VIERZEHNTES KAPITEL
Nastja zog ihren Morgenmantel aus und schlüpfte in Jeans und einen strengen schwarzen Pullover.
»Was ist los?«, fragte Ljoscha. »Erwartest du Besuch?«
»Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen«, sagte sie kurz angebunden und ging ins Bad.
Sie bürstete lange und sorgfältig ihr Haar und band es am Hinterkopf zu einem festen Knoten zusammen, den sie mit Haarnadeln feststeckte. Sie betrachtete sich aufmerksam im Spiegel und holte ihre Schminkutensilien aus dem Wandschrank.
Ich bin ein Miststück, herzlos, gemein, unverschämt, selbstgewiss, kalt und berechnend, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht vorsichtig mit Pinseln verschiedener Größe bearbeitete. Das Schminken war eine mühsame, langwierige Kleinarbeit, und als Nastja endlich fertig war, hatte der Inhalt ihrer Selbstbezichtigungen Gestalt angenommen. Aus dem Spiegel sah sie eine strenge, kalte Frau an. Die Augen dieser Frau kannten keine Tränen, ihr Herz kein Erbarmen und ihr Verstand keine Zweifel.
Sie stand noch eine Weile im Bad, dann ging sie leise, so, dass Ljoscha sie nicht hören konnte, nach nebenan und stellte sich vor den großen Spiegel. Schultern gerade, Rücken gestreckt, Kinn nach oben. Ein Körper wie eine gespannte Saite. Sie schloss die Augen, um sich von ihrer äußeren Erscheinung abzulenken und in die entsprechende innere Verfassung zu kommen. Die Menschen sind Dreck, sagte sie sich, es ist völlig legitim, sie hinter die eigenen Interessen zu stellen. Ich will nicht, dass ein Wahnsinniger mich und Tschistjakow erschießt. Ich bin bereit, alles und jeden zu verraten, um am Leben zu bleiben. Larzews Tochter ist mir völlig egal, aber ich weiß, dass auch ich sterben muss, wenn ihr etwas zustößt. Mir geht es nur darum, mich selbst zu retten, nur darauf kommt es an. Diese Larzews, Gordejews, Olschanskijs und wie sie alle heißen sind genau derselbe Abschaum wie diese Typen, die meine Treppe und meinen Hauseingang bewachen. Nichts als Ungeziefer, auf das es nicht ankommt, wenn es darum geht, das eigene Leben zu retten.
»Was ist mit dir?«, fragte Ljoscha bestürzt, als er seine Freundin sah.
»Was soll sein?«
»Von dir geht eine Kälte aus wie von einem Kühlschrank. Und dein Gesicht ist irgendwie . . .«
»Wie?«
Sie durfte sich kein Lächeln erlauben, um nicht aus ihrer Rolle herauszufallen.
»Fremd. Deins und doch nicht deins. Wie das einer Schneekönigin.«
»So ist es genau richtig. Ich gehe jetzt. Verhalte dich bitte ruhig, mische dich nicht ein.«
Sie öffnete entschlossen die Wohnungstür und blieb auf der Schwelle stehen. Sofort wurden leise Schritte von unten hörbar, auf der Treppe erschien der blonde Kopf eines sympathischen jungen Mannes mit hellblauen Augen und vollen Lippen. Das engelhafte Gesicht konnte Nastja nicht täuschen. Sie bemerkte sofort die geschmeidigen Bewegungen des Mannes, seine ausgeprägte Muskulatur, seinen gespannten, eingezogenen Nacken.
»Komm näher«, sagte sie mit halblauter Stimme.
»Warum?«, fragte der Mann ebenso halblaut und rührte sich nicht von der Stelle.
»Komm näher, habe ich gesagt.«
Der metallische Klang in Nastjas Stimme ließ den Mann gehorchen. Er nahm ein paar Stufen nach oben, hielt inne, holte seinen Revolver hervor und machte noch zwei Schritte auf Nastja zu.
»Sag ihnen, dass sie mich anrufen sollen«, sagte Nastja kalt.
»Wem soll ich das sagen?«, fragte der Mann verblüfft.
»Das soll nicht meine Sorge sein. Ich brauche Djakow. Sie sollen ihn zu mir schicken.«
»Warum?«
»Das wiederum soll nicht deine Sorge sein. Du bist nur ein billiger Handlanger, dem man nicht mehr zutraut, als mich zu bewachen. Sie sollen mich anrufen, und ich werde ihnen sagen, warum ich Djakow brauche. Ich warte zehn Minuten.«
Sie trat zurück in den Wohnungsflur und schloss die Tür. Nicht zu heftig, um nicht den Anschein von Nervosität zu erwecken, aber auch nicht zu sacht.
»Nastja, was geht hier vor?«, fragte Ljoscha bestimmt und versperrte ihr den Weg.
»Nicht jetzt«, presste sie zwischen den Zähnen hervor, schob ihn zur Seite, ging ins Zimmer und blieb vor dem Fenster stehen.
Ljoscha ging in die Küche und schlug die Tür zu. Was bin ich doch für ein Miststück, dachte Nastja. Aber vielleicht ist es besser so. Eine Primadonna in einem Provinztheater. Halt die Ohren steif, Mädchen, entschuldigen kannst du dich später. Zwei Minuten waren schon vergangen, blieben noch acht. Das Bürschlein, das die Medizin aus der Apotheke geholt hatte, lief die Straße entlang und verschwand hinter einer Ecke. Wahrscheinlich lief er zur Telefonzelle. Oder zu einem Wagen mit Autotelefon. Wir werden sehen, ob ich Recht hatte, dachte Nastja. Die Beamten, die den Mann beobachtet haben, der mich in der Poliklinik gesucht hat, haben festgestellt, dass dieser Mann immer um eine bestimmte Uhrzeit irgendwo anrief, aber nie mit jemandem sprach. Irgendein schlaues Kommunikationssystem ohne persönliche Kontaktaufnahme. Ob es auch diesmal funktionieren wird? Wenn ich nicht Recht habe, werden sie in zehn Minuten anrufen. Aber was, wenn ich Recht habe? Vergiss das Kind, vergiss Larzew, vergiss alles, du löst eine Rechenaufgabe, nimm dich zusammen, reg dich nicht auf, du rettest dein Leben, die Menschen sind Dreck, du brauchst dich ihretwegen nicht aufzuregen, denk nur an dich selbst. Es gibt dich und Tschistjakow. Und es gibt das Leben. Einfach nur das Leben. Noch vier Minuten. Du wirst alles tun, was sie von dir verlangen, was immer dich das kosten wird. Du bist eine nüchtern denkende Frau und weißt genau, dass du ihnen nicht gewachsen bist. Darum hat es keinen Sinn, mit ihnen zu kämpfen. Sie sind viele, und du bist allein. Niemand wird dich für dein Verhalten verurteilen, niemand wird das wagen. Fünf Minuten waren vorüber . . .
Sie ließ die Straße hinter der Fensterscheibe nicht aus den Augen. Dreck, Matsch, die dunklen, nassen Kleidungsstücke der Passanten, die Schmutzfontänen der vorüberfahrenden Autos. War das wirklich erst vor zehn Tagen gewesen – die helle italienische Sonne, die weißen Paläste, die immergrünen Bäume, das blaue Wasser der Springbrunnen, ihre fröhliche Mutter und der verliebte Professor Kühn? War es wirklich erst zehn Tage her, dass sie sich zum ersten Mal nach vielen Jahren frei und glücklich gefühlt hatte? Sieben Minuten waren vorüber. Das Bürschlein tauchte wieder auf der Straße auf. Wie schnell er laufen konnte, der kleine Schweinehund . . .
Als es an der Tür läutete, war eine Minute bis zum Ablauf der von Nastja gestellten Frist geblieben. Sie öffnete die Tür und trat majestätisch auf die Schwelle. Der Blonde mit dem Engelsgesicht stand in einer angemessenen Entfernung von der Tür. Hätten die Wohnungsinhaber die Absicht gehabt, ihn zu packen und in ihre Wohnung zu zerren, wäre ihnen das schwerlich gelungen.
Nastja schwieg, ihr Blick war voller Hochmut und kalter Verachtung. Keine Andeutung einer Frage, sie musste Gewissheit ausstrahlen, so wirken, als hätte sie die Situation bestens im Griff.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass man Sie um Entschuldigung bittet«, sagte der Typ mit halblauter Stimme. »Man wird Ihrer Bitte in zwanzig Minuten nachkommen.«
»Du verwechselst etwas, Kleiner«, erwiderte sie eisig. »Das war keine Bitte, sondern eine Forderung.«
Sie warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Aber du machst deine Sache gut, du hast es in zehn Minuten geschafft. Geh und iss eine von deinen Piroggen auf der Fensterbank, du hast es verdient.«
Ein Schritt zurück, das Schnalzen des Türschlosses.
Sie lehnte ihren Kopf an den Türstock, unfähig, sich zu bewegen. Diese Hundesöhne würden sie also noch zwanzig Minuten auf die Folter spannen. Und sie würde es nicht aushalten. Zwanzig Minuten warten und dann das Gespräch mit ihnen führen. Es würde ein kurzes Gespräch sein, da sie sich auf ein langes nicht einlassen konnten, das war zu riskant. Sie würde ihnen in wenigen Minuten klar machen müssen, dass sie zu allem bereit war, dass sie alles tun wollte, was sie von ihr verlangten. Sie würde Worte finden müssen, die sie ihr glaubten. Das war die einzige Chance. Aber einem lieben, intelligenten Mädchen mit humanistischer Bildung würden sie nicht glauben, weil so ein Mädchen sich niemals auf ein Geschäft mit Kriminellen einlassen würde. Dazu war nur eine kaltblütige, berechnende und völlig gewissenlose Kreatur fähig, eine, zu der sie, Nastja, werden musste.
Sie ging langsam über den Flur, so, als würde sie eine Kristallschale mit kostbarem Inhalt vor sich hertragen, betrat das Zimmer und setzte sich in den Sessel vor den Fernseher, krampfhaft bemüht, in der so mühsam hergestellten inneren Verfassung zu bleiben. Sie nahm eine Zigarette und drehte sie eine Weile nachdenklich zwischen den Fingern, bevor sie das Feuerzeug schnalzen ließ. Warum ließen sie sie zwanzig Minuten warten? Das Bürschlein hatte also nicht telefoniert. Offenbar war die dafür vereinbarte Zeit noch nicht gekommen. Aber wohin war er gelaufen? Hinter der Ecke hatte jemand auf ihn gewartet, und dieser Jemand würde den Anruf machen, wenn es so weit war. Sie hatten Disziplin, das musste man ihnen lassen! Sie verfügten offenbar wirklich über ein kompliziertes System indirekter Kontaktaufnahme. Warum sich nicht ein wenig damit beschäftigen, warum Zeit verlieren? Wenn sie, Nastja Kamenskaja, so ein System hätte schaffen müssen, wie hätte sie das gemacht?
Ohne Papier und Stift, sitzend im Sessel, fiel ihr das Denken schwer. Nastja war es gewohnt, über schwierige Dinge bei einer Tasse Kaffee nachzudenken, mit Hilfe komplizierter Planspiele, die sie auf dem Papier entwarf. Aber um zu einem Kaffee zu kommen, hätte sie in die Küche gehen müssen, und dort saß der ungerecht behandelte Ljoscha in seinem Groll gegen sie. Es war jetzt nicht der richtige Augenblick, um mit ihm zu sprechen, Nastja musste an ihrem eisigen inneren Hochmut festhalten. Was also musste einer tun, der an Informationen herankommen und dabei selbst unauffindbar bleiben wollte?
Die Antwort erwies sich als denkbar einfach. Es war zwar sehr schwierig, so ein Kommunikationssystem zu installieren, aber die Idee an sich war höchst simpel. Und wenn es sich tatsächlich so verhielt, wie Nastja annahm, dann wurde klar, warum Knüppelchens Leute kein Auto mit Abhöranlage in der Nähe entdecken konnten. So ein Auto existierte ganz einfach nicht. Heute setzten alle auf die neue, raffinierte Technik und vergaßen dabei, dass immer und bei allem der Mensch die entscheidende Rolle spielte. Der Mensch und sein Geld. Dieser vermochte, was keine noch so vollkommene Technik leisten konnte.
Wenn man der Uhr trauen durfte, waren inzwischen dreiundzwanzig Minuten vergangen. Es war nicht höflich von ihnen, eine Dame warten zu lassen . . .
Als das Telefon läutete, stellte Nastja mit Genugtuung fest, dass sie nicht einmal zusammenzuckte. Sie hatte sich fest in der Hand.
»Was haben Sie mir zu sagen, Anastasija Pawlowna?«
Es war wieder die ihr bekannte, samtige Männerstimme, die jetzt aber angespannt klang. Das war nicht weiter verwunderlich, da die störrische und unnachgiebige Kamenskaja plötzlich selbst um einen Anruf gebeten hatte.
»Ich werde es kurz machen«, sagte sie trocken. »Ich bin noch jung genug, um den Tod zu fürchten. Ihr Freund Larzew ist in sehr schlechter Verfassung und stellt eine ganz reale Gefahr für mein Leben dar. Deshalb ist es in meinem ureigenen Interesse, dass seiner Tochter nichts zustößt. Ich möchte, dass Sie Djakow zu mir schicken.«
»Wozu brauchen Sie Djakow?«
»Er ist in Kartaschows Wohnung in eine dumme Falle geraten. Der Untersuchungsführer wird in den verbleibenden Tagen vielleicht noch Schritte zur Aufklärung des Falles unternehmen, unter anderem wird er vielleicht versuchen, Djakow zu schnappen. Da ich genau weiß, welche Spuren er in Kartaschows Wohnung hinterlassen hat, werde ich ihm präzise Anweisungen geben, was er sagen soll, falls man ihn fasst. Sie haben mich in eine Lage gebracht, in der ich alles dafür tun muss, damit nichts schief läuft. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, ich habe Sie verstanden, Anastasija Pawlowna. Djakow wird in einer Stunde bei Ihnen sein. Ich freue mich, dass wir zu Verbündeten geworden sind.«
»Auf Wiederhören«, sagte Nastja zurückhaltend.
Die Ironie des Schicksals! Erst vor kurzem hatte Boris Kartaschow ihr dasselbe gesagt. Auch er hatte seine Freude darüber ausgedrückt, dass sie Verbündete geworden waren.
Wie lange würden sie diesen Djakow nun suchen? In einer Stunde würden sie ihn nicht finden, das stand fest. In einer Stunde würde der angenehme Bariton ihr voll Bedauern mitteilen, dass sie auf den Gesuchten noch eine Weile würde warten müssen. Dieses Gespräch würde noch kürzer sein als das vorherige, und es würde keine großen Anstrengungen von Nastja verlangen. Sie würde nur ein leichtes Missvergnügen zum Ausdruck bringen müssen, vielleicht ein wenig Erstaunen darüber, dass eine so gewichtige Organisation nicht in der Lage war, eine dringend gesuchte Person auf die Schnelle ausfindig zu machen. Nastja konnte sich entspannen.
Ljoscha klapperte in der Küche demonstrativ mit dem Geschirr. Er hatte wahrscheinlich Hunger, konnte sich aber trotz seines Gekränktseins offenbar nicht dazu entschließen, allein zu essen. Er würde wohl warten, bis Nastja sich dazu herabließ, sich ihm anzuschließen. Sie hätte ihn nicht so behandeln dürfen . . .
Nastja atmete ein paar Mal tief durch, entspannte ihre Rücken-und Nackenmuskulatur und öffnete die Tür zur Küche.
»Wenn du der Meinung bist, dass ich dich gekränkt habe und Strafe verdiene, werde ich nicht widersprechen. Aber lass uns die Erziehungsmaßnahmen bitte auf später verschieben. Im Moment brauche ich deinen Kopf.«
Ljoscha blickte von seinem Buch auf und sah sie unfreundlich an.
»Bin ich bei dir nach wie vor für Hilfsarbeiten eingeteilt?«
»Ljoscha, ich brauche dich. Lass uns jetzt nicht diskutieren. Dafür haben wir noch das ganze Leben Zeit.«
»Bist du dir sicher? Wenn es stimmt, was du mir erzählt hast, bleibt uns vielleicht gar nicht mehr viel, weil jeden Augenblick dein Freund Larzew hier auftauchen und uns über den Haufen schießen kann. Aber selbst in dieser Situation hörst du nicht auf, mich wie ein Küchengerät zu behandeln. Worüber hast du mit diesem Bullterrier verhandelt? Und wer hat dich angerufen?«
»Ich werde dir alles erklären, aber hilf mir erst, eine Denkaufgabe zu lösen.«
»Schieß los«, sagte Tschistjakow mit einem tiefen Seufzer.
* * *
Das Erste, was Knüppelchen erblickte, nachdem er die Treppen hinaufgestiegen und in den langen Korridor abgebogen war, war das kreidebleiche Gesicht von Pawel Wassiljewitsch Sherechow. Erst dann bemerkte er, dass sein Stellvertreter inmitten eines Menschenauflauf stand, der in ein Gewitter von Blitzlichtern getaucht war. Ohne ein Wort zu sagen, bahnte Gordejew sich einen Weg durch die Menge und erblickte einen Mann, der mit einem Kopfschuss auf dem Fußboden im Büro seines Stellvertreters lag. Die Kugel hatte ihn genau in der Mitte der Stirn getroffen, Hauptmann Morozow war tot.
»Wie ist das passiert?«, presste Gordejew zwischen den Zähnen hervor.
»Er hat bei mir im Büro gesessen und auf dich gewartet. Man rief mich an und bat mich, im Sekretariat vorbeizukommen, um ein wichtiges Papier abzuholen. Ich konnte Morozow wegen dieser fünf Minuten doch nicht auf den Korridor hinausschicken. Ich habe alle meine Papiere in den Safe eingeschlossen und bin gegangen. Im Sekretariat wusste man von nichts, niemand hatte mich von dort angerufen. Da habe ich begriffen, dass etwas nicht stimmte, und lief schnell zurück in mein Büro. Aber es war bereits zu spät. Niemand hat den Schuss gehört, offenbar hat der Mörder einen Schalldämpfer benutzt.«
»Alles klar. Hat Morozow dir gesagt, was er von mir wollte?«
»Nein, er hat nichts gesagt, aber er war sehr nervös. Er wirkte völlig verändert auf mich.«
»Hat er etwas bei sich gehabt?«
»Eine Sporttasche.«
»Bring die Tasche in Sicherheit, bevor sie jemand wegnimmt. Sobald sich die Wellen hier gelegt haben, sehen wir nach. Vielleicht finden wir irgendwelche Unterlagen. Hast du Larzew gefunden?«
»Er ist schon auf dem Weg hierher.«
»Lauf zum Tor, fange ihn ab und bring ihn über den Notausgang direkt zu mir. Geh mit ihm nicht an deinem Büro vorbei und verliere kein Wort über Morozow.«
* * *
Nikolaj Fistin, alias Onkel Kolja, war sehr verwirrt. Arsenn hatte ihm befohlen, sofort nach Sascha Djakow zu suchen und ihn zur Kamenskaja zu bringen. Diese Forderung erschien Onkel Kolja völlig verfehlt und unsinnig. Zumal sie allem Anschein nach unerfüllbar war.
Nikolaj Fistin war wegen besonders schweren Rowdytums zum ersten Mal mit siebzehn Jahren im Straflager gelandet. Nach drei Jahren wurde er wieder entlassen, aber da er im Lager nicht gescheiter geworden war und das Zuschlagen nach wie vor für die einzige Möglichkeit hielt, seinen Unwillen auszudrücken, wurde er sofort wieder verhaftet, diesmal musste er eine achtjährige Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichen Folgen absitzen.
Angesichts seiner wilden Jugendjahre entzog man ihm das Wohnrecht in Moskau und verbannte ihn in die Provinz. Nikolaj lebte in einem Wohnheim, arbeitete in einer Ziegelfabrik, trank viel und fluchte, was das Zeug hielt. Sein weiteres Schicksal schien für immer besiegelt. Doch er hatte Glück. Der Zufall bot ihm eine neue Chance, und es gelang ihm, diese Chance voll und ganz zu nutzen.
Eines Tages lernte er in Zagorsk eine Frau kennen, die zu einer Stadtbesichtigung gekommen war. Tonja arbeitete bei einer Wohnungsbaugesellschaft, die über sehr begehrte Wohnobjekte des gehobenen Standards verfügte. In der Zeit der Stagnation war es Usus geworden, die im ersten Stock gelegenen Wohnungen dieser Häuser den Mitarbeitern der Wohnungsbaugesellschaft zur Verfügung zu stellen. So kam die unscheinbare, unglückliche alte Jungfer zu einer mehr als anständigen Behausung. Durch die Verheiratung mit einer Moskauerin gewann Nikolaj sein Wohnrecht in der Hauptstadt zurück, aber seine eigennützigen Motive verwandelten sich sehr bald in das, was Nikolaj für Liebe hielt. Er hatte sich dazu zwingen müssen, Tonja zu heiraten, aber schon nach einem Monat begriff er, dass sie der einzige Lichtstrahl in seinem Leben war. In seiner Kindheit hatte er nichts anderes gekannt als die Flüche und Schläge seiner betrunkenen Eltern. Mit siebzehn Jahren war er in die Strafkolonie gekommen. Seinen Brüdern war es nicht besser ergangen. Einer war ebenfalls im Knast gelandet, der andere hatte sich um den Verstand gesoffen, der dritte war inzwischen tot. Und Tonja war eine warmherzige, zärtliche Frau, die ihn liebte und voller Mitgefühl für ihn war. Sie verlangte nichts von ihm, sondern nahm ihn so, wie er war. Aus Nikolajs anfänglicher scheuer Begeisterung für Tonja, mit der er zum ersten Mal Nähe und Zärtlichkeit erlebte, wurde glühende Liebe. Er war bereit, jeden auf der Stelle umzubringen, der seine Frau auch nur schief ansehen würde.
Nachdem Fistin bei Tonja eingezogen war, wurde er Schlosser in derselben Wohnungsbaugesellschaft, in der auch seine Frau arbeitete. Doch die eheliche Idylle verwandelte ihn nicht in einen Menschen, der das Gesetz ernst nahm. Allmählich begann er, in kriminellen Geschäften aktiv zu werden, zumal er viele Freunde in diesen Kreisen hatte. Das Leben erschien ihm nun durchaus akzeptabel, langsam kam er zu etwas Geld und war überglücklich, wenn er seiner Tonja wieder einmal ein Geschenk mitbringen konnte, ein Armband, ein Kostüm oder teure Kosmetik, die sie mit schüchterner, schlecht verhohlener Freude entgegennahm. Woher Nikolaj das Geld dafür hatte, wusste sie natürlich nicht, er machte ihr weis, dass er nebenher etwas in einer Autowerkstatt dazuverdiente.
»Aber nicht doch, Kolja«, sagte Tonja, »ich brauche doch nichts, Hauptsache, du bist gesund und glücklich. Du sollst mir keine Geschenke machen, gönne dir lieber mehr Ruhe und schufte nicht ständig in dieser Autowerkstatt. Wir haben doch alles, wir brauchen keinen zusätzlichen Verdienst.«
Solche Worte brachten das Herz des zweifach vorbestraften Fistin zum Schmelzen.
Eines späten Abends fühlte sich Tonja plötzlich unwohl. Sie nahm sich lange zusammen, spielte die Tapfere und Fröhliche und redete sich ein, ihr Unwohlsein hätte natürliche Gründe, da sie schwanger war. Als eine Blutung einsetzte, erschrak sie nicht wenig, und ihr Mann verfiel in Panik. Als die Erste Hilfe nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, beschloss Nikolaj, seine Frau selbst ins Krankenhaus zu bringen. Zu einem eigenen Auto hatte er es bis dahin noch nicht gebracht, er musste einen Privatwagen auf der Straße anhalten und dachte mit Entsetzen an die Szene, zu der es mit dem Wagenbesitzer wegen des Blutes auf dem Autositz kommen würde. Seine größte Angst war in diesem Moment, dass Tonja das Kind verlieren würde. Aber an zweiter Stelle stand die Angst davor, dass er sich nicht würde zurückhalten können und den Autobesitzer verprügeln, falls er einen Aufstand machen sollte. Das würde ihm eine dritte Haftstrafe einbringen, und dann war es vorbei mit dem schönen Familienleben . . .
Er lief nach unten, stürzte mit erhobener Hand auf die Kreuzung und wäre fast unter die quietschenden Räder eines Wolga gekommen, hinter dessen Steuer Gradow saß, ein Nachbar aus dem fünften Stock, der in Fistin sofort den Schlosser erkannte, der gelegentlich seine teure, importierte Sanitäreinrichtung reparierte.
»Was ist los, Nikolaj?«, fragte Gradow.
»Meine Frau muss dringend ins Krankenhaus. Ich habe die Erste Hilfe angerufen, aber sie kommt nicht. Ich habe Angst, dass Tonja verblutet, und möchte einen Privatwagen anhalten.«
»Ich werde sie fahren«, sagte Gradow, ohne zu überlegen. »Kommt sie bis auf die Straße, oder müssen wir sie tragen?«
»Wo denken Sie hin, Sergej Alexandrowitsch«, sagte Nikolaj verwirrt, »das Blut würde Ihnen die ganzen Autositze ruinieren.«
Die Sitze in Gradows Wagen waren in der Tat luxuriös, mit weißem Fell bezogen.
»Unsinn, lass uns fahren«, erwiderte Gradow bestimmt. »Mach dir keine Sorgen wegen der Sitze, wenn sie anschließend hinüber sind, wirst du mir bis an dein Lebensende umsonst mein Klo reparieren.«
Sergej Alexandrowitsch brachte Tonja nicht irgendwohin, sondern in eine gute Klinik, wo er sie als eine Verwandte ausgab. Als Fistin all die Pracht dort sah, das luxuriöse Einzelzimmer, die hypermoderne Apparatur, die freundlichen, zuvorkommenden Krankenschwestern, war es um ihn geschehen. Es gelang den Ärzten, die Blutungen zu stoppen, und nachdem Nikolaj ein Sohn geboren war, zweifelte er nicht mehr daran, dass er für ewig in Gradows Schuld stand.
Bei einem Restaurantbesuch mit Freunden wurde Gradow im Jahr 1991 Zeuge einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Schlagringen und Schusswechsel. Einige der Beteiligten kamen ihm bekannt vor.
Gradow ging zum Direktor des Restaurants, den er seit vielen Jahren kannte, und wollte von ihm wissen, warum man die Miliz nicht benachrichtigte. Der Direktor zuckte mit den Schultern.
»Wozu?«, sagte er. »Die Jungs sorgen hier für Ordnung, und wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt eine Abreibung. Die Miliz tut hier nichts zur Sache.«
»Ich glaube, ich habe einige dieser Jungs schon einmal in der Nähe meines Hauses gesehen, sie haben sich mit Nikolaj Fistin, unserem Schlosser, unterhalten«, sagte Gradow nachdenklich.
»Wissen Sie es denn nicht?«, fragte der Direktor erstaunt. »Er ist doch ihr Boss. Sie nennen ihn Onkel Kolja.«
Als Gradow kurze Zeit später Nikolaj zu sich rief und ihm ein neues Betätigungsfeld anbot, stimmte Nikolaj mit Freuden zu. Es wurde mit jedem Tag schwerer, die Gegend zu kontrollieren. Nikolaj war es gelungen, ein Stück des Terrains an sich zu reißen und es eine Weile zu beherrschen, aber allmählich tauchten jüngere Haie mit schärferen Zähnen auf, die die bestehenden Spielregeln nicht anerkannten und denen Nikolaj nicht gewachsen war. In den neuen Verhältnissen kam man mit Muskelkraft allein nicht mehr weit, es war Köpfchen gefragt, aber damit sah es bei Nikolaj nicht so gut aus. Gradows Angebot kam genau im richtigen Moment. Nikolaj konnte sich, ohne sein Gesicht zu verlieren, aus dem Geschäft zurückziehen und sich einer anderen, gut bezahlten Tätigkeit zuwenden, die zudem viel ruhiger war. Gradow bestand darauf, dass Nikolaj alle Verbindungen zur kriminellen Szene abbrach. Er machte Karriere in der Politik und brauchte Sicherheitspersonal, das auf Massenveranstaltungen seiner Partei für Ordnung sorgte und verschiedene vertrauliche Aufgaben übernahm. Nikolaj hatte nur sehr vage Vorstellungen von der Art seiner zukünftigen Tätigkeit, aber er wollte Gradow mit Herz und Seele dienen.
Seitdem waren zwei Jahre vergangen, und jetzt schien zum ersten Mal Gefahr im Verzug zu sein. Diese Gefahr ging nicht von der Miliz aus, die Nikolaj eine durchaus ansehnliche Rechnung hätte präsentieren können, die Gefahr kam von Arsenn. Onkel Kolja hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Was wollte sein Boss von diesem glatzköpfigen Fiesling?
Onkel Kolja hatte alles erledigt, was Gradow ihm befohlen hatte: Er hatte das Haus gemietet, das Gradow nicht zum ersten Mal für seine Zwecke nutzte, seine Jungs hatten das Mädchen gefunden und alles richtig gemacht. Sie hatten sich Vika gegenüber als Freunde von Bondarenko ausgegeben und ihr gesagt, Bondarenko hätte keine Zeit, sie am Montag zu Smeljakow zu begleiten, deshalb hätte er sie, seine Freunde, gebeten, das an seiner Stelle zu tun. Die Jungs brachten sie in das abgelegene Haus und pressten alles aus ihr heraus, was sie wusste. Es war nicht allzu viel, aber immerhin hatte Vika ihnen den Hinweis auf irgendeinen Kosarj gegeben. Die Jungs brachten beide um, Vika und diesen Kosarj, und löschten in Kartaschows Wohnung Bondarenkos Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Damit war alles erledigt. Wozu brauchte Gradow Arsenn? Er kritisierte Nikolaj ständig, misstraute seinen Leuten und wollte Gradow Stattdessen seine eigenen Mitarbeiter aufschwatzen. Der Boss hatte freilich nichts auf Nikolaj kommen lassen und Arsenn erklärt, er sei sehr zufrieden mit Fistin und seinen Leuten, sie würden beste Arbeit leisten. Doch Arsenn hörte trotzdem nicht auf, ihn bei jeder Gelegenheit zu beleidigen, zu demütigen und Unverständliches daherzureden.
Onkel Kolja machte es schwer zu schaffen, dass sein Boss mit Arsenn irgendeine ihm unverständliche Sprache sprach, dass er auf die Forderungen und Befehle dieses alten Tatterichs einging, während er, Nikolaj, etwas Wesentliches nicht erfassen konnte, sosehr er sich auch darum bemühte. Er hatte Angst, sein Boss könnte merken, dass er nicht richtig mithalten konnte, und ihn, Nikolaj, schließlich durch Arsenn, diese Laus im Pelz, ersetzen. Er tröstete sich zwar mit dem Gedanken, dass Gradow ihn nicht einfach an die Luft setzen konnte, dazu verbanden die beiden zu viele unschöne und sogar blutige Geheimnisse. Aber der Trost war schwach, denn Onkel Kolja wollte nicht, dass Gradow ihn als Schwächling ansah und nur aus Angst behielt. Fistin war sehr ehrgeizig und hätte sich mit so etwas nie abfinden können. Während der Unterredungen mit Arsenn versuchte er angestrengt, dem Gespräch zu folgen, er verbarg seine wachsende Angst und lächelte sein seltsames Lächeln. Ein Lächeln, das dem Zähnefletschen eines in die Enge getriebenen Schakals glich, der mit letzter Kraft versuchte, seinen Gegner in die Flucht zu schlagen, obwohl er wusste, dass er der Unterlegene war und dass das Ende nahte . . .
An diesem 30. Dezember begriff Nikolaj Fistin, dass der entscheidende Moment gekommen war. Arsenn hatte den Vertrag mit seinem Boss aufgelöst und wollte nicht mehr für ihn arbeiten, obwohl er seinen Auftrag noch nicht erfüllt hatte. Kaum hatte Onkel Kolja aufgeatmet, kam der nächste Schlag. Arsenn verlangte von ihm, dass er sofort Sascha Djakow ausfindig machen sollte. Warum? Wozu brauchte er Djakow, wenn er nicht mehr für Gradow arbeitete? Zudem hatte Arsenn ihn selbst beauftragt, die Sache mit Djakow zu regeln. Und Onkel Kolja hatte sie geregelt. Er hatte Sascha befohlen, in eine andere Stadt zu fahren und sich dort drei, vier Monate lang zu verstecken. Zu Hause hatte er sagen sollen, dass er in geschäftlichen Angelegenheiten verreisen müsse und erst im Frühjahr zurückkommen würde. Onkel Kolja hatte alle Maßnahmen getroffen, damit Djakow in der anderen Stadt entsprechend »empfangen« wurde. Bis zum April würde ihn niemand suchen, und dann, wenn der Schnee weggetaut war, musste man seine Leiche erst noch entdecken und identifizieren. . . Was wollte dieser alte Esel von Arsenn jetzt eigentlich noch?
»Die Kamenskaja will, dass Djakow bei ihr erscheint«, hatte er gesagt. »Sie möchte ihm für den Notfall die entsprechenden Anweisungen geben.«
»Die Kamenskaja kann viel wollen«, erwiderte Nikolaj wütend. »Vielleicht verlangt sie morgen eine Million Dollar von Ihnen. Bekommt sie die dann auch?«
Arsenn war erstaunlich geduldig und tat so, als hätte er Koljas ausfallende Bemerkung überhört.
»Ihre Forderung ist durchaus vernünftig und muss erfüllt werden«, erwiderte er ruhig. »Ich überwerfe mich nie mit der Miliz, ich führe mit ihr eine friedliche Koexistenz. Verstehst du das? Eine friedliche Ko-exis-tenz«, wiederholte er, Silbe für Silbe betonend. »Würde ich auf Konfrontationskurs mit der Miliz gehen, könnte ich meine Arbeit gleich sein lassen. Die Kamenskaja muss begreifen, dass man mit mir verhandeln und dass man mir trauen kann. Nur dann erreiche ich das, was ich erreichen will. In einer Stunde muss Djakow bei ihr sein.«
Arsenns Worte klangen so kategorisch, dass Kolja es nicht wagte, ihm zu widersprechen. Er begann, hektisch in der Stadt anzurufen, in der Sascha sich befand, hoffend, dass man seinen Auftrag noch nicht ausgeführt hatte. Aber das Glück war ihm nicht hold, er erreichte niemanden von seinen Leuten, offenbar waren vor den Feiertagen alle irgendwo unterwegs. Alle halbe Stunde rief Arsenn an und erkundigte sich mit bedrohlicher Ruhe in der Stimme nach dem Stand der Dinge.
Endlich traf Fistin eine Entscheidung.
»Ich habe gewisse Schwierigkeiten«, sagte er. »Wir müssen uns treffen.«
Das Treffen mit Arsenn erwies sich als sehr viel unangenehmer als von Nikolaj befürchtet.
»Du hirnloser Idiot«, zischte Arsenn ihn an. »Verstehst du kein Russisch? Habe ich dir gesagt, dass du Djakow beseitigen lassen sollst? Ich habe dir aufgetragen, die Sache zu regeln.«
»Ich habe sie geregelt.«
»Nichts hast du geregelt, du Trottel. Regeln bedeutet regeln, das heißt, sich in eine Sache hineindenken, sie verstehen, herausfinden, wer Recht und wer Unrecht hat, und dann eine Entscheidung treffen. Hast du dich schon einmal mit richtigen Dieben unterhalten? Die haben die Gesetze noch gekannt und nie jemanden einfach so ins Jenseits befördert. Wenn du das Wort ›regeln‹ hörst, fällt dir nichts anderes ein, als jemandem den Hals umzudrehen oder ihm ein Messer in den Bauch zu rammen. Zu mehr reicht dein Verstand nicht. Um etwas zu regeln, muss man sein Gehirn anstrengen, nachdenken, aber bei dir gibt es nichts, was du anstrengen könntest. Du bist einfach nur ein Stück Scheiße und weiter nichts. Du kannst nicht nur nicht denken, du kannst auch niemanden selbst umbringen, sondern nur Befehle erteilen. Im Ernstfall würdest du sofort die Knarre fallen lassen und dir in die Hosen machen. Was soll ich der Kamenskaja jetzt sagen? Dass man Djakow umgebracht hat und dass ich das nicht wusste? Wer bin ich denn, dass man in meiner Organisation meine eigenen Leute umbringt und ich nichts davon weiß. Mit so einem Verein wird die Kamenskaja nichts zu tun haben wollen.«
»Na und?«, knurrte Nikolaj. »Sie arbeiten doch sowieso nicht mehr für meinen Boss. Warum regen Sie sich so auf? Wenn die Kamenskaja nichts mit Ihnen zu tun haben will, dann soll sie es eben bleiben lassen.«
»Du bist wirklich ein Kretin. Verstehst du wenigstens, dass du deine eigene Epidermis retten musst?«
»Meine was?«
»Deine Haut, du Schwachkopf. Sobald man Djakows Leiche gefunden hat, bleibt nur noch ein einziger Schritt, und dann haben sie dich auch. Sie wollen Djakow wegen des Einbruchs in Kartaschows Wohnung verhören. Und damit werden sie nicht bis zum Frühjahr warten, darauf kannst du dich verlassen. Sie suchen ihn bereits seit heute Morgen. Wäre er noch am Leben, könnte die Kamenskaja ihm beibringen, was er bei einem Verhör zu sagen hat, und das Geschoss wäre an uns vorübergegangen. Aber jetzt suchen sie ihn, und selbst wenn sie ihn erst im Frühjahr finden, werden sie einen Zusammenhang herstellen. Und man wird den Fall erneut der Kamenskaja übertragen. Darum muss ich mich mit ihr gut stellen. Aber du hast, wie immer, alles verdorben. Denkst du vielleicht, ich weiß nicht, dass du mich hasst? Du traust keinem einzigen meiner Worte, obwohl ich weiß, wovon ich rede, und es dir nicht schaden würde, ein wenig bei mir in die Lehre zu gehen. Wie oft habe ich dich schon auf deine Fehler aufmerksam gemacht! Wie oft habe ich dir schon erklärt, was du tun musst! Hast du auch nur ein einziges Mal auf mich gehört? Du siehst und hörst nur eins, deinen heiß geliebten, vergötterten Gradow, nur sein Wort gilt für dich. Du bist wie ein Köter, der nur dann etwas versteht, wenn man ihn tritt. Aber dein Gradow ist genauso ein Schwachkopf wie du selbst, er wird dir nie etwas Vernünftiges sagen. Du wirst krepieren, bevor du etwas kapiert hast auf dieser Welt, weil du nicht auf Leute hören willst, die gescheiter sind als du.«
Onkel Kolja ertrug geduldig alle Beleidigungen, weil er jetzt ein Ziel hatte. Jetzt wusste er, dass er seinem Boss helfen musste. Und deshalb musste er Arsenn zwingen, seinen Vertrag doch noch zu erfüllen. Offenbar hatte Sergej Alexandrowitsch ihn nicht dazu überreden können. Aber Fistin würde gar nicht erst den Versuch machen, ihn zu überreden. Er würde ihn zwingen. Aber vorher musste er etwas über ihn in Erfahrung bringen. Deshalb hatte er Arsenn auch um dieses Treffen gebeten, obwohl er wusste, dass Arsenn ihn mit Kübeln von Dreck übergießen würde.
Als Erstes musste Onkel Kolja jetzt seine Jungs losschicken, damit sie Arsenns Adresse herausfanden. Danach würde man weitersehen. Diesmal wird Arsenn einen Tritt in seine widerliche, zerknitterte Fresse bekommen, sagte sich Fistin.
Mit seinem winzigen Verstand konnte Onkel Kolja sich nicht einmal annähernd vorstellen, wer und was das war, Arsenn und sein Kontor.
* * *
Oberst Gordejew sah aus dem Fenster. Aus irgendeinem Grund sahen bei schmutzigem Winterwetter alle Straßen gleich aus, überall dasselbe Bild, ob im Zentrum oder am Stadtrand, auf der Stschelkowskij-Chaussee, wo Nastja wohnte. Hier und dort von Schmutzwasser überflutete Trottoirs, brauner Matsch, der unter den Rädern der Autos hervorspritzte, graue, mit Schneeregen voll gesogene Mäntel und Jacken. Oder sah das alles nur heute so eintönig aus? An diesem Tag, an dem er und Nastja unter Aufbietung all ihrer Kräfte aufhören mussten, sie selbst zu sein, an dem sie sich in widerwärtige, zynische, bösartige Kreaturen verwandeln mussten. . .
Gordejew sah durch die trübe Scheibe des seit langem nicht mehr geputzten Fensters und dachte daran, dass er jetzt einen Menschen in die Enge treiben musste, den er liebte und schätzte, einen, der wie ein Sohn für ihn war. Er musste einem Menschen, der ein schreckliches Unglück hinter sich hatte und dessen Leben ohnehin schwer genug war, einen tödlichen Schrecken einjagen. Er musste etwas tun, das ihm Schmerzen, sehr große Schmerzen bereiten würde, er musste seine Ehrlichkeit und Standfestigkeit, seinen Verstand und seine Ausdauer auf die Probe stellen, und das nur deshalb, weil dieser Mensch etwas tun musste, wozu ihn weder logische Argumente noch Überredungskünste hätten bringen können. Und er, Gordejew, würde erneut lügen müssen. Zum wievielten Mal an diesem Tag?
Gordejew hörte, wie die Tür sich leise öffnete, aber er drehte sich nicht um.
»Haben Sie mich gerufen, Viktor Alexejewitsch?«
»Ja.«
Er löste sich langsam vom Fenster, ließ sich schwerfällig in seinen Schreibtischsessel fallen und bedeutete Larzew mit einer müden Handbewegung, Platz zu nehmen.
»Entschuldige, dass ich dich von dem Verhör weggeholt habe.«
»Macht nichts, im Grunde hatte ich es bereits abgeschlossen.«
»Gut, gut«, murmelte Gordejew. »Ich wollte mich nämlich mit dir beraten, du bist doch der beste Psychologe in unserer Abteilung. Es sieht schlimm aus bei uns, mein Freund.«
»Was ist los?«, fragte Larzew angespannt. In seinem Gesicht zuckte kein einziger Muskel, es war wie aus Stein. Hinter diesem Stein erblickte der Oberst die riesige innere Anspannung eines Menschen, der so viel auszuhalten hatte, dass er keine Kraft mehr für Gefühle aufbrachte.
»Ich fürchte, unsere Anastasija ist abgesprungen.«
Larzew schwieg, aber der Oberst sah das schlecht verhohlene Entsetzen in seinen Augen.
»Noch gestern hatte sie interessante Ideen im Fall Jeremina, aber heute Morgen hat sie mich plötzlich angerufen und erklärt, sie sähe in weiteren Ermittlungen keinen Sinn mehr, alle ihre Versionen hätten sich als falsch erwiesen, nun würde ihr nichts mehr einfallen. Außerdem würde es ihr nicht gut gehen, sie hätte sich krankschreiben lassen. Was folgt aus alledem?«
Larzew schwieg immer noch, nur das Entsetzen in seinen Augen wich langsam einem Ausdruck von Resignation.
»Daraus folgt«, fuhr Viktor Alexejewitsch mit monotoner Stimme fort, während er an Larzew vorbeisah, »dass sie sich entweder hat kaufen lassen, oder man hat sie eingeschüchtert, und sie hat sofort kampflos nachgegeben. Eins ist so mies wie das andere.«
»Nicht doch, Viktor Alexejewitsch, das kann nicht sein«, sagte Larzew endlich mit fremder, zu lauter Stimme und holte seine Zigaretten aus der Hosentasche.
Natürlich kann es nicht sein, dachte Gordejew. Der ganze Witz besteht nur darin, dass du so nicht denkst. Du weißt genau, dass man sie eingeschüchtert hat. Du sagst die volle Wahrheit über Anastasija und lügst gleichzeitig. Was für Streiche das Leben doch so spielt. Nun gut, ganz offensichtlich hast du nicht vor, mir reinen Wein einzuschenken. Ich habe dir eine Chance gegeben, aber du hast sie nicht genutzt. Deine Angst vor ihnen ist größer als dein Vertrauen zu mir. Hol dir jetzt eine Zigarette aus der Schachtel, danach wirst du eine halbe Stunde lang nach deinem Feuerzeug suchen und ewig daran herumschnippen, bis es brennt. Schinde ruhig Zeit und überlege, wie du mich davon überzeugen kannst, dass Nastja ehrlich ist, aber schwach. Komm schon, mein Freund, überzeuge mich, ich werde dir nicht widersprechen. Ich werde den Vernichteten spielen und dir vielleicht zustimmen. Ich bin mir inzwischen selbst so zuwider, dass ich bereit bin, allem zuzustimmen.
»Ich glaube, Sie übertreiben, Viktor Alexejewitsch. Es ist ihr erster Fall, den sie nicht hinter dem Schreibtisch löst, sie schlägt sich schon seit anderthalb Monaten damit herum, ohne jedes Ergebnis, und es ist verständlich, dass sie erschöpft ist. Was hat sie denn bisher getan? Sie hat in ihrem Büro gesessen, Informationen ausgewertet und Rechenaufgaben gelöst. Bisher hat sie kaum je einen Verbrecher mit eigenen Augen gesehen. Und jetzt, da sie dieselbe Arbeit machen muss wie alle andern, ist ihr klar geworden, dass ihre Theorien zu nichts nutze sind, dass man damit keinen Mord aufklären kann. Das hat ihre Nerven angegriffen. Und wer sollte sie unter Druck setzen? Es ist ein ganz primitiver Fall, das Opfer eine Herumtreiberin und Alkoholikerin, wer sollte sich dafür interessieren? Die Mafia hat andere Sorgen. Nein, das alles ist völlig unwahrscheinlich. Und unsere Nastja ist ein nervöses Mädchen, sehr sensibel und nicht gerade von strotzender Gesundheit. Insofern ist ihr Verhalten durchaus verständlich. Denken Sie nichts Schlechtes von ihr.«
Falsch, mein Freund, dachte Gordejew, ganz falsch. Hast du vergessen, wie sie eine ganze Nacht allein mit einem Mörder zugebracht hat, der gekommen war, um sie zu töten? Ist dir entgangen, dass sie vor zwei Monaten eine höchst gefährliche Mafiabande entlarvt hat, auf deren Konto mehr als ein Dutzend Morde ging und mit deren Mitgliedern sie täglich in Kontakt war? Nichts hast du vergessen, nichts ist dir entgangen, aber du verfolgst dein eigenes Ziel, und ich verstehe dich. Du kannst nicht anders. Du willst mich glauben machen, dass Anastasija von niemandem eingeschüchtert wurde, dass sie den Fall Jeremina ganz freiwillig aufgegeben hat. Nur zu, lass dich nicht abhalten. Immerhin verteidigst du dein eigenes Interesse und versuchst gleichzeitig, mich auszuhorchen. Du hoffst darauf, dass ich dir jetzt brühwarm erzähle, was Nastja in diesem Fall herausgefunden hat. Hoffe nur.
»Es war von Anfang an aussichtslos, Viktor Alexejewitsch. Wie soll man den Mörder einer trunksüchtigen jungen Frau mit Dachschaden finden? Sie kann mit jedem x-Beliebigen mitgegangen sein, an jeden x-beliebigen Ort. Nastja hat sich überschätzt, hat sich in ihre schlauen Versionen verbissen und ihre ganze Kraft in den Fall investiert. Ich kann sie verstehen. Es war immerhin ihr erster Fall, und natürlich sollte es ein möglichst diffiziler Fall mit mafiosem Hintergrund sein. Das organisierte Verbrechen hat zwar stark zugenommen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass mindestens die Hälfte aller Morde immer noch aus ganz banalen Gründen begangen wird. Eifersucht, Rache, Geld, Neid, Familienstreit, kurz, ganz simple menschliche Gefühle. Nach Mafia hat es in dieser ganzen Geschichte nie gerochen. Aber damit wollte Nastja sich nicht abfinden, sie hat sich einen spektakulären Mordfall gewünscht. Sie hat sich ständig neue Versionen ausgedacht, eine schlauer als die andere, und auf die Überprüfung dieser Versionen hat sie ihre ganze Zeit und Energie verschwendet.«
»Nein, Wolodja, ich glaube nicht, dass es so einfach ist«, sagte Gordejew. »Wir beide kennen Nastja nicht erst seit gestern, sie gibt nicht so schnell auf. Es kann passieren, dass sie krank wird, aber sie gibt nicht auf. Und wenn ihr nach Sterben zumute ist, sie wird die Zähne zusammenbeißen und tun, was nötig ist. Nein, ich glaube nicht, dass alles so einfach ist. Hier stimmt etwas nicht, mein Freund, das fühle ich. Ich muss etwas unternehmen. Sobald sie wieder gesund ist, werde ich ein Dienstaufsichtsverfahren gegen sie einleiten und darauf bestehen, dass sie aus dem Polizeidienst entlassen wird. Obwohl ich sie liebe, wie jeden von euch, aber Verrat und Feigheit kann ich nicht dulden.«
So, Nastjenka, dachte Gordejew, jetzt habe ich dich mit Haut und Haaren verraten und verkauft. Jetzt wird sich heraussteilen, was für einer unser Larzew ist, ob es ihn nach Blut dürstet oder nach Gerechtigkeit. Er wird natürlich gegen deine Entlassung sein, denn ein Dienstaufsichtsverfahren kann er in diesem Fall nicht gebrauchen. Gleich wird er den Edelmütigen spielen und mir raten, dich aus dem operativen Dienst auf einen anderen, ruhigeren Posten zu versetzen. Ich bin gespannt, welche Tätigkeit er mir für dich vorschlagen wird. Es scheint ihm jetzt etwas leichter zu sein, weil er verstanden hat, welche Strategie er verfolgen muss. Gleich werde ich ihn endgültig beruhigen, er soll noch etwas Luft holen vor dem letzten Schlag, und dann. . . Sieg oder Fall. Oh, Nastjenka, Kindchen, wenn du wüsstest, wie schwer mir das alles fällt, wie mir das Herz blutet, wie Leid mir Wolodja tut, für den es nichts Wichtigeres auf der Welt gibt als seine Tochter. Ich schlage auf seine empfindlichste Stelle, verflucht soll ich sein.
»Aber warum denn gleich entlassen, Viktor Alexejewitsch, und dem Mädchen das Leben kaputtmachen. Sie haben Recht, für den operativen Dienst taugt sie nicht, dazu ist sie zu schwach auf der Brust. Aber es kann nicht sein, dass sie unehrlich ist, das versichere ich Ihnen. Ich lege meine Hand für sie ins Feuer. Am besten wäre es, sie würde im Stab arbeiten, in der Verwaltung für Informationsauswertung, dort kann sie ihre geliebten Rechenaufgaben machen. So wird sie der Sache größeren Nutzen bringen, und es ist ein ruhiger Posten, der sie nervlich nicht belasten wird.«
»Ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
Gordejew erhob sich und begann, langsam in seinem Büro auf und ab zu gehen. Für alle seine Untergebenen war dies das erste Anzeichen dafür, dass er sich in einem schwierigen Entscheidungsprozess befand. Er würde erst dann innehalten, wenn die Entscheidung getroffen war.
»Das alles müssen wir genau klären. Bis zum Ablauf der Zweimonatsfrist ist noch etwas Zeit, ich werde den Fall Jeremina selbst in die Hand nehmen. Oder ihn jemand anderem übertragen. Am besten gleich dir, du hast ja am Anfang schon daran gearbeitet, und jetzt bekommst du die Karten in die Hand zurück.«
»Natürlich, Viktor Alexejewitsch. Wenn hier etwas zu finden ist, werde ich es finden. Und wenn nicht, dann nicht. Ich bin überzeugt davon, dass es sich um einen ganz banalen Mord handelt.«
Gordejew warf einen Blick auf die Uhr. Seit Larzews Erscheinen war eine halbe Stunde vergangen. Dem Oberst war es gelungen, sich genau an die Zeit zu halten, die er mit Sherechow vereinbart hatte. Er begann, irgendwelche allgemeinen, unverbindlichen Sätze von sich zu geben, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde.
»Viktor Alexejewitsch, es ist etwas passiert. Im Büro von Pawel Wassiljewitsch wurde Hauptmann Morozow ermordet.«
* * *
Nachdem Major Larzew sich aus der Menschenmenge vor Sherechows Büro gelöst hatte und nun in Richtung Ausgang unterwegs war, bekamen die zwei Männer, die im Innenhof der Petrowka in einem Wagen warteten, ein Zeichen. Es war so weit. Sie folgten ihrem Beobachtungsobjekt in gebührender Entfernung bis zur Metro, auf der Rolltreppe verringerten sie die Distanz und bestiegen mit ihm zusammen den Zug. Larzew stieg in der Nähe seines Hauses aus, kaufte am Kiosk eine Schachtel Zigaretten, ging bis zur Grünanlage, setzte sich auf eine Bank und steckte sich eine Zigarette an.
Die beiden Männer sollten feststellen, ob Larzew versuchte, mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Unterwegs war er mehrmals mit Passanten und Fahrgästen zusammengestoßen, hatte eine Entschuldigung gemurmelt, und daraus war nicht ohne weiteres ersichtlich gewesen, ob es sich womöglich um ein vereinbartes Zeichen handelte. Er hatte nirgends angerufen, kein Gebäude betreten und mit niemandem gesprochen. Er saß einfach auf der Bank und rauchte.
Die beiden Männer holten sich je einen heißen Tscheburek am Kiosk, und während sie nachdenklich kauten, wandten sie ihren Blick nicht von der bewegungslosen Gestalt in der Grünanlage.
* * *
Major Larzew hatte am vierten Kiosk hinter der Metrostation eine Schachtel Davidoff-Zigaretten gekauft. Das war das Zeichen dafür, dass er dringend eine Kontaktaufnahme wünschte. Dann setzte er sich auf eine Bank und beobachtete den Kiosk.
Er hatte allerdings keineswegs vor, mit seinen Erpressern in Kontakt zu treten. Der Mord an Morozow hatte ihn aus der Fassung gebracht. Anastasija hatte alle ihre Forderungen erfüllt, warum hatten sie ihr Versprechen gebrochen? Ganz offensichtlich durfte man ihnen nicht trauen, womöglich hatten sie auch nie vorgehabt, Nadja wieder freizulassen, sobald die Gefahr vorüber war. Vielleicht war seine Tochter gar nicht mehr am Leben. Er durfte nicht mehr warten, er musste sein Kind finden und selbst retten. Keinerlei Verhandlungen, keinerlei Abmachungen mehr, denn nun war klar, dass man sich nicht auf sie verlassen konnte. Er musste den abfangen, der das Zeichen entgegennehmen würde, und ihn dann an der Gurgel packen. Über ihn würde er den Weg bis zum Boss finden, und dem würde er sein Kind dann schon entreißen, und wenn er ihn umbringen musste.
Larzew beobachtete aufmerksam den Kiosk, aber bis jetzt geschah dort nichts von Bedeutung. Der Verkäufer verließ seinen Standort nicht, auch an den Nachbarkiosken blieben die Verkäufer alle da, wo sie waren. Larzews Hoffnung war, dass das Zeichen einer Person galt, die sich ständig in der Einkaufszone aufhielt, einem der Verkäufer, der nun seinen Kiosk verlassen musste, um anzurufen und die Nachricht weiterzugeben. Wenn es sich bei dieser Person allerdings um einen Kunden handelte, dem der Verkäufer mitteilen musste, dass Larzew eine Schachtel Davidoff-Zigaretten gekauft hatte, verlor das ganze Unterfangen seinen Sinn. Er konnte ja nicht allen Leuten folgen, die etwas an dem Kiosk kauften. Aber es bestand immerhin eine Hoffnung. . . Er dachte an Nadja. Wie es ihr wohl ging? Ob sie ihr zu essen gaben? Die Kidnapper besaßen jede nur denkbare Information über das Mädchen. Sie kannten alle ihre Wege, wussten, an welchen Krankheiten sie litt, welche Noten sie in der Schule hatte, mit wem sie befreundet war. Sie hatten Nadja zwar ständig beobachtet, aber an die Informationen, die sie besaßen, konnte man durch eine gewöhnliche Außenobservation nicht herankommen. Es war, als würden sie auch von Nadjas Lehrern informiert werden, von ihren Ärzten aus der Poliklinik, von den Eltern ihrer Freundinnen. Wobei Larzew klar war, dass so etwas nicht sein konnte. Aber woher wussten sie all das, was sie wussten?
Er spannte sich plötzlich an. Diese Frau dort. Etwas über vierzig, kräftig, ein wenig füllig, einfaches Gesicht, einfache, etwas nachlässige Kleidung, glattes, helles, schon etwas angegrautes Haar, das am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Diese Frau hatte Larzew in den vergangenen anderthalb Jahren auf jedem Elternabend in der Schule gesehen.
Als Larzews Frau gestorben war, hatte er seine Tochter in der nächstgelegenen Schule angemeldet, damit sie auf dem Weg nicht so viele Straßen überqueren musste. Früher hatte Natascha sie immer zur Schule gebracht und wieder abgeholt, deshalb hatten sie sich den Luxus erlauben können, ihr Kind auf eine französische Schule zu schicken. Jetzt ging Nadja schon seit anderthalb Jahren auf eine ganz gewöhnliche Schule, die nur zehn Gehminuten von zu Hause entfernt war.
Larzew ging regelmäßig zu den Elternabenden, aber er freundete sich mit niemandem an, außer mit den Eltern von Nadjas Freundinnen. Er hatte nie einen Sinn darin gesehen, sich die Gesichter der anderen Eltern zu merken, da zu den Abenden bei weitem nicht alle kamen, außerdem waren es mal die Mütter, mal die Väter, mal die Großmütter. Die Elternabende fanden alle drei Monate statt, und jedes Mal sah Wolodja neue Gesichter. Nur diese eine Frau . . . Sie war immer da. Und sie schrieb sich immer etwas auf. Das unterschied sie deutlich von den anderen, die immer vor Langeweile zu sterben schienen, weil sie über ihre Kinder sowieso alles wussten. Sie gaben flüsternde Kommentare über die Ausführungen der Klassenlehrerin ab, manche Frauen strickten, das Wollknäuel unter der Schulbank versteckt, die Väter hatten in der Regel eine Zeitung oder einen Krimi auf den Knien. Nur diese Frau hörte immer aufmerksam zu. Die anderen saßen ihre Zeit ab, aber sie arbeitete.
Je länger er an diese Frau dachte, desto mehr auffällige Einzelheiten fielen ihm ein.
Eines Tages kam er zu spät zum Elternabend und versuchte nicht, sich in die hinterste Schulbank zu drängen, in der er gewöhnlich saß, sondern setzte sich in die erste Bankreihe neben diese Frau. Sie schrieb etwas, wie immer, aber nach Larzews Erscheinen packte sie ihren Block sofort weg. Er hatte damals innerlich gelächelt, weil er annahm, dass sie sich genauso langweilte wie alle anderen und deshalb einen Brief oder vielleicht Gedichte schrieb.
Und Larzew erinnerte sich jetzt noch an etwas anderes.
Die Klassenlehrerin berichtet über die Ergebnisse der letzten Kontrollarbeit in Russisch.
»Möchten Sie einmal sehen, wie gut Ihre Kinder schon schreiben?«, fragt sie und fängt an, die Hefte auszuteilen.
Die Frau beginnt zu hüsteln, mit einem Taschentuch vor dem Mund, und verlässt das Klassenzimmer.
Am Ende des Elternabends strömen alle nach vorn zur Klassenlehrerin, um das Frühstücksgeld bei ihr abzugeben. Alle bis auf diese Frau, die sofort in Richtung Tür geht. . .
Larzew verlässt das Schulgebäude und sieht diese Frau in einer Nachbarstraße in einen Wagen steigen, in einen luxuriösen silbergrauen Wolga mit Halogenscheinwerfern, Michelinreifen, teuren Lammfellbezügen. Nicht schlecht, hatte Larzew damals gedacht, eine so unscheinbare Frau, die so einen Wagen fährt. Er hatte näher hingesehen. Auf dem Rücksitz des Wagens lagen Gummistiefel, ein Rucksack und ein Jagddress mit Patronentasche . . .
Jetzt schalt Larzew sich dafür, dass er dieser Frau niemals Beachtung geschenkt hatte. Natürlich waren diese verdammten Elternabende die Quelle fast aller Informationen über Nadja. Nadja, der einmal in der zweiten Schulstunde schlecht geworden war, wurde als Beispiel aufgeführt, als die Klassenlehrerin die Eltern daran erinnerte, dass die Kinder ein gutes Frühstück vor der Schule brauchten. Über Nadja wurde gesprochen, als man die Eltern darauf zu achten bat, dass die Kinder keine Spielsachen in den Unterricht mitnahmen, weil es sich oft um sehr teure Dinge handelte, die sich bei weitem nicht alle leisten konnten, was häufig zu Konflikten zwischen den Kindern führte. Einmal war es fast zu einer Keilerei zwischen Nadja und Rita Birjukowa gekommen, weil diese eine Barbiepuppe in den Unterricht mitgebracht und sie Nadja zum Spielen gegeben hatte. Und als Rita die Puppe wiederhaben wollte, konnte Nadja sich nicht mehr von dem märchenhaften Spielzeug trennen. Ach, hätte er das alles nur früher bedacht!
Er sprang von der Bank auf und lief schnell zur Metro. Er fuhr zwei Stationen, stieg um und nahm die Linie, die zur Universität fuhr. Dort befand sich das Büro des Moskauer Jagd- und Angelvereins.
Als man ihm auf seine Bitte hin die etwa dreißig mit Adressen und Fotos versehenen Karten der weiblichen Mitglieder in der Sparte Jagdsport aushändigte, erkannte er auf einer von ihnen sofort das Gesicht der bewussten Frau. In einem einzigen Augenblick prägte er sich ihren Namen und ihre Adresse ein, schob die Karten wieder zu einem Stapel zusammen und gab sie zurück, ohne sich eine Notiz gemacht zu haben.
»Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?«, fragte die Angestellte, während sie die Karten wieder in den Safe schloss.
»Ja, ich habe es gefunden, danke.«
Natalja Jewgenjewna Dachno, Lenin-Prospekt 19, Wohnung 84. Das also war sie.