bemerkung schloss Robinton, dass der Kurier keine guten Nachrichten brachte.
»Es ist gut, dass Tarathel so viele Männer losschickte, die Fax bis zur Grenze begleiten sollten. Vendross, der sie befehligte, ist ein kluger Anführer. Er ging keine Risiken ein. Er ließ die Grenze noch eine Zeit lang bewachen und schickte alle von Fax' Kerlen zurück, die sich heimlich nach Telgar schleichen wollten. Außerdem stellte er den Siedlungen am Fluss Wachposten zur Verfügung und wies sie an, jede verdächtige Bewegung zu melden.«
Robinton nickte. Auf diese Weise konnte man verhindern, dass Fax über den Fluss nach Telgar gelangte oder die Halle der Schmiedezunft am Großen Dunto Fluss angriff.
»Kennt Vendross dich?« fragte Robinton.
»Lass es mich so ausdrücken: Er weiß, womit ich mich beschäftige, und er vertraut meinem Urteil. Und darauf kommt es letzten Endes an.«
»Richtig.«
»Ich setzte Fax' Leuten hinterher, weil ich in Erfahrung bringen wollte, was sie als Nächstes aushecken. Um keinen Preis möchte ich unter der Fuchtel dieses Burgherrn von eigenen Gnaden stehen. Was er mit seinen Untertanen, die seinen Unmut erregt haben, anstellt, ist schrecklich.« Nip schöpfte Atem und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Ich habe Lytol – früher L'tol – besucht, der sich abmüht, die Werkstatt seiner Familie zu betreiben. Bei ihm finde ich eine sichere Unterkunft auf dem Dachboden der Lagerhalle, wenn es mich in diese Gegend verschlägt. Und …« – er legte eine dramatische Pause ein – »ich habe Bargen gefunden!«
»Tatsächlich?« Robinton setzte sich aufrecht hin. »Wo?«
Nip schmunzelte. »Dumm ist er nicht, unser junger Burgherr. Er hat sich droben im Hochland Weyr verschanzt, zusammen mit ein paar Leidensgenossen, außer Reichweite von Fax. Der verlassene Weyr wäre der letzte Ort, an dem man Bargen und seine Freunde suchen würde.«
»Wie geht es Bargen? Ist er wohlauf?«
»Ja. Und er schmiedet Pläne, die Fax missfallen dürften.«
»Hoffentlich kommt dadurch kein Unschuldiger zu Schaden …«
Nip legte den Kopf schräg und grinste. »Wohl kaum. Bargen ist erwachsen geworden – ein ziemliches Raubein, aber diese Eigenschaft kann ihm nur nützen.«
»Falls du wieder mit ihm sprichst, versichere ihm, dass die Harfnerhalle ihn in jeder erdenklichen Weise unterstützt.«
Nip lächelte wehmütig. »Leider besitzt die Harfnerhalle dieser Tage nicht viel Einfluss. Harfner stehen im selben Ruf – oder sollte ich sagen Ruch? – wie die Drachenreiter. Bargen bleibt nichts anders übrig, als mit seiner Hand voll Männern günstigere Zeiten abzuwarten.« Robintons kühner Traum, das Hochland bald wieder im Besitz des rechtmäßigen Erben zu sehen, zerplatzte wie eine Seifenblase. »Was hast du bei Lord Kale bezweckt?«
Robinton schüttelte resigniert den Kopf. »Kale ist viel zu vertrauensvoll, viel zu gutmütig. Fax war bei ihm zu Gast und hat Renner von ihm gekauft. Kale hat keine schlechte Meinung von ihm, er traut ihm einfach nichts Böses zu.«
Nip winkte ab. »Die alte Leier kennen wir.«
»Immerhin wird er Grenzposten aufstellen und für Signalfeuer sorgen.«
»Das ist doch schon ein Fortschritt«, knurrte Nip mit einer Spur Zynismus. Dann verdrehte er die Augen. »Weißt du, Rob, wenn ich bei ihm in meiner Eigenschaft als Harfner auftrete, könnte ich ihm hin und wieder ein paar Ratschläge einflüstern.«
»Bist du wirklich ein ausgebildeter Harfner, Nip?« erkundigte sich Robinton.
»In der Tat. Und gelegentlich trat ich sogar als ein solcher in Aktion. Allerdings halte ich es für ratsam, diesen Umstand nicht an die große Glocke zu hängen. Und ich trage nie Harfnerblau, vor allen Dingen nicht, wenn ich Fax in der Nähe weiß.« Er trank sein Klah aus und stieg aus dem Bett. »Ich brauche ein Bad gegen meinen Muskelkater, und um wieder frisch zu werden. Danach spekuliere ich auf eine gute Mahlzeit. Silvina ist eine bemerkenswerte Frau.«
»Sie ist einmalig, ganz wie ihre Mutter«, pflichtete Robinton ihm bei.
Nip lachte, nahm sein Handtuch vom Haken an der Tür und schlenderte pfeifend ins Bad. Das Quartier des Meisterharfners verfügte über ein eigenes Badezimmer.