FÜNFZEHNTES KAPITEL
»Platz, Cäsar!«, hörte Larzew eine herrische Frauenstimme hinter der Wohnungstür sagen. Es ertönten Schritte, die Tür öffnete sich. Vor Larzew stand die gesuchte Frau.
»Guten Tag, erkennen Sie mich?«, fragte er. »Wir sind uns auf den Elternabenden in der Schule Nr. 64 begegnet. Erinnern Sie sich? Ich bin der Vater von Nadja Larzewa.«
Die Frau gab einen leisen Schrei des Erstaunens von sich und stützte sich gegen den Türstock.
»Sie meinen, ihr Stiefvater . . .«, erwiderte sie.
»Nein, ihr richtiger Vater. Wie kommen Sie darauf, dass ich ihr Stiefvater bin?«
»Aber wieso denn?« Ihre Augenlider begannen nervös zu flattern. »Ich dachte, Nadjas Vater . . .«
»Was dachten Sie?«, fragte Larzew aggressiv, während er den Flur betrat und die Tür hinter sich schloss.
Die Frau brach in Tränen aus.
»Verzeihen Sie mir, in Gottes Namen, verzeihen Sie mir, ich habe gewusst, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. So viel Geld . . . ich habe es gefühlt.«
Ihr zusammenhangloses Murmeln wurde ständig von Schluchzen unterbrochen, aber schließlich gelang es Larzew, ihren wirren Wortfetzen zu entnehmen, was geschehen war. Im letzten Jahr hatte sich ein Mann an sie gewandt, der sie darum bat, die Elternabende in der Schule Nr. 64, auf die Nadja Larzewa ging, zu besuchen. Er hatte sich als Nadjas Vater ausgegeben und behauptet, er hätte sich von seiner Frau, Nadjas Mutter, getrennt. Es sei eine sehr böse Trennung mit schrecklichen Auseinandersetzungen gewesen, seine Exfrau wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben und würde alle Kontakte zu seiner Tochter unterbinden. Er würde aber so gern etwas über Nadja wissen, wie sie jetzt leben würde, wie es ihr in der Schule ginge, welche Probleme sie hätte, ob sie gesund sei. Er schien seine Tochter so aufrichtig zu lieben und so unter der Trennung zu leiden, dass die Frau ihm seine Bitte nicht abschlagen konnte. Noch dazu bot er ihr eine sehr gute Entlohnung für ihren einfachen Dienst an.
»Wer ist dieser Mann?«, fragte Larzew.
»Ich weiß es nicht.« Natalja Jewgenjewna begann wieder zu schluchzen.
»Wie haben Sie ihn kennen gelernt?«
»Wir standen zusammen in einer Warteschlange in einem Geschäft. Wir mussten sehr lange warten, kamen ins Gespräch, und schließlich erzählte er mir von seinen familiären Problemen . . . Das ist alles. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Er ruft mich immer nur an.«
»Und wie bekommen Sie das Geld von ihm?«
»Er wirft es mir in einem Kuvert in den Briefkasten, immer am Tag nach dem Elternabend. Gleich nach dem Elternabend ruft er an, ich erzähle ihm alles, was ich über Nadja gehört habe, und am nächsten Tag ist das Geld im Briefkasten. Sie müssen mich verstehen«, schluchzte die Frau erneut auf, »ich bin eine leidenschaftliche Jägerin, und das kostet furchtbar viel Geld. Ich brauche ein Auto, Gewehre, Munition, Lizenzen. Ohne die Jagd kann ich nicht leben, ich würde sterben. Ich bin in Sibirien geboren, mein Vater war Jäger und hat mich schon als Kind auf die Jagd mitgenommen. Wenn man mir das wegnimmt, ersticke ich hier in der Stadt.«
Natalja Jewgenjewna rechtfertigte sich, griff sich ständig ans Herz, nahm Tropfen, schluchzte und schnäuzte sich ins Taschentuch. Sie saßen in einem geräumigen, ungemütlichen Zimmer, das mit bunt zusammengewürfeltem Mobiliar eingerichtet war, jedes Stück aus einer anderen Zeit, rein zufällig erstanden, nichts zeugte von Geschmack oder Stilbewusstsein. Alle Wände der großen Dreizimmerwohnung waren mit Jagdtrophäen und Gewehren voll gehängt. Auf der Türschwelle lag in majestätischer Pose der riesige, reinrassige Dobermann, der auf den Namen Cäsar hörte.
»Beruhigen Sie sich, Natalja Jewgenjewna«, sagte Larzew mit weicher Stimme. »Lassen Sie uns versuchen, alles von Anfang an durchzugehen, sagen Sie mir alles, woran Sie sich erinnern, was Sie über diesen Mann wissen. Lassen Sie sich Zeit, denken Sie nach.«
»Was wollen Sie von diesem Mann?«, fragte die Frau plötzlich misstrauisch.
»Es ist so, Natalja Jewgenjewna, man hat meine Tochter entführt, und er ist für diese Entführung verantwortlich.«
»Wie bitte?« Die Frau griff sich wieder ans Herz. »O mein Gott, wie schrecklich, wie schrecklich . . .«, schluchzte sie, während sie ihren Kopf mit den Händen festhielt und auf dem Stuhl hin und her schaukelte. »Daran bin ich schuld, ich gutgläubige Idiotin, ich habe mich für Geld verkauft, ich habe einem Verbrecher vertraut. . .«
Und so ging es weiter. Schluchzen, Worte der Reue, Selbstanklagen. Larzew empfand plötzlich tiefes Mitleid mit dieser nicht mehr jungen Frau. Die Lichter der Großstadt hatten sie angelockt wie eine blinde Motte und verbrannten sie nun. Das sibirische Mädchen erstickte in dieser riesigen, steinernen, versmogten und verdreckten Stadt. Ihre einzige Freude war die Jagd, die einzige Möglichkeit für sie, Luft zu holen, reine, unverdorbene Luft, ohne die sie nicht leben konnte.
* * *
Larzew war mit der Metro zu Natalja Jewgenjewna Dachno gefahren, aber beim Umsteigen in eine andere Linie hatten seine Beobachter ihn aus den Augen verloren. Es war gerade Stoßzeit, die Massen schoben und drängten, wälzten sich ineinander, zwängten sich an den zahllosen Bücher- und Zeitungskiosken in den Metrounterführungen vorbei und versperrten den Weg.
»Lass uns zum Jagdverein zurückfahren«, sagte der Ältere von den beiden. Sein Partner, ein sympathischer, dunkelhaariger junger Mann, entzog sich geschickt dem Sog der Massen, die die beiden vorwärts drängten, schloss sich dem entgegenkommenden Menschenstrom an und bahnte eine Schneise für seinen älteren, ihm folgenden Partner.
Der Arbeitstag war zu Ende, die Mitarbeiterin des Jagd- und Angelvereins, mit der Larzew gesprochen hatte, war bereits nach Hause gegangen. Nachdem die beiden sich vom Dienst habenden Wachmann ihre Adresse hatten geben lassen, riefen sie in der Petrowka an und berichteten von ihrem Missgeschick, dann fuhren sie in Windeseile nach Kunzewo. Sie überredeten die Frau mit Mühe und Not, in ihr Auto einzusteigen und an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Ohne ihren Unmut zu verbergen, öffnete sie den Safe und warf die Mitgliedskarten auf den Tisch. Sie hatte ihre eigenen Pläne für den Abend, und diese seltsamen Milizionäre, die sie am heutigen Tag einer nach dem anderen heimsuchten, machten sie nur wütend.
»Hat er sich für eines Ihrer Mitglieder interessiert?«, fragte der Jüngere der beiden höflich, während er die Mitgliedskarten der Frauen betrachtete, die für die Jagd angemeldet waren.
»Ich weiß es nicht. Er hat sich nichts aufgeschrieben. Er hat die Karten nur durchgesehen, sonst nichts.«
»Hat er vielleicht irgendeine Karte länger betrachtet als die anderen, hat er Ihnen irgendwelche Fragen gestellt? Wir sind an jeder Einzelheit interessiert.«
»Da war nichts dergleichen. Er hat einfach die Karten angesehen, hat sich bedankt und ist wieder gegangen.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass er gefunden hat, was er suchte?«
»Ich habe ihn danach gefragt, und er hat gesagt, dass er es gefunden hat. Wie lange wollen Sie mich eigentlich noch aufhalten?«
»Wir gehen gleich, wir schreiben nur noch die Adressen der Mitglieder ab«, erwiderte der Jüngere der beiden und wandte sich plötzlich an seinen Partner.
»Hör mal«, sagte er, »die meisten der weiblichen Mitglieder sind hier im Verein angestellt. Wenn Larzew wieder gegangen ist und keine Fragen gestellt hat, dann bedeutet das, dass er keine von den Frauen gesucht hat, die hier arbeiten, sondern eine andere. Und von denen, die nicht hier arbeiten, gibt es gar nicht so viele.«
»Jetzt wird die Sache etwas einfacher«, sagte der Ältere erfreut. »Gut gemacht, Junge, du hast Köpfchen. Lass uns schnell die Adressen abschreiben, die Route planen und Sherechow um Unterstützung bitten.«
An die erste Stelle ihrer Route setzten sie die Domodedowskaja-Straße, an die zweite die Ljubinskaja-Straße. Sie wollten zuerst die Adressen im Süden der Stadt überprüfen und dann durchs Zentrum in den östlichen und nördlichen Teil weiterfahren. Der Lenin-Prospekt, auf dem Natalja Jewgenjewna Dachno wohnte, stand in ihrer Route an dritter Stelle. Es war neunzehn Uhr vierzig.
* * *
Gegen sieben Uhr abends begriff Gradow, dass seine Lage alles andere als rosig war. Als Arsenn die Bar verlassen hatte, hatte er versucht, seine Gedanken zu ordnen, und plötzlich war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Es hatte ein dummes Missverständnis gegeben. Als Arsenn Nikifortschuk erwähnt hatte, war Gradow so erschrocken, dass er die Fähigkeit zum Denken und erst recht zum Widerstand gegen Arsenn verloren hatte. Jetzt, während ihm die Einzelheiten des Gesprächs einfielen, erinnerte er sich daran, dass Arsenn ihm Eigenmächtigkeiten vorgeworfen hatte. Was hatte er damit gemeint? Gradow hatte sich keinerlei Alleingänge erlaubt. Das war ein bedauerlicher Irrtum, der aufgeklärt werden musste, und danach würde Arsenn wieder in den Vertrag einsteigen und alles tun, wozu er sich verpflichtet hatte. Er musste sich dringend mit ihm in Verbindung setzen.
Sergej Alexandrowitsch verließ eilig die Bar, setzte sich ins Auto und fuhr nach Hause. Von zu Hause rief er einige Male die Geheimnummer an und wartete auf den Rückruf, um sich mit Arsenn zu verabreden. Doch es erfolgte kein Rückruf. Er machte einen erneuten Versuch, aber sein Telefon blieb stumm. Gradow wurde nervös, rief seinen Bekannten im Innenministerium an und bat ihn festzustellen, auf welchen Namen die Telefonnummer angemeldet war. Die Antwort kam schnell und war entmutigend. Es handelte sich um eine Nummer, die bereits seit fünf Jahren keinen Inhaber mehr hatte.
Es gab noch den Weg, über den Sergej Alexandrowitsch zum ersten Mal Kontakt mit Arsenn aufgenommen hatte. Er rief den Mann an, der damals die Verbindung zum Kontor für ihn hergestellt hatte.
»Guten Tag, Pjotr Nikolajewitsch, hier ist Gradow«, sagte er hastig. »Ich muss dringend mit Ihrem Bekannten sprechen. Können Sie mir sagen, wie ich ihn erreichen kann?«
»Gradow?«, fragte die Bassstimme im Hörer erstaunt. »Ich kann mich an Ihren Namen nicht erinnern. Wer sind Sie?«
»Aber ich habe Sie doch vor zwei Monaten angerufen, Pjotr Nikolajewitsch, und Sie haben mir damals die Telefonnummer des Mannes gegeben, der mir in einer heiklen Situation helfen sollte. Ich muss dringend mit diesem Mann sprechen.«
»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden. Haben Sie sich vielleicht verwählt?«
Gradow zweifelte nicht daran, dass der vorsichtige und vorausschauende Arsenn sofort nach dem Gespräch mit ihm bei Pjotr Nikolajewitsch angerufen und ihm gesagt hatte, dass er für Gradow nicht mehr zu sprechen war.
Sergej Alexandrowitsch dachte mit Entsetzen daran, dass nun alles verloren war. Er würde Arsenn nicht finden, niemals mehr. Es blieb nur noch eine letzte Hoffnung. Diese letzte Hoffnung war Fistin.
* * *
Sergej Gradow war ein verwöhntes, verzärteltes Kind. Er litt sehr darunter, dass alle seine Freunde einen Vater hatten, mit dem sie zusammenlebten, er hingegen nur einen, der gelegentlich zu Besuch kam. Und auch dann schickte ihn die Mutter meistens zum Spielen hinunter in den Hof. Der Vater brachte ihm immer Geschenke mit, Spielsachen und Süßigkeiten, die Mutter liebte ihn über alles und erklärte Sergej immer wieder: Dein Papa ist der beste von allen, er hat einfach eine andere Frau und zwei Kinder, die er als verantwortungsvoller Mensch nicht verlassen kann. Und der Vater sagte oft: Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, Söhnchen, du kannst immer auf mich zählen, du und deine Mutter seid mir die liebsten Menschen auf der Welt. In seiner Kindheit und Jugend machte Sergej oft Dummheiten, aber er wurde nie bestraft, im Gegenteil, seine Eltern fühlten sich schuldig vor ihm, weil er ohne richtige Familie aufwachsen musste, sie brachten die Dinge jedes Mal selbst wieder in Ordnung und schimpften ihren Sohn nicht, sondern schienen ihn zu bedauern.
Mit den Jahren wurde Sergej immer unfähiger, über die Folgen seines Verhaltens nachzudenken und wenigstens einen einzigen Schritt vorauszudenken. Er tat, was ihm gerade einfiel, und überließ seinen Eltern die ehrenvolle Aufgabe, sich mit den Folgen seiner unbedachten und manchmal gefährlichen Handlungen herumzuschlagen.
Nach der Armee besorgte der Vater Sergej einen Studienplatz im Institut für internationale Beziehungen. Dort studierten vor allem die Kinder hoch gestellter Eltern, denen es dank ihrer Beziehungen gelungen war, ihrem Nachwuchs gleich nach dem Schulabschluss ein Studium zu ermöglichen. Deshalb gab es an diesem Institut nicht viele Studenten, die den Armeedienst abgeleistet hatten. Sie waren bewunderte Ausnahmen, richtige, erwachsene Männer, die die harte Schule des Militärs hinter sich hatten. Sie erzählten schmutzige Witze, konnten von Weibergeschichten und Saufgelagen berichten und hatten die derben Manieren der Soldateska.
Am meisten fühlte Sergej sich zu Arkadij Nikifortschuk hingezogen, der ihm selbst so unähnlich war. Arkadij war als Diplomatensohn im Ausland aufgewachsen, seine Kindheit hatte aus Lesen, Klavierspielen und Sprachstudien bestanden. Er hatte meistens nur seine Mutter um sich und briet im Saft des sowjetischen Diplomatenghettos. Die letzte Schulklasse absolvierte er in Moskau und trat danach sofort sein Studium an. Nachdem er die Freiheit des Studentenlebens kennen gelernt hatte und voll und ganz unter Gradows Einfluss geraten war, gingen die Pferde mit ihm durch. Seine Eltern, die erneut für längere Zeit ins Ausland gefahren waren, überließen ihrem Sohn ihre Wohnung und versorgten ihn regelmäßig mit Geld und modischen Klamotten.
Nach dem, was im Wald geschehen war, hatten Gradow und Nikifortschuk keine großen Schwierigkeiten, sich mit Geld von dem Ehemann des Opfers loszukaufen. Sie verkauften mal dies, mal jenes von den Sachen, die Arkadijs Eltern regelmäßig aus dem Ausland schickten. Aber Gradow, der seine Mutter nicht um Geld bitten konnte, wollte nicht ewig in der Schuld seines reichen Freundes stehen.
Die Idee, den aufsässigen Erpresser loszuwerden, stammte von Gradow. Tamara Jeremina war eine Bekannte von ihm, und es fiel ihm nicht schwer, Vitalij Lutschnikow nach einer der obligatorischen Geldübergaben zu einem gemeinsamen Besuch bei einer »offenherzigen Dame« zu überreden. Sehr schnell gelang es ihnen, Tamara besinnungslos betrunken zu machen und in ihr Bett zu befördern. Lutschnikow machte es ihnen nicht ganz so einfach, aber schließlich landete auch er in Tamaras Bett. Gradow und sein Freund stachen abwechselnd mit einem Küchenmesser auf ihn ein. Dann saßen sie in der Küche und warteten darauf, dass Tamara wieder zu sich kam. Nikifortschuk rutschte auf seinem Stuhl herum, als hätte er Nadeln im Hintern, und wollte so schnell wie möglich verschwinden, aber Sergej erklärte ihm fachmännisch, sie müssten unbedingt hier bleiben und warten, bis Tamara die Leiche entdeckt hatte, um sie davon zu überzeugen, dass sie es war, die im volltrunkenen Zustand zum Messer gegriffen hatte. Sonst könne die Sache schief gehen.
»Wir müssen die Kontrolle über die Situation behalten«, sagte Gradow mit gewichtiger Miene, während er sich Kartoffeln auf den Teller lud und noch eine Scheibe Brot abschnitt. Der soeben begangene Mord hatte seinen Appetit nicht geschmälert. Tamaras dreijährige Tochter Vika, die leise unter dem Tisch herumkroch und von irgendwelchen Kinderangelegenheiten plapperte, beachtete er gar nicht.
Sie mussten lange warten. Doch endlich rührte sich etwas im Zimmer nebenan, die zuerst undeutlichen Laute gingen in gellendes Geschrei über. In der Küchentür erschien Tamara, mit Blut an den Händen und grün im Gesicht. Das Blut tropfte von ihren Händen, sie starrte fassungslos auf ihre Finger, stürzte plötzlich zur Wand und wischte sie an der weiß gestrichenen Fläche ab. Es war ein so Grauen erregender Anblick, dass Arkadij sich fast erbrochen hätte. Er wollte sein Gesicht vor dem Freund nicht verlieren, und um seine Coolness zu demonstrieren, griff er nach einem Stück grüner Schneiderkreide, die auf dem Küchenbuffet lag, und zeichnete über die blutigen Streifen an der Wand einen Violinschlüssel. Er hielt seine Idee für sehr ausgefallen und originell und begann zu lachen. Er konnte stolz auf sich sein.
Alles Weitere verlief wie geplant. »Du Schlampe, was hast du angerichtet, du hast ihn umgebracht!«, schrien sie und stürzten hinaus ins Treppenhaus, um die Nachbarn auf das Geschehene aufmerksam zu machen und, wie Gradow sich ausdrückte, eine öffentliche Meinung herzustellen. Kurz darauf kam die Miliz, die beiden machten eine Zeugenaussage, und erst da besann sich Arkadij.
»Sie haben unsere Adressen und wissen jetzt, wo wir studieren. Wenn sie nun eine Meldung ans Institut schicken, dass wir unsere Zeit mit einer Trinkerin und Mörderin verbringen? Wir werden sofort fliegen.«
Daran hatte Gradow nicht gedacht. Aber er erschrak auch nicht besonders. Er hatte schließlich einen Vater, der ihm in jeder Lebenslage half.
Seinem Vater erzählte er dasselbe wie der Miliz. Aber Alexander Alexejewitsch kannte seinen Sohn zu gut, um ihm diese Mär zu glauben.
»Habt ihr ihn umgebracht?«, fragte er ohne Umschweife.
»Ja. Wie bist du darauf gekommen?«
Sergej sah seinem Vater provokativ in die Augen. Er hatte keinerlei Gewissen mehr, und da er bisher immer straffrei ausgegangen war, empfand er auch keine Angst mehr vor seinen Eltern.
Der Vater machte seinem Sohn mit unverblümten, eindringlichen und durchaus deftigen Worten klar, dass er eine große Dummheit begangen hatte. Aber er versprach trotzdem, ihm zu helfen. Und er hielt Wort.
Nach Abschluss des Studiums trennten sich die Wege von Sergej Gradow und Arkadij Nikifortschuk. Alexander Alexejewitsch, der inzwischen weiter die Parteileiter hinaufgeklettert war, besorgte seinem Sohn einen Posten im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU. Aus einer Versetzung ins Ausland wurde nichts, da Sergej zu faul war, um seltene Fremdsprachen zu lernen, und mit seinem mittelmäßigen Englisch und schwachen Französisch kam er nicht weit. Aber Sergej war durchaus zufrieden mit dem, was er hatte, und machte sich mit Ausdauer daran, seine Parteikarriere aufzubauen. Zu Beginn der Perestroika knüpfte er viele Verbindungen und fand eine einfache Methode, an Valuta zu kommen. Er machte in Paris ein Häufchen junger, mittelloser Literaten und Übersetzer aus russischen Emigrantenkreisen ausfindig und lieferte ihnen Stoff für nervenzerfetzende Thriller.
Nach dem Putsch im Jahr 1991, als die einzige existierende Partei endgültig untergegangen war und an ihrer Stelle zahllose andere wie Pilze aus dem Boden schossen, ging Sergej Alexandrowitsch, gut ausgestattet mit konvertierbarer Währung, voller Enthusiasmus daran, sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Und da tauchte nach vielen Jahren plötzlich Nikifortschuk wieder auf. . .
Sergej hatte in den achtzehn Jahren, die inzwischen vergangen waren, ganz anders gelebt als Nikifortschuk. Schon im letzten Semester hatte er eine Kommilitonin geheiratet, ein hageres, brünettes Mädchen mit verlockenden kleinen Brüsten und großen Ansprüchen. Sie stammte aus einer sehr guten Familie und hatte einen sehr schlechten Charakter. Seit dem Zwischenfall im Wald mied Sergej instinktiv den klassischen russischen Frauentypus, füllige, hellhaarige, grauäugige weibliche Wesen mit runden Gesichtern. Er konnte sich nicht vorstellen, so eine Frau zu berühren, geschweige denn, mit ihr zu schlafen. Selbst schmal, hoch gewachsen, mit schönen, feinen Gesichtszügen, wählte er unter allen Anwärterinnen diejenige aus, die der russischen Schönheit Lena Lutschnikowa am wenigsten glich.
Nikifortschuk, der schon seit seiner Kindheit mit Fremdsprachen vertraut war, hatte am Institut mit Begeisterung Holländisch gelernt, was ihm schließlich auch zu einer Stelle als Leiter der sowjetischen Außenhandelsstelle in den Niederlanden verhalf. Seine Frau war begeistert. Alles lief so, wie sie es sich erhofft hatte, als sie Arkadij heiratete. Bald wurde ihnen eine Tochter geboren.
Doch die so glänzend begonnene Karriere begann plötzlich zu bröckeln. Arkadij betrank sich immer öfter und verfiel in Schwermut, er hörte traurige Musik und stellte Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Sünde, Schuld und anderem Unsinn. Seine Frau wurde nervös, sie wollte einen Diplomaten aus ihm machen und war der Meinung, dass er arbeiten, Empfänge besuchen und sich bei den entsprechenden Leuten beliebt machen musste, aber Stattdessen faulenzte er. Eines Tages betrank sich Nikifortschuk hemmungslos auf einem wichtigen Empfang, redete eine Menge Unsinn und machte sich lächerlich. Wir alle, meinte er hitzig, sitzen hier satt und zufrieden und tun so, als sei alles in bester Ordnung, in Wirklichkeit geht jeder von uns über Leichen und hat schwere Sünden auf sich geladen. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden wurde er nach Moskau zurückbeordert. Von nun an durfte er das Land nicht mehr verlassen, Auslandsreisen konnte er für immer vergessen, weshalb seine Frau kurzerhand die Tochter nahm, das gesamte ersparte Vermögen und ohne eine Träne im Auge das eheliche Lager verließ. Das geschah im Jahr 1977. 1980 wurde Arkadij wegen Trunksuchts aus den Diensten der Außenhandelsstelle entlassen und landete als Übersetzer beim Progress-Verlag. Als seine Eltern ein Jahr später endgültig aus dem Ausland zurückkehrten, wurde sein Leben unerträglich. Er konnte sich keine eigene Wohnung leisten und musste sich täglich die Vorwürfe und Strafpredigten seiner Eltern anhören. Eine Weile hielt er aus, dann heiratete er eine Kellnerin und zog zu ihr. Sergej Gradow, seinen einst besten Freund, hatte er in diesen Jahren nur ein einziges Mal gesehen, auf einem Kommilitonentreffen, das 1983 stattfand, zehn Jahre nach dem gemeinsamen Abschluss des Studiums. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, tauschten ihre Telefonnummern aus, Arkadij druckste noch ein wenig herum und verließ klammheimlich das Fest. Er hatte nichts, womit er sich hervortun konnte.
Mit Zunahme der Auslandsgeschäfte verbesserte sich Arkadijs Lage ein wenig. Man begann, ihn als Dolmetscher bei mehr oder weniger seriösen Verhandlungen einzusetzen. Im Jahr 1991 fungierte er als Dolmetscher bei Verhandlungen mit irgendeinem holländischen Geschäftsmann. Der Holländer warf sofort ein Auge auf die attraktive Sekretärin Vika, die Kaffee und kalte Getränke servierte, und am Ende des offiziellen Teils lud er sie in ein Restaurant ein. Er bat Arkadij, ihn zu begleiten, da er sich ohne dessen Hilfe nicht mit dem Mädchen verständigen konnte. Im Restaurant sprachen alle drei ordentlich dem Alkohol zu, und anschließend nahm der Holländer die beiden mit in seine Luxussuite im Hotel. Während er sich mit Vika vergnügte, schlief Nikifortschuk auf dem Sofa im anderen Zimmer. Schließlich erschien der Holländer in der Tür und bot Arkadij mit einem müden Lächeln die Reste des Festmahls an. Arkadij verfluchte sich für seine Schwäche, aber das Mädchen war außergewöhnlich schön, er überwand seinen Selbstekel und nahm das Angebot an. Vika erinnerte ihn undeutlich an jemanden, er fragte sie nach ihrem Namen, in der Hoffnung zu erfahren, wann und wo er ihr begegnet sein könnte.
Als er den Namen Jeremina hörte, zuckte er zusammen und erstarrte vor Entsetzen, aber er tröstete sich sofort mit dem Gedanken, dass es sich um einen weit verbreiteten Namen handelte und alles nichts als Zufall war.
Aber es erwies sich als nicht so einfach, das quälende Interesse an Vika loszuwerden. Arkadij bot ihr an, sie nach Hause zu fahren, und blieb bis zum nächsten Morgen bei ihr. Mitten in der Nacht erwachte sie plötzlich schreiend, schweißgebadet, tränennass, sie sprang aus dem Bett, goss sich ein Glas Wodka ein, kippte es hinunter und erzählte Nikifortschuk ihren Albtraum. Sie schluchzte hysterisch, musste sich erbrechen, Arkadij trocknete ihr die Tränen und dachte mit Entsetzen daran, was er und Gradow diesem Mädchen angetan hatten. Sie waren schuld an ihrem verpfuschten Leben und ihrer beschädigten Psyche. Er empfand qualvolles Mitleid mit Vika und ebenso qualvolle Scham. Zwanzig Jahre hatte er unter Schuldgefühlen gelitten, die Begegnung mit Vika hatte ihm den Rest gegeben.
Am nächsten Morgen rief er Gradow an und faselte etwas davon, dass sie Vika helfen müssten, sie seien schuld an ihrem verpfuschten Leben und hätten eine schwere Sünde begangen. Für den Moment gelang es Gradow, seinen Freund ein wenig zu beruhigen.
»Wem willst du denn helfen?«, sagte er besänftigend, »du kommst doch keinen einzigen Tag ohne Alkohol aus. Lass uns erst einmal dein eigenes Leben in Ordnung bringen, und dann denken wir darüber nach, wie wir dem Mädchen helfen können. Ich bringe dich zu meinem Arzt, er setzt dir ein Antidot zum Alkohol, und wenn es dir wieder besser geht, werden wir weitersehen.«
Zunächst schien es, als sei es Gradow wirklich gelungen, seinen Freund zu beschwichtigen, aber dann begann Arkadij, ihn immer öfter nachts anzurufen und Wahnideen zu äußern. Er drohte damit, Hand an sich zu legen und einen Brief mit einem Schuldbekenntnis zu hinterlassen oder zu einem Priester zu gehen und eine Beichte abzulegen oder Vika alles zu gestehen und Vergebung von ihr zu erbitten. Gradow begriff, dass Nikifortschuk gefähr-lich geworden war. Und er traf, wie immer, eine brutale und radikale Entscheidung.
* * *
»Wie geht es ihr?«, fragte Arsenn leise. Er fröstelte und wärmte sich die kalten Hände mit seinem Atem.
Im Zimmer war es halbdunkel, man hörte nur das leise Geräusch des EKG-Gerätes. Der Schreiber warf geheimnisvolle Kurven und Zacken aus, die die verschlüsselte Antwort auf die gestellte Frage gaben.
»Bis jetzt hält sie sich ganz gut«, erwiderte der Arzt, während er die Elektroden vom Körper des Mädchens nahm und den Apparat wieder in seinem Koffer verstaute. »Stabiler Puls, reine Herztöne.«
»Aber so wird es wahrscheinlich nicht mehr lange bleiben, oder?«, fragte Arsenn nach.
»Was soll ich Ihnen sagen. . .«, murmelte der Arzt ausweichend. »Sagen Sie mir, was Sie wünschen, dann sage ich Ihnen, was ich tun kann.«
Er sah Arsenn unterwürfig an, wozu er seinen Kopf weit nach unten senken musste, da Arsenn sehr viel kleiner war als er.
»Richten Sie sich nicht nach mir«, erwiderte Arsenn scharf. »Sie sind der Arzt, sagen Sie mir klipp und klar, wie lange wir dem Mädchen das Präparat noch verabreichen können, ohne seiner Gesundheit zu schaden. Wenn ich weiß, wie viel Zeit wir noch haben, werde ich eine entsprechende Entscheidung treffen.«
»Nun ja . . .« Der Arzt wollte es Arsenn recht machen und versuchte zu verstehen, was er von ihm hören wollte. »Im Prinzip . . . Das hängt von ihrer Herztätigkeit ab . . . Ich weiß nicht, wie stabil sie ist, ob sie in letzter Zeit vielleicht schwere Erkrankungen durchgemacht hat.«
»Hören Sie auf, mir blauen Dunst vorzumachen«, sagte Arsenn verärgert. »Mit Ihrer Frau ist die Zusammenarbeit viel einfacher als mit Ihnen. Sie kann die Situation und ihre eigenen Möglichkeiten immer genau einschätzen, sie fürchtet sich nicht vor präzisen Aussagen. Ich bezahle Sie als Fachmann und erwarte von Ihnen, dass Sie einen Standpunkt vertreten. Wenn ich medizinische Fragen selbst lösen könnte, würde ich Ihnen nicht so viel bezahlen für Ihre Dienste. Seien Sie also so freundlich, und tun Sie etwas für Ihr Geld. Sie haben dem Mädchen eben eine Spritze gegeben. Wie lange wird sie wirken?«
»Zwölf Stunden.«
»Das heißt, morgen früh um acht müssen wir erneut spritzen?«
»Nun . . . Im Prinzip schon.«
»Was heißt im Prinzip?«
»Das ist riskant. Die nächste Spritze kann sie umbringen. Es kann sein, dass sie nicht mehr aufwacht.«
»Gut, jetzt beginnt sich die Situation wenigstens etwas zu klären«, brummte Arsenn. »Ist es im Prinzip möglich, dass sie die nächste Spritze überlebt?«
»Natürlich. Ich sage Ihnen ja, es hängt von ihrer Gesundheit ab, davon, wie stark ihr Herz ist. . .«
»Wir machen Folgendes«, sagte Arsenn. »Morgen früh untersuchen Sie das Mädchen wieder und teilen mir mit, ob Sie Ihr die nächste Injektion verabreichen können. Wenn ja, dann ist es gut. Wenn nein, werde ich entscheiden, ob wir das Mädchen aufwachen lassen oder trotzdem spritzen. Morgen früh werde ich genügend Informationen haben, um so eine Entscheidung treffen zu können.«
»Aber Sie verstehen doch, dass die nächste Spritze . . .« Der Arzt verstummte und schluckte krampfhaft.
Arsenn hob leicht den Kopf und fixierte den Arzt mit seinen kleinen, sehr hellen Augen. Sein Schweigen war sehr viel beredter und drohender als alle scharfen Worte, die er hätte sagen können. Endlich erlosch das böse Funkeln in seinen Augen, das Gesicht des alten Mannes nahm wieder einen ganz gewöhnlichen, unauffälligen Ausdruck an.
»Wie geht es dem Kaiser?«, fragte er beinah vergnügt, während er den Fahrplan für Vorstadtzüge, den er aus seiner Tasche geholt hatte, zu studieren begann.
»Sie meinen Cäsar? Dem geht es prächtig. Er frisst für zwei und macht Unsinn für drei. Aber dafür ist er boshaft wie zehn seiner Art.« Der Arzt war sichtlich erleichtert. Er wollte es Arsenn nicht nur recht machen, er hatte tödliche Angst vor ihm.
»Nach Ihrem Sohn frage ich nicht, von dem weiß ich sowieso alles. Ist Ihre Frau wohlauf?«
»Danke, bei uns ist alles in Ordnung.«
»Irgendwie ist es kalt hier bei Ihnen«, sagte Arsenn und fröstelte erneut. »Wird das Mädchen sich nicht erkälten?«
»Es ist warm zugedeckt. Außerdem muss der Raum kühl sein. Für Menschen, die sich im Narkoseschlaf befinden, ist ein warmer Raum schädlich«, erklärte der Arzt fachmännisch.
»Gut, mein Freund, es wird Zeit für mich.«
Arsenn hatte endlich einen passenden Zug gefunden und schickte sich zum Gehen an.
»Morgen früh um acht untersuchen Sie das Mädchen, um Viertel nach acht erwarte ich Ihren Anruf. Wenn ich entscheide, dass sie keine Injektion mehr bekommt, sagen Sie meinen Leuten Bescheid. Sie sollen sie in die Stadt bringen und in der Grünanlage absetzen. Sie haben entsprechende Anweisungen.«
»Und wenn . . .?«, fragte der Arzt schüchtern.
»Dann werden Sie ihr die Spritze geben. Auf Wiedersehen. Und zerbrechen Sie sich nicht unnütz den Kopf.«
Arsenn verließ das Zimmer, ging die Außentreppe hinunter und trat auf den knirschenden Schnee. Hier draußen, hinter der Stadt, war richtiger Winter, der Schnee schmolz nicht unter den Füßen und Autorädern weg, sondern blieb wie ein glatter weißer Teppich liegen. Arsenn wusste, dass es bei mittlerer Gehgeschwindigkeit von hier, dem einstigen Winterlager für Junge Pioniere, bis zum Bahnhof genau dreiundzwanzig Minuten waren. Er hatte genau dreiundzwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges das Haus verlassen, um keine Sekunde länger als nötig auf dem Bahnsteig herumzustehen und aufzufallen.
Das Gespräch mit dem Arzt hatte in ihm, wie immer, ein Gefühl leichten Widerwillens hinterlassen. Er war zweifellos ergeben und sehr bemüht, aber feige und unterwürfig. Seine Frau gefiel Arsenn sehr viel besser. Aber ohne ihren Mann konnte er auch nicht auskommen, man musste ihn an der kurzen Leine halten und durfte ihn nicht zu sehr verschrecken. Immerhin war er bereit, einiges zu tun, wie jetzt mit dem Mädchen. Arsenn war völlig klar, dass es gefährlich war, Nadja wieder freizulassen, sie verstand bereits alles und konnte der Miliz helfen, die Spur zu ihm zu finden. Und trotzdem musste man sie freilassen, um ein Druckmittel gegen Larzew in der Hand zu behalten und dieses Druckmittel in Zukunft auch gegen die Kamenskaja einzusetzen. Es war eine ideale Lösung, das Mädchen in Tiefschlaf zu versetzen. Es sah und hörte nichts, deshalb konnte man es ohne jedes Risiko wieder freilassen. Und dem besorgten Vater würde klar werden, dass man, sollte er nicht mehr mitspielen, das nächste Mal mit seiner Tochter ganz anders verfahren würde. Die praktische Erfahrung hatte allerdings gezeigt, dass es nie zu einem nächsten Mal kam, nach einer Kindesentführung wurden widerspenstige Eltern völlig zahm, der durchlebte Schrecken reichte ihnen für den Rest ihres Lebens. Nadjas Entführung war bereits die fünfte in Arsenns Laufbahn, und für die noch kommenden Fälle musste er sich den Arzt warm halten.
Arsenn betrat den Bahnsteig in genau dem Moment, in dem die automatischen Türen des Zuges sich öffneten. Er begab sich ins Innere des warmen Wagens, setzte sich in eine Ecke, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen.
* * *
Oberst Gordejew sah sich die Informationen an, die Oleg Mestscherinow nach einem Besuch bei Nikifortschuks Witwe mitgebracht hatte. Gestern, am 29. Dezember, hatte Viktor Alexejewitsch erfahren, dass Gradow an dem Vorfall in Tamara Jereminas Wohnung beteiligt gewesen war. Unglücklicherweise konnte der Untersuchungsführer Smeljakow sich nicht mehr erinnern, an welchem Institut die beiden jungen Leute, deren Namen man aus den Akten gestrichen hatte, damals studierten. Bis Nastja Gradow gefunden, bis man Daten über ihn gesammelt und herauszufinden versucht hatte, wo er studiert hatte, bis man seinen Kommilitonen Nikifortschuk ausfindig machen konnte, war nicht wenig Zeit verstrichen. In der gewöhnlichen Zeitrechnung handelte es sich nur um einige Stunden, aber diese Stunden hatten sich als Ewigkeit erwiesen, als Abgrund, den Oberst Gordejew nicht mehr überspringen konnte. Als er die zwei Jahre alten Unterlagen über Nikifortschuks Tod endlich vor sich hatte, war Nastja bereits in ihrer Wohnung gefangen, und er konnte sie nicht mehr anrufen. Das war äußerst bedauerlich, da Gordejew in diesen Unterlagen auf eine sehr wichtige Einzelheit gestoßen war. Damals, vor zwei Jahren, wurde Nikifortschuks Tod als Unglücksfall eingestuft. Es gab schließlich genug Alkoholiker, die trotz des Antidots zum Alkohol, das man ihnen einsetzte, das Trinken nicht lassen konnten und daran starben. Die Kriminalbeamten hatten sorgfältig ermittelt, konnten aber nicht feststellen, dass der dem Alkohol verfallene Übersetzer Feinde gehabt hatte. Aber von heute aus gesehen, nach allem, was in den letzten zwei Monaten geschehen war, erschien Arkadijs Tod in einem ganz neuen Licht.
Deshalb hatte Gordejew am gestrigen Tag Mestscherinow zu der Witwe des Verstorbenen geschickt.
Viktor Alexejewitsch konnte nicht wissen, dass Oleg sofort Arsenn angerufen und ihn informiert hatte.
»Sprich mit der Frau«, befahl Arsenn, »aber bevor du Gordejew von dem Gespräch berichtest, setz dich mit mir in Verbindung, damit ich dich instruieren kann.«
Am Abend hatte Mestscherinow die Frau nicht angetroffen, sie arbeitete als Kellnerin und kam nicht vor halb zwei Uhr nachts nach Hause. An ihrem Arbeitsplatz wollte der Praktikant sie in dieser heiklen Angelegenheit nicht aufsuchen. Er ging am nächsten Morgen zu ihr, fand alles heraus, was er wissen wollte, und erstattete Arsenn ausführlich Bericht. Zu diesem Zeitpunkt wusste Arsenn bereits, dass Gordejew die Kamenskaja angerufen und sich bei ihr über den massiven internen Druck von oben beschwert hatte. Das, was Mestscherinow über Nikifortschuks Tod in Erfahrung gebracht hatte, bestärkte Arsenn nur in seiner Entscheidung, mit Gradow zu brechen und ihm die Regelung seiner Angelegenheit selbst zu überlassen.
»Was für ein ausgekochter Schurke er doch ist, unser Sergej Alexandrowitsch«, stellte er sarkastisch fest, während er den präzisen Bericht des Praktikanten anhörte. Er hatte nicht nur den lange zurückliegenden Mord an Lutschnikow vertuscht, sondern auch die Geschichte mit seinem Komplizen. Er schien den alten Arsenn für einen kompletten Dummkopf zu halten. Der Leiter des Kontors war daran gewöhnt, dass Leute, die sich an ihn wandten, ihm uneingeschränkt vertrauten, so wie Kranke einem Arzt. Würde es einem normalen Menschen denn in den Sinn kommen, dem Arzt die Hälfte seiner Symptome zu verschweigen und dann Heilung von ihm zu erwarten? Wenn Gradow so einfache Dinge nicht verstand, dann durfte er seine Hoffnungen auch nicht auf das Kontor und Arsenn setzen.
»Du kannst deinem Chef alles so berichten, wie es tatsächlich ist«, erlaubte er Oleg gnädig.
Nikifortschuks Witwe hatte berichtet, dass ihr Mann einen Monat vor seinem Tod noch stärker zu trinken angefangen und nachts oft irgendeinen Sergej angerufen hatte, er hatte geweint und immer wieder von irgendeiner Vika gesprochen. Wer dieser Sergej und diese Vika waren, wusste die Frau nicht, und sie hatte es auch für sinnlos gehalten, damals, vor zwei Jahren, als ihr Mann gestorben war, in einer Achtmillionenstadt nach zwei völlig Unbekannten zu suchen. Und wozu auch, da hinter Arkadijs Tod keinerlei Verbrechen zu stehen schien. Außerdem, berichtete sie, habe ihr Mann in letzter Zeit häufig ein Gespräch über Kinder angefangen.
»Was meinst du«, hatte er gefragt, »verstehen dreijährige Kinder, was um sie herum passiert? Meinst du, sie können sich später, wenn sie erwachsen sind, an das erinnern, was sie in ihrer frühen Kindheit erlebt haben? Erinnerst du dich an dich selbst als dreijähriges Kind?«
Arkadij hatte seiner Frau nie erklärt, woher dieses leidenschaftliche Interesse für die kindliche Psyche bei ihm kam, aber einmal verplapperte er sich und gestand, er wolle wissen, ob seine Tochter sich noch an ihn erinnern würde, wenn sie erwachsen war. Seine erste Frau, die beim Weggehen das Mädchen mitgenommen und eine neue Familie gegründet hatte, hatte Arkadij ganz und gar aus dem Leben ihrer Tochter verbannt.
Diese Erklärung hatte für Arkadijs zweite Frau überzeugend geklungen, aber Oberst Gordejew befriedigte sie ganz und gar nicht. Er hatte den ausführlichen Lebenslauf des einstigen Diplomaten vor sich und sah sofort, dass Nikifortschuks Tochter zum Zeitpunkt der Ehescheidung nicht drei, sondern erst anderthalb Jahre alt gewesen war.
Aber die wichtigste Entdeckung, die Gordejew machte, bestand in der Identität des Passanten, der Nikifortschuks Leiche in einer dunklen Ecke neben einer Metrostation entdeckt hatte. Er war zufällig auf den leblos auf der Erde liegenden Mann gestoßen und wollte loslaufen, um die Erste Hilfe zu alarmieren, da er annahm, der Mann könnte noch am Leben sein. Aber im selben Moment erblickte er einen vorüberfahrenden Streifenwagen und rief die Milizionäre um Hilfe. Der Name dieses Passanten war Nikolaj Fistin.
Viktor Alexejewitsch sah bei Sherechow vorbei. Die Aktivitäten in dessen Büro waren bereits beendet, man hatte Morozows Leiche weggeschafft, die Gutachter hatten alles Notwendige erledigt und einen leichten Geruch nach Reagenzien hinterlassen.
»Was ist mit Larzew?«, fragte Gordejew, kaum hatte er die Tür geöffnet.
»Er war im Jagd- und Angelverein, danach haben die Jungs ihn verloren und versuchen jetzt, ihn wiederzufinden.«
»Pawel, er hat etwas aufgespürt, er sucht irgendeine konkrete Person. Schick ihm noch ein paar Leute hinterher. Wir müssen ihn absichern, in seiner Verzweiflung kann er das Gefühl für Gefahr verlieren.«
»Wird gemacht.«
»Was hast du über die Ärztin, diese Ratschkowa, herausgefunden?«
»Nichts Verdächtiges. Sie ist verheiratet, ihr Mann ist Rentner, ein Hobbyphilatelist. Die Familie tut sich nicht durch Wohlstand hervor. Die Kinder sind schon außer Haus. Keinerlei Auffälligkeiten.«
»Dann habe ich vor lauter Schreck wohl zu viel des Guten getan. Mir scheint jede Intuition abhanden gekommen zu sein. Aber jetzt etwas anderes. Wir brauchen Verstärkung für Fistins Observation. Das könnte uns sehr interessante Aufschlüsse geben.«
»Viktor, überlege dir, was du sagst!«, erwiderte Pawel Wassiljewitsch verdrossen. »Wo soll ich die Leute dafür hernehmen? Wir haben schließlich keine unerschöpflichen Reserven. Um die Lage in der Umgebung von Nastjas Haus zu kontrollieren und die Ratschkowa zu überprüfen, musste ich Fistins Beschattung einstellen. Jetzt willst du zusätzliche Leute, die Larzew hinterherlaufen sollen. Die werde ich irgendwie auftreiben. Aber wo ich die Leute hernehmen soll, die außerdem noch Fistin beschatten, ist mir völlig schleierhaft. Gontscharow hat mich heute schon dreimal zum Teufel geschickt, jedes Mal wütender. Und er hat Recht, Viktor. Wir haben keinerlei Konzept, wir fuhrwerken nur wild in der Gegend herum, schreien mal hü, mal hott und haben keine Ahnung, was im nächsten Augenblick passieren wird. Da ist es kein Wunder, dass Gontscharow die Wut packt. Wir bringen ständig seine Leute durcheinander, machen unsere Pläne rückgängig, noch bevor wir sie ausgeführt haben . . .«
»Irgendwann werde ich dich noch umbringen«, stieß Gordejew wütend hervor. »Du wirst als Langweiler und Kleinkrämer sterben. Hast du etwa keine Freunde bei der Miliz? Lebst du etwa erst seit gestern in Moskau und hast keine Beziehungen? Ruf an, bitte, flehe, versprich den Leuten fässerweise Wodka, wirf dich ihnen zu Füßen, aber ich möchte, dass Fistin in einer halben Stunde einen Rattenschwanz hinter sich herzieht. Die Diskussion ist beendet, Pawel. Ich weiß, dass es dir widerstrebt, Dinge zu tun, die die VorSchriften verletzen, und erst recht jemanden zu bitten, dir einen Gefallen zu erweisen, der gegen die Dienstanweisung verstößt. Aber es geht jetzt nicht darum, was dir widerstrebt und was nicht. Dies ist ein Befehl. Wenn es Schwierigkeiten gibt, werde ich das auf meine Kappe nehmen.«
Pawel Wassiljewitsch seufzte tief auf und nahm den Telefonhörer ab.
* * *
Die Männer, die in Onkel Koljas Auftrag Arsenn beschatteten, sahen verwirrt dem davonfahrenden Zug hinterher. Sie hatten den Auftrag, Arsenns Adresse herauszufinden, aber der Alte hatte sich nach der Unterredung mit Onkel Kolja zum Jaroslawskij-Bahnhof begeben und war in einen Vorstadtzug gestiegen. Die Männer waren mit ihm bis zu der Station gefahren, an der er wieder ausstieg, dann hatte sich Arsenn gleichmäßigen Schrittes auf einer völlig leeren Straße in Richtung Wald entfernt. Es war zu riskant, ihm in geringem Abstand zu folgen, deshalb hatten die Männer neben dem Bahnhof eine dicke Frau mit Einkaufstaschen angesprochen.
»Sagen Sie bitte, welcher Ort liegt in dieser Richtung?«, fragten sie und deuteten in die Richtung, in die Arsenn entschwunden war.
»Dort ist überhaupt kein Ort«, erklärte die Frau bereitwillig. »Dort ist überhaupt nichts, nur ein ehemaliges Pionierlager.«
»Ist es weit bis dorthin?«
»Etwa eine halbe Stunde. Aber ihr seid noch jung, vielleicht schafft ihr es auch schneller.«
»Danke, Mütterchen«, sagten die Männer und trafen eine ganz einfache Entscheidung. Da sie Arsenn auf der leeren Straße nicht in geringem Abstand folgen konnten und es keinen Sinn gehabt hätte, das auf größere Entfernung zu tun, weil es bereits dunkel war und man kaum noch etwas sah, musste man die Beschattung für den Moment aufgeben und Arsenn etwas später zum Pionierlager folgen. Da sich nach Aussage der Frau in der Richtung, in der er verschwunden war, nur dieses Lager befand, konnte er nur dorthin unterwegs sein.
Die Rechnung ging auf. Nachdem die Männer das Lager erreicht und etwa eine halbe Stunde in der Kälte gewartet hatten, trat der Alte durch das Tor und schlug mit seinem gleichmäßigen, selbstsicheren Schritt wieder den Weg in Richtung Bahnhof ein. Sie ließen ihn ein Stück vorausgehen, um sich durch das Knirschen ihrer Schritte auf dem frischen Schnee nicht zu verraten, und folgten ihm dann in der von ihm vorgegebenen Geschwindigkeit. Dass dies ein Fehler war, wurde in dem Moment offensichtlich, als aus der Ferne das Pfeifen und Rattern des herannahenden Zuges ertönte. Arsenn war in diesem Moment nur noch etwa dreißig Meter von der Bahnstation entfernt, und seine Verfolger waren noch weit hinter ihm. Sie beschleunigten ihren Schritt und begannen schließlich zu laufen, im Lärm des einfahrenden Zuges waren ihre Schritte ohnehin nicht zu hören. Aber sie schafften es trotzdem nicht mehr. Im letzten Moment versperrte ihnen ein Zug den Weg, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Sie berieten sich eine Weile und kehrten schließlich zum Lager zurück. Vorsichtig gingen sie um die Gebäude herum und entdeckten im Verwaltungstrakt zwei Männer, die in der Dunkelheit im Büro des Direktors saßen. Auf dem ganzen Gelände brannte nirgends Licht, nur in zwei Räumen bemerkten sie einen schwachen Schimmer, der von zwei laufenden Heizgeräten stammte.
»Irgendein Schwachsinn«, meine der kleine Rothaarige namens Slawik, ein einstiger Meister des Autorennsports. »Ich kapiere nicht, wie viele da drin sind, drei oder was?«
»Es sieht so aus, als wären es nur zwei«, sagte der etwas schwächlich wirkende Blonde unsicher, während er angestrengt durch die Fensterscheibe sah und versuchte, etwas im Innern des dunklen Raumes zu erkennen. »Der Teufel weiß, wie viele es sind, man sieht nichts.«
»Ziemlich bullige Typen«, stellte Slawik fest. »Verstecken die sich hier oder was?«
»Oder was, oder was«, äffte der Blonde ihn gehässig nach. »Vielleicht verstecken sie sich, vielleicht halten sie hier jemanden gefangen. Oder es ist ein Hinterhalt, und sie sitzen hier und warten.«
»Auf wen sollten sie denn warten?« fragte Slawik beunruhigt. »Auf uns oder was?«
»Kannst du keinen einzigen Satz ohne dein ewiges oder was sagen, du Trottel?«
»Du kannst mich mal«, erwiderte der einstige Autorennfahrer gleichmütig. »Was sollen wir nun machen?«
»Wir müssen Onkel Kolja anrufen, er soll uns neue Anweisungen geben«, sagte der Blonde und rückte die Maschinenpistole unter seiner weiten Jacke zurecht. »Und was zu fressen wäre jetzt auch nicht schlecht. Den Alten haben wir sowieso verloren, also brauchen wir uns nicht mehr zu beeilen. Unseren Anschiss von Onkel Kolja bekommen wir noch früh genug.«
»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche«, bestätigte Slawik. »Der wird uns ganz schön zur Sau machen.«
Sie gingen zurück zum Bahnhof und fanden im Ort eine Post, von der aus man in Moskau anrufen konnte.
Onkel Kolja war höchst unzufrieden, aber er verschwendete keine Zeit für Standpauken. Die beiden hatten zwar Arsenn verloren, aber dafür hatten sie irgendwelche anderen Leute entdeckt. Das war gut. Was hatte Arsenn doch gleich gesagt? Dass er, Fistin, sich im Ernstfall sofort in die Hosen machen würde? Jetzt würde er die Quittung dafür bekommen. Natürlich wollte Fistin dem bösartigen, gefährlichen Alten die Beleidigung heimzahlen, aber das war jetzt nicht das Wichtigste. Vor allem wollte er Arsenn beweisen, dass er, Fistin, etwas gegen ihn in der Hand hatte, dass er gar nicht so dumm und einfach gestrickt war, wie es schien. Vor allem musste er diese alte Stinkmorchel dazu zwingen, den Vertrag mit dem Chef zu erfüllen. Er musste den Chef retten und seine eigene Position bei ihm festigen. Darum ging es jetzt.
»Ihr fahrt jetzt zurück nach Moskau«, befahl er den Männern, »nehmt euch einen Wagen und noch zwei Leute. Dann kehrt ihr zurück zum Lager und schafft dort Ordnung. Hinterlasst keinen Dreck, schafft die Leichen hinaus und werft sie im Wald in einen Graben.«
Fistin hatte in der Tat eine recht armselige Phantasie. Etwas Besseres, als Menschen zu töten und ihre Leichen in einen Graben zu werfen, fiel ihm nicht ein.
* * *
Natalja Jewgenjewna Dachno tropfte sich zum x-ten Mal Valocordin in ein Glas, vergaß dabei nicht, rechtzeitig aufzuschluchzen, und überlegte kaltblütig, wie sie ihren Gast in ihrer Wohnung festhalten konnte. Sie musste sich dringend mit Arsenn in Verbindung setzen, aber solange sie allein war, ohne ihren Mann und ihren Sohn, war das unmöglich. Sie musste ihren Besucher hinhalten, bis einer von beiden nach Hause kam. Leider war nicht abzusehen, wann das geschehen würde. Ihr Mann war an den Ort hinter der Stadt gefahren, wo Larzews Tochter gefangen gehalten wurde, es konnte noch lange dauern, bis er nach Hause kam. Wann ihr Sohn erscheinen würde, war erst recht unklar, vielleicht in der nächsten Minute, vielleicht auch erst irgendwann im Lauf der Nacht.
Natalja Jewgenjewna fühlte, dass ihr die Inszenierung gelang, der unglückliche Vater glaubte ihr. Sie verfügte über eine außerordentliche Intuition, wie ein Tier witterte sie den Geruch von Aggressivität und Misstrauen, sodass sie Situationen sehr genau einschätzen konnte und immer wusste, wie weit sie gehen konnte, wie lange ihr Spiel funktionierte und wann der kritische Punkt erreicht war. Diese Eigenschaft schätzte Arsenn ganz besonders an ihr. Als Gott das Gespür für das richtige Maß und das vernünftige Risiko verteilt hat, müssen Sie in erster Reihe gestanden haben, sagte er oft. Und auf der Jagd haben Sie sich Ausdauer und das Gefühl für Gefahr erworben. Ich weiß, dass ich mich auf Ihr Gespür absolut verlassen kann.
Natalja Jewgenjewna war tatsächlich in Sibirien geboren, als Tochter eines Jägers, in dieser Hinsicht hatte sie Larzew nicht angelogen. Sie war nach Moskau gekommen, um Medizin zu studieren, sie bekam das Leninstipendium und machte einen erfolgreichen Abschluss. Sie betrieb leidenschaftlich Schießsport, vertrat bei Wettkämpfen die Mannschaft ihres Instituts und ging immer als Siegerin hervor. Dem Studium folgte die Zeit als Assistenzärztin, dann die Dissertation, schließlich eine Stelle an der Poliklinik des KGB.
Natalja Jewgenjewna hatte einen Kommilitonen geheiratet, der keine so glänzende Karriere gemacht hatte wie sie, sondern als Anästhesist in einem der städtischen Krankenhäuser arbeitete. Im Offiziersrang beim KGB verdiente Natalja sehr viel mehr als ihr Mann, der dadurch in finanzielle Abhängigkeit von ihr geriet. Leider bekam das Ehepaar keine Kinder. Natalja Jewgenjewna, die über weit reichende Beziehungen in medizinischen Kreisen verfügte, hatte alle nur denkbaren Behandlungen über sich ergehen lassen, aber nichts hatte geholfen. Ohne die Hoffnung auf die Geburt eines eigenen Kindes aufzugeben, hatte das Ehepaar Dachno schließlich einen Antrag auf Adoption gestellt, aber wegen der beengten Wohnverhältnisse, in denen das Ehepaar lebte, wurde der Antrag abgelehnt. Die Dachnos bewohnten zusammen mit dem alten Vater des Ehemannes eine Einzimmerwohnung. Sie standen zwar auf der Warteliste für eine größere Wohnung, doch es war klar, dass sie erst in frühestens zehn Jahren an die Reihe kommen würden.
Das Unglück ereilte Natalja Jewgenjewna am Tag vor dem Abschluss einer erneuten, sehr qualvollen Behandlung. Sie bekam den endgültigen Urteilsspruch. Sie würde niemals Kinder haben, wurde ihr mitgeteilt, alle weiteren Behandlungsversuche seien sinnlos und würden nur ihrer Gesundheit schaden.
Sie weinte die ganze Nacht, am Morgen betäubte sie sich mit Tranquilizern und schleppte sich zur Arbeit. Der Kopf schien ihr zu bersten, sie hatte Herzschmerzen, ständig schossen ihr die Tränen in die Augen, das Leben schien jeden Sinn verloren zu haben. Und da erschien der General bei ihr, ein stellvertretender Verwaltungsleiter mit einer roten Trinkernase. Er roch deutlich nach Alkohol und sprach mit dem typischen Kommandeursbass. Der arme Mann hatte Schmerzen in der Seite. Macht nichts, dachte die Dachno gereizt, du hättest einfach nicht so viel trinken dürfen. Sie verschrieb ihm ein Medikament gegen Leberbeschwerden und forderte ihn auf, in drei Tagen wiederzukommen.
Der General kam, er war etwas blasser geworden, zog aber nach wie vor eine Alkoholfahne hinter sich her. Und er starb. Direkt im Sprechzimmer der Chirurgin Dachno. Es stellte sich heraus, dass der General an einer Blinddarmentzündung gelitten hatte, die nahtlos in eine Bauchfellentzündung übergegangen war. Vier Tage lang war er mit dieser Entzündung herumgelaufen und hatte die Schmerzen mit dem berühmten Volksmittel betäubt. Im Gutachten der Ärztekommission hieß es, die Symptome der Blinddarmentzündung seien von Anfang an offensichtlich gewesen, doch die behandelnde Ärztin hätte auf die Durchführung der notwendigen Untersuchungen verzichtet und den Patienten falsch behandelt. Infolge dieser sträflichen Fahrlässigkeit sei der Patient verstorben. Die Dachno musste mit einer Gefängnisstrafe rechnen, sie fühlte bereits den tödlichen Hauch des unabwendbaren Schicksals, das ihr bevorstand. Und in diesem Moment tauchte Arsenn auf.
»Ich kann Ihnen helfen, Natalja Jewgenjewna«, sagte er mitfühlend. »Sie sind ein guter Mensch und eine ausgezeichnete Ärztin, das Schicksal hat Ihnen einfach ein Bein gestellt, und Sie sind gestolpert. Ins Gefängnis gehören Kriminelle und Banditen, aber nicht anständige Menschen wie Sie, die ins Unglück geraten sind. Stimmen Sie mir zu?«
Die Dachno nickte schweigend und trocknete sich die Tränen.
»Heute werde ich Ihnen helfen, morgen werden Sie mir helfen, abgemacht?«, fuhr Arsenn fort. »Wir beide werden gemeinsam gute, anständige Menschen vor dem Unglück retten. Wenn Sie meine Mitstreiterin werden, werden Sie eine gute Wohnung haben, und ich werde Ihnen mit der Adoption helfen. Sie werden nicht irgendein Kind mit den Genen unbekannter, womöglich trunksüchtiger Eltern bekommen, sondern das beste, gesündeste, begabteste und klügste Kind, das es nur geben kann. Das wird allerdings kein Kleinkind mehr sein, sondern ein halbwüchsiges, aber so werden wir wenigstens wissen, dass Gesundheit, Psyche und Intellekt intakt sind, während man sich bei einem Kleinkind immer täuschen kann. Außerdem werden Sie die Möglichkeit haben, Ihrer geliebten Jagd nachzugehen. Sind Sie einverstanden?«
Natürlich war sie einverstanden, wie hätte es anders sein können. Arsenn versuchte nie, eine Person anzuwerben, über die er nicht schon alles wusste. Alles, was er über Natalja Jewgenjewna Dachno in Erfahrung gebracht hatte, bestätigte ihm, dass sie genau das war, was er suchte. Sie würde seine treue Mitstreiterin werden. Und er hatte sich nicht getäuscht.
Nach dem Vorfall mit dem General durfte Natalja Jewgenjewna nicht mehr als Ärztin praktizieren. Arsenn verschaffte ihr eine Stelle in der Serviceabteilung eines Moskauer Telefonamtes. Das Gehalt war miserabel, aber Arsenn bezahlte die Dienste seiner neuen Mitarbeiterin so gut, dass sich die Wünsche der Dachnos schon bald zu erfüllen begannen. Sie konnten sich eine luxuriöse Wohnung leisten, ein Auto, teure Gewehre, schließlich kam auch eine Datscha hinzu. Es war nicht so, dass Natalja Jewgenjewna ihre Stadtwohnung nicht geliebt hätte, aber sie hielt es einfach nicht für nötig, ihren Moskauer Bekannten ihren auffälligen Wohlstand zu demonstrieren.
Dafür legten die Dachnos ihre ganze Seele in die Datscha. Und ihren Sohn erzogen sie so, wie Arsenn es wollte.
Natalja Jewgenjewna warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast neun Uhr abends. Wie lange konnte sie den Kripobeamten noch hinhalten, ohne sein Misstrauen zu erregen? Zwei Mal hatte sie sich bereits an der Grenze zur Ohnmacht befunden, ein drittes Mal würde der Trick nicht mehr funktionieren, Natalja Jewgenjewna tat nie zu viel des Guten. Sie musste versuchen, Larzew in ein Gespräch zu verwickeln.
»Ihre Frau ist wahrscheinlich verzweifelt«, sagte sie schuldbewusst. »Ich werde mir das alles nie verzeihen . . . Es gibt keinen schlimmeren Schmerz als den einer Mutter um ihr Kind.«
»Meine Frau ist gestorben«, erwiderte Larzew knapp. »Lassen Sie uns noch einmal versuchen, alles zu rekonstruieren, was Sie über diesen Mann wissen.«
In der Wohnungstür wurde ein Schlüssel umgedreht, die Tür fiel ins Schloss.
»Mama, bist du zu Hause?«, hörte Larzew jemanden rufen. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor.
Er wandte seinen Kopf zur Tür und stieß mit den Augen auf einen präparierten Elchkopf, der an der Wand hing. Und in diesem Augenblick begriff er, dass er einen schrecklichen, nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte. Diese Frau, die sich bereits seit zwei Stunden mit ihm unterhielt, konnte keine Jägerin sein. Die Tränen, die Klagen, die Ohnmachtsanfälle, die ihm hier so überzeugend vorgespielt wurden, konnten nicht zu einer Frau gehören, die stundenlanges, bewegungsloses Warten in der Wildnis gewohnt war, bis ein wütender Eber auf sie zuschoss, einer Frau, die sich während der Entenjagd mit dem Boot einen Weg durch mannshohes Schilf bahnte, in dem man so leicht die Orientierung verlieren und sich verirren konnte, einer Frau, die es gewohnt war, erlegtes Wild zu häuten und ausbluten zu lassen. Auch ihr Hund war kein Jagdhund, sondern ein Polizeihund, ein reinrassiger Dobermann, der die Funktionen eines Leibwächters erfüllte und dazu da war, einem unerwünschten Gast den Eintritt in die Wohnung zu verwehren. Ein Jäger hielt sich einen Setter oder einen Terrier. Aber wenn sich jemand einen Dobermann zulegte, dann musste es in seinem Leben sehr viel gefährlichere Dinge geben als die Jagd. . . Larzew hatte sich hereinlegen lassen. In seiner Qual und blinden Angst um seine Tochter war der Profi in ihm zu spät erwacht.
Larzew griff nach seinem Revolver, aber Oleg Mestscherinow, der das Zimmer betrat, riss im selben Moment ein Gewehr von der Wand. Es fielen zwei Schüsse gleichzeitig.