ZEHNTES KAPITEL

Der Gesichtsausdruck von Oberst Gordejew hatte sich verändert. In den letzten Wochen hatte er niedergeschlagen und abwesend gewirkt, gleichgültig gegenüber allem, oft hatte er über Kopfschmerzen und Herzprobleme geklagt. Aber heute bemerkte Nastja, dass in seinen zuletzt so ausdrucklosen Augen wieder etwas funkelte, dass die alte Leidenschaft in sie zurückgekehrt war. Der Jäger wittert das Wild, dachte Nastja.

Im Laufe des gestrigen Tages und des heutigen Morgens hatte Viktor Alexejewitsch Unmögliches vollbracht. Es war ihm gelungen, eine Menge über jenen Parteiboss zu erfahren, auf dessen Anweisung im Jahr neunzehnhundertsiebzig die Namen der beiden Studenten, die sich zur Tatzeit am Tatort befunden hatten, aus der Strafakte von Tamara Jeremina verschwunden waren.

Alexander Alexejewitsch Popow, der zwei durchaus gut versorgte Kinder und sogar drei schon fast erwachsene Enkel hatte, fristete den Rest seines Daseins in einem Altenheim. Man hörte, dass er keine allzu gute Ehe geführt hatte, seinerzeit hätte er sich fast scheiden lassen, um eine andere Frau zu heiraten, die einen Sohn von ihm geboren hatte. Seine Ehefrau griff aber zu der damals üblichen Methode, der abtrünnige Ehemann bekam die eiserne Hand der Partei zu spüren und wurde wieder dem häuslichen Herd zugeführt. Der Skandal wurde sorgsam vertuscht. Dennoch unterstützte der edle Popow, so gut er konnte, seinen unehelichen Sohn. Vor dem Armeedienst konnte er ihn zwar nicht retten, aber danach sicherte er ihm einen Studienplatz an einem angesehenen Institut.

»Interessant«, sagte Nastja versonnen. »Ob er vielleicht sein eigenes Söhnchen retten wollte, als er damals die Strafakte fälschen ließ?«

»Richtig gedacht«, bestätigte Gordejew. »Wenn deinen Smeljakow die Erinnerung nicht trügt, hießen die beiden Zeugen Gradow und Nikifortschuk. Leider ist der Gutachter Radisch Batyrjow längst gestorben, sodass wir das nicht mehr überprüfen können. Aber gehen wir von der Hypothese aus, dass einer der beiden Zeugen tatsächlich Popows unehelicher Sohn war. Und jetzt hör weiter zu, Kindchen, jetzt wird es noch interessanter.«

Gordejew holte zwei Observationsberichte hervor. Bei dem einen Beobachtungsobjekt handelte es sich um den jungen Mann, der in Kartaschows Wohnung eingebrochen war, bei dem anderen um den Unbekannten, der sich in der Poliklinik nach Nastja erkundigt hatte.

Nachdem Alexander Djakow, genannt Sascha, Kartaschows Wohnung verlassen hatte, machte er sich unverzüglich auf den Weg zu einer Schule, einer ganz gewöhnlichen Mittelschule, die ihre Turnhalle abends an den Waräger-Club vermietete. Was Sascha an diesem Ort gemacht hatte, konnte nicht ermittelt werden, aber nachdem er das Schulgebäude wieder verlassen hatte, trat, etwa eine Viertelstunde später, ein zweiter Mann heraus. Man konnte seine Identität nicht sofort feststellen, aber schließlich gelang es doch. Es handelte sich um Nikolaj Fistin, genannt Onkel Kolja, den Leiter des Waräger-Clubs. Er war zwei Mal vorbestraft, einmal wegen Rowdytums und einmal wegen Körperverletzung. Da das Schulgebäude bis zum nächsten Morgen von niemandem mehr verlassen wurde, konnte man mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass Sascha genau diesen Mann aufgesucht hatte.

Mit dem Mann, der sich in der Poliklinik nach Nastja erkundigt hatte, war die Sache nicht ganz so einfach. Er schien sehr erfahren und vorsichtig zu sein, denn er hatte sich leicht und elegant der Beobachtung entzogen, ohne identifiziert worden zu sein. Das bedeutete, dass er sich immer so verhielt, unabhängig davon, ob er sich beobachtet fühlte oder nicht. Im Moment mussten Gordejew und Nastja sich mit der Beschreibung seines ungewöhnlichen Verhältnisses zu öffentlichen Telefonzellen begnügen.

Im Laufe der Nacht hatte Viktor Alexejewitsch aus der Adressenzentrale eine Liste aller in Moskau gemeldeten Nikifortschuks und Gradows erhalten.

»Nikifortschuks gibt es weniger, die nehme ich«, sagte der Oberst. »Ich bin ein alter Mann, ich darf mich nicht mehr überanstrengen. Du nimmst die Gradows, und wir beginnen auszusieben.«

Er reichte Nastja einen Stapel Blätter mit Computerausdrucken.

»Gehen wir davon aus, dass Popows Sohn nicht nach neunzehnhundertfünfzig geboren wurde, da er neunzehnhundertsiebzig bereits den Armeedienst abgeleistet hatte und studierte, und nicht vor neunzehnhundertfünfundvierzig, weil Popow erst nach dem Krieg nach Moskau kam, vorher lebte er in Smolensk. Die Geschichte mit dem unehelichen Sohn gehört in seine Moskauer Zeit, das habe ich recherchiert. Der Freund seines Sohnes muss etwa im gleichen Alter sein, plus/minus drei Jahre.«

Nastja nahm die Blätter an sich und ging in ihr Büro. Sie überhäufte ihren Schreibtisch mit einem Berg Statistiken und Auswertungsmaterialien, öffnete die mittlere Schublade ihres Schreibtisches und verstaute die paar hundert Gradows darin. Sie wollte, wie sie es gewohnt war, die Tür abschließen, um in Ruhe arbeiten zu können, aber sie begriff, dass sie das heute nicht tun durfte. Sollten ruhig alle, die es wollten, ihr Büro betreten und sehen, dass sie an dem monatlichen Auswertungsbericht über die in der Stadt verübten Morde für Gordejew arbeitete.

Ständig ging die Tür auf, nicht alle kamen, aber viele. Im Lauf von zwei Stunden hatte annähernd ein Dutzend Leute ihr Büro betreten. Und bei jedem ihrer Kollegen beklagte Nastja sich über die Ärzte, die sie fast ins Krankenhaus eingewiesen hätten; über Olschanskij, der in der Mordsache Jeremina selbst nicht weiterwusste und seine schlechte Laune an ihr ausließ; über Gordejew, der bis morgen den fertigen Auswertungsbericht von ihr verlangte; über ihre undichten Stiefel, deretwegen sie ständig nasse Füße hatte. Alle nickten, bemitleideten sie, baten sie um eine Tasse Kaffee, schnorrten Zigaretten und ließen sie nicht arbeiten. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, musste Nastja mit einer blitzschnellen Bewegung ihres Oberkörpers die Schublade mit den darin befindlichen Listen zustoßen. Zum Glück rief wenigstens niemand an.

Als die Tür erneut aufging und Nastja der Schublade auch diesmal einen Stoß versetzen musste, war sie sich sicher, dass sie sich einen blauen Fleck geholt hatte. Es erschien Gordejew.

»Warum nimmst du das Telefon nicht ab? Tschernyschew versucht ständig, dich zu erreichen.«

Nastja warf einen verwunderten Blick auf das externe Telefon.

»Es hat kein einziges Mal geläutet.«

Sie nahm ab, horchte und hielt den Hörer dann Knüppelchen hin.

»Nichts. Die Leitung ist tot.«

Viktor Alexejewitsch ging rasch zur Tür und schloss von innen ab.

»Hast du einen Schraubendreher?«

Nastja zuckte hilflos mit den Schultern.

»Woher sollte ich so etwas haben?«

»Du Nulpe«, bemerkte Knüppelchen gutmütig. »Dann gib mir wenigstens eine Schere.«

Er betrachtete kurz die Steckdose und schraubte dann mit Hilfe der Schere geschickt den Apparat auf.

»Großartig«, sagte er, während er die Beschädigungen an den Drähten betrachtete. »Einfach und geschmackvoll. Sollen wir uns einen kleinen Scherz erlauben?«

»Wozu? Ich weiß auch so, wer es gewesen ist. Und Sie wissen es auch.«

»Vielleicht wissen wir es, vielleicht aber auch nicht. Wir könnten uns täuschen. Und überhaupt, du machst ihm das Leben ganz schön leicht. Er hält sich hier für den Klügsten, den Schlauesten, den Erfolgreichsten von allen. Er macht, was er will oder was seine Auftraggeber ihm befehlen, und wir beide lassen den lieben Gott einen guten Mann sein und uns an seinem Gängelband führen wie dumme Kälber. Es wird Zeit, ihn ein wenig an den Nervenenden zu kitzeln, sonst schöpft er noch Verdacht. Er ist ein erfahrener Kripobeamter, er weiß genau, dass nur auf dem Papier alles glatt geht, in der Praxis stellt sich immer etwas quer. Wir sollten ihm Gelegenheit geben, sich ein wenig den Kopf darüber zu zerbrechen, was er falsch gemacht hat.«

Nastja zuckte mit den Schultern.

»Ich verstehe trotzdem nicht, was er damit bezwecken wollte. Ich hätte längst merken können, dass das Telefon nicht funktioniert. Es ist purer Zufall, dass ich selbst heute nirgends anrufen musste.«

»Und was hättest du getan, wenn du den Hörer abgenommen und gemerkt hättest, dass die Leitung tot ist?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hätte ich jemanden gebeten nachzusehen, was los ist.«

»Und wen hättest du gebeten?«

»Sie haben zu hundert Prozent recht, Viktor Alexejewitsch. Ich hätte genau ihn gebeten. Erstens ist sein Büro gleich nebenan, und zweitens weiß jeder, dass er sich gut mit technischen Dingen auskennt. Die Leute schleppen ständig Kaffeemühlen, Föhne, Rasierapparate und anderes zu ihm, damit er den Kram repariert. Er besitzt übrigens auch verschiedene Schraubendreher, die sich alle bei ihm ausleihen. Und mein defektes Telefon wäre ihm natürlich auch nicht entgangen.«

»Eben, eben«, entgegnete Gordejew, »er hätte es sich selbst vorgenommen und dir weisgemacht, dass der Defekt zu kompliziert sei, um ihn so ohne weiteres zu beheben. Es sei ein winziges, schwer erhältliches Ersatzteil nötig, er würde es morgen von zu Hause mitbringen, aber bis dahin müsstest du ohne Telefon auskommen.«

»Alles klar. Es gibt jemanden, der mich nicht erreichen soll. Dabei handelt es sich natürlich nicht um einen Kollegen, der es unter einer beliebigen Nummer im Haus versuchen könnte, zum Beispiel unter Ihrer, sondern vielleicht um einen Zeugen, der nur diese eine Nummer besitzt. Was glauben Sie, Viktor Alexejewitsch, wen möchte er von mir fern halten? Kartaschow?«

»Es ist alles möglich. Hast du eine Flasche?«

»Eine was?«

Nastja hob verblüfft ihre Augenbrauen.

»Eine Flasche. Etwas Alkoholisches. Was bist du nur für eine Kripobeamtin, Kamenskaja? Kein Schraubendreher, keine Flasche im Schrank. Dann muss ich die Flasche eben selbst holen.«

Ein paar Minuten später begannen sich die Kollegen in Nastjas Büro zu versammeln. Viele waren außer Haus, aber etwa sieben Leute kamen doch zusammen. Als Letzter trat Gordejew ein, in einer Hand hielt er feierlich eine Flasche Sekt, in der anderen eine Plastiktüte mit Gläsern.

»Meine lieben Freunde«, begann er gefühlvoll, »wir haben heute ein kleines Fest zu feiern, den Namenstag all derer, die den Namen der heiligen Märtyrerin Anastasija tragen. Unsere Nastja feiert nicht gern ihren Geburtstag, aber wir wollen ihr wenigstens zu ihrem Namenstag gratulieren. Möge sie noch viele Jahre so jung und so klug bleiben, wie sie ist.«

»Und so faul«, fügte Jura Korotkow hinzu.

Alle brachen in freundschaftliches Gelächter aus, Knüppelchen öffnete die Flasche und goss ein.

In diesem Moment läutete das Telefon.

»Hier ist Papa«, hörte Nastja Andrej Tschernyschew in der Leitung sagen. »Ich gratuliere dir, Töchterchen.«

»Danke, Paps«, erwiderte Nastja mit einem glücklichen Lächeln. »Schön, dass du daran gedacht hast. Ich habe nämlich mit Ljoscha gewettet, um eine Flasche Cognac. Er ruft alle halbe Stunde an und erkundigt sich, ob du mir inzwischen gratuliert hast oder nicht. . . Nein, Papa, ich selbst war es, die geglaubt hat, dass du es vergessen würdest. Ljoscha hat die Wette gewonnen . . .«

Am Ende des Gesprächs konnte Andrej kaum noch an sich halten vor Lachen.

»Ich habe die Wette verloren.« Nastja setzte eine tragische Miene auf. »Jetzt muss ich die Flasche kaufen.«

»Bist du etwa zu faul dazu?«, fragte Korotkow.

Wieder lachten alle, tranken den Sekt aus, küssten Nastja der Reihe nach und gingen wieder auseinander. Doch so genau Nastja eines der Gesichter auch beobachtet hatte, sie hatte darin keine Spur von Erstaunen, Verwirrung oder Angst entdecken können. Da war einfach gar nichts gewesen. Sie hatte weder eine plötzliche Blässe bemerkt noch eine Aufwallung von Röte. Das Lächeln hatte völlig natürlich gewirkt, und die Stimme hatte kein einziges Mal gezittert. War es doch nicht er? Aber wer dann? Sie hatte ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und die anderen nicht beachtet. Das war ein Fehler gewesen.

Als sie wieder allein war, setzte sie sich an den Schreibtisch und stützte ihren Kopf in die Hände. Sie waren also zu zweit. Knüppelchen hatte von Anfang an Recht gehabt, als er sagte, dass es vielleicht mehrere waren, oder sogar alle. Sie hatte das damals nicht ernst genommen, und als sie dem einen auf die Spur gekommen war, hatte sie voreilig beschlossen, dass er der Einzige war und es keine anderen gab. Schon wieder hatte sie sich getäuscht. In Wahrheit waren es zwei. Mindestens zwei, verbesserte sie sich. Oder womöglich sogar alle? Guter Gott, welch ein schauerlicher Gedanke!

Es gelang ihr, sich zu überwinden und wieder in die Listen mit den Adressen Moskauer Einwohner des nicht gerade seltenen Namens Gradow zu vertiefen. Systematisch strich sie alle Personen, die aufgrund ihres Alters nicht infrage kamen. Plötzlich schnitt ihr etwas in die Augen. Sie kniff die Lider zusammen, in der Schwärze, in die sie nun blickte, schwirrte etwas umher, das widerwärtigen gelben Fliegen glich. Ihre Augen begannen vor Anstrengung zu tränen. Sie befeuchtete ein Taschentuch mit dem Wasser aus der Karaffe auf ihrem Schreibtisch, warf ihren Kopf zurück und legte sich das feuchte Tuch aufs Gesicht. Es wurde etwas besser.

Nachdem sie das nasse Taschentuch auf die Heizung gehängt hatte, begann sie wieder in die Liste zu starren. Gradow, Sergej Alexandrowitsch, wohnhaft. . . Irgendwie gefiel ihr diese Adresse nicht. Warum eigentlich nicht? Straße, Hausnummer, Block, Wohnungsnummer. Eine Adresse wie jede andere.

Sie schloss erneut die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An Ljoscha, an das köstliche Hähnchen, das ihr Stiefvater zubereitete, an den Cognac, den sie nicht zu kaufen brauchte . . . Federatiwnyj-Prospekt Nummer. . . Die verdammte Adresse ließ sie nicht los. Sie durfte nicht vergessen, ihren Stiefvater anzurufen, denn vielleicht würde sie nach der Arbeit zu ihm fahren. Und für diesen Fall musste sie Ljoscha instruieren. Er sollte allen Anrufern sagen, dass sie bei ihrem Vater war und erst spät nach Hause kommen würde. Federatiwnyj-Prospekt Nummer . . . Federatiwnyj-Prospekt . . .

Plötzlich ging eine heiße Welle durch ihren Körper, die Hitze schoss ihr ins Gesicht, die Hände wurden feucht. Sie griff zum internen Telefon.

»Viktor Alexejewitsch, sind Sie allein?«

»Ja. Was ist los?«

»Ich komme gleich bei Ihnen vorbei.«

Im Büro ihres Chefs musste sie erst einmal schlucken. Vor Aufregung blieb ihr die Stimme weg, sie brachte nur ein heiseres Flüstern hervor.

»Haben Sie mir die Adresse genannt, unter der dieser Mann wohnt, der den Waräger-Club leitet?«

»Ja, habe ich. Ich habe dir den gesamten Observationsbericht vorgelesen.«

»War es Federatiwnyj-Prospekt 16, Block 3?«

»Bist du gekommen, um mir einen Beweis deines phänomenalen Gedächtnisses zu liefern?«

»Unter dieser Adresse wohnt ein gewisser Sergej Alexandrowitsch Gradow, geboren neunzehnhundertsiebenundvierzig.«

Knüppelchen lehnte sich im Sessel zurück, nahm die Brille ab und schob das Ende eines Bügels in den Mund. Dann erhob er sich langsam von seinem Stuhl und begann, im Raum auf und ab zu gehen, zuerst langsam, dann immer schneller und schneller, wie ein Gummiball bewegte er sich um den langen Konferenztisch und schob die Stühle zur Seite, die ihm im Weg standen. Je länger dieser Auftritt dauerte, desto glänzender wurden seine Augen, seine Glatze färbte sich rosig, und sein Mund presste sich immer fester zusammen. Endlich hielt er inne, ließ sich in den Sessel am Fenster fallen und streckte seine kurzen Beine aus.

»Diesen Gradow übernehme ich, mit dem wirst du nicht fertig. Ich werde in Erfahrung bringen, wer und was er ist, und mich selbst mit ihm treffen. Du hast die Aufgabe, dir Gedanken darüber zu machen, wovor er so große Angst hat. Der Grund dafür kann natürlich nicht darin liegen, dass er vor einem Vierteljahrhundert Zeuge eines Verbrechens wurde. Hier ist noch etwas anderes im Spiel. . . Nein, ich habe es mir anders überlegt. Ich werde mich weder mit Gradow noch mit dem alten Popow treffen. Wir werden es anders machen, ganz anders.«

»Sind Sie sich absolut sicher, dass dieser Gradow der ist, den wir suchen?«

»Hör auf zu kokettieren, Nastja, du bist dir selbst sicher, sonst hättest du nicht so einen Aufstand wegen dieser Adresse gemacht. Aber bis zum Abend werde ich es genau wissen. Es ist ganz einfach, das herauszufinden. Sag mir lieber, ob du schon einmal gehört hast, dass in einem eingestellten Verfahren ermittelt wurde.«

»Laut Gesetz . . .«, begann Nastja, aber Gordejew unterbrach sie.

»Wie es laut Gesetz ist, weiß ich genauso gut wie du. Ich frage nach der Praxis.«

»Wenn ein Verfahren eingestellt wird, weil der Fall nicht aufgeklärt werden konnte, legt man die Akte in den Safe oder bringt sie ins Archiv, man atmet erleichtert auf und versucht, die Sache zu vergessen, wie einen Albtraum. Gelegentlich kommt es zur Wiederaufnahme eines Verfahrens, weil der Täter wegen eines anderen Verbrechens verhaftet wird und plötzlich damit beginnt, alte Sünden zu beichten. Es kann auch andere Gründe geben, aber fast immer ist es Zufall oder Glück.«

»Richtig. Ein eingestelltes Verfahren interessiert niemanden mehr. Deshalb werde ich mich sofort mit Olschanskij in Verbindung setzen und ihn bitten, das Verfahren im Mordfall Jeremina einzustellen, sobald die vom Gesetz vorgeschriebene Zweimonatsfrist verstrichen ist.«

»Das heißt, dass wir noch eine ganze Woche warten müssen. . .«, sagte Nastja unzufrieden.

»Das macht nichts, denn ich werde sofort dafür sorgen, dass jeder, den es etwas angeht, von der bevorstehenden Einstellung des Verfahrens erfährt. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«

»Ja, natürlich. Ich fürchte nur, dass Olschanskij nicht mitmacht. Er ist ein Prinzipienreiter und wird sich dagegen sperren, ein Verfahren einzustellen, in dem noch die Chance zur Aufklärung des Falles besteht.«

»Du unterschätzt Kostja. Er ist ein Grobian, das weiß ich, er trägt immer schmutzige Schuhe und zerknitterte Anzüge. Aber er ist ein sehr kluger Mensch und Untersuchungsführer.«

»Aber er kann es nicht ausstehen, wenn andere für ihn entscheiden. Er ist versessen auf seine Autonomie als Untersuchungsführer.«

»Ich habe auch nicht vor, seine Autonomie anzugreifen. Er wird die Entscheidung selbst treffen. Denk nicht, dass er dümmer ist als wir beide.«

Viktor Alexejewitsch rieb sich zufrieden die Hände und zwinkerte Nastja zu.

»Warum lässt du die Flügel hängen, Mädchen? Denkst du, dass wir es nicht schaffen? Keine Angst. Selbst dann, wenn wir es wirklich nicht schaffen sollten, werden wir eine nützliche Erfahrung machen. Schau nicht so verdrossen drein, freu dich lieber.«

»Worüber sollte ich mich freuen, Viktor Alexejewitsch? Diese Geschichte mit dem Telefon . . .«

»Ich weiß«, sagte Gordejew unerwartet scharf. »Ich habe es auch gemerkt, ich bin nicht blind. Aber das ist kein Grund zur Aufregung, sondern einer zum Nachdenken. Vergiss übrigens nicht, mir den Apparat zurückzugeben, ich habe Wyssokowskij mein Ehrenwort gegeben, dass er ihn nach ein paar Stunden zurückbekommt. Ich hätte mich mit diesem Geizhals nicht eingelassen, wenn er nicht der Einzige wäre, der genau denselben Apparat hat wie du. Jetzt hör auf, Trübsal zu blasen, Nastja! Kopf hoch und lächeln, komm schon!«

»Ich kann nicht, Viktor Alexejewitsch. Solange ich geglaubt habe, dass er der Einzige ist, war ich nur enttäuscht und bedrückt. Aber seit mir klar ist, dass es mindestens zwei sind, habe ich Angst. Das ändert schließlich alles. Und deshalb sehe ich keinen Grund zu Freude oder Optimismus und kann, im Gegensatz zu Ihnen, keine Scherze machen und lächeln.«

»Ich habe alle meine Tränen schon geweint, Nastjenka«, sagte der Oberst leise. »Jetzt bleibt mir nur noch das Lächeln. Als ich begriffen habe, dass er nicht der Einzige ist, hat sich in einem einzigen Moment alles verändert. Vorher konnte ich mir sagen: Du musst nur herausfinden, wer der Wolf im Schafspelz ist, du musst ihn aus der Abteilung und aus der Miliz überhaupt entfernen, dann wird alles wieder seine Richtigkeit haben. Aber inzwischen sieht die Sache ganz anders aus. Wenn es zwei sind oder sogar mehr, dann habe ich die Situation nicht mehr unter Kontrolle, dann kann ich nichts mehr tun. Sollten es wirklich nur zwei sein, ist vielleicht noch etwas zu machen. Aber wenn wir es mit einer organisierten Unterwanderung der Polizeiarbeit zu tun haben, sind wir machtlos. Dann kann ich nur noch in Pension gehen.«

»Und alles aufgeben, was Sie mit so viel Mühe und Liebe aufgebaut haben?«

»Ich war ein Idealist, ich habe geglaubt, dass wir nur gute und ehrliche Arbeit leisten müssen, dass alles nur von uns selbst abhängt, von unserem Wollen und Können. Ich habe versucht, euch zu motivieren, das Beste aus euch herauszuholen, und niemand wird behaupten können, dass ich damit ganz erfolglos war. Erinnere dich, wie viele Fälle, die früher klammheimlich unter den Tisch gefallen sind, wir in den letzten Jahren dem Gericht zugeführt haben. Kein Anwalt kam gegen uns an, weil in jedem von uns selbst so ein Anwalt steckt und wir jeden Beweis, jede Tatsache mit noch strengeren, noch unerbittlicheren Augen betrachtet haben als er selbst. Ja, ich habe erreicht, was ich wollte. Aber das Kind, das ich mit so viel Liebe großgezogen habe, hat sich als lebensunfähig erwiesen, weil normale, gesunde Kinder in unserer Umwelt keine Überlebenschance haben. Sie können dem Druck des materiellen Anreizes nicht standhalten, sie sind zum Tode verurteilt. So traurig das auch ist.«

»Und wenn es doch kein System ist, sondern Zufall? Oder ein System, das man sprengen und vernichten kann?«, wandte Nastja zaghaft ein. Die Aussicht, einen Vorgesetzten wie Knüppelchen zu verlieren, war alles andere als erfreulich für sie. Er war es, der sie seinerzeit aus der Bezirksverwaltung für Inneres in die Petrowka geholt und ihr die Auswertungsarbeit ermöglicht hatte, die sie so liebte. Kein anderer Vorgesetzter würde ihr erlauben, Tag für Tag in ihrem Büro zu sitzen und Planspiele mit Zahlen, Fakten, Beweisen und fragmentarischen Informationen zu machen, vereinzelte, rätselhafte Mosaiksteinchen zu diffizilen Mustern zusammenzusetzen. Nicht zu reden davon, dass Nastja den komischen, dicken, glatzköpfigen Oberst sehr liebte und zutiefst verehrte.

»Man darf sich nicht selbst betrügen, Kindchen. Natürlich werden wir versuchen, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, sonst wären wir keinen Pfifferling wert, aber wir dürfen nicht auf Erfolg hoffen. Hier geht es nicht um das Ziel, das wir sowieso nicht erreichen werden, sondern nur um den Weg. Das Resultat ist uns von vornherein bekannt, wir werden nichts daran ändern, und insofern können wir uns entspannen. Wir werden Fehler machen, je mehr, desto besser, denn an Fehlern lernt man. Man muss aus jeder Situation den größtmöglichen Nutzen ziehen . . .«

* * *

Nach der schlaflosen Nacht fühlte Andrej Tschernyschew sich ausgesprochen schlecht. Im Gegensatz zu Nastja, die Schlaflosigkeit gewöhnt war, hatte Andrej, der vor dem Zubettgehen regelmäßig seinen Hund ausführte, einen festen, gesunden Schlaf, und wenn er sich eine Nacht um die Ohren schlagen musste, litt er am nächsten Tag unter Schwäche und Kopfschmerzen. Nachdem er Sergej Bondarenko am frühen Morgen bei dessen Frau abgeliefert hatte, widerstand er dennoch seinem Drang, wieder nach Hause zu fahren und sich noch ein wenig aufs Ohr zu legen, und machte sich daran, Nastjas Auftrag zu erfüllen. Er musste die Familie des Mannes finden, den die betrunkene Tamara Jeremina vor dreiundzwanzig Jahren umgebracht hatte. Es stellte sich heraus, dass Vitalij Lutschnikow kurz vor seiner Ermordung geheiratet hatte, aber die junge Witwe hatte gleich nach seiner Beerdigung Moskau verlassen und war in die Gegend von Brjansk gezogen, zu Verwandten ihres verstorbenen Mannes, die sich bereit erklärt hatten, sie und ihr ungeborenes Kind aufzunehmen. Weder Lutschnikow selbst noch seine Frau hatten Verwandte in der Stadt, da sie beide nicht aus Moskau stammten, sondern als Zeitarbeiter in die Stadt gekommen waren.

Nachdem Andrej sich den Zugfahrplan angesehen hatte, kam er zu dem Schluss, dass es bequemer war, mit dem Auto zu fahren. Das einzige Problem bestand darin, dass er nicht mehr genug Geld zum Tanken hatte. Nachdem Tschernyschew die finanzielle Lage geklärt hatte, machte er sich auf den Weg in Richtung Brjansk.

Gegen zehn Uhr abends hatte er den Wohnort von Jelena Lutschnikowa erreicht. Die Tür öffnete ihm ein liebreizendes junges Mädchen mit dem Ausdruck offensichtlicher Empörung im zarten Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie jemand anderen erwartet, denn als sie Andrej auf der Schwelle erblickte, wurde sie sofort zugänglich.

»Wollen Sie zu uns?«, fragte sie freundlich.

»Wenn ich hier bei den Lutschnikows bin, dann ja. Ich würde gern mit Jelena Petrowna sprechen.«

»Mama«, rief das Mädchen. »Du hast Besuch.«

»Und ich habe gedacht, dass Denis dich abholen kommt«, erwiderte eine tiefe Frauenstimme aus dem Innern der Behausung. »Lass den Gast nicht draußen stehen, Nina, bring ihn herein.«

Nina öffnete die Tür zu einer riesigen hellen Küche, in der es nach Teig und Gewürzkräutern roch. Am Tisch saß eine füllige Frau und strickte. Sie hatte helle Augen und ein schönes, sympathisches Gesicht, das von einem dicken Zopf umrahmt war.

Die Frau des Hauses zeigte weder Verwunderung noch Befremden, als sie erfuhr, wer Andrej war. Er hatte aus irgendeinem Grund den Eindruck, dass sie schon lange auf jemanden wartete, der kommen und sich nach den Umständen erkundigen würde, unter denen ihr Mann sein Leben gelassen hatte. Andrej nahm sich vor, diesen seltsamen Eindruck am Ende des Gesprächs unbedingt zu überprüfen.

Nina brach mit ihrem Bräutigam, der inzwischen eingetroffen war, zu einem Spaziergang auf, was Andrej allerdings verwunderte, da es draußen nasskalt und längst dunkel war. Aber in Wahrheit gingen die beiden wahrscheinlich gar nicht spazieren, sondern zu Freunden, die ihrerseits spazieren gehen und dem jungen Paar die Wohnung überlassen würden.

Allein mit Tschernyschew, begann Jelena Petrowna sofort freimütig davon zu erzählen, was im Jahr neunzehnhundertsiebzig geschehen war. Sie sprach mit leiser, ruhiger Stimme, so, als würde sie aus einem ihr gut bekannten, aber völlig uninteressanten, langweiligen Buch vorlesen.

Sie hatte Vitalij neunzehnhundertneunundsechzig kennen gelernt, er war in die Gemeinschaftswohnung gekommen, in der Jelena damals wohnte, um einen Bekannten zu besuchen. Es war nicht einfach für die beiden, sich zu treffen, denn sie arbeiteten an entgegengesetzten Enden der Stadt und wohnten in sehr beengten Verhältnissen, Vitalij mit fünf, Jelena mit vier Personen in einem Zimmer. Sie hätte nicht sagen können, dass sie Vitalij sehr liebte und ohne ihn nicht leben konnte, trotzdem freute sie sich, wenn sie ihn sah. Irgendwie kamen sie über den Winter und den nassen, windigen Frühling, und im Sommer wurde dann alles einfach. Sie stimmten ihre Schichtarbeit aufeinander ab, und an ihren freien Tagen fuhren sie hinaus aus der Stadt, in den Wald. An einem dieser Tage schlummerte Lena, schläfrig geworden von der Sonne, im Schatten eines Baumes ein, und Vitalij beschloss, auf Pilzsuche zu gehen, solange seine Freundin schlief.

Lena erwachte von der Berührung einer Hand in ihrem Gesicht. Sie öffnete die Augen und wollte sich aufrichten, aber sie wurde zu Boden gedrückt.

»Halt still, du Dummerchen, keine Angst. Es tut nicht weh, es wird dir gefallen«, hörte sie eine fremde Männerstimme sagen.

Sie wollte Luft holen und nach Vitalij schreien, aber sie brachte nur ein Röcheln hervor. Die Hand des Fremden hielt ihr den Mund zu. Gleich darauf traf sie ein Schlag ins Sonnengeflecht und ein nächster in den Bauch. Sie verlor das Bewusstsein vor Schmerz. Als sie wieder zu sich kam, lag einer der Männer auf ihr, der andere kniete neben ihr und hielt ihre Arme fest. Als er bemerkte, dass sie die Augen geöffnet hatte, griff er sofort nach ihren Schultern, hob sie an und schlug ihren Hinterkopf auf die Erde. Sie stürzte erneut in die gnädige Dunkelheit. Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, waren ihre Peiniger fort. Die Sonne ging bereits unter, und Lena begriff, dass inzwischen viel Zeit vergangen war. Wo ist Vitalij geblieben?, fragte sie sich voller Entsetzen. Die Angst um ihn war größer als der Schrecken über das, was ihr selbst soeben widerfahren war. Wahrscheinlich war er zurückgekommen, hatte sich auf die beiden Männer gestürzt, und sie hatten ihn umgebracht, dachte sie. Er ist so weich, so schutzlos, gegen solche Bullen wie die kommt er nicht an.

Lena begann zu schreien, nach Vitalij zu rufen, aber es war umsonst. Zuerst fürchtete sie, den Ort zu verlassen, an dem er sie schlafend zurückgelassen hatte, sie hoffte immer noch, er würde zurückkommen. Aber als es dunkel wurde, machte sie sich auf den Weg zur Straße und trottete in Richtung Bahnstation. Sie hatte sich innerlich bereits von ihrem heldenhaften Geliebten verabschiedet und traute ihren Augen nicht, als sie ihn auf dem Bahnsteig erblickte.

»Ich habe sie aufgespürt«, flüsterte er aufgeregt, während er Lena die Tränen trocknete.

»Wen?«, fragte sie verständnislos.

»Na diese Kerle . . . die dich . . .«

»Du guter Gott«, schluchzte sie auf, »ich habe geglaubt, sie hätten dich umgebracht. Zum Glück hast du keine Schlägerei mit ihnen angefangen. Lass uns zur Miliz gehen.«

»Zur Miliz? Wozu?«

»Du sagst doch, dass du sie aufgespürt hast. Wir erzählen der Miliz alles, man soll sie verhaften und einbuchten, diese Schweine.«

»Bist du noch bei Trost?«, widersprach Lutschnikow entrüstet. »Wir haben das große Los gezogen, und du redest von Miliz.«

Während Sie auf die S-Bahn warteten, eröffnete Vitalij Lena seinen großartigen Plan. Er hatte die beiden jungen Männer, die seine Freundin vergewaltigt hatten, tatsächlich aufgespürt und wollte sie nun erpressen. Das war nach seiner Ansicht sehr viel besser und vielversprechender als eine Anzeige. Wenn man es richtig anstellte, konnte man den beiden eine Summe aus der Tasche ziehen, die als Schmiergeld ausreichen würde, um Mitglied bei der Wohnungsbaugenossenschaft zu werden. Dann würde einer Heirat nichts mehr im Wege stehen. Solange sie in verschiedenen Gemeinschaftswohnungen leben mussten, in denen Ehepaare nicht zugelassen waren, war für sie kein Glück in Sicht.

»Sogar dann, wenn ich genügend Geld hätte, könnte ich nicht Mitglied bei der Wohnungsbaugenossenschaft werden, weil ich noch keine fünf Jahre in Moskau lebe«, erklärte Vitalij der immer noch schluchzenden Lena geduldig. »Ich müsste ein so riesiges Schmiergeld bezahlen, dass es für zwei Wohnungen reichen würde.«

Lena hörte nur mit halbem Ohr hin und dachte daran, dass Vitalij, um den sie so große Angst gehabt hatte, dass sie darüber ihr eigenes Unglück vergessen hatte, die ganze Zeit hinter den Büschen gestanden, die zwei Kerle, die sie vergewaltigten, beobachtet und sich dabei ausgerechnet hatte, welchen Nutzen er daraus ziehen konnte. Er hatte sie bewusstlos im Wald zurückgelassen und war den Männern bis zur Stadt gefolgt, um herauszufinden, wo sie wohnten. Dann war er zurückgekommen, wenn auch erst gegen Abend, als es bereits dunkel und unheimlich wurde im Wald, aber immerhin war er zurückgekommen . . .

Zunächst lief alles wie geplant. Die ersten Summen gingen regelmäßig ein, pünktlich alle zwei Wochen.

»Die Hauptsache ist es, sie nicht zu verschrecken«, sagte Vitalij mit gewichtiger Miene, während er das Geld nachzählte und in das Kuvert schob, in dem er es später zur Sparkasse bringen würde. »Wenn ich gleich fünftausend von ihnen verlangt hätte, wären sie in Ohnmacht gefallen und dann zu ihren Eltern gelaufen. Sie hätten ihnen irgendein Märchen aufgetischt, und wir beide hätten in der Tinte gesessen. Wer hätte uns schon geglaubt? Wir sind Zeitarbeiter, auf uns gibt niemand etwas. Aber so drücken die beiden alle zwei Wochen ein kleines Sümmchen ab und merken nicht, worauf sie sich eingelassen haben. Mal knapsen sie etwas von ihrem Taschengeld ab, was ihnen nicht allzu schwer fällt, weil ihre Eltern Kohle haben und gut für sie sorgen, mal pumpen sie ihre Freunde an, mal verkaufen sie etwas, das sie nicht mehr brauchen, mal betteln sie ihre Eltern um Geld an, weil sie angeblich ein Geschenk für ihre Freundin kaufen müssen. Sie wollen natürlich nicht ins Kittchen, und auf den ersten Blick verlange ich ja nicht viel.«

Der viel versprechende Anfang des zweifelhaften Unterfangens weckte Hoffnungen in Vitalij und Lena, sodass sie zwei Monate später, im Dezember des Jahres neunzehnhundertsiebzig, heirateten, obwohl sie weiterhin getrennt lebten, jeder in seiner Gemeinschaftswohnung.

Ende November, an dem Tag, als Vitalij die nächste Summe abholen ging, wartete Lena umsonst auf die Rückkehr ihres Mannes. Gegen Morgen des nächsten Tages erschien die Miliz bei ihr und eröffnete ihr, dass Vitalij von einer betrunkenen Prostituierten in deren eigenem Bett ermordet worden war. Am darauf folgenden Tag erschien der Untersuchungsführer und wollte von Lena wissen, was ihr Mann bei der trunksüchtigen Jeremina zu suchen gehabt hätte, ob er sie gekannt hätte und wo er im Laufe dieses Tages von Rechts wegen hätte sein müssen. Natürlich sagte Lena weder etwas von der Vergewaltigung noch von der Erpressung. Und von einer Tamara Jeremina hatte sie tatsächlich noch nie etwas gehört.

Am Ende der Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung war Lena Lutschnikowa bereits im achten Monat schwanger. Vitalijs Eltern, die zur Gerichtsverhandlung gekommen waren, nahmen sie mit in die Provinz. Lena war davon nicht begeistert, aber sie wagte nicht zu widersprechen. Sie fühlte sich schuldig am Tod ihres Mannes. Wenn sie damals nicht auf ihn gehört und die Täter angezeigt hätte, hätte er sie nicht erpressen können und wäre folglich an jenem Tag nicht das Geld abholen gegangen. Er hätte diese schreckliche Frau nicht kennen gelernt und wäre nicht ermordet worden. Diese Gedankengänge erschienen Lena logisch und folgerichtig, deshalb fühlte sie sich verpflichtet, Vitalijs Eltern zu folgen und ihnen nach dem Tod ihres Sohnes beizustehen und sie mit der Gegenwart ihres Enkelkindes zu beglücken.

Als Nina zwölf Jahre alt geworden war, heiratete Jelena Petrowna zum zweiten Mal, diesmal den Direktor der örtlichen Mittelschule. Die Ehe war sehr glücklich, aber sie währte nicht lange. Sieben Jahre später durchbrach ein betrunkener LKW-Fahrer den Zaun vor ihrem Haus und raste auf das Grundstück. Lenas Mann war nicht mehr zu retten . . .

»Wissen Sie, manchmal glaube ich, dass mein Leben aus einer Kette von unglücklichen Zufällen besteht, an denen ich schuld bin«, sagte die Lutschnikowa mit einem traurigen Lächeln, während sie Andrej Tee nachgoss und die Schale mit Konfitüre auffüllte. »Auch am Tod meines zweiten Mannes fühle ich mich schuldig. Er hat an jenem Morgen die Außentreppe unseres Hauses repariert, ich habe ihm einen ganzen Monat lang damit in den Ohren gelegen, weil das Holz der untersten Stufe durchgefault war, und am Morgen dieses Tages habe ich ihn fast mit Gewalt gezwungen, sich die Sache vorzunehmen. Er machte sich an der untersten Stufe zu schaffen, und ich stand oben und sah zu. Diese verfluchte Treppe . . . Manchmal scheint es, als wären es immer irgendwelche Kleinigkeiten, die den Menschen das Leben zerstören.«

»Jelena Petrowna, haben Sie wirklich nicht gewusst, wie und wo Ihr Mann Tamara Jeremina kennen gelernt hat?«

»Nein, ich habe es wirklich nicht gewusst. Ich habe ihren Namen damals zum ersten Mal gehört.«

»Und Gradow und Nikifortschuk?«

»Was ist mit Gradow und Nikifortschuk?«

»Haben Sie diese Namen schon einmal gehört? Waren das vielleicht Freunde Ihres Mannes?«

»Schöne Freunde«, sagte Jelena Petrowna mit einem müden Seufzer. »Sie waren keine Freunde, sondern Feinde. Diejenigen, die Vitalij erpresst hat. Woher kennen Sie diese Namen? Ich habe sie doch kein einziges Mal erwähnt.«

»Und warum haben Sie sie nicht erwähnt? Sie haben so ausführlich berichtet, aber die Namen haben Sie weggelassen. Hat Sie jemand darum gebeten, oder hat man Ihnen sogar gedroht, Jelena Petrowna?«

»Gott bewahre. Wer sollte mich schon um so etwas bitten öder mir gar drohen! An mir hat niemand Interesse. Ich wusste nur nicht, ob ich die Namen nennen soll oder nicht. Ich warte schon seit etwa einem halben Jahr darauf, dass jemand anfängt, in dieser alten Geschichte herumzustochern, sie an die Öffentlichkeit zu zerren und schmutzige Wäsche zu waschen. Unsere Journalisten lieben so etwas ja, sie sind ständig auf der Jagd nach Schuldigen. Ich habe mich ein halbes Jahr lang auf dieses Gespräch vorbereitet, aber bis zuletzt ist mir unklar geblieben, ob ich seinen Namen nennen soll oder nicht. Er ist zwar ein Schurke, aber immerhin Politiker, ich habe Angst, und Rachsucht liegt nicht in meiner Natur. Ich weiß gar nicht, warum ich es nun doch gesagt habe. Wahrscheinlich deshalb, weil Sie anders gefragt haben, als ich erwartet hatte.«

»Von wem genau sprechen Sie? Sie waren doch zu zweit.«

»Von Gradow natürlich, Sergej Alexandrowitsch Gradow. Seit ich ihn vor einem halben Jahr im Fernsehen gesehen habe, warte ich darauf, dass jemand kommt und mich nach seiner schwarzen Seele fragt. Er hat sich ein halbes Jahr lang darauf vorbereitet, sich einen Platz in der Duma zu erobern, und ich mich auf dieses Gespräch. Nun haben wir beide erreicht, was wir wollten, jeder das Seine.«

Auf dem Weg zur örtlichen Miliz dachte Andrej über die absurde Verbindung zwischen Lena und Vitalij nach. Eine Verbindung ohne Liebe, ohne Leidenschaft, ohne Freundschaft. Da war nur die deprimierende Einsamkeit eines Provinzlers, der als Zeitarbeiter in die Hauptstadt gekommen war und alles daransetzte, sich den Status zu erobern, der damals als das höchste der Gefühle galt: Wohnrecht in Moskau, eine eigene Wohnung, Familie. Was führte die Menschen zusammen? Was ließ sie aneinander festhalten?

* * *

Arsenn war außer sich vor Wut. Diese kleine Polizistin, diese Rotznase hatte ihn ausgetrickst. Sie hatte das Unschuldslamm gespielt, die Schwache, die Sterbenskranke, die sich kaum noch auf den Beinen hielt, aber in Wirklichkeit hatte sie klammheimlich Bondarenko aufgesucht. Derjenige, der das zugelassen hatte, dem ihre Abwesenheit in der Poliklinik entgangen war, würde nichts zu lachen haben. Aber das stand auf einem anderen Blatt. Im Moment kam es nur darauf an, dieser kleinen Ratte die Luft abzudrehen, und zwar so, dass ihr das Schnüffeln für lange Zeit vergehen würde.

Arsenn öffnete sein Notizbuch und machte zwei kurze Telefonate. Man musste sich jetzt mit Bondarenko befassen, und dazu brauchte er Leute aus dem östlichen Stadtbezirk. Alle Fäden, die zur Hauptverwaltung für Inneres und zur Petrowka 38 führten, hielt Arsenn selbst fest in der Hand. Als er seinerzeit auf die Idee gekommen war, eine eigene Organisation zu gründen oder, wie er es nannte, ein eigenes Kontor, hatte er hochfliegende Pläne gehabt. Seine Idee war ganz einfach und wurde in einer Warteschlange geboren, als Arsenn wieder einmal nach Sauersahne und Quark im Milchgeschäft anstand und die Bemerkung der feisten, unverschämten Verkäuferin aufschnappte:

Ihr seid viele, und ich bin allein!

Niemand beachtete diese Bemerkung, die von jeher zum Standardrepertoire des Verkaufspersonals gehörte, aber bei Arsenn war sie hängen geblieben.

Zu jener Zeit war es bereits bekannt, dass es eine riesige Anzahl krimineller Verbände in der Stadt gab. Das organisierte Verbrechen, das außerhalb der Stadt sein Unwesen trieb, stand diesen Verbänden in nichts nach, aber sämtliche Händel und Abrechnungen zwischen den einen und den anderen fanden auf dem Territorium von Moskau statt. Und natürlich waren alle gleichermaßen daran interessiert, sich der Strafe für die traurigen Folgen ihrer gewalttätigen Auseinandersetzungen zu entziehen. Bestechung, Erpressung und andere einschlägige Methoden, mit denen man Untersuchungsführer und Kripobeamte unter Druck setzte, wurden gang und gäbe. Und Arsenn sah schon damals voraus, wie das weitergehen würde. Jede mehr oder weniger stabile kriminelle Organisation würde ihren eigenen Mann bei der Moskauer Kripo und beim Untersuchungsgericht haben wollen, es würden wüste, chaotische Aktivitäten zur Anwerbung von Mitarbeitern der Justiz einsetzen. Aber das quantitative Missverhältnis zwischen denen, die bestimmte Dienste beanspruchen wollten, und jenen, die diese Dienste erweisen konnten, würde zu erneuten Kämpfen zwischen den Banden führen. Arsenn stellte die einfache Rechnung auf, dass es nicht genügend Kripobeamte und Untersuchungsführer für alle gab, dass die Nachfrage größer war als das Angebot.

Deshalb musste zwischen den zahlenmäßig ungleichen Seiten ein Vermittler aktiv werden. Gleich am nächsten Tag begann Arsenn damit, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Er entnahm dem großen Schrank in seinem Büro die persönlichen Akten von zwanzig KGB-Mitarbeitern, und selbst bei flüchtiger Durchsicht fielen sieben Personen auf, die zu Recht der Ansicht waren, dass man sie schlecht behandelt hatte. In ihren Personalbogen entdeckte Arsenn unerklärliche Herabsetzungen in der Dienststellung und windige, stümperhafte Vollstreckungsbefehle. Es fanden sich auch andere auffällige Details: unmotivierte Verleihungen von Dienstgraden, Unregelmäßigkeiten beim Durchlaufen der Attestationskommission, Vermerke über Jahresurlaube im späten Herbst oder vor Frühjahrsbeginn und tausend andere Abweichungen von der Norm, aus denen man schließen konnte, wer grünes Licht bekam und wer ausgebremst wurde. Besonderes Augenmerk richtete Arsenn auf diejenigen, bei denen es klar war, dass man ihnen in Kürze die Pensionierung nahe legen würde.

Nach zweieinhalb Monaten nahm die von Arsenn aufgebaute Vermittlungsorganisation ihre Arbeit auf. Ihre Kunden waren hochkarätige Mafiosi und Mitglieder organisierter Verbrecherbanden, mit denen sich der KGB befasste. Diejenigen, die einen Vertrag mit der Organisation abgeschlossen hatten, brauchten vor der Miliz keine Angst mehr zu haben. Sie hatten es nicht mehr nötig, den Gang der Ermittlungen zu beobachten und Wege zu Kripobeamten und deren Vorgesetzten zu suchen. Diese und zahlreiche andere Aufgaben übernahmen jetzt Leute, die Arsenn sorgfältig ausgewählt hatte. Sie kannten die Mitarbeiter der einzelnen Abteilungen des KGB sehr gut und wussten, wie und womit man jemanden »kriegen« konnte, wie und womit man ihn zum Sprechen bringen musste, um in den Besitz der nötigen Information über den Stand der Ermittlungen in diesem oder jenem Fall zu gelangen. Sie wiesen auf Zeugen hin, die belastende Aussagen machten, und unterbreiteten ihren Klienten Vorschläge, wie man diese Zeugen am wirksamsten unter Druck setzen konnte, damit sie aufhörten, die Schuldigen zu belasten. Die Hauptaufgabe der Vermittler bestand darin, zu verhindern, dass Verbände mit gegensätzlichen Interessen dieselben Beamten für ihre Zwecke anwarben, denn derartige Kollisionen hätten zu nichts Gutem geführt, weder für die Vermittler selbst noch für ihre Klienten.

Die Arbeit lief gut, und allmählich weitete Arsenn seinen Aktionsradius auf die Organe für Inneres aus. Zu jener Zeit saßen in allen diesen Behörden seine Freunde aus dem KGB, getarnt als Kader oder als Politarbeiter. Arsenn träumte bereits von einer landesweiten Vermittlungsorganisation, die zum Bindeglied zwischen dem organisierten Verbrechen und der Justiz, einschließlich Gericht und Staatsanwaltschaft, werden sollte. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit seines Kalküls. Die Anzahl der ernst zu nehmenden kriminellen Verbände nahm rasant zu, während man vorläufig nicht vorhatte, den Personalbestand des Justizapparates zu vergrößern. Bestenfalls würde es zu geringfügigen Personalaufstockungen kommen, wie man sie schon früher vorgenommen hatte, aber zu spürbaren Verbesserungen bei der Verbrechensbekämpfung hatte das nie geführt. Die Nachfrage würde immer größer bleiben als das Angebot, solange es sich um eine unorganisierte, chaotische Nachfrage handelte. Und er, Arsenn und sein Kontor, waren dazu bestimmt, Angebot und Nachfrage zu regeln.

In der Theorie schien alles denkbar einfach zu sein, aber in der Praxis musste Arsenn sich von seinem Traum verabschieden und mit weniger zufrieden geben. Er begriff schon sehr bald, dass eine landesweite Organisation sich nicht realisieren ließ. Das Risiko war zu groß, ein einziges schwaches Glied in der Kette konnte alles zunichte machen. Zur Wahrung der Konspirativität war es besser, sich in kleine Gruppen aufzuteilen, die die einzelnen Justizbehörden kontrollierten, und nur einige wenige Leute einzusetzen, die die Arbeit der Gruppen auf oberster Ebene koordinierten. Es fiel Arsenn schwer, sich von seinem Traum von dem Riesenkraken zu verabschieden, der mit seinen Fangarmen das gesamte System der Verbrechensbekämpfung umschlingen würde, aber sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass eine Kette kleiner, voneinander unabhängiger Vermittlungskontors unvorhersehbaren Schwierigkeiten und Krisen sehr viel besser standhalten konnte. Arsenn war nicht ehrgeizig, er verlangte nicht nach Ruhm und Geld, es dürstete ihn nicht nach Macht. Sein Leben lang hatte ihn nur eines interessiert: Menschen zu manipulieren, an geheimen Fäden zu ziehen, die er in der Hand hielt, ohne dass andere es wussten, und mit Genuss zu beobachten, wie Schicksale und Karrieren sich unter seinem Einfluss verwandelten. Mitarbeiter von Personalabteilungen verfügten bekanntlich über schier unerschöpfliche Möglichkeiten der Manipulation, und im Lauf vieler Jahre hatte Arsenn diese Möglichkeiten genutzt und sich insgeheim an den Dramen und Komödien ergötzt, die er selbst inszenierte. Nach größeren Freuden verlangte es ihn nicht im Leben. Und auch bei der Verwirklichung seines neuen Planes ging es ihm nicht um Geld und Ruhm. Friedlich und gerecht teilte er alles zwischen sich und seinen Mitarbeitern auf. Er überlegte lange, welches Stück von dem Kuchen er sich selbst nehmen sollte, und entschied sich schließlich für die Moskauer Hauptverwaltung für Inneres. Warum ausgerechnet dafür, konnte er selbst nicht sagen. Ihn lockte das Wort »Petrowka«, etwas von jugendlicher Romantik haftete ihm an. In dem riesigen Sowjetreich gab es vier Orte, die jeder kannte. Den Kreml, das Gebäude des ZK der KPdSU am Alten Platz, das Lubjanka-Gefängnis und die Petrowka. Vier heilige Adressen, vier Symbole der Herrschaft, der Macht und der Weisheit. Für den Kreml und den Alten Platz war Arsenns Kontor nicht zuständig, im Lubjanka-Gefängnis war er ohnehin jeden Tag. So kam es, dass er damit begann, Beziehungen zwischen den Verbrechern des Landes und den Mitarbeitern der Petrowka herzustellen, zu einer Zeit, da die UdSSR bereits auseinander gefallen war, da das Gebäude auf dem Alten Platz allmählich in Vergessenheit geriet, der Kreml seine magische Anziehung verloren hatte und das Lubjanka-Gefängnis für immer mit Schmach und Schande bedeckt war. Zuerst hatte man dieses legendäre Gefängnis verkleinert, dann öffentlich angeprangert, dann umstrukturiert, schließlich ganz abgeschafft und irgendwelche kläglichen Reste hinter einem neuen Namen versteckt. Aber der Zauber der Petrowka war erhalten geblieben . . . Arsenn hatte die richtige Wahl zur richtigen Zeit getroffen.

Nach dem nächtlichen Treffen mit Sergej Alexandrowitsch ordnete Arsenn an, dass man Bondarenko für alle Fälle unter Beobachtung nehmen sollte. Obwohl die Informationen, die er von Gradow bekam, auf nichts Böses hindeuteten, war Arsenn innerlich auf das Schlimmste vorbereitet. Als er erfuhr, dass Bondarenko am frühen Morgen von einem Wagen nach Hause gebracht worden war, hinter dessen Steuer Andrej Tschernyschew gesessen hatte, war ihm sofort klar, dass die Kamenskaja ihn hereingelegt hatte. Zuerst versuchte er, sich auszumalen, wo sie am gestrigen Tag gewesen war und was sie inzwischen herausgefunden hatte. Erst nach einer Weile fiel ihm plötzlich Kartaschow ein.

Er war also nicht deshalb in der Redaktion von »Kosmos« erschienen, weil er den bewussten Zettel gefunden hatte, sondern weil dieses gerissene Weib ihn geschickt hatte. Was folgte daraus? In Wahrheit existierte überhaupt kein Zettel.

Die Information über die Kontaktaufnahme zwischen Bondarenko und dem Kripobeamten Tschernyschew erhielt Arsenn erst am Abend. Beim Aufbau des Verbindungsnetzes innerhalb seiner Organisation hatte Arsenn eine schwere Entscheidung treffen müssen. Was war als Arbeitsmethode vorzuziehen, die Konspiration oder die Informationsübermittlung auf operativem Weg? Nach reiflicher Überlegung hatte Arsenn sich für das Letztere entschieden. Das Prinzip der operativen Informationsübermittlung war sehr einfach und zuverlässig, erforderte allerdings ein sehr gutes Gedächtnis und ein hohes Maß an Präzision. Der Nachteil bestand darin, dass die Informationen nicht immer rechtzeitig eintrafen. Aber so war es nun einmal, hatte Arsenn sich gesagt, man musste immer irgendeinen Kompromiss eingehen, es gab auf der Welt nichts Ideales.

Arsenn wusste bereits, dass der Versuch, die Kamenskaja von ihrem Diensttelefon abzuschneiden, aus unerklärlichen Gründen gescheitert war. Aber in Anbetracht des Zusammentreffens zwischen Bondarenko und Tschernyschew hatte das keine große Bedeutung mehr. Trotzdem geriet Arsenn ins Nachdenken. Zuerst die Pleite mit der Suche nach dem Zettel in Kartaschows Wohnung. Kartaschow selbst hatte den Grund für diese Pleite hinreichend erklärt, es bestand keine Veranlassung, dem Mann aus Gordejews Abteilung, der unüberprüfte Informationen geliefert hatte, die Schuld daran zu geben. Am nächsten Tag hatte ein anderer Kontaktmann, der ebenfalls in der Petrowka arbeitete, falsche Informationen über den Aufenthalt der Kamenskaja in der Poliklinik geliefert. Heute die völlig unerklärliche Geschichte mit dem Telefon. Drei Pleiten mit drei verschiedenen Leuten, und alle praktisch gleichzeitig. Einer von den dreien musste ein Verräter sein, daran bestand kein Zweifel. Nur wer?

Arsenn setzte sich umgehend mit Onkel Kolja in Verbindung. Er holte, wie immer, weit aus und kam dann unmerklich zum Punkt.

»Sicherst du dich ausreichend ab?«, fragte er.

»Ja.«

»Und kontrollierst du auch deine Leute?«

»Warum fragen Sie mich das?«, wollte Onkel Kolja mit aufsteigendem Unmut wissen. »Ich habe in zwei Jahren keinen einzigen Fehler gemacht.«

»Was nicht ist, kann noch werden«, erwiderte Arsenn giftig. »Du wirst schon seit zwei Tagen beschattet. Du und dieser Knabe, der den Zettel bei Kartaschow gesucht und nicht gefunden hat.«

»Sie meinen Sascha?«

»Du weißt besser als ich, wen du auf Kartaschow angesetzt hast. Wie konntest du so unvorsichtig sein, du Häuptling der Schafsköpfe . . . Wegen deiner Nachlässigkeit. . .«

»Ich verstehe nicht«, unterbrach ihn Onkel Kolja. »Wenn Sie gewusst haben, dass man uns beschattet, warum haben Sie es mir dann nicht gleich gesagt? Aber was wollen Sie überhaupt von mir? Soviel ich weiß, gibt es eine Abmachung darüber, wie die Aufgaben zwischen uns verteilt sind. Wir erfüllen Ihre Anweisungen, und Sie sorgen für unsere Sicherheit. Hören Sie gefälligst auf, mich anzuraunzen. Nach zwei Aufenthalten im Arbeitslager kann mich so etwas nicht beeindrucken.«

Im Innersten musste Arsenn zugeben, dass sein Gesprächspartner in gewisser Weise Recht hatte. Für die Sicherheit war Onkel Kolja tatsächlich nicht verantwortlich, das war Arsenns Sache. Aber Leichtsinn musste schließlich eine Grenze haben! Einer, der im Auftrag eines anderen Verbrechen beging, konnte sich nicht auf den guten Onkel verlassen, der ständig hinter ihm herlief und seine schmutzigen Spuren beseitigte.

»Es geht dich nichts an, was ich weiß und was ich zu tun habe«, sagte Arsenn trocken. »Du bist keinen Pfifferling wert, wenn du nicht bemerkt hast, dass man dieses Bürschlein abgeworben hat.«

»Wie kommen Sie denn auf so etwas?«, fragte Onkel Kolja mit ehrlichem Erstaunen.

»Weil er Kartaschow allzu leicht entkommen ist, mein Lieber. Er ist in eine fremde Wohnung eingebrochen, hat dem Bewohner das Blaue vom Himmel heruntergelogen und sich erfolgreich wieder aus dem Staub gemacht, ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben. Und am nächsten Tag stellt sich heraus, dass Kartaschow plötzlich reges Interesse daran zeigt, was auf diesem Zettel gestanden haben mag. Macht dich das nicht stutzig?«

»Worauf spielen Sie eigentlich an?«

Onkel Kolja musste sich Mühe geben, seine Stimme nicht zu erheben.

»Darauf, dass dieser Bengel geredet hat. Entweder weißt du Bescheid und deckst ihn, betrügst mich und deinen Seelenfreund Sergej Alexandrowitsch, oder du bist ein kompletter Idiot und lässt dich von diesem Grünschnabel hinters Licht führen. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall musst du bestraft werden.«

»Interessant, was Sie da sagen. Und wie steht es mit dem Mann, der behauptet hat, dass Kartaschow weggefahren ist? Werden Sie den auch bestrafen? Oder möchten Sie mich allein zum Sündenbock machen?«

»Der andere geht dich nichts an. Du bist verantwortlich für dich und deinen Mitarbeiter. Von heute an werden wir beide uns nicht mehr treffen. Es wird nur noch telefonische Verbindung mit doppelter Kontrolle geben. Morgen werde ich versuchen herauszufinden, ob dein Telefon abgehört wird, bis dahin darfst du es nicht mehr benutzen.«

»Warum versuchen Sie, mich einzuschüchtern, Arsenn? Warum sollte mein Telefon abgehört werden?«

»Weil ich befürchte, dass diesem Burschen jemand folgt, seit er Kartaschows Wohnung verlassen hat, und damit bist auch du im Visier. Aber du spielst den Unschuldsengel und hältst es nicht einmal für nötig, dich zu vergewissern, ob du beschattet wirst oder nicht. Aber lassen wir das jetzt, du bist gewarnt, kommen wir zur Sache.«

Onkel Kolja hörte aufmerksam zu und stellte keine überflüssigen Fragen. Einerseits war Arsenn das sehr recht, er hasste es, Erklärungen abzugeben und Fragen zu beantworten, andererseits misstraute er Onkel Koljas Gefügigkeit. Er tat immer bereitwillig, was man ihm auftrug, ohne nach dem Sinn eines Befehls zu fragen. Und wenn man den Sinn einer Sache nicht verstand, konnte man nicht richtig reagieren, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah. Aber wenn jemand den Sinn verstand, dann war es wiederum so, dass er bereits zu viel wusste und gefährlich werden konnte. . .

* * *

Als das Telefon läutete, zuckte Nastja zusammen, aber Ljoscha Tschistjakow hob ab, ohne Notiz davon zu nehmen. Er glaubte inzwischen nicht mehr daran, dass Nastja jemals wieder selbst ans Telefon gehen würde.

»Ich vermute, Anastasija Pawlowna ist nicht zu Hause, wie immer«, hörte Ljoscha den Mann sagen, mit dem er bereits letzte Nacht gesprochen hatte. »Bitte seien Sie so freundlich und richten Sie ihr aus, dass ich wieder angerufen habe und sie bitte, sich einmal Jack London vorzunehmen, besonders die Erzählungen aus Band fünf.«

»Was genau soll ich ihr ausrichten? Dass sie diese Erzählungen lesen soll?«

»Richten Sie ihr aus, dass jeder ihrer künftigen Schritte mit Unannehmlichkeiten verbunden sein wird.«

»Mit welchen Unannehmlichkeiten?«

»Das ist alles bei Jack London beschrieben, sie soll es nachlesen.«

Ljoscha hörte das Klicken in der Leitung und sah auf seine Armbanduhr. Es war ihm nicht gelungen, den Anrufer länger als drei Minuten in ein Gespräch zu verwickeln, worum Nastja ihn gebeten hatte. Die Nummer war nicht auf dem Display erschienen, da der Anruf erneut aus einer Telefonzelle gekommen war.

»Tut mir Leid«, sagte er mit einem schuldbewussten Lächeln. »Ich habe mir Mühe gegeben, aber es hat nichts genutzt. Er hat gebeten, dir auszurichten, dass du den fünften Band der gesammelten Werke von Jack London lesen sollst. Und dass jeder deiner künftigen Schritte mit Unannehmlichkeiten verbunden sein wird.«

Nastja saß bewegungslos am Küchentisch, ihre Hand umklammerte einen silbernen Teelöffel. Sie hatte den Löffel gerade an seinen Platz legen wollen, es aber sofort vergessen, nachdem sie begriffen hatte, wer der Anrufer war. Sie spürte ihre Arme und Beine nicht mehr, sie waren wie abgestorben. Sie musste jetzt die Kraft finden aufzustehen, dann musste sie bis zur Wohnungstür gehen, hinaus ins Treppenhaus und dann weiter, bis zur Wohnung von Margarita Iossifowna. Sie musste unbedingt anrufen und sich erkundigen . . . Aber es war so weit bis dorthin! Sie war sich sicher, sie würde unterwegs hinfallen und nie wieder aufstehen. Zum Teufel mit diesem Telefon!, sagte sie sich. Sollten sie doch ruhig mithören! Es wäre ja ausgesprochen dumm, nicht vom eigenen Telefon aus anzurufen. Dieser Mann hatte ihr soeben eine Information übermittelt, und es war klar, dass sie diese Information sofort überprüfen würde. Täte sie das nicht von ihrem eigenen Telefon aus, würden sie mit Sicherheit auf die Idee kommen, dass sie zum Telefonieren des Öfteren zu Nachbarn ging.

Nastja nahm den Hörer ab und wählte rasch Tschernyschews Nummer. Dann warf sie einen abwesenden Blick auf Ljoscha, der am Herd stand und ihr schon zum vierten Mal dieselbe Frage stellte.

»Soll ich dir den Band von Jack London bringen?«

»Wie bitte? Nein, nicht nötig.«

»Interessiert es dich nicht?«

»Ich habe Angst.«

»Warum?«

»Weil er bestimmt die Erzählung ›Der Midas Clan‹ meint. Und damit will er mir sagen, dass jeder Zeuge, mit dem ich es zu tun habe, sterben wird.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Ljoscha skeptisch, ließ sich vorsichtig auf einem Küchenhocker nieder und nahm Nastja den Silberlöffel aus der immer noch fest zusammengepressten Hand.

»Bald werde ich es genau wissen.«

»Vielleicht irrst du dich. Vielleicht gibt es noch eine andere Erzählung, die zur Situation passt.«

Nastja schüttelte resigniert den Kopf.

»Nein, ich erinnere mich sehr gut. In meiner Kindheit habe ich sämtliche Erzählungen in diesem Band mindestens zehn Mal gelesen.«

»Es könnte ja sein, dass er eine andere Ausgabe meint, in der Band fünf ganz andere Erzählungen enthält.«

»Ljoschenka, Lieber, du brauchst mich nicht zu beruhigen. Es geht um genau diese Ausgabe, weil sie in meinem Bücherschrank an der sichtbarsten Stelle steht. Und derjenige, der in meiner Wohnung war, hat sie gesehen. Wenn Andrej zurückruft, werden wir sehen, wer von uns beiden Recht hat.«

In Erwartung des Anrufs saßen sie schweigend in der Küche. Ljoscha legte Patiencen, Nastja schälte mechanisch Kartoffeln. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, dass sie bereits einen riesigen Dreilitertopf bis oben hin angefüllt hatte. Hilflos blickte sie Ljoscha an.

»Sieh mal, was ich angerichtet habe. Was machen wir nun damit?«

»Kochen«, erwiderte der Doktor der Wissenschaften ungerührt, insgeheim froh darüber, dass Nastja wenigstens für den Moment ihre düsteren Gedanken vergessen hatte.

»Aber so viel können wir doch nicht essen . . .«

»Das werden wir auch nicht tun, jedenfalls nicht auf einmal. Einen Teil essen wir heute, den Rest braten wir nach und nach, mit Eiern oder mit Büchsenfleisch.«

»Du hast Recht«, sagte Nastja mit einem verwirrten Lächeln. »Darauf bin ich nicht gekommen, weil ich nie vorkoche.«

»Du kochst überhaupt nicht, also hör auf, dich zu rechtfertigen. Nimm einen kleinen Topf.«

»Wozu?«

»Willst du warten, bis dieser ganze Kübel gar ist? Für jetzt kochen wir uns einen kleinen Topf, und den Rest stellen wir auf eine zweite Flamme. Verstanden?«

»Wie einfach . . . Was ist mit mir los, Ljoscha? Ich bin völlig kopflos und kapiere die einfachsten Dinge nicht mehr.«

»Du bist müde, Nastjenka.«

»Ja, ich bin müde. Warum ruft Andrej nicht an?«

»Er wird schon anrufen, reg dich nicht auf.«

Als der Anruf kam, war Nastja an der Grenze zur Hysterie.

»Was ist?«, fragte sie atemlos.

»Nichts. Acht Leichen, aber keine, die uns etwas angeht. Fünf Brandstiftungen, aber keine hat etwas mit unserem Fall zu tun.«

»Andrej, ich habe große Angst. Was soll ich tun? Hast du eine Idee?«

»Vorläufig nicht, aber morgen wird mir etwas einfallen. Ich hole dich um acht Uhr ab.«

»In Ordnung.«