ZWEITES KAPITEL

Nastja betrat zum ersten Mal das Büro des Untersuchungsführers Konstantin Michajlowitsch Olschanskij im Gebäude der städtischen Staatsanwaltschaft. Sie kannte Olschanskij seit langer Zeit, war ihm bisher aber immer nur in der Petrowka begegnet. Er war ein kluger Mensch und ein erfahrener Untersuchungsführer, sehr gebildet, gewissenhaft und beherzt, aber aus irgendeinem Grund mochte Nastja ihn nicht. Sie hatte schon oft herauszufinden versucht, warum das so war, aber sie war nie zu einem Ergebnis gekommen. Sie wusste, dass auch andere ihn nicht mochten, obwohl sie ihn als Fachmann sehr schätzten.

In seiner äußeren Erscheinung machte Konstantin Michajlowitsch den Eindruck eines tollpatschigen Unglücksraben: ein immer verlegener Blick, ein zerknittertes Jackett, auf der Krawatte stets ein Fleck von unbekannter Herkunft, ungeputzte Schuhe, eine Brille mit einer lächerlich altmodischen Fassung. Er hatte eine äußerst lebendige, unkontrollierte Mimik, und besonders dann, wenn man ihn beim Schreiben beobachtete, musste man sich mit Mühe das Lachen verkneifen angesichts der Grimassen, die er dabei schnitt. Zugleich konnte er sehr unhöflich und schroff sein, aus irgendeinem Grund besonders im Umgang mit den Gutachtern. Er befasste sich geradezu fanatisch mit Kriminalistik, las die gesamte neue Literatur bis hin zu Dissertationen und Konferenzberichten. Bei Tatortbesichtigungen stand er den Gutachtern buchstäblich auf den Füßen, stellte schier unmenschliche Anforderungen an sie und verwirrte sie mit völlig überraschenden Fragen.

Olschanskijs Büro war ein Abbild seiner selbst. Auf der polierten Oberfläche des Beistelltisches zahllose Abdrücke von Teegläsern, ein heilloses Durcheinander auf dem Schreibtisch, der grüne Plastikschirm der Leselampe ergraut unter einer Schicht von Ewigkeitsstaub. Auch dieses Büro gefiel Nastja nicht.

Olschanskij begrüßte sie zwar freundlich, fragte aber sofort nach Larzew. Wolodja Larzew hatte in der Zeit vom dritten bis elften November gemeinsam mit Mischa Dozenko im Auftrag des Untersuchungsführers im Mordfall Viktoria Jeremina ermittelt, und Konstantin Michajlowitsch hatte einen der beiden in seinem Büro erwartet. In Gordejews Abteilung war bekannt, dass Olschanskij Larzew besonders schätzte. Er unterstellte ihm eine besonders gute Vernehmungstaktik und übertrug ihm deshalb oft die Arbeit mit Zeugen, wobei er stets betonte, dass Larzew dabei bessere Ergebnisse erzielte als er selbst.

»Larzew ist im Moment beschäftigt«, sagte Nastja ausweichend, »man hat ihm einen anderen Fall übertragen. Den Fall Jeremina werde in Zukunft ich bearbeiten.«

Olschanskij war zweifellos enttäuscht, aber er ließ sich nichts anmerken. Er holte die Akte aus dem Safe und ließ Nastja am Beistelltisch Platz nehmen.

»Lies das einstweilen, ich muss eine Anklageschrift fertig stellen. In einer Dreiviertelstunde habe ich eine Gegenüberstellung, bis dahin musst du hier wieder verschwunden sein. Sieh zu, dass du in dieser Zeit fertig wirst.«

Die Akte erwies sich als nicht sehr umfangreich. Aus dem Gutachten des Gerichtsmediziners ging hervor, dass der Tod durch Atemstillstand infolge von Erwürgen eingetreten war, wahrscheinlich hatte der Täter ein Handtuch benutzt (entsprechende Gewebeteilchen wurden an den spitzen Enden eines Ohrrings gefunden, der die Form einer Blüte mit fünf Blättern hatte). Der Körper der Ermordeten wies im Bereich des Rückens und der Brust zahlreiche Blutergüsse auf, die von Schlägen mit einem dicken Strick oder Riemen stammten. Die Blutergüsse hatten sich frühestens zwei Tage und spätestens zwei Stunden vor dem Eintreten des Todes gebildet.

Im Vernehmungsprotokoll, das angesichts des Gesprächs mit dem Generaldirektor der Firma, in der die Jeremina gearbeitet hatte, angefertigt wurde, hieß es: »Vika hat viel getrunken, trotzdem kam sie regelmäßig zur Arbeit. Natürlich benahm sie sich gelegentlich etwas absonderlich, wie alle Alkoholiker. Zum Beispiel verschwand sie manchmal für zwei, drei Tage mit einem Mann, den sie kaum kannte. Aber sie holte sich vorher immer die Erlaubnis ihres Chefs ein, wobei sie ganz offen zugab, wofür sie den Urlaub brauchte. In letzter Zeit hatte sie sich stark verändert, sie war plötzlich verschlossen und unberechenbar geworden, oft schien sie gar nicht zu verstehen, was man sie fragte, sie starrte geistesabwesend vor sich hin und bemerkte manchmal überhaupt nicht, dass man sie ansprach. Es hatte den Anschein, dass sie ernsthaft krank geworden war.«

Vikas Freund, Boris Kartaschow, hatte Folgendes ausgesagt: »Ich bin überzeugt davon, dass Viktoria krank war. Vor etwa einem Monat begann sie die fixe Idee zu verfolgen, dass jemand per Radio Einfluss auf sie nimmt und ihr die Träume stiehlt. Ich wollte sie zum Besuch eines Psychiaters überreden, doch sie lehnte kategorisch ab. Daraufhin habe ich mich selbst an einen befreundeten Arzt gewandt, der die Überzeugung äußerte, dass Vika unter einer akuten Psychose litte und dringend in eine Klinik eingewiesen werden müsste. Doch Vika wollte nicht auf mich hören. Manchmal verhielt sie sich höchst leichtsinnig, sie schloss irgendwelche zufälligen Bekanntschaften und ließ sich mit zwielichtigen Typen ein, besonders in alkoholisiertem Zustand. Manchmal verschwand sie sogar für mehrere Tage mit einem ihrer Liebhaber. Am 18. Oktober musste ich eine Dienstreise antreten, am 26. Oktober kam ich zurück und begann Viktoria zu suchen, da ich befürchtete, dass ihr etwas zugestoßen war. Davon, dass sie wegfahren wollte, habe ich nichts gewusst, sie hat mir nichts davon gesagt.«

Die Aussage von Olga Kolobowa, Jereminas Freundin: »Ich kenne Vika schon mein ganzes Leben, wir sind zusammen im Waisenhaus aufgewachsen. Natürlich kenne ich auch Boris Kartaschow. Vor etwa einem Monat sagte er mir, Vika sei krank geworden, sie hätte die fixe Idee, dass ihr jemand aus dem Radio die Träume stehlen würde. Boris bat mich, mit ihr zu sprechen und sie dazu zu bringen, einen Arzt aufzusuchen. Doch Vika lehnte entschieden ab, sie hielt sich für völlig gesund. Ich fragte sie, ob es wahr sei, was Boris gesagt hatte, ob ihr wirklich jemand aus dem Radio die Träume stehlen würde, und sie bejahte. Zum letzten Mal habe ich am 22. Oktober mit Vika gesprochen, gegen elf Uhr abends, ich habe sie zu Hause angerufen. Wir wollten uns am Sonntag treffen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört und gesehen.«

Die Aussage des Psychiaters und Kandidaten der medizinischen Wissenschaften, den Kartaschow konsultiert hatte: »Vor etwa zwei, drei Wochen wandte sich Boris Kartaschow wegen seiner Bekannten an mich, die unter einer fixen Idee litt. Die Symptome, die er mir beschrieb, wiesen darauf hin, dass die junge Frau ernsthaft krank geworden war und dringend in eine Klinik eingewiesen werden musste. Eine solche Erkrankung nennen wir paranoidschizoide Psychose. Menschen, die unter so einer Psychose leiden, können sehr gefährlich werden. Sie hören Stimmen, die ihnen Befehle erteilen und sie zu allem zwingen können, bis hin zum Mord an einem zufälligen Passanten. Ebenso leicht können solche Menschen Opfer eines Verbrechens werden, da sie äußere Umstände und Situationen nicht adäquat einschätzen können, besonders in Momenten, in denen sie unter dem Einfluss der Ratschläge stehen, die ihnen die Stimmen erteilen. Ich habe Kartaschow gesagt, dass die Einweisung in eine Klinik nicht ohne Zustimmung seiner Bekannten erfolgen kann, solange sie keine ungesetzliche Handlung begeht und bei der Miliz landet. Kartaschow erklärte mir, dass seine Bekannte eine Behandlung kategorisch ablehnt und sich für vollkommen gesund hält. In so einem Fall lässt sich leider nichts machen, eine Zwangseinweisung ist, wie schon gesagt, nur dann möglich, wenn der Kranke durch sein Verhalten die Aufmerksamkeit der Miliz auf sich zieht.«

In der Akte befanden sich noch einige Protokolle mit Aussagen von Kartaschow, von Kollegen und Bekannten der Ermordeten. Aus diesen Protokollen ging nichts Neues hervor. Nastja fiel eine Liste mit Adressen von Orten auf, die Viktoria gewöhnlich aufsuchte, um sich zu betrinken. Der Liste waren sechs Aussagen beigefügt, denen zufolge die Jeremina in der Zeit vom 23. Oktober bis 1. November an keinem dieser Orte gesehen worden war. Zwei der Adressen hatte man noch nicht überprüft.

Nastja schloss die Akte und blickte auf. Der Untersuchungsführer saß mit dem Rücken zu ihr auf einem unbequemen Stuhl und tippte eifrig auf der Schreibmaschine.

»Konstantin Michajlowitsch!«, sprach sie ihn an.

Er wandte sich abrupt um und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen einen Papierstapel. Die Papiere flogen nach allen Seiten auseinander, einige fielen zu Boden. Doch das schien Olschanskij nicht im Geringsten zu beeindrucken.

»Ja?«, sagte er völlig ruhig, so, als sei überhaupt nichts geschehen, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.

»Ich habe drei Fragen an Sie. Eine dienstliche und zwei private.«

»Fang mit den privaten an«, sagte der Untersuchungsführer gutmütig. Er hatte den Kopf wie ein Vogel zur Seite geneigt und drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel zusammen. Wie alle kurzsichtigen Menschen sah er ohne Brille verwirrt und hilflos aus. Etwas hatte sich an ihm verändert, Nastja bemerkte, dass er ein ungewöhnlich schönes Gesicht und riesige Augen mit fast mädchenhaft langen Wimpern hatte. Seine dicken Brillengläser machten seine Augen klein, und das vielfach geklebte und geflickte Gestell entstellte sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit.

»Reicht Ihnen Ihr Gehalt?«

»Es kommt darauf an, wofür«, erwiderte Olschanskij schulterzuckend. »Es reicht völlig aus, um nicht unter einem Zaun zu krepieren. Aber für ein gutes Leben reicht es nicht.«

»Was bedeutet für Sie ein gutes Leben?«, fragte Nastja nach.

»Für mich persönlich? Du bist unverschämt, Kamenskaja. Soll ich etwa meine Seele vor dir ausbreiten? Dir von meinen Wünschen und Leidenschaften, von meinen Hobbys, meinen familiären Problemen und allem Sonstigen erzählen? Wie komme ich dazu? Sind wir vielleicht miteinander verheiratet, verschwistert oder verschwägert? Rück mit deiner zweiten Frage heraus.«

Der Untersuchungsführer sprach diese schroffen Worte mit einem freundlichen Lächeln aus, zeigte dabei seine gerade gewachsenen, blendend weißen Zähne, und es war völlig unklar, ob er verärgert war oder scherzte.

»Ärgert es Sie, dass im Fall Jeremina nicht Larzew ermitteln wird, sondern ich?«

Olschanskij antwortete nicht sofort, aber das Lächeln auf seinem Gesicht wurde noch breiter.

»Ich arbeite sehr gern mit Wolodja zusammen, er versteht seine Sache, ein echter Meister seines Faches. Und außerdem ist er mir sehr sympathisch. Ich habe als Mensch und als Untersuchungsführer sehr gern mit ihm zu tun. Mit dir, Anastasija, habe ich bis jetzt noch nie zusammengearbeitet, und ich kenne dich kaum. Ich weiß, dass Gordejew dich immer sehr lobt, aber das sind für mich nur Worte. Ich bilde mir gern meine eigene Meinung über einen Menschen. Bist du mit meiner Antwort zufrieden?«

»Ehrlich gesagt, nein. Aber mehr werden Sie mir sicher nicht sagen, oder?«

»Nein.«

»Dann meine dritte Frage. Wo ist dieser Geschäftsmann, der die Jeremina am 22. Oktober nach dem Umtrunk in der Firma nach Hause gebracht hat?«

»Er ist leider wieder nach Hause gefahren, in die Niederlande. Aber die Wohnung der Jeremina hat er ganz offensichtlich nicht betreten. Hast du das Protokoll der Wohnungsbegehung gelesen?«

»Das habe ich nicht mehr geschafft. Ich habe nur die Zeugenaussagen gelesen, und eine Zeugenaussage dieses Mannes liegt nicht vor. Hat man ihn nicht vernommen?«

»Nein. Er ist abgereist, bevor man die Leiche gefunden und das Verfahren eingeleitet hat. Aber als die Jeremina verschwunden war, war er noch in Moskau. Der Generaldirektor der Firma hat ihn angerufen und nach dem Mädchen gefragt. Alles, was wir über den Abend des 22. Oktober wissen, basiert nur auf der Aussage des Generaldirektors. Aber in Vikas Wohnung wurden tatsächlich keine Fingerabdrücke des Holländers gefunden.«

»Wie haben Sie das festgestellt? Womit wurden die in der Wohnung vorhandenen Fingerabdrücke verglichen?«, fragte Nastja verwundert.

»Mit denen, die dieser reiche Gentleman auf den von ihm unterschriebenen Papieren hinterlassen hat.«

»Und diese Papiere hat wiederum dieser Generaldirektor der Miliz vorgelegt?«

»Genau so ist es.«

»Dann will das alles noch nicht viel besagen«, meinte Nastja skeptisch.

»Allerdings«, stimmte Olschanskij bereitwillig zu. »Aber vielleicht tröstet es dich, zu erfahren, dass dieser Herr um 22.30 Uhr desselben Abends aus seinem Hotel in Paris angerufen hat, in der Hotelrezeption liegt ein entsprechender Eintrag über den Anruf vor. Und du wirst dich erinnern, dass die Jeremina gegen 23 Uhr mit ihrer Freundin telefoniert hat und noch quicklebendig war. Und überhaupt ist es wenig wahrscheinlich, dass dieser Holländer etwas mit dem Mord zu tun hat, da die Jeremina keinesfalls vor dem 30. Oktober umgebracht wurde. Natürlich müsste man ihn vernehmen, aber das wäre eine lange Geschichte, wie du weißt, man müsste das Außenministerium einschalten, die Botschaft und so weiter. Und zudem ist es nicht sicher, ob er sich im Moment wirklich in Holland aufhält, er könnte auch auf Geschäftsreise sein. Und wir können ihn schließlich nicht in der ganzen Welt suchen.«

»Soll ich meine Arbeit nach Ihren Versionen ausrichten, Konstantin Michajlowitsch, oder soll ich mir selbst Gedanken machen?«

»Ich habe bis jetzt nur zwei Versionen. Entweder hängt der Mord an der Jeremina mit irgendwelchen dunklen Geschäften der Firma zusammen, oder sie ist wirklich psychisch krank und wurde das Opfer eines Verbrechers, dem sie zufällig in die Arme gelaufen ist. Mit der Überprüfung der ersten Version haben wir noch nicht begonnen, in Bezug auf die zweite ist schon ziemlich viel unternommen worden, aber bisher leider ohne Erfolg. Es wurden keinerlei Spuren gefunden, aus denen man schließen könnte, wo die Jeremina sich in den Tagen zwischen ihrem Verschwinden und ihrer Ermordung aufgehalten hat.«

»Worin sehen Sie meine Aufgabe?«, fragte die Kamenskaja.

»Ich möchte, dass du über die zweite Version nachdenkst, darüber, wo man bei der Suche nach Vikas letzten Spuren ansetzen muss, wenn man davon ausgeht, dass sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens an einer akuten Psychose litt. Konsultiere Fachleute, hole dir den Rat von Psychiatern ein, lass dich darüber informieren, wie Kranke sich in diesem Zustand verhalten, denk darüber nach, was das Mädchen in dieser Zeit getan haben könnte.«

»Und was ist mit der ersten Version? Die Firma, die dunklen Geschäfte? Soll das nicht überprüft werden?«

»Du bist wirklich rührend, Anastasija! Kannst du denn gleichzeitig das eine und das andere tun? Ich möchte, dass du an der Überprüfung der Version arbeitest, die ich in Anbetracht der Unterlagen, über die wir verfügen, für die wahrscheinlichere halte. Wenn du dich gleichzeitig mit der zweiten Version befassen kannst, werde ich dir nur dankbar sein. Allerdings kann ich das nur schwer glauben, solange du den Fall allein bearbeitest. Fiat Gordejew nicht vor, weitere Leute für die Ermittlungen einzusetzen? Wo gibt es denn so etwas, dass in einem Mordfall nur ein einziger Beamter ermittelt?«

Nastja überlegte, was sie antworten sollte, um Knüppelchens Geheimnis nicht preiszugeben. Sie konnte Olschanskij schließlich nicht sagen, dass Gordejew in den Reihen seiner Mitarbeiter einen Verräter vermutete, der gemeinsame Sache mit der Mafia machte, und deshalb den Fall ihr allein übertragen hatte. Aber Konstantin Michajlowitsch wollte zum Glück gar nichts Genaueres wissen. Er hatte sein Befremden zum Ausdruck gebracht, da mit begnügte er sich. Zumal die Zeit abgelaufen war und er zur Gegenüberstellung musste.

* * *

Nastja Kamenskaja ging von der Bushaltestelle nach Hause und sah angestrengt auf ihre Füße, um nicht bis zum Knöchel in Pfützen zu versinken. Sie war jetzt immer sehr müde, da sie, gewohnt an sitzende Arbeit, seit einigen Tagen die Pflichten einer ganz gewöhnlichen Kripobeamtin erfüllte. Sie musste kreuz und quer durch Moskau fahren, nach Adressen und bestimmten Personen suchen, sie musste mit diesen Personen sprechen und sie zum Reden bringen, was nicht immer leicht war, sie musste sie befragen und oft genug beknien, um eine Antwort zu erhalten. So war es eben, kaum jemand unterhielt sich gern mit der Miliz.

Ihre Erfolge waren bisher kümmerlich. Die Jeremina war nach dem 22. Oktober gleichsam vom Erdboden verschwunden. Niemand von den Personen, mit denen sie gewöhnlich verkehrte, hatte sie seither gesehen. Ihr fester Bekanntenkreis war nicht sehr groß, aber über die regelmäßigen Besäufnisse mit ihren Freunden hinaus hatte die Jeremina Kontakte zu zahlreichen zufälligen Saufkumpanen gepflegt. Alle diese Leute hatte Nastja gefunden und befragt, aber alle ohne Ausnahme hatten ausgesagt, dass sie Vika Jeremina seit dem 22. Oktober nicht mehr gesehen und auch nicht am Telefon gesprochen hatten. Mit vielen von ihnen war die Kommunikation gar nicht so einfach gewesen. Statt Nastja die Fragen nach ihrer so tragisch ums Leben gekommenen Bekannten zu beantworten, versuchten sie ständig zu beweisen, dass der Alkoholkonsum ihre persönliche Sache war und die Miliz nichts anging.

Aber etwas Wichtiges hatte Nastja aus diesen Gesprächen immerhin über die Jeremina erfahren: Je betrunkener sie war, desto stärker wurde ihr Bedürfnis, jemanden anzurufen. Während ihrer Besäufnisse, die manchmal zwei, drei Tage dauerten, rief sie fast alle zwei Stunden bei Boris Kartaschow an, um ihm mitzuteilen, dass bei ihr alles in Ordnung war, dass alle Männer Schurken und Idioten waren, die ihr nicht vorzuschreiben hätten, wie sie leben solle und wie viel und mit wem sie trinken dürfe. Sie rief auch bei ihrer Freundin Olga an, jener, mit der sie im Waisenhaus aufgewachsen war. Manchmal kam sie auch auf die Idee, in ihrer Firma anzurufen und anzukündigen, dass sie am nächsten Tag zur Arbeit erscheinen würde. Da sowohl Jereminas Chef als auch Olga und Boris Kartaschow versichert hatten, dass Vika seit ihrem spurlosen Verschwinden nicht bei ihnen angerufen hatte, konnte man daraus zumindest den Schluss ziehen, dass sie zu dieser Zeit nicht betrunken gewesen war. Vorausgesetzt natürlich, alle drei sagten die Wahrheit. Sollten diese drei ganz unterschiedlichen Personen, die weit voneinander entfernt wohnten und wenig miteinander gemeinsam zu haben schienen, allerdings in Absprache gelogen haben, dann musste das schwer wiegende Gründe haben. Und Nastja konnte sich nicht entscheiden, was sie nun an erster Stelle tun sollte: nach diesen geheimnisvollen Gründen forschen, sofern sie vorhanden waren, oder weiterhin versuchen, eine Spur der verschwundenen Frau zu finden.

Nastja teilte sich die Arbeit an dem Fall mit Andrej Tschernyschew aus der Regionalverwaltung für Inneres. Andrej war sehr sympathisch und rührig, und vor allem war er motorisiert, wodurch er am Tag dreimal mehr schaffte als Nastja. Er hatte ein Faible für Hunde, und seinen Schäferhund behandelte er wie ein Wunderkind, dessen intellektuelle Fähigkeiten auf keinen Fall durch falsche Ernährung oder ungenügende Betreuung in Gefahr gebracht werden durften. Man musste ihm allerdings lassen, dass der Schäferhund, der auf den seltsamen Namen Kyrill hörte, perfekt dressiert war, er gehorchte seinem Herrn nicht nur aufs Wort, sondern verstand sogar jeden seiner Blicke. Und Nastja wusste, dass Kyrill in der Tat besondere Fähigkeiten besaß. Vor einem halben Jahr, als sie an der Verhaftung eines Auftragskillers beteiligt gewesen war, hatte genau dieser Hund ihr dabei geholfen, sich unbemerkt aus der Gefahrenzone zu entfernen und den Killer den Beamten auszuliefern, die im Hinterhalt auf ihn warteten.

Äußerlich waren Nastja und Andrej Tschernyschew sich so ähnlich, dass man sie für Geschwister hätte halten können. Sie waren beide hoch gewachsen, hager und hellhaarig, sie hatten beide graue Augen und feine Gesichtszüge. Allerdings war Andrej sehr gut aussehend, was man von Nastja kaum behaupten konnte. Sie war weder schön noch hässlich, sondern einfach nur nichts sagend, ein blasses Gesicht mit ausdruckslosen Augen, das jeder sofort wieder vergaß. Aber Nastja litt nicht unter ihrer Unscheinbarkeit, denn sie wusste, dass elegante Kleidung und ein gekonntes Make-up sie in ein unwiderstehliches weibliches Wesen verwandeln konnten, und manchmal machte sie von dieser Möglichkeit Gebrauch. Aber normalerweise lief sie als unscheinbare graue Maus durch die Gegend und hatte nicht das geringste Bedürfnis, jemandem zu gefallen. Es war ihr einfach nicht wichtig.

Zu zweit schafften Nastja und Tschernyschew eine Menge, aber das Ergebnis war gleich null. Sie traten auf der Stelle. Die Kollegen aus der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen hatten keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Firma, bei der die Ermordete beschäftigt gewesen war, in irgendwelche dunklen Geschäfte verwickelt war. Als Nastja Zweifel daran äußerte, dass es in der heutigen Zeit ein absolut sauberes Wirtschaftsunternehmen geben könne, bekam sie zur Antwort:

»Natürlich haben die alle Dreck am Stecken, diese Firma mit Sicherheit auch, aber mit den Finanzen ist bei denen alles in Ordnung, wir haben es überprüft.«

Es stellte sich heraus, dass Gordejew bereits bei den Kollegen angerufen und sich ebenfalls nach dem Geschäftsgebaren der Firma erkundigt hatte. Trotzdem beschloss Nastja, die Firma selbst aufzusuchen.

Der Generaldirektor versuchte wider Erwarten nicht, einem Treffen mit der Kamenskaja auszuweichen, er war sofort einverstanden und zeigte sich bereit, auf alle ihre Fragen zu antworten.

»Warum haben Sie so viel Nachsicht mit einer trunksüchtigen, undisziplinierten Sekretärin geübt?«, fragte Nastja.

»Das habe ich bereits Ihrem Mitarbeiter gesagt«, erwiderte der Generaldirektor schulterzuckend. »Natürlich gereicht uns das nicht zur Ehre, aber es hätte keinen Sinn, hier etwas zu verheimlichen, zumal Vika selbst nichts mehr bestätigen oder widerrufen kann. Zu Vikas Aufgaben gehörte es, die eingehenden Anrufe entgegenzunehmen, Gäste zu empfangen, sie mit Tee, Kaffee und anderen Getränken zu bewirten, besonders unsere ausländischen Geschäftspartner. Verstehen Sie mich?«

»Nein«, sagte Nastja trocken.

»Seltsam. Gut, dann sage ich es ganz unverblümt. Manchmal muss man einem Geschäftspartner mit Alkohol und einer schönen Frau etwas nachhelfen, damit er weich wird. Warum sehen Sie mich so an? Hören Sie so etwas zum ersten Mal? Machen Sie mir nichts vor, Anastasija Pawlowna, Sie sind ja nicht erst seit gestern auf der Welt. Alle machen das so. Und Vika habe ich aus genau diesem Grund behalten. Sie war atemberaubend schön, eine Frau, die keinen einzigen Mann auf der Welt gleichgültig lässt, egal, welchen Geschmack er hat. Gelegentlich hat sie unsere ausländischen Geschäftspartner begleitet, wenn sie St. Petersburg sehen wollten oder irgendeinen anderen Ort ihrer Wahl. Vika hat sich nie quer gestellt und immer alle meine Bitten erfüllt, egal, um welchen Mann es sich handelte. Dafür habe ich ihr ihre Besäufnisse und Arbeitsausfälle verziehen. Trotz ihrer Trunksucht war sie im Übrigen immer zuverlässig. Sie werden es nicht glauben, aber wenn sie wusste, dass ich wichtige Besprechungen hatte und sie brauchen würde, dann war sie immer zur Stelle. Sie hat mich kein einziges Mal versetzt. Darum ist es völlig verständlich, dass ich ihr vieles nachgesehen habe.«

»Mit anderen Worten, Sie haben sich die Jeremina als fest angestellte Prostituierte gehalten«, resümierte Nastja mit leiser Stimme.

»Ja!«, brauste der Generaldirektor auf. »Wenn Ihnen diese Bezeichnung besser gefällt, dann nennen wir es so. Ist das etwa ein Verbrechen? Sie hat als Sekretärin gearbeitet und ein Gehalt dafür bezogen, und ganz nebenbei hat es ihr Spaß gemacht, mit den Männern zu schlafen, sie machte das freiwillig und, beachten Sie das bitte, kostenlos. Offiziell war sie unsere Sekretärin und nichts anderes. Und alles, was ich Ihnen sonst noch über sie erzählt habe, tut nichts zur Sache.«

»Heißt das, Sie nehmen Ihre Worte wieder zurück?«, fragte Nastja nach.

»Aber nein, natürlich nicht. Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich möchte Ihnen helfen, Vikas Mörder zu finden, aber wenn Sie mir Moral predigen wollen, werde ich meine Aussage tatsächlich zurücknehmen, zumal ich sehe, dass Sie kein Gesprächsprotokoll führen. Wissen Sie, ich bin alt genug und bedarf Ihrer sittlichen Belehrungen nicht. Aber ein Mord ist eine furchtbare Sache, deshalb habe ich kein Recht, etwas vor der Miliz zu verheimlichen. Ich hatte gehofft, Sie würden mich richtig verstehen. Aber offenbar habe ich mich getäuscht. Sehr schade, Anastasija Pawlowna.«

»Nein, nein, Sie haben sich nicht getäuscht.« Nastja versuchte ein freundliches Lächeln, aber es wirkte irgendwie verwirrt, verschämt und unecht. »Ich danke Ihnen für Ihre Ehrlichkeit. Sagen Sie, wäre es möglich, dass einer dieser . . . Kunden im Oktober in Moskau war und hinter Ihrem Rücken versucht hat, sich mit der Jeremina zu treffen?«

»Natürlich wäre das möglich. Aber wenn es so gewesen wäre, hätte ich es erfahren. Vika arbeitet. . . arbeitete über zwei Jahre bei uns. In dieser Zeit haben wir ihre Dienste sehr oft in Anspruch genommen, aber es handelte sich dabei längst nicht immer um neue Kunden. Manchen gefiel sie so gut, dass sie auch bei weiteren Aufenthalten in Moskau den Kontakt zu ihr suchten. Manche taten das tatsächlich hinter meinem Rücken. Aber Vika hat mir das nie verheimlicht, denn hier handelte es sich schließlich nicht um ihr Privatleben, sondern um ihre Arbeit. Sie wusste sehr gut, was es bedeutete, wenn ein ausländischer Geschäftspartner mich bei einem erneuten Aufenthalt in Moskau nicht anrief, um wenigstens ein paar freundliche Worte mit mir zu wechseln, sie wusste, dass das etwas über sein Verhältnis zu mir persönlich, zur Firma und zu unseren Geschäften ausdrückte. Also hat sie mich über solche Dinge immer informiert, zumal ihr bekannt war, dass ich das von ihr erwartete. Nein, ich glaube nicht, dass sie mir so etwas verheimlicht hätte.«

»Sie sind sich also sicher, dass im Oktober nichts dergleichen vorgefallen ist?«

»Ja, ich bin mir sicher. Dieser Holländer übrigens, der Vika am 22. Oktober nach Hause gebracht hat, kommt bereits seit zwei Jahren nach Moskau, und er hat bei jedem seiner Aufenthalte mit Vika geschlafen.«

»Ich brauche eine Liste mit allen Kunden der Jeremina«, verlangte Nastja.

Diese ziemlich lange Liste wurde Nastja zur Verfügung gestellt, und jetzt wartete sie. Die Liste lag beim Amt für Visa- und Aufenthaltsangelegenheiten und wurde dort überprüft, es musste festgestellt werden, ob eine der aufgeführten Personen sich zum Zeitpunkt von Vikas Verschwinden in Moskau aufgehalten hatte. Nastja setzte große Hoffnungen auf diese Version, aber sie wusste, dass sie auf das Ergebnis der Überprüfung lange würde warten müssen.

Zu Hause angekommen, ließ sie sich kraftlos aufs Sofa fallen und streckte erleichtert ihre müden Beine aus. Sie hatte Hunger, war aber zu faul, um wieder aufzustehen und in die Küche zu gehen.

Nachdem sie die Zeit bis zum späten Abend dösend auf dem Sofa verbracht hatte, nahm sie ihre Kräfte zusammen, erhob sich und schleppte sich in die Küche. Der Kühlschrank bot nicht viel Auswahl, Nastja musste nehmen, was da war. Ein weich gekochtes Ei und eine Dose Fisch. Aber sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht schmeckte, was sie aß. Sie hatte große Lust auf eine Tasse Kaffee, kämpfte aber heldenhaft gegen die Versuchung an, da sie wusste, dass sie auch ohne Kaffee nur schlecht würde einschlafen können.

Das Gefühl quälte sie, dass alles, was sie tat, umsonst war, dass es nicht den geringsten Fortschritt bei der Aufklärung des Mordfalles gab. Sie war überzeugt, alles falsch zu machen, und hatte Angst, Knüppelchen zu enttäuschen. Zum ersten Mal ermittelte sie selbst in einem Fall, anstatt Informationen auszuwerten, die sie von anderen bekam, und kluge Ratschläge zu erteilen. Jetzt musste sie an diese Informationen selbst herankommen, und es gab niemanden, der sie dabei beriet.

Zudem quälte Nastja das Mitgefühl mit Viktor Alexejewitsch Gordejew, ihrem Chef, der von irgendwoher erfahren hatte, dass sich unter seinen Mitarbeitern ein Verräter befand, einer oder sogar mehrere, und nun konnte er niemandem mehr trauen und musste dabei so tun, als sei nichts geschehen, als würde er alle lieben und schätzen wie bisher. Es ist wie am Theater, dachte Nastja, während sie sich an Grinewitschs Theaterprobe erinnerte. Nur mit dem Unterschied, dass sich Knüppelchens gesamtes Leben in ein Theaterstück verwandelt hat, er steht jetzt den ganzen Tag auf der Bühne. Das wirkliche Leben spielt sich nur noch in seinem Innern ab. Der Schauspieler schminkt sich am Ende des Stücks ab, geht nach Hause und lebt sein wirkliches Leben, aber Knüppelchen wird auch dann, wenn er die Bühne verlassen hat, ständig daran denken, dass jemand, den er liebt und dem er vertraut, ihn betrügt. Wie wird er mit dieser Last leben können?

Aus irgendeinem Grund dachte Nastja nicht daran, dass auch sie ab jetzt mit derselben Last würde leben müssen . . .

* * *

Oberst Gordejew war kaum noch wiederzuerkennen. Der energische, agile Mann, der beim Nachdenken gern mit raschen Schritten in seinem Büro auf und ab ging, wirkte jetzt wie versteinert, er saß bewegungslos hinter seinem Schreibtisch, den Kopf in den Händen. Es schien, als würden so unbändige Emotionen in ihm kochen, dass er befürchten musste, beim ersten unvorsichtigen Wort die Beherrschung zu verlieren, worauf alles in ihm Aufgestaute hemmungslos nach außen schießen würde. Zum ersten Mal, seit Nastja in der Petrowka arbeitete, hatte sie fast Angst vor ihrem Chef.

»Wie steht es im Fall Jeremina?«, fragte Viktor Alexejewitsch. Seine Stimme klang matt und leidenschaftslos. Sie drückte nicht einmal Neugier aus.

»Schlecht, Viktor Alexejewitsch«, gestand Nastja. »Ich bin in einer Sackgasse und komme keinen einzigen Schritt weiter.«

»Soso«, murmelte Knüppelchen und sah dabei über Nastjas Kopf hinweg. Es schien, als würde er ihr gar nicht zuhören, sondern an etwas völlig anderes denken.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er plötzlich. »Oder kommst du einstweilen allein zurecht?«

»Ich werde sie brauchen, wenn ich neue Versionen habe. Bis jetzt habe ich herausgefunden, dass . . .«

»Schon gut«, unterbrach Gordejew. »Ich weiß, dass du ordentlich arbeitest. Kommst du mit Olschanskij zurecht?«

»Es geht«, erwiderte Nastja kurz und trocken, aber sie fühlte, wie Enttäuschung in ihr aufstieg.

»Soso«, sagte der Oberst wieder. Nastja hatte das Gefühl, dass er ihr nur Fragen stellte, um die Rolle des Chefs zu spielen. Ihre Antworten interessierten ihn gar nicht, er dachte an etwas anderes.

»Denkst du daran, dass wir zum ersten Dezember einen Praktikanten von der Moskauer Polizeihochschule bekommen?«

»Ja, ich weiß.«

»Und warum unternimmst du nichts, wenn du es weißt? Es sind nur noch zehn Tage bis dahin. Worauf wartest du?«

»Ich werde gleich heute anrufen und einen Termin vereinbaren. Machen Sie sich keine Sorgen, Viktor Alexejewitsch.«

Nastja bemühte sich, ruhig und gelassen zu sprechen, aber am liebsten wäre sie Hals über Kopf davongestürzt, um sich heulend in ihrem Büro einzuschließen. Warum sprach Gordejew so mit ihr? Was hatte sie sich zuschulden kommen lassen? Man konnte ihr nicht vorwerfen, dass sie in all den Jahren, seit sie hier arbeitete, auch nur ein einziges Mal etwas vergessen hätte. Es gab vieles, das sie nicht konnte, sie beherrschte weder den Umgang mit Feuerwaffen noch den Zweikampf, sie wusste nicht, was man tun musste, um einen Verfolger zu entdecken und abzuschütteln, sie war schlecht im Laufen, aber sie hatte ein phänomenales Gedächtnis. Anastasija Kamenskaja vergaß nie etwas.

»Schieb es nicht auf die lange Bank«, fuhr Gordejew währenddessen fort. »Suche dir einen Praktikanten für dich selbst aus und ziehe ihn dann zur Mitarbeit am Fall Jeremina heran. Allem Anschein nach wird der Fall in zehn Tagen ja noch nicht aufgeklärt sein. Er soll dir helfen und gleichzeitig von dir lernen. Wenn sich herausstellt, dass du den Richtigen ausgesucht hast, übernehmen wir ihn als festen Mitarbeiter, da uns ohnehin Leute fehlen. Jetzt etwas anderes. Im Frühjahr war eine Delegation der italienischen Kripo bei uns. Im Dezember ist ein Gegenbesuch von unserer Seite vorgesehen. Du wirst auch zu dieser Delegation gehören.«

»Ich?«, fragte Nastja verwirrt. »Warum denn das?«

»Stell keine Fragen. Du fährst und basta. Ich habe dich zu diesem Aufenthalt im Sanatorium überredet, habe dir selbst die Einweisung besorgt und fühle mich zum Teil dafür verantwortlich, dass du dich nicht richtig erholen konntest. Darum fährst du jetzt nach Rom.«

»Und was ist mit der Jeremina?«, fragte Nastja begriffsstutzig.

»Was sollte damit sein? Wenn du den Fall nicht aufgeklärt hast, solange die Spuren noch heiß sind, spielen fünf, sechs Tage auch keine Rolle mehr. Du fliegst am 12. Dezember. Wenn du den Mörder bis dahin nicht gefunden hast, wirst du ihn ohnehin nie mehr finden. Im Übrigen wird das Leben hier auch ohne dich weitergehen. Wenn etwas zu tun sein wird, wird sich Tschernyschew darum kümmern. Außerdem werden wir den Praktikanten haben.«

Viktor Alexejewitsch nahm die Auswahl seiner Mitarbeiter sehr genau und bezog in diese Auswahl stets auch die Absolventen der Polizeihochschulen des Innenministeriums ein. Er hatte eine geheime Absprache mit dem Rektor für Studienangelegenheiten und übertrug Nastja jedes Jahr die Auswahl eines Praktikanten. Die Hochschulen luden regelmäßig Mitarbeiter der Miliz zu Lehrveranstaltungen ein, bei denen es vor allem um Kriminalistik, Strafprozessangelegenheiten und praktische Ermittlungsarbeit ging. Nastja hielt in zwei, drei Absolventengruppen Seminare oder praktische Übungsstunden ab, woraufhin Gordejew bei der Schulleitung anrief und den Namen des Absolventen nannte, den Nastja für das Praktikum ausgesucht hatte. Das geschah natürlich unter Umgehung aller geltenden Regeln, aber Knüppelchen konnte man nur selten etwas ausschlagen. Er war ein weithin bekannter Mann und hatte viele gute Freunde. Mit Hilfe des genannten Verfahrens war Mischa Dozenko, Gordejews jüngster Mitarbeiter, zur Moskauer Kripo gekommen, er war Nastja während einer Dienstreise nach Omsk an der dortigen Polizeihochschule aufgefallen. Gordejew selbst hatte vor etwa zehn Jahren auf diese Weise Igor Lesnikow, einen seiner besten Mitarbeiter, von der Moskauer Polizeihochschule in seine Abteilung geholt.

Nastja rief bei der Schulleitung an, und man stellte ihr einige Themen zur Wahl, zu denen in den nächsten Tagen Seminare und praktische Übungsstunden stattfinden sollten. Sie bat darum, für den Praxisunterricht über psychologische Interpretationen von Augenzeugenaussagen eingeteilt zu werden.

»Das passt sehr gut«, sagte man ihr in der Abteilung für Studienangelegenheiten. »Der zuständige Dozent ist gerade krank, so brauchen wir uns keine Gedanken um einen Ersatz zu machen.«

Nastja wusste genau, nach welchem Prinzip sie bei der Auswahl des Praktikanten vorgehen musste. Sie wollte den Studenten den bekannten Raven-Test vorlegen. Der Test bestand aus sechzig zu lösenden Aufgaben, von denen neunundfünfzig auf ein und demselben Prinzip aufgebaut waren und sich nur im Schwierigkeitsgrad voneinander unterschieden. Die ersten sechs Aufgaben waren denkbar einfach zu lösen, die letzten sechs erforderten höchste Konzentration, da die richtige Antwort die Fähigkeit voraussetzte, mehrere Kriterien gleichzeitig zu fixieren und im Auge zu behalten. Mit Hilfe der ersten neunundfünfzig Fragen wurde der Proband auf seine Fähigkeit zur Konzentration und schnellen Entscheidungsfindung überprüft. Es musste sich zeigen, ob er unter Zeitdruck in der Lage war, die Übersicht zu behalten, nicht in Panik zu geraten und die richtige Entscheidung zu treffen. Die letzte der sechzig Fragen war sehr tückisch, da sie, so einfach sie auch war, auf einem völlig anderen Prinzip basierte. Wenn der Proband auch diese Frage richtig beantworten konnte, dann bedeutete das, dass er die ihm gestellte Aufgabe mit Abstand betrachten konnte, dass er flexibel war und schnell umschalten konnte, um nach neuen Lösungsmöglichkeiten zu suchen, anstatt automatisch dem bereits Bekannten zu folgen und zu versuchen, das Schloss mit demselben Schlüssel zu öffnen wie vorher.

Nastja wühlte eine Weile in ihren Aufzeichnungen und Notizen, rief zwei Kollegen von der Verkehrspolizei an und erstellte schließlich die Aufgabe für ihren Unterricht an der Polizeihochschule.

* * *

»Wie steht es?«, fragte Olschanskij lächelnd, als Nastja sein Büro betrat.

»Schlecht, Konstantin Michajlowitsch. Wir müssen wieder ganz von vorn anfangen.«

Nastja nahm unaufgefordert Platz und richtete sich auf ein längeres Gespräch ein. Aber der Untersuchungsführer schien ihre Absicht nicht zu billigen. Er sah verstohlen auf seine Armbanduhr und seufzte.

»Warum müssen wir wieder von vorn anfangen? Können wir nicht da weitermachen, wo wir aufgehört haben?«

Nastja wich der Frage aus, da die Antwort sowohl für sie als auch für Olschanskij schwierig gewesen wäre.

»Wir müssen noch einmal Boris Kartaschow vernehmen, den Freund der Jeremina.«

Der Untersuchungsführer hob den Kopf und fixierte Nastja mit seinen kleinen Augen hinter den dicken Brillengläsern. Sein Blick wirkte stechend.

»Wozu? Hast du etwas herausgefunden, das dich veranlasst, ihn zu verdächtigen?«

Nastja hatte tatsächlich einiges herausgefunden, aber erstens gab ihr das mitnichten einen Anlass, Boris Kartaschow zu verdächtigen, und zweitens war sie sich nicht sicher, ob das, was sie herausgefunden hatte, überhaupt von Belang für die Sache war. Sie brauchte die zweite Vernehmung nur, um sich ihrer Annahmen zu vergewissern.

»Ich bitte Sie sehr, Kartaschow noch einmal zu vernehmen«, wiederholte Nastja starrsinnig. »Hier ist die Liste mit den Fragen, auf die ich unbedingt eine Antwort brauche.«

Nastja holte ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrer Handtasche und reichte es dem Untersuchungsführer. Aber anstatt das Blatt entgegenzunehmen, holte dieser ein Formular aus der Schreibtischschublade.

»Ist gut, du kannst ihn vernehmen«, sagte er trocken, während er die Anweisung ausstellte.

»Ich dachte, das werden Sie selbst tun.«

»Wozu? Du bist es doch, die Fragen an Kartaschow hat, und nicht ich. Du kannst ihn so lange ausfragen, bis du alles erfährst, was du wissen willst. Wenn ich die Vernehmung mache, wirst du vielleicht wieder unzufrieden sein mit dem Ergebnis.«

»So habe ich das nicht gemeint, Konstantin Michajlowitsch«, sagte Nastja vorwurfsvoll. »Ich habe doch nicht gesagt, dass die erste Vernehmung nicht zufrieden stellend war. Es sind einfach nur neue Fragen aufgetaucht.«

»Welche?« Olschanskij hob abrupt den Kopf.

Nastja schwieg. Sie hatte es sich angewöhnt, ihrem Gefühl zu trauen, auch wenn es noch so diffus war, aber sie sprach nie über dieses Gefühl, solange es nicht durch Fakten belegt war. Bei Viktoria Jeremina handelte es sich keinesfalls um einen verwickelten Mordfall mit widersprüchlichen Informationen. Alles, was Nastja in Erfahrung bringen konnte, fügte sich logisch ineinander, es gab nur nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wo das Mädchen sich vom 22. Oktober bis zum 1. November aufgehalten hatte, in der Zeit also, in der sie allem Anschein nach erwürgt wurde. Wenn sie sich tatsächlich in einem psychotischen Zustand befunden hatte, war alles möglich, sie konnte jedem x-beliebigen Fremden an jeden x-beliebigen Ort gefolgt sein, es war sinnlos, hier nach Logik zu suchen. Einen Menschen, der sich in normaler geistiger Verfassung befand, suchte man in erster Linie bei seinen Verwandten oder Bekannten, es kam nur darauf an, den entsprechenden Personenkreis möglichst komplett zu erfassen. Aber die Handlungen eines Geisteskranken waren unberechenbar. Vika verlässt das Haus ohne Papiere und vielleicht ohne jedes Ziel vor Augen. Ihre Leiche wird nur ganz zufällig entdeckt, denn die Beeren- und Pilzsaison ist vorüber, und der November ist nicht die Zeit für Waldspaziergänge. Zum Glück kann die Ermordete wenigstens identifiziert werden, allerdings nur deshalb, weil eine Vermisstenanzeige vorliegt. Nein, der Mordfall Jeremina war keinesfalls verwickelt. Es lag nur erstaunlich wenig Information vor, und das war die ganze Crux.

Obwohl die Antwort aus dem Amt für Visa- und Aufenthaltsangelegenheiten noch nicht vorlag, nahm Nastja innerlich Abschied von der Version, auf die sie noch bis vor zwei Tagen gebaut hatte. Das, was sie herausgefunden hatte, deutete nicht darauf hin, dass Vika von irgendeinem ausländischen Liebhaber ermordet wurde. Hier handelte es sich um etwas ganz anderes . . .

»Also, welche neuen Fragen sind aufgetaucht?«, erkundigte Olschanskij sich mit leiser, nachdrücklicher Stimme, während er Nastja den Vernehmungsauftrag über den Tisch schob. »Ich warte immer noch auf deine Antwort.«

»Darf ich Ihre Frage nach der Vernehmung beantworten?«

»Du darfst. Aber denk daran, Kamenskaja, du hast nicht das Recht, mir Informationen vorzuenthalten, sogar dann nicht, wenn du der Meinung bist, dass diese Informationen unwichtig für mich sind. Wir arbeiten zum ersten Mal zusammen, darum warne ich dich vor. Mit mir kannst du nicht Verstecken spielen. Wenn ich dir dahinter komme, packe ich dich am Fell und schmeiße dich hier raus wie eine räudige Katze. Du wirst dann zum letzten Mal an einem Fall gearbeitet haben, der einem Untersuchungsführer der Staatsanwaltschaft obliegt. Dafür werde ich Sorge tragen. Bilde dir nicht ein, dass du die Klügste von allen bist und selbst entscheiden kannst, was in einem Mordfall wichtig ist und was nicht. Vergiss nicht, dass die prozessführende Person ich bin und nicht du. Deshalb wirst du nach meinen Regeln spielen müssen und nicht nach denen, die bei euch in der Petrowka üblich sind. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Konstantin Michajlowitsch, ich habe Sie verstanden«, murmelte Nastja und verließ rasch das Büro des Untersuchungsführers. Jetzt weiß ich, warum ich ihn nie gemocht habe, dachte sie wütend. Was bildet der sich eigentlich ein; dieser unverschämte Kerl, dieser Flegel!

Nastja musste Kartaschow anrufen und ein Treffen mit ihm vereinbaren. Sie ging hinunter ins erste Stockwerk, wo einer ihrer ehemaligen Kommilitonen, der inzwischen die rechte Hand des Staatsanwaltes war, sein Büro hatte. Von dort aus wollte sie den Anruf machen, denn auf die öffentlichen Telefone war kein Verlass. Entweder waren sie defekt, oder man hatte die passenden Münzen nicht zur Hand.

* * *

Nastja verließ sich nie auf den ersten Eindruck, den ein Mensch auf sie machte. Aber Boris Kartaschow war ihr sofort sympathisch.

Als er ihr die Tür öffnete, ein fast zwei Meter langer Mann in Jeans, einem blauweiß karierten Flanellhemd und einem dunkelgrauen Kamelhaarpullover, wollte Nastja sich ein Lächeln verkneifen, aber es gelang ihr nicht, Stattdessen brach sie in lautes Gelächter aus. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und während sie sich vor Lachen ausschüttete, war sie froh darüber, dass sie sich heute die Augen nicht geschminkt hatte, sonst wären jetzt ganze Bäche schwarzer Tusche über ihre Wangen gelaufen.

»Was ist mit Ihnen los?«, fragte Kartaschow erschrocken. Nastja winkte ab, zog ihre Jacke aus und reichte sie Kartaschow, worauf dieser selbst in haltloses Gelächter ausbrach. Nastja trug die gleichen Jeans wie er, das gleiche blauweiß karierte Hemd, nur ihr Kamelhaarpullover war von einem etwas helleren Grau als der seine.

»Wir sind ja wie zwei Geklonte«, sagte Kartaschow, sich verschluckend vor Lachen. »Wer hätte gedacht, dass ich mich genauso kleide wie die Leute von der Kripo. Treten Sie ein, bitte.«

Während Nastja sich in der Wohnung des Künstlers umsah, fragte sie sich erstaunt, warum Gordejew ihn einen Bohemien genannt hatte. Sie konnte in Jereminas Freund nichts dergleichen erblicken, weder in seiner Kleidung noch in seinem Aussehen. Er hatte kurzes, dichtes Haar, das sich vorn allerdings bereits etwas zu lichten begann, einen gepflegten Oberlippenbart, eine große, etwas zu lange Nase und den Körperbau eines trainierten Sportlers. Weder an ihm selbst noch an seiner Wohnung konnte sie etwas bemerken, das auf Nachlässigkeit schließen ließ. Das Zimmer war mit bequemen, eher konservativen Möbelstücken eingerichtet, am Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem zahlreiche Skizzen und Bilder lagen.

»Möchten Sie Kaffee?«

»Sehr gern«, sagte Nastja erfreut, die es nie länger als zwei Stunden ohne eine Tasse Kaffee aushielt.

Sie nahmen in der gemütlichen, sauberen Küche Platz, die ganz in beigefarbenen und hellbraunen Tönen gehalten war, was Nastja ebenfalls gefiel. Erfreut stellte sie fest, dass der Kaffee stark und wohlschmeckend war, der Gastgeber hantierte geschickt mit dem türkischen Cezve, und trotz seiner eindrucksvollen Statur bewegte er sich leicht und graziös.

»Erzählen Sie mir etwas über Vika«, bat Nastja.

»Was möchten Sie wissen? Wie sie krank geworden ist?«

»Nein, erzählen Sie mir von Anfang an. Warum ist sie im Waisenhaus gelandet?«

Die dreijährige Vika Jeremina kam ins Waisenhaus, als ihre Mutter, eine Alkoholikerin, zwangsweise zu einer Entziehungskur in eine Klinik eingewiesen wurde. In dieser Klinik starb Mutter Jeremina nach einigen Monaten. Sie hatte sich mit Spiritus betrunken, der von wer weiß woher in ihre Hände gelangt war. Die Mutter war nie verheiratet gewesen, es gab auch keine Verwandten, die Vika hätten aufnehmen können. Nach dem Tod ihrer Mutter blieb sie noch für einige Zeit in dem Kinderheim, in dem man sie vorübergehend aufgenommen hatte, dann kam sie ins Waisenhaus. Dort wuchs sie auf, besuchte eine Berufsschule und wurde Malermeisterin. Sie begann zu arbeiten und bekam einen Platz in einem Wohnheim. In der Arbeitszeit arbeitete sie, in der Freizeit schlug sie Kapital aus ihrer auffallenden, ungewöhnlichen Schönheit. So ging es ziemlich lange, bis sie vor etwa zweieinhalb Jahren auf ein Stellenangebot in der Zeitung stieß. Eine Firma suchte eine Sekretärin, die nicht älter als dreiundzwanzig Jahre sein durfte. Vika war zynisch genug, um zu begreifen, worum es sich hier handelte. Sie kaufte sich noch ein paar weitere Zeitungen, las aufmerksam die Stellenangebote durch und wählte diejenigen aus, in denen junge hübsche Mädchen angesprochen wurden. So kam sie schließlich zu der Firma, bei der sie bis zuletzt gearbeitet hatte.

»Wann haben Sie Vika kennen gelernt?«

»Schon vor langer Zeit, als sie noch Malermeisterin war. Sie malte die Nachbarwohnung aus. Zuerst kam sie in ihren Arbeitspausen ab und zu auf eine Tasse Tee. bei mir vorbei, eines Tages schlug sie mir vor, etwas zu kochen. Sie behauptete, dass sie das sehr gut könne und dass sie furchtbar gern einmal für einen Mann kochen würde anstatt immer nur für ihre Freundinnen im Wohnheim. Ich hatte nichts dagegen, Vika gefiel mir, sie erschien mir sehr nett und offen. Zudem war sie eine außergewöhnliche Schönheit.«

»Boris . . .« Nastja wurde verlegen. »Hatten Sie nichts gegen die Art von Arbeit, der Vika nachging?«

»Ich war nicht begeistert darüber, aber nicht aus Eifersucht, sondern aus rein menschlichen Gründen. Wenn eine junge Frau sich ihren Lebensunterhalt durch Prostitution verdient, weil sie nichts anderes kann, womit sie viel Geld verdienen würde, dann ist das in jeder Hinsicht sehr traurig. Aber das konnte ich Vika nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Welche Alternative hätte ich ihr anbieten können? Die Firma hat sofort eine Wohnung für sie gekauft und eingerichtet, zudem verdiente sie dort in einem Monat so viel wie ich in einem ganzen Jahr. Solange sie noch Malermeisterin war, habe ich ihr Geschenke gemacht und sie verwöhnt. Aber dann wurde alles anders, dann war sie es, die mir Geschenke machte. Zuerst hat mich das alles sehr verwirrt, aber dann habe ich nachgedacht und einiges verstanden. . .«

»Was haben Sie verstanden?«

»Das Waisenhaus. Versuchen Sie, sich das vorzustellen, und Sie werden auch verstehen. Sie hatte nie das, was andere Kinder haben, die in einer Familie aufwachsen. Vika versuchte immer, diesen Mangel zu kompensieren, etwas nachzuholen. Sie hatte keine guten Erinnerungen an das Waisenhaus, Olga Kolobowa war die einzige Freundin aus dieser Zeit, zu der sie noch Kontakt hielt. Die Beziehungen zu allen Freundinnen aus dem Wohnheim hat sie ebenfalls abgebrochen. Sie wollte einen ganz eigenen, individuellen Freundeskreis haben, Menschen, die sie sich selbst ausgesucht hatte, anstatt mit denen befreundet zu sein, mit denen sie das Schicksal zufällig in einer Schulklasse, in einer Gruppe oder in einem Zimmer zusammengeführt hatte. Sie wollte selbst bestimmen, was sie tat und mit wem sie verkehrte. Ihre persönliche Wahl war nicht immer die beste, aber ich konnte ihr schließlich nichts vorschreiben. Für sie war es nur wichtig, dass sie ihre Freunde selbst auswählte, auch wenn sie sich gelegentlich mit zwielichtigen Typen einließ. Genauso war es mit den Geschenken für mich und mit ihrem Kocheifer. Sie wollte für jemanden sorgen, sie wünschte sich eine Familie. Alle diese Wünsche hat sie mit Macht auf mich übertragen, und mit der Zeit begann mir das sogar zu gefallen.«

»Wäre sie gern Ihre Frau geworden?«

»Vielleicht. Aber sie war klug genug, mich nicht darauf anzusprechen. Sie wusste, dass ihr Lebenswandel nicht vereinbar war mit einem Dasein als Ehefrau.«

»War es denn unbedingt notwendig, dass sie diesen Lebenswandel beibehielt?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Vika viel Geld haben wollte. Sie war nicht habgierig, sie hat das Geld nicht gespart, ganz im Gegenteil, sie hat es mit vollen Händen ausgegeben. Mit ihrem hemmungslosen Verlangen nach Wohlstand kompensierte sie ebenfalls ihre armselige Kindheit im Waisenhaus. Sie musste wählen zwischen ihrem Verlangen nach Geld und ihrer Sehnsucht nach einer Familie.«

»Und Sie, Boris, hätten Sie sie gern geheiratet?«

»Nun, ich war schon zweimal verheiratet und bezahle Alimente für eine Tochter. Natürlich hätte ich gern eine neue Familie gegründet und Kinder gehabt. Aber nicht mit Vika. Sie hat zu viel getrunken, um ein gesundes Kind zur Welt zu bringen und eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Sie hat gern Ehefrau mit mir gespielt, aber länger als zwei, drei Tage hielt sie es in dieser Rolle nie aus. Dann verbrachte sie ihre Zeit wieder mit einem ihrer Kunden, mit ihren Freunden, oder Sie lag auf dem Sofa und träumte. Möchten Sie noch Kaffee?«

Boris füllte die Kaffeemühle erneut mit Kaffeebohnen und setzte die Erzählung von seiner unseligen, liederlichen Freundin fort.

Viele Jahre, wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang, träumte sie immer wieder einen schrecklichen Traum. Manchmal mehrmals hintereinander, manchmal in Abständen von einigen Jahren. Aber immer wieder kehrte der Traum zurück. Ihr erschien eine blutige Hand. Den Mann, der zu dieser Hand gehörte, konnte sie nicht sehen, sie sah nur, wie er sie an einer weißen Wand abwischte und fünf blutrote Streifen hinterließ. Daraufhin erschien eine zweite Hand, wieder ohne die dazugehörende Person, und diese Hand zeichnete quer über die fünf roten Linien an der Wand einen Violinschlüssel. Vika hörte ein gemeines Kichern, das allmählich in ein bösartiges, höhnisches Gelächter überging. Von diesem Gelächter erwachte sie, schweißgebadet vor Angst.

Ende September erschien Vika bei Kartaschow und machte ihm noch auf der Türschwelle eine überraschende Mitteilung.

»Jemand hat meinen Traum heimlich mit angesehen und erzählt jetzt davon im Radio.«

Boris war verwirrt. Nun ist es so weit, dachte er, das Mädchen hat sich um den Verstand gesoffen. Wie sollte man in einem solchen Fall reagieren? Sollte er Vika zu erklären versuchen, dass es so etwas nicht gab, dass es sich hier um eine psychische Störung handelte, oder sollte er so tun, als würde er ihr glauben? Er wählte eine dritte Möglichkeit, die, wie ihm schien, äußerliche Zustimmung mit therapeutischer Wirkung verband. Nachdem eine Woche vergangen war und Vika immer noch von ihrer fixen Idee verfolgt wurde, machte er ihr einen Vorschlag.

»Lass uns versuchen, deinen Traum auf ein Blatt Papier zu malen. Wenn es eine Macht gibt, die dir deine Träume stiehlt, wird sie das erschrecken.«

Wider Erwarten war Vika einverstanden. Boris machte einige Skizzen, und unter Vikas Anleitung entstand schließlich ein ziemlich genaues Bild dessen, was sie im Traum sah. Doch es nutzte nichts. Vika verfiel immer mehr ihrer fixen Idee, aber sie wollte nicht einsehen, dass sie krank war, und lehnte es kategorisch ab, einen Psychiater aufzusuchen. Schließlich beschloss Kartaschow, selbst einen Arzt zu konsultieren. Der Psychiater bestätigte ihm, dass die geschilderten Symptome auf den Beginn einer akuten Psychose hindeuteten. Wenn ein Mensch das Gefühl hätte, andere würden in seine Gedanken eindringen und ihn per Radio beeinflussen, müsse man davon ausgehen, dass er an einem Verfolgungswahn litt. Mit Sicherheit könne man aber nichts sagen, eine Ferndiagnose sei nicht möglich. Wenn das Mädchen sich weigere, einen Psychiater aufzusuchen, gäbe es nur eine Möglichkeit: Kartaschow könne ihn, den Arzt, unter einem Vorwand zu sich nach Hause einladen, wenn Vika gerade bei ihm sei. Sie würden ein paar Stunden zusammensitzen und Tee trinken, und dabei könne der Arzt das Verhalten des Mädchens beobachten. Es wurde vereinbart, so ein Treffen sofort nach Kartaschows Rückkehr von der bevorstehenden Reise zu organisieren. Aber als Boris am 27. Oktober aus Orjol zurückkehrte, wo er für einen Verlag Skizzen für ein Buch angefertigt hatte, erfuhr er, dass Vika bereits seit drei Tagen verschwunden war.

»Wie es weiterging, wissen Sie selbst. Ich habe mich an die Miliz gewandt und Vikas sämtliche Freunde angerufen. Aber leider war alles umsonst.«

»Haben Sie nicht versucht, noch einen anderen Arzt zu konsultieren? Oder hat Ihnen diese eine Meinung genügt?«

»Ich habe selbst diesen einen nur mit Mühe gefunden. Ich kenne keine Ärzte, sie gehören nicht zu meinem Bekanntenkreis.«

»Und wie haben Sie diesen Psychiater ausfindig gemacht?«

»Über einen Bekannten und auch das nur ganz zufällig. Er hat einmal verlauten lassen, dass er viele Freunde in medizinischen Kreisen hat, und wenn ich einmal Probleme mit der Gesundheit haben sollte, würde er mir gern weiterhelfen. So habe ich mich an ihn gewandt, und er hat den Kontakt hergestellt.«

Nastja hörte, wie nebenan das Telefon läutete, aber Boris blieb sitzen, als würde er es nicht bemerken.

»Nehmen Sie nicht ab?«, fragte sie erstaunt.

»Ich habe einen Anrufbeantworter. Wenn nötig, werde ich später zurückrufen.«

Nastja war zu Kartaschow gegangen, um herauszufinden, ob die Erkrankung der Jeremina nicht vielleicht dessen eigene Erfindung war. Es kam ja durchaus vor, dass Menschen eine psychische Krankheit eingeredet wurde, weil jemand Nutzen daraus ziehen wollte. Vika war nie bei einem Arzt gewesen, alles, was über ihre Krankheit bekannt war, wusste man nur von Kartaschow. Zwar hatte auch Olga Kolobowa behauptet, dass Vika ihr von ihren gestohlenen Träumen erzählt hatte, aber sie konnte mit Boris unter einer Decke stecken. Vielleicht wollten die beiden Vika aus irgendeinem Grund loswerden und inszenierten deshalb dieses böse Spiel. Das Motiv war bisher nicht bekannt, aber man hatte sich mit dieser Version auch noch nicht beschäftigt. Vielleicht existierte wirklich so ein Motiv, vielleicht war es ganz nahe liegend, nur hatte bisher noch niemand danach gefragt.

Um diese Version zu überprüfen, musste man erst einmal herausfinden, ob es irgendwelche Widersprüche oder zumindest Ungereimtheiten in den Aussagen von Kartaschow, Olga Kolobowa und Maslennikow, dem Psychiater, gab. Nun war ein neuer potenzieller Zeuge hinzugekommen, Boris’ Bekannter, der ihm den Arzt empfohlen hatte. Boris musste ihm irgendeine Erklärung dafür abgegeben haben, wozu er einen Psychiater brauchte.

Außerdem war die leise Hoffnung auf eine weitere Version aufgetaucht.

»War Ihr Anrufbeantworter angestellt, während Sie verreist waren?«

»Natürlich. Ich bin freischaffender Künstler, ich muss immer mit Anrufen von Auftraggebern rechnen. Wäre ich nicht erreichbar, könnten mir wertvolle Aufträge entgehen.«

»Nach Ihrer Rückkehr von der Reise haben Sie also sämtliche Nachrichten abgehört, die innerhalb von zehn Tagen eingegangen waren?«

»Ja, natürlich.«

»Und es war keine Nachricht von Vika dabei?«

»Nein. Hätte sie vorgehabt, für längere Zeit zu verreisen, hätte sie mich benachrichtigt, dessen bin ich mir sicher. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, wie wichtig es ihr war, dass es jemanden gab, der sich um sie sorgte, dem es nicht gleichgültig war, wo sie war und wie es ihr ging. In ihrer Kindheit hat ihr ja genau das gefehlt.«

»Und was ist aus der Kassette mit diesen Nachrichten geworden? Haben Sie sie gelöscht?«

Nastja war sich sicher, Boris würde bejahen, sie fragte nur pro forma.

»Sie liegt in meiner Schreibtischschublade. Ich hebe solche Kassetten immer auf, man weiß nie, wozu es gut ist.«

»Wozu könnte es gut sein?«

»Im vorigen Jahr zum Beispiel hat während meiner Abwesenheit ein Verlag bei mir angerufen und mir angeboten, die Illustrationen zu einer Anekdotensammlung zu machen. Ich habe nicht zurückgerufen, weil die Illustration von Anekdoten nicht zu meinem Profil gehört, zudem hatte ich zu dieser Zeit ohnehin mehrere Aufträge. Kurz darauf beklagte sich ein befreundeter Karikaturist bei mir über Auftragsmangel, und ich erinnerte mich an den Anruf des Verlags. Ich suchte und fand die Nachricht auf der Kassette, gab meinem Freund die Telefonnummer des Verlags, und alle waren zufrieden.«

»Die Kassette mit den Nachrichten, die während Ihrer Reise nach Orjol eingegangen sind, existiert also noch?«

»Ja.«

»Könnten wir sie nicht zusammen abhören?«, fragte Nastja.

Kartaschows Gesichtszüge spannten sich an. Oder erschien es Nastja nur so?

»Glauben Sie mir nicht? Es ist keine Nachricht von Vika dabei.«

»Ich bitte Sie trotzdem darum«, insistierte Nastja. Boris gefiel ihr plötzlich nicht mehr, und sie bereitete sich auf eine Attacke vor. »Ich würde mir die Kassette gern anhören.«

Sie gingen nach nebenan, und Boris holte die Kassette aus der Schublade. Nachdem er sie eingelegt und angestellt hatte, reichte er Nastja eine Zeichnung, die in einer Mappe auf dem Schreibtisch gelegen hatte.

»Hier. Das ist Vikas Traum, von dem ich Ihnen erzählt habe.«

Nastja betrachtete die Zeichnung und lauschte gleichzeitig den Stimmen auf der Kassette.

Boris, vergiss nicht, dass Lysakow am zweiten November vierzigsten Geburtstag hat. Wenn du ihm nicht gratulierst, wird er tödlich beleidigt sein . . .

Guten Tag, Boris Grigorjewitsch, hier spricht Knjasjew. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie zurück sind. Wir müssen noch über den Entwurf für das Buchcover sprechen . . .

Kartaschow, du Schweinehund! Was ist mit der Flasche Cognac, um die wir gewettet haben . . .

Boris, bitte sei mir nicht böse. Ich gebe zu, dass ich im Unrecht war. Bitte entschuldige . . .

»Wer ist das?«, fragte Nastja rasch und hielt die Kassette an.

»Olga Kolobowa«, entgegnete Kartaschow widerwillig.

»Hatten Sie Streit mit ihr?«

»Wie soll ich sagen? Das ist eine alte Geschichte, und manchmal gibt es einen Rückfall. Mit Vika hat das nichts zu tun. Es hängt mit Olgas Mann zusammen.«

»Ich muss es genau wissen«, sagte Nastja hartnäckig.

»Nun gut«, seufzte Boris. »Als Olga ihren zukünftigen Mann kennen lernte, habe ich ihr gleich gesagt, dass er ein Filou ist. Als Olga nach der Hochzeit feststellte, dass er sie tatsächlich betrog, hat sie sehr gelitten. Und ich habe mich ihr dummerweise mit guten Ratschlägen aufgedrängt, ich war der Meinung, dass sie ihn verlassen sollte, obwohl ich wusste, dass mich das alles nichts anging. Olga reagierte allerdings sehr empfindlich auf meine Ratschläge und hatte offenbar den Wunsch, mich zu beleidigen. Sie sagte zum Beispiel, so wie ich könne nur einer daherreden, der entweder schwul oder impotent sei, oder ich sei einfach nur neidisch, weil ihr Mann eine Frau und eine Familie hätte. Jedenfalls endeten solche Unterhaltungen zwischen uns immer mit Streit, aber danach versöhnten wir uns natürlich wieder.«

»Und wofür hat sie sich diesmal bei Ihnen entschuldigt?«

»Sie hatte gesagt, ihr Mann sei zwar ein Weiberheld, aber er würde wenigstens versuchen, das vor ihr zu verbergen, was immerhin noch besser sei als das, was Vika täte, die sich ganz unverhohlen herumtreibt und sich nicht dafür schämt.«

»So hat sie sich über eine enge Freundin geäußert?«, fragte Nastja erstaunt.

Kartaschow zuckte mit den Schultern.

»Frauen . . . Wer kennt sich mit denen schon aus! Wollen wir weitermachen mit dem Band?«

Boris, ich bin’s, Oleg. Wir und die andern wollen zu Silvester nach Woronowo fahren. Wenn du mitkommen willst, sag bis zum zehnten November Bescheid. Wir müssen die Unterkunft im Voraus buchen. . .

Boris, ich habe bei dir in der Wohnung eine Streichholzschachtel vergessen, auf der eine wichtige Telefonnummer steht. Wenn du sie findest, wirf sie nicht weg . . .

Boris, Lieber, du fehlst mir sehr. Ich umarme dich . . .

»Und wer ist das?« Nastja stoppte erneut das Band.

»Eine Bekannte.« Kartaschow sah Nastja herausfordernd an. Er erwartete weitere Fragen und wollte ihnen vorbeugen.

»Sind Sie sich ganz sicher, dass das nicht Vika war?«

»Ja, ich bin mir sicher. Wenn Sie mir nicht glauben, spiele ich Ihnen ein anderes Band vor, auf dem Sie Vikas Stimme hören können.«

Anrufe von Auftraggebern, von Freunden, von Frauen, von Kartaschows Eltern . . . Und plötzlich entstand eine Pause.

»Was ist das?« Nastja drückte blitzschnell auf die Stopp-Taste.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Kartaschow verwirrt. »Ich habe nicht darauf geachtet, als ich das Band abgehört habe.«

»Von wem stammt die Nachricht, die vor der Pause auf dem Band ist?«

Nastja begannen die Hände vor Anspannung zu zittern. Sie war sich sicher, dass sie jetzt ein Fädchen gefunden hatte.

»Von Solodownikow, einem meiner ehemaligen Kommilitonen.«

»Und der Anruf danach?«

Boris stellte das Band wieder an und hörte sich die Nachricht bis zum Ende an.

»Das ist Tatjana, meine Cousine.«

»Sie müssen unbedingt beide anrufen und fragen, wann genau sie bei Ihnen angerufen haben. An welchem Tag und zu welcher Uhrzeit. Bitte tun Sie das jetzt gleich.«

Kartaschow griff gehorsam zum Hörer, und Nastja vertiefte sich erneut in die Zeichnung, die Vikas Traum darstellte.

»Die Auskünfte sind sehr ungenau«, sagte Kartaschow, nachdem er die Telefonate beendet hatte. »Die Anrufe liegen ja schon einen Monat zurück, und beide erinnern sich nur noch vage. Solodownikow sagt, er hätte irgendwann am Wochenende angerufen, am 21. oder 22. Oktober, genau weiß er es nicht mehr, aber später könne es nicht gewesen sein, da er am 22. Oktober nach St. Petersburg gefahren ist. Deshalb hat er mich auch angerufen, er wollte mich nach der Telefonnummer eines gemeinsamen Bekannten fragen, der in St. Petersburg lebt. Und meine Cousine hat angerufen, nachdem sie meine erste Frau zufällig im Fernsehen gesehen hatte. Es handelte sich um eine Befragung von Passanten auf der Straße. Aber meine Cousine erinnert sich überhaupt nicht mehr, wann das war, sie weiß nur noch, dass sie sofort danach zum Telefon gestürzt ist, um mir zu sagen, dass Katja wieder in Moskau ist.«

»Ist es so wichtig für Sie, das zu wissen?«

»Wissen Sie, Katja ist ein sehr schwieriger Mensch, hohl und streitsüchtig. Sie gibt mir die Schuld an allen ihren Miseren, sie kann mir nicht verzeihen, dass ich mich von ihr habe scheiden lassen, und ich muss immer darauf gefasst sein, dass sie sich irgendeine Gemeinheit einfallen lässt. Als sie das letzte Mal in Moskau war, hat sie einen ganzen Tag und eine ganze Nacht auf der Treppe über meiner Wohnung gesessen und darauf gewartet, dass eine Frau meine Wohnung verlässt. Und als es endlich so weit war, hat sie die Gelegenheit genutzt, mich bei der Frau schlecht zu machen.«

»Und diese Frau war nicht zufällig Vika?«

»Nein, diese Frau war nicht Vika«, sagte Boris nachdrücklich und sah Nastja dabei fest in die Augen. »Mehr möchte ich dazu nicht sagen, denn das geht Sie nichts an.«

»Erinnert sich Ihre Cousine, wie die Sendung hieß, in der sie Ihre geschiedene Frau gesehen hat?«

»Die Sendung lief im vierten Programm und hieß ›Freie Fahrt‹.«

Nastja überlegte. Sie musste die Kassette sicherstellen, das war klar. Die Pause konnte nur aus zwei Gründen entstanden sein: Entweder hatte jemand nach dem Signalton einfach geschwiegen, oder die Nachricht wurde gelöscht. Wenn Letzteres der Fall war, geriet Boris Kartaschow in den Verdacht, dass er entweder eine Nachricht der Jeremina gelöscht hatte oder eine, die etwas mit ihrer Ermordung zu tun hatte. Knüppelchen war der Meinung, dass hinter Vikas Ermordung möglicherweise die Mafia stand, und da diese bekanntlich mit den besten Anwälten zusammenarbeitete, wäre es ein grober Fehler gewesen, die Kassette einfach so an sich zu nehmen. Wie hätte man hinterher beweisen können, dass die fragliche Nachricht nicht von der Miliz selbst gelöscht wurde, mit der Absicht, Kartaschow zu kompromittieren? Nastja musste sich genau an die Vorschriften halten, sie brauchte eine offizielle Erlaubnis zur Beschlagnahmung der Kassette. Doch wie sollte sie das anstellen? Wenn Boris die Wahrheit sagte, was Nastja allerdings stark bezweifelte, konnte sie morgen früh mit der Anweisung zur Beschlagnahmung und mit einem Zeugen wiederkommen. Aber was, wenn Kartaschow wirklich in den Mord verwickelt und die Pause auf dem Band ein wichtiges Indiz dafür war? Was würde dann bis morgen mit diesem Band geschehen? Nein, es war unmöglich, die Sache auf morgen zu verschieben, sie musste das Band heute an sich nehmen. Aber wie sollte sie das anstellen? Wenn die Nachricht wirklich gelöscht wurde, musste auf dem Band jener akustische Hintergrund fehlen, der zwangsläufig entstand, wenn ein Anrufer aus irgendeinem Grund nach dem Signalton einfach nur schwieg. Nur die Gutachter konnten feststellen, welcher Art die unerklärliche Pause auf dem Band war. Was also tun?

Nastja warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war halb zwei. In ihr blitzte die verrückte Hoffnung auf, Andrej Tschernyschew könnte mitten am Tag kurz nach Hause gefahren sein, um seinen Hund zu füttern.

Nastja hatte Glück. Andrejs siebenjähriges Söhnchen teilte ihr gewissenhaft mit, dass sein Vater versprochen hatte, gegen ein Uhr kurz nach Hause zu kommen, um Kyrill zu füttern und auszuführen. Da es längst nach eins war, müsse er jeden Augenblick auftauchen, andernfalls hätte er bestimmt angerufen und gesagt, was der Hund heute zu fressen bekommen sollte. Nastja hinterließ dem Knirps Kartaschows Telefonnummer und bat ihn, dem Vater auszurichten, er möge sofort zurückrufen, sobald er nach Hause käme.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Bekannten, über den Sie den Psychiater gefunden haben«, sagte Nastja.

»Ich kenne ihn nur flüchtig. Ich habe ihn bei Freunden getroffen. Er hat mir erzählt, dass er in der Geschäftsführung eines Verlages arbeitet, obwohl er einst Medizin studiert hat. Er sagte, er würde viele Ärzte kennen, und wenn ich einmal Probleme mit der Gesundheit haben sollte, würde er mir gern helfen. Er gab mir seine Visitenkarte. Das war alles.«

»Ich brauche seine Adresse. Haben Sie die Visitenkarte noch?«

Während Boris sein Notizbuch nach eingelegten Zetteln durchsuchte, warf Nastja erneut einen Blick auf die Zeichnung mit den blutroten Linien.

»Sagen Sie, Boris, warum ist der Violinschlüssel auf der Zeichnung hellgrün?«

»So hat Vika es geträumt. Ich habe mich selbst gewundert, aber sie sagte, der Violinschlüssel sei in ihrem Traum immer hellgrün und nie anders. Hier!« Kartaschow reichte Nastja die Visitenkarte von Valentin Petrowitsch Kosarj mit dessen privater und dienstlicher Telefonnummer.