Kapitel 14
Clostan untersuchte sie beide gründlich. Als sie im Hafen von Tillek anlegten, war Kasia längst nicht mehr so schwach, und ihre Wangen hatten wieder ein wenig Farbe. Ihre Ankunft wurde mit Freude und Erleichterung begrüßt, viele Helfer nahmen sie in Empfang und begleiteten sie zur Burg. Kasia wurde von Robinton und Lissala gestützt. Am liebsten hätte Robinton seine Frau getragen, weil er ihr den Fußmarsch ersparen wollte.
»Du kannst dich ja selbst kaum auf den Beinen halten, Mann«, winkte Idarolan ab.
Robinton musste zugeben, dass er sich sehr geschwächt fühlte. Bereitwillig folgte er Clostan, der sie am Eingangsportal der Festung erwartete und Kasia in die Krankenstation trug. Unterdessen hatten der Burgherr und die Burgherrin von ihrer sicheren Rückkehr erfahren und kamen herbeigeeilt. Juvana beugte sich besorgt über ihre Schwester, und Melongel runzelte bedenklich die Stirn. Auch er war sichtlich in Sorge gewesen.
»Ihr beide habt eine Menge mitgemacht«, meinte Clostan und seufzte. Kasia hustete in die vorgehaltene Hand, und der Heiler warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Gegen den Husten gebe ich dir ein Mittel. Und während der nächsten drei Tage müsst ihr euch ausruhen. Dann untersuche ich euch noch einmal.«
Juvana bestand darauf, dass sie in einem der tiefer gelegenen Gästequartiere wohnten. Ihre eigene Unterkunft lag zu weit von der Wärmequelle entfernt, mit der ihre Vorfahren die Burg beheizt hatten. Robinton hatte das Gefühl, als würde ihm nie wieder richtig warm werden. Er wurde vom Feuer angezogen wie ein Insekt vom Licht. Clostans Anweisungen befolgend, blieben sie einen Tag lang im Bett. Juvana steckte ihnen zusätzlich Wärmflaschen unter die Decken.
Kasia schlief fast die ganze Zeit über. Sie wurde nicht einmal wach, wenn sie hustete. Robinton fiel immer wieder in einen unruhigen Halbschlaf und schreckte jedes Mal hoch, wenn ein Hustenanfall Kasia schüttelte. Einmal wurde er wach und ertappte sich dabei, wie er unbewusst »Wir müssen überleben« skandierte und dabei mit den Händen den Takt schlug. Ein anderes Mal träumte er, er könnte Kasia in dem dichten Nebel, der sie einhüllte, nicht mehr sehen. Er wusste, dass sie nach ihm rief und versuchte zu antworten, doch seine Kiefer waren vor Kälte steif gefroren und ließen sich nicht öffnen.
Captain Gostol stattete ihnen einen Besuch ab und entschuldigte sich, weil er nicht schon viel früher eine Suche anberaumt hatte.
»Kasia ist eine gute Seglerin und kennt sich auf dem Meer aus. Und der Sturm erreichte erst vor zwei Tagen unsere Küste. Dann fingen wir natürlich an, uns Sorgen zu machen, weil eure Rückkehr bereits überfällig war.« Verlegen drehte er seine Kapitänsmütze in den Händen.
»Ich tat nur, was Kasia mir sagte«, erklärte Robinton. »Du hättest sie sehen sollen, Gostol, wie sie das Schiff durch den Orkan steuerte. Du wärst stolz auf sie gewesen.« Er tätschelte ihre Wange, und sie antwortete mit einem matten Lächeln.
»Du warst es, der uns gerettet hat, Rob«, behauptete sie und in ihren Augen blitzte ein lebhafter Funke.
Dann hustete sie, ein heiseres, trockenes Krächzen, das auch Clostans Hustenmixturen nicht lindern konnten.
Falls der Heiler wegen des hartnäckigen Hustens besorgt war, so ließ er sich nichts anmerken. Und bald ging es Robinton und Kasia wieder so gut, dass sie in ihr eigenes Quartier zogen. Juvana hatte in beiden Räumen Heizbecken aufstellen lassen, um die ärgste Kälte zu vertreiben. Der Schwarze Stein brannte gut, doch der Qualm, den er verbreitete, löste bei Kasia immer neue Hustenanfälle aus.
Robinton schlug vor, in das wärmere Gästequartier zurückzukehren, doch davon wollte Kasia nichts wissen. Sie sagte, sie fühle sich in der Wohnung, die sie sich selbst eingerichtet hatten, am wohlsten, und außerdem verbrächten sie ohnehin viel Zeit in den beheizten Schulräumen, wenn sie in der nächsten Siebenspanne den Unterricht wieder aufnähmen.
Clostan hatte alle Hände voll zu tun, denn die extrem kalte Witterung brachte ihm massenhaft Patienten, die an Schnupfen, Husten und Fieber litten. Er kümmerte sich weiterhin um Kasia, die darauf bestand, sie fühle sich gesund.
»Bis auf den Husten«, ergänzte Robinton.
»So schlimm ist es gar nicht, Rob«, widersprach sie. Ihre Apathie bereitete ihm die größten Sorgen. Des Abends war sie so erschöpft, dass sie in seinen Armen einschlief. Und er schwor sich, seine schöne, sanfte Frau um jeden Preis zu beschützen.
Rasch hintereinander tobten drei heftige Schneestürme. Die Menschen blieben in ihren Behausungen, und kein Schiff fuhr hinaus. Lord Melongel war ein fürsorglicher Herr und ließ Nahrungsmittel an die Leute verteilen, deren Vorräte zur Neige gingen. Es galt, die Menschen bei Kräften zu halten, damit sie die fürchterliche Kälte überstehen konnten.
Ein Husten, begleitet von Fieber, grassierte in der Burg. Clostan bat um Hilfe in der Krankenstation, und Robinton und Kasia meldeten sich als Freiwillige. Viele der Patienten waren ihre Schüler.
Eines Nachts wachte Robinton auf, weil Kasia wild mit den Armen um sich schlug. Sie stöhnte, murmelte Unverständliches vor sich hin und glühte vor Fieber. Robinton hetzte hinunter in die Krankenstation, wo ihm Clostans Assistent, der den Nachtdienst versah, zu Pulver zermahlene fiebersenkende Kräuter gab, außerdem eine Salbe, mit der er ihren Hals, die Brust und den Rücken einreiben sollte. Robinton machte einen Abstecher in die Küche und versorgte sich mit Klah. Er nahm noch einen Krug mit dem duftenden Wasser mit, das man in der Krankenpflege benutzte.
Kasia hatte die Pelzdecke zurückgeworfen und lag ungeschützt in der Kälte. Rasch deckte er sie bis zur Taille zu, dann massierte er sie mit der Salbe, die einen beißenden Geruch verströmte. Hinterher weckte er sie und flößte ihr ein paar Schlucke von dem Kräutertrunk ein.
Er döste immer wieder ein, und wenn er wach wurde, gab er Kasia zu trinken. Gegen Morgen lag sie im Delirium, und seine Besorgnis wuchs. Die Kräutermedizin hatte bei vielen Patienten geholfen, die er pflegte, nur bei Kasia zeigte sie keine Wirkung.
Vor Erleichterung hätte er beinahe geschrien, als Clostan, mit rot geränderten Augen und übernächtigt, eintrat. Gerade quälte Kasia ein neuer Hustenanfall, und Clostan eilte zu ihr ans Bett.
»Das klingt nicht gut«, meinte er, während er eine Hand auf ihre Stirn legte. »Du hast sie mit der Salbe eingerieben? Wiederhole die Anwendung alle drei Stunden. Und jetzt gebe ich ihr meine spezielle Medizin.«
Er mixte ein Gebräu zurecht und ließ sie davon trinken.
Dann wandte er sich an Robinton. »Die meisten Patienten erholen sich wieder. Keine Angst, sie wird es auch schaffen.«
Doch in Clostans Stimme schwang ein Unterton mit, der Robinton stutzig machte.
»Bist du sicher?«
»Aber ja doch. Sie ist jung und … kräftiger als manch anderer.« Er kniff die Lippen zusammen.
»Hat es wieder Todesfälle gegeben?«
Clostan nickte. »Die alten Leute haben keine Widerstandskraft. Da nützt es auch nichts, wenn ihre Zimmer warm sind wie ein Backofen.«
Er ging, doch kurz darauf erschien Juvana, und sie brachten Kasia in ein Gästezimmer, in dessen Kamin ein gewaltiges Feuer prasselte.
Juvana und Robinton wechselten sich ab, Kasia zu pflegen. Clostan sah mehrere Male am Tag nach ihr, doch das Fieber ließ sich nicht senken. Robinton kam es vor, als fühle sich ihre Stirn jedes Mal heißer an, wenn er die Hand darauf legte. Er wusste, dass dies nicht der normale Krankheitsverlauf war, und er dachte daran, was Clostan ihm über die mangelnde Widerstandskraft alter Leute erzählt hatte. War Kasias Gesundheit durch die überstandenen Strapazen im Sturm so angegriffen, dass sie der Krankheit nichts mehr entgegenzusetzen hatte? Er wagte es nicht, Juvana nach ihrer Meinung zu fragen. Sie war genauso besorgt wie er.
Nahezu ohne Unterbrechungen wachte Robinton an Kasias Bett. Juvana ließ für sich ein Feldbett aufstellen, damit sie Tag und Nacht verfügbar war. Melongel schaute herein. Auch Minnarden, der Robinton ablösen wollte, damit er etwas Schlaf abbekäme.
Robinton lehnte das Angebot ab. Er hatte geschworen, sich um Kasia zu kümmern, und nichts konnte ihn davon abbringen. Sie musste wieder gesund werden! Sie musste!
***
Aber es kam anders. Kurz vor Tagesanbruch am fünften Tag ihrer Krankheit, als Melongel und Clostan sich der Wache angeschlossen hatten, öffnete sie die Augen, lächelte Robinton an, der sich über sie beugte, seufzte und schloss für immer die Lider.
»Nein. nein. Nein! Nein! Kasia! Du darfst mich nicht verlassen!«
Er schüttelte sie, versuchte, sie aufzuwecken, bis er spürte, dass Juvana ihn zurückzuhalten versuchte. Dann umklammerte er Kasia, presste sie an seine Brust, streichelte ihr Haar, ihre Wangen, trachtete danach, sie ins Leben zurückzuholen.
Erst Melongel und Clostan gelang es, ihn von Kasia zu lösen, und Juvana legte sie wieder aufs Bett. Clostan nötigte ihn, eine Mixtur zu trinken.
»Wir haben getan, was wir konnten, Rob. Aber manchmal genügt das nicht.« In Clostans Worten schwang eine Trauer mit, die so verzweifelt war wie Robintons eigener Schmerz.
***
Kapitän Gostol segelte die Maid des Nordens mit einer Besatzung, die lediglich aus Vesna und zwei Seeleuten bestand. Die Fieberepidemie hatte auch seine Crew dezimiert.
Merelan sang den letzten Abschied, denn Robinton konnte nicht sprechen. Aber er spielte die Harfe, die er mit so viel Liebe für seine Frau gebaut hatte. Und als Merelan den letzten Ton des Liedes verklingen ließ, warf er die Harfe ins Meer, dem man Merelans Leichnam anvertraute. Die Harfe gab einen misstönenden, klagenden Akkord von sich, als der Luftzug in die Saiten fuhr. Dann kehrte wieder Stille ein. Selbst der Wind erstarb, als nähme er Rücksicht auf Robintons Trauer.
***
Er bezog wieder sein altes Junggesellenquartier. Ifor und Mumolon leisteten ihm Gesellschaft, sorgten dafür, dass er etwas aß und sich des Nachts ins Bett legte, denn er schien jede Antriebskraft verloren zu haben. »Wir müssen überleben …« Der Vers verfolgte ihn, spukte in seinem Kopf herum. Er hatte das Gefühl, nie wieder singen oder komponieren zu können. Zwar bemühte er sich, seinen Verlust zu verarbeiten, sich aus der Niedergeschlagenheit herauszureißen, doch er versank immer tiefer in Melancholie.
Allein saß er vor seinem Kaminfeuer. Ifor und Mumolon hatten anderswo zu tun, vielleicht, weil sie Pflichten erfüllen mussten, vielleicht auch nur, weil sie seine Depression nicht länger ertragen konnten. Die Tür ging auf, F'lon trat ein und sah seinen Freund an.
Robinton reagierte gleichgültig. Er nahm kurz von dem Drachenreiter Notiz und fuhr fort, in die Flammen zu starren.
»Ich hab's gerade erst erfahren«, begann F'lon und warf die Tür hinter sich zu. Auf dem Tisch stand eine fast leere Flasche Wein. F'lon goss den Rest in ein Glas und kippte es auf einen Zug herunter. »Sonst wäre ich schon viel früher gekommen.«
Robinton nickte. F'lon spähte aufmerksam in sein Gesicht.
»Es geht dir wirklich sehr schlecht, nicht wahr?«
Robinton ersparte sich eine Antwort. Er gab F'lon lediglich einen Wink, er möge verschwinden. Seinen Besuch wusste er zu schätzen, doch F'lon erinnerte ihn zu sehr an ihre letzte Begegnung, die an seinem Hochzeitstag stattfand.
»Ist es so schlimm?« F'lon blickte sich nach einer neuen Weinflasche um. »Hast du alles ausgetrunken?«
»Trinken hilft nicht.«
»Ich weiß. Ich hab's auch probiert.«
Etwas in F'lons Stimme riss Robinton aus seiner Teilnahmslosigkeit. »Was soll das heißen?«
»Sag mir zuerst, ob du noch eine Flasche Wein hier hast. Oder soll ich runtergehen und mir eine holen?«
F'lon wirkte verärgert, und Robinton deutete auf den Schrank. »Eine Flasche müsste dort noch stehen.«
»Hast du sie gezählt?«
Robinton zuckte die Achseln und seufzte. Gleichmütig sah er zu, wie F'lon die Flasche aus dem Schrank nahm, das Gesicht verzog, als er das Etikett las, und sich dann ein Glas einschenkte. Auch Robinton schenkte er nach.
»Du bist nicht der Einzige, der einen Verlust betrauert«, erklärte F'lon nach dem ersten Schluck.
»Ach?«
»L'tol – eigentlich müsste ich ihn Lytol nennen – hat Larth verloren. Ungefähr zur selben Zeit, als deine Kasia …« Selbst der dreiste F'lon konnte nicht weitersprechen. Er leerte sein Glas und füllte es bis zum Rand aus der Flasche nach.
»L'tol hat Larth verloren?« wiederholte Robinton.
»Ja, und es hätte nicht zu passieren brauchen.« F'lon setzte das Glas so fest auf dem Tisch ab, dass der Stiel brach. Er fluchte, weil ein Splitter seine Hand verletzte und steckte sich den blutenden Finger in den Mund.
»Wie kam es dazu?« fragte Robinton verwunderte. Während eines fädenfreien Intervalls starb nur selten ein Drache.
»C'vrel beschloss, während der Frühlings-Wettkämpfe eine Übung abzuhalten, bei der Feuerstein verwendet wird«, schilderte F'lon in sarkastischem Tonfall. »Die einzelnen Geschwader sollten gegeneinander antreten. S'lils Tuenth tauchte Flammen speiend aus dem Dazwischen auf und fügte Larth an der Flanke schwere Verbrennungen zu. Es befanden sich genug Drachen in der Luft, um Larth zu stützen. Wir brachten ihn auf den Boden zurück, und dabei hat er die ganze Zeit vor Schmerzen geschrien.« F'lon schüttelte sich. »L'tol fiel von seinem Rücken, und die Weyrleute fingen ihn auf. Aber Larth war zu schwer verletzt. Während er auf dem Boden lag, ging er ins Dazwischen.«
F'lon liefen die Tränen über die Wangen. Sein Schmerz ließ Robinton nicht kalt, und tröstend legte er eine Hand auf F'lons Arm.
F'lon wischte sich die Tränen ab. »Wie du siehst, gibt es noch mehr Leute, die trauern.«
»Das weiß ich. Aber ich komme über Kasias Tod nicht hinweg.«
»Wenn das so ist, dann folge ihr nach.«
»Ich soll ihr nachfolgen? Wie meinst du das?« Verblüfft blickte Robinton den Drachenreiter an.
»Nichts einfacher als das. Wir gehen hinaus zu Simanith, der nimmt dich in seine Vordertatzen, dann tauchen wir ins Dazwischen ein und Simanith lässt dich los. Mein Drache und ich kehren nach Benden zurück. Und du bist von deinem Kummer erlöst.«
»Ja, es wäre wirklich ganz einfach«, sinnierte Robinton und dachte an die kalte, schwarze Leere des Dazwischen, in der man nichts hörte, nichts fühlte, praktisch gar nicht mehr existierte.
Tränen traten ihm in die Augen, und sein Herz schien bersten zu wollen. Gewiss, es wäre eine einfache Lösung … aber so einfach auch wieder nicht.
»Nein, es ist kein Patentrezept für Kummer«, sagte F'lon in seine Gedanken hinein. »Wir Menschen hängen am Leben, selbst wenn wir das Liebste, was wir haben, verlieren. Lytol brachte es nicht über sich, als wir ihm den Vorschlag machten. Anfangs war er von dem Taubkraut und dem Fellis-Saft, mit dem man seine Verbrennungen behandelte, so betäubt, dass er keinen eigenständigen Entschluss fassen konnte, und als es ihm dann besser ging, kehrte er ins Hochland zu seiner Familie zurück.«
Robinton horchte auf. »Das Hochland ist zurzeit kein besonders sicherer Aufenthaltsort, wie mir scheint. Vor allen Dingen nicht für einen … ehemaligen Drachenreiter.«
F'lon zuckte die Achseln. »Er wollte es so. Und im Augenblick braucht er seine Familie. Als ich kam, sah ich, dass deine Mutter sich immer noch hier aufhält.«
»Ja. Sie hat mir sehr geholfen. Alle haben sich um mich bemüht.«
»Dann halte dir vor Augen, dass das Leben weitergeht.« Und die aufrichtige Freundlichkeit, die in diesen Worten mitklang, durchdrang den Panzer aus Eis, in den Robinton seine Seele gehüllt hatte.
»Danke, F'lon«, sagte er und stand auf. »Ich möchte jetzt etwas essen, und du siehst aus, als könntest du auch eine kräftige Mahlzeit vertragen.«
Tatsächlich machte F'lon einen verhärmten, mitgenommenen Eindruck, doch bei Robintons Vorschlag stahl sich ein Lächeln auf seine Züge. Er legte seinem Freund einen Arm um die Schultern, drehte ihn in Richtung Tür und bugsierte ihn dann hinunter in die Küche.
***
Kurz darauf besserte sich das Wetter, die Kranken erholten sich allmählich, und das Leben in der Burg nahm wieder seinen gewohnten Verlauf.
Für Robinton war es schwer, in Tillek zu wohnen, denn alles erinnerte ihn an Kasia. Manchmal glaubte er, ihre schlanke Gestalt durch die Gänge huschen zu sehen, oder das Echo ihrer Stimme zu hören. Er trauerte immer noch um sie, doch er strengte sich an, seinen Kummer durch viel Arbeit zu verdrängen.
Aber er wurde aus seiner Apathie gerissen, als Minnarden und Melongel ihm erzählten, sie hätten nun den Beweis für Lord Faroguys Tod.
»Wir baten um eine Nachricht bezüglich seines Gesundheitszustands«, erzählte Melongel. »Unter dem Vorwand, die letzte Trommelbotschaft sei nur unvollständig eingegangen.«
»Die Antwort, die wir erhielten, war gleichfalls sehr dilettantisch getrommelt, und sämtliche Türme baten mehrmals um eine Wiederholung, ehe sie die Auskunft weitergaben«, sagte Minnarden und schüttelte den Kopf. »Lobirn hat nie so stümperhaft getrommelt. Auch Mallan beherrschte das Handwerk.«
»Deshalb schickten wir einen … Freund los, der sich persönlich vom Stand der Dinge überzeugen sollte.« Melongel legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Einen Kurier, der Augen und Ohren offen hält. Die Informationen, die er uns hinterbrachte, klingen höchst beunruhigend.«
»Dann ist Farevene jetzt der Burgherr?«
»Nein«, entgegnete Melongel mit scharfer Stimme. »Farevene ist tot. Er starb bei einem Duell.«
»Gewiss war Fax sein Gegner. Aber was ist mit Bargen?«
Melongel schüttelte den Kopf. »Von ihm hat der Kurier nichts gehört. Lady Evelene bleibt in ihren Gemächern und gibt sich der Trauer hin. Hoffentlich stimmt das.«
»Wird eine Ratsversammlung einberufen, um den neuen Burgherrn zu bestätigen?«
»Der Rat tritt auf Wunsch des Erben zusammen. Doch von dem Erben haben wir bis jetzt noch nichts gehört«, erwiderte Melongel. Auf seinem Gesicht malten sich Besorgnis und Zweifel.
»Dann hat Fax die Macht an sich gerissen«, stellte Robinton fest. Seine Wut war durchmischt mit Angst. Er stand auf und wanderte im Zimmer hin und her. »Dieser Mann ist sehr gefährlich, Melongel. Und mit Burg Hochland allein wird er sich nicht zufrieden geben.«
»Nun übertreib mal nicht, Rob«, wiegelte Melongel ab. »Sicher, er hat die Festung in Besitz genommen, nach der er immer begierig geschielt hat. Aber das Territorium dürfte wohl groß genug sein, um jedermanns Ehrgeiz zu befriedigen.«
»Fax' Machthunger ist nicht zu stillen. Wo sind eigentlich Lobirn und Mallan? Und Bargen?«
»Um deren Sicherheit fürchte ich auch«, wandte Minnarden ein.
»Mit gutem Grund«, bekräftigte Robinton. »Zuerst übernimmt Fax die Festung seines Onkels. Er duldet keine Harfner auf seinem Besitz, die den Pächtern auch nur ein Grundwissen vermitteln. Dann ›erwirbt‹ er weitere Ländereien, indem er die rechtmäßigen Eigentümer zu Duellen herausfordert, bei denen diese ungeübten Kämpfer zu Tode kommen. Die dort ansässigen Blutsverwandten vertreibt er aus ihrer Heimat. Das darf so nicht weitergehen, Melongel. Du musst etwas gegen Fax unternehmen.«
»Ein Burgherr ist auf seinem Gebiet autonom«, hielt Melongel ihm vor Augen.
»Aber nicht, wenn er sich dieses Gebiet gesetzwidrig angeeignet hat.«
»Dieser Vorgang ist nicht näher definiert.«
»Es sieht so aus«, warf Minnarden ein, »als würde seine Vorgehensweise schweigend gebilligt.«
»Ich weiß, ich weiß«, winkte Melongel gereizt ab. »Du selbst hast ja meine Nachricht an die anderen Burgherren geschickt. Du kennst ihre Einstellung.«
»Dann wird man diesen Gesetzesbruch also durchgehen lassen?« Robinton war verärgert. Begriff denn niemand, welches ungeheure Risiko man einging, indem alle vor Fax kuschten? »Ich gebe dir nur den Rat, deine eigenen Grenzen zu sichern.«
»Das tue ich bereits. Es sind schon eine Menge Leute aus dem Hochland zu mir geflohen. Sie fürchten sich vor Fax.«
»Werden die Burgherren denn gar nicht einschreiten?« hakte Robinton nach.
Melongel hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Es hat nicht den Anschein. Und allein kann ich keine Maßnahmen ergreifen.«
Robinton seufzte. »Lord Grogellan würde dich unterstützen. Vor allen Dingen, weil Groghe ihm bestätigen kann, was im Hochland vor sich geht.«
»Grogellan ja, aber ich bezweifle, ob der alte Lord Ashmichel von Ruatha auch nur einen Finger rühren würde, um Fax zu bremsen. Sein Sohn Kale hingegen …« Nachdenklich rieb sich Melongel das Kinn. »Mit Hilfe aus Telgar wäre eventuell zu rechnen, denn die haben immerhin gemeinsame Grenzen mit dem Hochland.«
»Lord Tarathel sorgt gut für seine Pächter«, warf Minnarden ein.
»Lord Raid wohnt so weit weg, dass er sich nicht bedroht fühlt«, ergänzte Robinton mit einem Hauch von Verachtung.
»Meister Gennell will unbedingt wissen, wie es Lobirn und Mallan ergangen ist«, sagte Minnarden. »Und beim geringsten Verdacht, ihnen könnte ein Leid geschehen, ruft er sämtliche Harfner zurück.«
Robinton schnaubte wütend durch die Nase. »Das käme Fax gerade recht. Dann kann niemand mehr seine Untertanen über deren Rechte aufklären. Ich kenne mich gut in Burg Hochland aus. Ich weiß, wie man ungesehen hinein- und wieder hinauskommt.«
»Jawohl, und Fax kennt dein Gesicht«, versetzte Minarden.
»Er kann auch nicht überall sein.«
»Du bist viel zu wertvoll, um dein Leben bei einem so heiklen Einsatz zu riskieren«, meinte Minnarden.
»Ich habe nichts zu verlieren …« begann Robinton.
»Aber ich – einen Bruder«, entgegnete Melongel.
»Meister Gennell verfügt über Leute, die sich auf heimliche Nachforschungen verstehen«, beschied ihn Minnarden. »Er hat bereits alles arrangiert.«
Nachdem Robinton die beiden Männer verlassen hatte, wurde ihm bewusst, wie sehr er sich von seiner Umwelt abgeschottet hatte. Er musste wieder Anteil am Leben nehmen. Er sorgte sich um Meister Lobirn, Lotricia und Mallan. Und wenn er daran dachte, was die flüchtenden Frauen Chochol erzählt hatten, schwante ihm für die hübschen Mädchen Sitta, Triana und Marcine nichts Gutes. In dieser Nacht fand er vor lauter Grübeln lange keinen Schlaf.
***
Er setzte seine sommerliche Tour zu den in den Bergen gelegenen Pachthöfen fort, und mit ihren Beileidsbekundungen über Kasias Tod fügten ihm die Menschen mehr Schmerz zu, als sie ahnten. Ständig wurde er an seinen tragischen Verlust erinnert. Auf Chochols Anwesen standen mehrere Zelte. Sie dienten den bewaffneten Männern, die Patrouille gingen, als Unterkunft.
»Es kommen immer mehr Flüchtlinge zu uns«, erzählte Chochol kopfschüttelnd. »Man muss diesem Unhold Paroli bieten. Es heißt, er hätte sich bereits sechs oder sieben Gemahlinnen genommen, und alle sind schwanger. Bis jetzt wurden ihm nur Töchter geboren, und offenbar will er unbedingt einen Sohn zeugen.«
»Noch mehr Kerle seines Schlages haben uns gerade noch gefehlt«, kommentierte Robinton säuerlich.
Noch während er bei Chochol weilte, gelang Lobirn und Lotricia die Flucht. Bei ihnen befand sich ein schmächtiger kleiner Mann, der Robinton aus seiner Zeit im Hochland vage bekannt vorkam. Aber sicher war er sich nicht. Der Bursche war von einem unscheinbaren Äußeren und benahm sich unauffällig.
»Kann es sein, dass ich dir schon mal in der Harfnerhalle begegnet bin?« erkundigte sich Robinton später, derweil der Mann Proviant in seinem Packsack verstaute. Unterdessen hatte sich Robinton bereits von Meister Lobirn berichten lassen, was sich während der letzten anderthalb Planetenumdrehungen im Hochland abspielte.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, Robinton. Am besten, du vergisst, dass du mich jemals gesehen hast. Das dürfte das Sicherste sein. Wie du siehst, kehre ich zurück.«
»Warum? Lobirn und Lotricia hast du doch über die Grenze gebracht.«
»Als Nächsten möchte ich Mallan herausschmuggeln. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo ich ihn finde.«
»Was soll das heißen? Was haben sie mit ihm gemacht?«
Lobirn und Lotricia waren aus der Burg geflüchtet, weil man sie rechtzeitig gewarnt hatte, Fax wolle sie einsperren lassen. Mallan hatte nicht so viel Glück gehabt.
»Fax verschwendet nichts. Selbst ein verhasster Harfner kann für seinen Lebensunterhalt arbeiten. Falls man das Arbeiten nennen kann … oder Leben.«
»Wie bitte?« Robinton ließ nicht locker. Er wollte Gewissheit.
»Er hat ihn in die Minen geschickt.« Robinton überlief es eiskalt. Mallans Hände würden von der Plackerei mit den Steinen ruiniert werden.
»Ich finde ihn schon, keine Bange, Robinton«, versicherte der schmächtige Bursche, drückte zum Abschied seine Hand und machte sich auf den Weg. Er marschierte bergab in Richtung des Hochlands und wurde bald von der Abenddämmerung verschluckt.
Robinton und zwei weitere Männer begleiteten den ausgemergelten, erschöpften Meister Lobirn und seine Gattin in die nächstgelegene Burg, wo er blieb, um dort zu unterrichten. Von dort aus zogen Robinton und seine Gefährten in schnellem Marschtempo weiter. Unentwegt dachte Robinton voller Mitleid an Lotricia, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Er entsann sich, wie sie ihm stets Leckereien zugesteckt hatte, und in diesen Momenten hasste er Fax noch mehr – falls das überhaupt möglich war.
***
Seine Rückkehr nach Burg Tillek stellte ihn gefühlsmäßig auf eine harte Probe. Während seiner Reise durch das Hinterland kreisten seine Gedanken auch ständig um Kasia, doch als er nun die Festung wiedersah, die im Glast der Nachmittagssonne brütete, fiel ihm wieder ein, wie hoffnungsvoll er nach seiner letzten Tour heimgekehrt war – in die Arme seiner Geliebten, die auf ihn wartete. Am liebsten hätte er seinen Renner gewendet und wäre zurückgeritten.
Als er Melongel seinen Bericht abgab, legte der Burgherr die Schriftstücke zur Seite.
»Ich habe dein Gesicht gesehen, als du durch das Portal tratest, Bruder«, begann er. »Und da stand mein Entschluss fest. Burg Tillek ist nicht mehr der richtige Ort für dich. Hier wirst du nie von deinem Kummer genesen. Hiermit entbinde ich dich von deinem Vertrag. Auch Meister Gennell findet, zu solltest in die Harfnerhalle zurückkehren, wo dich nicht alles an Kasia erinnert.«
Melongels Worte trafen Robinton wie ein Schlag ins Gesicht, doch gleichzeitig sah er ein, dass man nur sein Bestes wollte. Robinton nickte stumm, um sein Einverständnis zu bekunden. Melongel stand auf, und auch Robinton erhob sich.
»Hier in Tillek bist du stets willkommen, Bruder, sollte dich dein Weg noch einmal zu uns führen. Für dich ist bei uns immer Platz«, erklärte Melongel und reichte ihm in einer förmlichen Geste die Hand. »Der junge Groghe wird dich nach Fort begleiten. Dann hast du unterwegs Gesellschaft. Eines Tages, wenn er die Nachfolge seines Vaters antritt, wird aus ihm ein würdiger Burgherr.«
»Er muss sich auch vor Fax in Acht nehmen.«
Melongel hob die Brauen und blickte Robinton prüfend an. »Das wird er, sei versichert. Und er tut gut daran, sich vor diesem Gesindel zu hüten.«
***
Zwei Tage später ritten Robinton und Groghe in südöstliche Richtung, um Sucho, Tortole und ihren Familien einen Besuch abzustatten. Sie blieben über Nacht und gönnten ihren Rennern eine Ruhepause. Robinton hatte Sadays Holzschüssel mitgenommen und zeigte ihr, wie sehr er dieses Geschenk wertschätzte.
Die Mauer stand, und die oberste Schicht ließ erkennen, dass man die Kräfte gebündelt und die Arbeit einträchtig fortgesetzt hatte. Offenbar hatten die verfeindeten Nachbarn ihren Streit endgültig beigelegt. Ein kleines Erfolgserlebnis, das Robinton mit heimbrachte.