VIERTES KAPITEL

Was führte die Menschen zusammen? Was ließ sie aneinander festhalten? Unüberwindbare Anziehungskraft oder einfach Bequemlichkeit?

Nastja hatte sich Andrej Tschernyschews Bericht über dessen Gespräch mit Olga Kolobowa, geborene Agapowa, angehört und konnte zu keinem Schluss kommen. Sprachen die neuen Fakten für Boris Kartaschow oder gegen ihn?

Als Vika Jeremina seinerzeit Kartaschows Wohnung renoviert hatte, hatte sie das nicht allein getan, sondern zusammen mit Olga Agapowa. Boris hatte beide Mädchen gleichzeitig kennen gelernt und sich sofort der hübschen Olga zugewandt, nachdem er zynisch erwogen hatte, dass die Schwindel erregend schöne Vika mit Sicherheit bereits vergeben war. Olga war einfacher gestrickt als Vika, sehr häuslich und ohne besondere Ansprüche. Zu Anfang war Boris sogar einmal der Gedanke gekommen, das nette, häusliche und anhanglose Waisenmädchen zu heiraten. Olga trank nicht, rauchte nicht und hätte ihm ohne weiteres einen gesunden, hübschen Sohn schenken können. Doch schon sehr bald veränderte sich die Situation. Die energische, selbstgewisse Vika mischte sich ein und zog Boris schier vor den Augen ihrer Freundin in ihr Bett. Boris verliebte sich ernsthaft in Vika, und die stille Olga zog sich ergeben zurück, längst gewöhnt daran, ihrer schönen Freundin den Vortritt zu lassen. Alles, was Kartaschow über das gemeinsame Teetrinken mit Vika und ihre Begeisterung für das Kochen erzählt hatte, war die Wahrheit, aber nicht die ganze.

Nach einiger Zeit lernte Olga Agapowa Wassja Kolobow kennen, und die beiden beschlossen zu heiraten. Aber die Spannungen zwischen Olga, Vika und Boris nahmen weiter zu. Die schöne, vom Glück begünstigte Vika war außer sich vor Wut, weil Olga, die von jeher in ihrem Schatten gestanden hatte, früher einen Mann zum Heiraten gefunden hatte als sie selbst. Olga litt schweigend unter ihrer unerfüllten Liebe zu Boris und wusste genau, dass sie Wassja nur heiratete, um verheiratet zu sein. Boris bereute seine Dummheit und Schwäche und verfluchte den Tag, da er sich gegen jede Vernunft dazu hinreißen ließ, Olga dringend von der Heirat mit Wassja abzuraten, denn schließlich hatte er immer gewusst, dass hinter alledem nicht nur die unerfüllbare Hoffnung auf eine Heirat mit ihm, Boris, stand, sondern auch Olgas dummer, kindlicher Wunsch, wenigstens ein einziges Mal im Leben die schöne Freundin zu übertrumpfen. Eine Woche vor der Hochzeit erschien Olga bei Kartaschow und sagte:

»Boris, mach mir ein Hochzeitsgeschenk . . .«

Und er machte seiner Ex-Geliebten das Geschenk, um das sie ihn bat. Er verbrachte mit ihr eine Woche voller glühender Leidenschaft.

»Wie ich mir wünsche, dass Vika das erfährt«, sagte Olga träumerisch, während sie sich wohlig im Bett rekelte. »Ich möchte, dass es ihr genauso wehtut, wie es mir wehgetan hat, als ich euch auf diesem Sofa erwischt habe.«

»Rede keinen Unsinn«, sagte Boris entsetzt. Er war nicht sehr mutig, und die Aussicht, sich der ungezügelten, temperamentvollen Vika erklären zu müssen, war nicht gerade erfreulich für ihn.

Dennoch riet er Olga sogar damals wieder, sich zu besinnen und Wassja Kolobow zu verlassen, solange es noch nicht zu spät war.

»Wirst du mich heiraten?«, fragte Olga eines Tages. »Wenn du Vika den Laufpass gibst und mich heiratest, jage ich Wassja sofort zum Teufel.«

Sie war auf dem Weg zur Arbeit, stand, bereits angezogen, vor dem Spiegel und trug Rouge auf ihre Wangen auf.

»Ich gebe dir bis heute Abend Bedenkzeit«, sagte sie lächelnd. »Und falls du nein sagst, möchte ich von dir kein einziges böses Wort mehr über Kolobow hören. Hast du mich verstanden, mein Schatz?«

Je näher der Abend kam, desto klarer wurde Boris, dass er nicht die Kraft haben würde, mit Vika Schluss zu machen. Wenn eine Beziehung von selbst zu Ende ging, war das etwas ganz anderes als der Versuch, ihr Ende bewusst und absichtlich herbeizuführen. Was sollte er Vika sagen? Ein Jahr lang war es gut mit dir, und jetzt ist es plötzlich schlecht geworden? Noch vor ein paar Tagen war alles in Ordnung, aber jetzt werde ich deine Freundin heiraten. Als du mich verführt hast, hatte ich nichts dagegen, weil du eine schöne Frau bist, aber im Laufe eines Jahres habe ich begriffen, dass du nicht die Richtige bist, weil man mit dir keine Familie gründen und keine Kinder haben kann. Purer Unsinn. Und was würde aus Vika werden, wenn er sie verließ?

Vika und Boris blieben zusammen, und aus Olga Agapowa wurde Olga Kolobowa. Kartaschow hing auf seine Weise an der unberechenbaren, unbeständigen Vika, sie war für ihn wie ein Kind, auf das man ständig aufpassen musste und das ihm, wenn es nicht gerade Unsinn trieb, erstaunlich glückliche Momente voller Wärme, Güte und Zärtlichkeit schenken konnte. In gewisser Weise fühlte Boris sich sogar verantwortlich für seine Freundin, er hatte ständig Angst um sie und war fast zu Tränen gerührt, wenn er am Telefon ihre beschwipste Stimme hörte: »Boris, Liebster, mach dir keine Sorgen, mit mir ist alles in Ordnung.«

Je schlechter das Verhältnis zwischen Olga und ihrem Mann wurde, desto besser wurde die Beziehung zwischen den Freundinnen. Vikas Wut verrauchte nach und nach, da sie begriff, dass ihre verheiratete Freundin nicht zu beneiden war, und Olga ihrerseits freute sich, dass Boris, obwohl er sie nicht geheiratet hatte, auch seine Beziehung zu Vika ganz offensichtlich nicht zu legalisieren gedachte. Gelegentlich, wenn Vika wieder einmal auf einer ihrer Sauftouren war oder mit einem ihrer Kunden verreiste, traf Boris sich mit Olga, ohne darin etwas Verwerfliches zu sehen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie beide betrogen wurden. Olga von ihrem Mann und er von Vika. So zog sich das alles hin bis zu jenem Tag, an dem Vika verschwand . . .

* * *

»Sieh mal, was sich für ein Bild ergibt. Die Kolobowa ist bereit, ihren Mann wegen Kartaschow zu verlassen, aber Kartaschow kann sich nicht von Vika trennen, er hat keine Kraft dazu. Durch Vikas Tod wird alles einfacher, findest du nicht?«

Nastja machte es sich auf der Bank bequem und holte ihre Zigaretten aus der Handtasche. Andrej Tschernyschew löste die Leine vom Halsband seines Hundes, befahl ihm streng, sich nicht weit zu entfernen, und wandte sich seiner Gesprächspartnerin zu.

»Du glaubst, dass die Kolobowa in den Mord an ihrer Freundin verwickelt ist?«

»Entweder sie oder Kartaschow oder beide. Sie haben die herzzerreißende Geschichte von Vikas psychischer Erkrankung erfunden, um damit ihr Verschwinden zu erklären. Warum nicht? Eine durchaus mögliche Version. Kolobowas Behauptung, sie habe am 22. Oktober spätabends noch mit Vika telefoniert, kann ebenfalls eine Lüge sein. Wir können das nicht überprüfen, da ihr Mann um diese Zeit nicht zu Hause war. Fragt sich nur, wo die Jeremina eine ganze Woche abgeblieben ist. Vom 23. bis 30. Oktober hat sie niemand mehr gesehen, und laut Gutachten wurde sie am 31. Oktober oder 1. November ermordet. Wir müssen genau überprüfen, wo Kartaschow und die Kolobowa in dieser Woche waren. Schritt für Schritt, buchstäblich Minute für Minute.«

»Seitdem ist ein ganzer Monat vergangen«, sagte Andrej skeptisch. »Wer wird sich jetzt noch erinnern, wo und wann er die beiden gesehen hat, worüber gesprochen wurde. Unsere Chancen sind gleich null.«

»Knüppelchen hat mir erlaubt, Mischa Dozenko einzusetzen. Der ist ein Meister in solchen Dingen. Bei dem erinnert sich jeder, sogar an das, woran er sich nicht erinnern will.«

»Wie macht er das denn? Schlägt er den Leuten auf den Kopf?«, lachte Tschernyschew.

»Du solltest nicht lachen, du hast Mischa noch nicht bei der Arbeit erlebt. Er wird uns sehr nützlich sein.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, ich habe nichts dagegen. Warum fragst du mich eigentlich nicht nach dem Verkehrsunfall im südwestlichen Bezirk?«

»Gibt es etwas Neues?«, erkundigte sich Nastja aufgeregt.

»Nein, leider nichts. Der Fahrer überfährt einen Fußgänger und begeht Fahrerflucht. So etwas gibt es heutzutage leider immer häufiger. Eine stille Gasse, späte Nacht, keine Zeugen. Die Bewohner der anliegenden Häuser haben nichts gehört und gesehen. Bremsspuren konnten nicht festgestellt werden, aber bei diesem Wetter ist das auch nicht möglich, das Wasser steht knöcheltief in den Straßen. An der Kleidung des Opfers wurden Farbspuren entdeckt, die von dem Auto stammen. Ganz offensichtlich wurde das Auto zweimal umgespritzt, zuerst war es hellblau, dann schokoladenbraun, jetzt hat es diese Modefarbe, die ›Nasser Asphalt‹ heißt. Das ist die ganze Geschichte. Nach Ansicht der Gutachter handelt es sich um eine inländische Automarke. Mehr konnte nicht festgestellt werden.«

»Und das Opfer selbst, dieser Kosarj, was weiß man über ihn?«

»Valentin Petrowitsch Kosarj, zweiundvierzig Jahre, Medizinstudium. Er hat nur vier Jahre als Arzt gearbeitet, dann wurde er Redakteur beim Verlag ›Moderne Medizin‹. Er hat vor allem für die Zeitschrift ›Gesundheit‹ gearbeitet, später machte er sich selbständig und gab populärmedizinische Broschüren über Heilkräuter und Heilkunst heraus. Zuletzt arbeitete er als stellvertretender Chefredakteur bei der Zeitschrift ›Haus und Herd‹, ein Blatt für Rentner und Hausfrauen. Kochrezepte, Ratschläge, Klatsch, ausführliches Fernsehprogramm und dergleichen mehr. Verheiratet, zwei Kinder.«

»Traurig«, seufzte Nastja, »der arme Mann. Wir müssen anhand der Aussagen, die Kartaschow und der Arzt gemacht haben, alles genau rekonstruieren.«

»Meinst du, das bringt etwas?«

»Keine Ahnung, aber wir müssen es versuchen. Kartaschow muss Kosarj irgendeine Erklärung dafür gegeben haben, warum er einen Psychiater konsultieren wollte. Und Kosarj hat vorher mit diesem Psychiater gesprochen und ihm vielleicht gesagt, worum es sich handelt. Wer weiß, vielleicht hat Kartaschow Kosarj etwas erzählt, das nicht so ganz zu der Legende von Vikas Krankheit passt. Heute um halb sechs habe ich einen Termin bei dem Psychiater.«

Der Schäferhund namens Kyrill hatte sich ausgetobt, er war zu seinem Herrchen zurückgekehrt, hatte höflich zu seinen Füßen Platz genommen und die Schnauze auf sein Knie gelegt.

»Was für ein riesiger Kerl«, sagte Nastja voller Hochachtung. »Der frisst dir wahrscheinlich die Haare vom Kopf.«

»So ist es«, bestätigte Andrej, während er den Hund hinter dem Ohr kraulte. »Die richtige Ernährung für so ein Tier kostet enorm viel Geld.«

»Und wie schaffst du das?«

»Mit Hängen und Würgen. Du siehst doch, was ich anhabe.«

Er deutete auf seine alten Jeans, die abgewetzte Jacke, die abgetragenen, wenn auch sauber geputzten Schuhe. »Ich trinke und rauche nicht, gehe nicht in Restaurants, esse nicht in der Kantine, sondern bringe belegte Brote von zu Hause mit. Strengste Sparmaßnahmen.« Er lachte. »Allerdings verdient meine Irina zweimal so viel wie ich. Sie kommt für meine Ernährung und Kleidung auf, ich bestreite die Ausgaben für Kyrill und für das Auto.«

»Du hast Glück. Was soll einer machen, der keine solche Irina hat? Mit unserem Gehalt kann man sich weder ein Auto noch einen großen Hund leisten. Wir Milizionäre werden in Armut sterben. Aber lassen wir das, gehen wir lieber arbeiten.«

* * *

Die Unterhaltung mit dem Psychiater ergab praktisch nichts Neues, außer dass Nastja sich noch einmal von der Unzuverlässigkeit ihres Kollegen Wolodja Larzew überzeugen konnte. Schon beim Lesen des Vernehmungsprotokolls war es ihr seltsam vorgekommen, dass ein Psychiater eine so präzise Ferndiagnose stellte. Soviel ihr bekannt war, taten Ärzte so etwas in der Regel nicht, schon gar nicht Psychiater. Dem Protokoll zufolge war Dr. Maslennikow völlig überzeugt davon, dass die Jeremina tatsächlich ernsthaft erkrankt war und dringend in eine Klinik eingewiesen werden musste.

»Gott bewahre«, protestierte der Psychiater, als Nastja ihn danach fragte. »Das wäre ein grober Fehler gewesen. Wissen Sie, in solchen Fällen sind wir sehr vorsichtig, wir sagen immer nur vielleicht, manchmal, es könnte sein und so weiter. Wir legen uns niemals fest. Um eine zuverlässige Diagnose zu stellen, müssen wir einen Patienten mindestens einen Monat lang beobachten, am besten stationär, und selbst dann kommt es vor, dass wir noch nichts Genaues sagen können. Kein einziger anständiger Arzt würde es sich erlauben, eine Ferndiagnose zu stellen.«

»Ist das Ihre Unterschrift?«

Nastja reichte Maslennikow das von Larzew angefertigte Vernehmungsprotokoll.

»Ja. Stimmt etwas nicht?«

»Haben Sie das Protokoll gelesen, bevor Sie es unterschrieben haben?«

»Ehrlich gesagt, nein. Ich hatte keinen Grund, Ihrem Kollegen zu misstrauen. Worum geht es denn?«

»Lesen Sie das Protokoll bitte durch, und sagen Sie mir, ob Sie mit allem einverstanden sind, was darin steht.«

Maslennikow vertiefte sich in Larzews kleine, schwer leserliche Handschrift. Als er die erste Seite gelesen hatte, warf er die Blätter verärgert auf den Tisch.

»Was soll das?«, fragte er gereizt. »Ich habe so etwas nie gesagt. Sehen Sie, was hier steht: ›Ihre Bekannte muss dringend in eine Klinik eingewiesen werden, da sie an einer akuten psychischen Erkrankung leidet.‹ In Wahrheit habe ich Kartaschow gesagt, dass seine Bekannte unbedingt einen Arzt aufsuchen soll. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie psychisch erkrankt sei, und der Arzt müsse entscheiden, ob sie behandelt werden muss. Man müsse allerdings darauf vorbereitet sein, dass der Arzt sie in eine Klinik einweisen wird, falls er eine akute psychische Erkrankung bei ihr feststellt. Bemerken Sie den Unterschied? Ihr Kollege hat alle Zweifel in meinen Aussagen weggelassen und überhaupt alles verdreht. Und hier . . . ›Eine solche Erkrankung nennen wir paranoid-schizoide Psychose‹. Woher sollte ich wissen, an welcher Erkrankung diese Frau leidet, da ich sie nie im Leben gesehen habe? Ich erinnere mich, dass ich gesagt habe, die geschilderten Symptome könnten auf eine Erkrankung dieser Art hinweisen. Nein, ich verstehe wirklich nicht, warum Ihr Kollege den Inhalt meiner Aussage so entstellt hat.«

Maslennikow war ernsthaft verärgert. Und Nastja, die wieder einmal zum Sündenbock geworden war, auf dem jeder, dem es gerade einfiel, seinen Unmut ablud, fühlte, wie die Wut gegen Larzew in ihr hochkochte. Das hatte nichts mehr mit Eile und Ungenauigkeit zu tun, hier handelte es sich um grobe Entstellungen des Sachverhalts.

»Lassen Sie uns Ihre Aussage noch einmal neu aufschreiben«, sagte sie begütigend. »Ich werde versuchen, alles, was Sie sagen, wortgetreu festzuhalten, und anschließend lesen Sie den Text genau durch. Womit hat alles begonnen?«

»Im Oktober hat sich mein ehemaliger Studienkollege Valentin Kosarj an mich gewandt und mich gebeten, einem seiner Bekannten eine ärztliche Konsultation zu gewähren. Er sagte mir, Boris Kartaschow sei um den Gesundheitszustand seiner Freundin besorgt, da diese an der fixen Idee litt, jemand würde heimlich ihre Träume mit ansehen und per Rundfunk Einfluss auf sie nehmen . . .«

Nastja schrieb eifrig mit und begriff missmutig, dass sie erneut eine Niete gezogen hatte. Sie konnte keinerlei Abweichungen in den Aussagen von Maslennikow und Kartaschow feststellen. Das änderte zwar nichts an dem Verdacht gegen den Künstler, aber das Fädchen, das sie aufzunehmen gehofft hatte, war ihr erneut aus den Fingern geglitten. O Larzew, Larzew!, dachte sie. Warum hast du dir nicht mehr Zeit für die Vernehmung der Kolobowa genommen? Warum hast du dem Anrufbeantworter in Kartaschows Wohnung keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt? Warum hast du nicht nachgefragt, wie Kartaschow auf Dr. Maslennikow gekommen ist? Wir haben einen ganzen Monat verloren. Du hast dich in die Version verrannt, die Jeremina sei tatsächlich in geistiger Verwirrung spurlos verschwunden, du hast die Vernehmungsprotokolle dieser Version angepasst und dir nicht die Zeit genommen, dich um Details zu kümmern. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Version stimmt, aber parallel hättest du auf jeden Fall noch andere Versionen überprüfen müssen. Ich weiß, du hast es schwer, aber . . .

Nastja hatte das Protokoll angefertigt und reichte es Maslennikow.

»Lesen Sie es bitte aufmerksam durch. Wenn auch nur ein einziges Wort nicht stimmt, machen wir eine Korrektur. Und unterschreiben Sie bitte jede Seite einzeln. Dürfte ich bitte Ihr Telefon benutzen?«

»Natürlich.« Der Arzt schob Nastja den Apparat über den Tisch. »Sie müssen eine Neun vorwählen.«

Nastja wählte Olschanskijs Nummer.

»Hier spricht die Kamenskaja, guten Abend. Gibt es etwas Neues?«

»Ja«, sagte der Untersuchungsführer mit seiner dünnen Tenorstimme. »Das Gutachten für die Kassetten ist gekommen.«

»Und?« Nastjas Herz begann heftig zu klopfen.

»Auf der Kassette Nummer eins wurde eine Nachricht gelöscht. Keine einzige der vorhandenen Nachrichten auf dieser Kassette stammt von der Jeremina, ihre Stimme wurde nicht identifiziert. Bist du zufrieden?«

»Ich weiß es noch nicht, ich muss darüber nachdenken.«

»Dann denk mal schön nach. Morgen bin ich den ganzen Tag nicht im Büro. Wenn du mich brauchen solltest, erreichst du mich über die Miliz im nördlichen Bezirk, Abteilung Otradnoje.«

Aus der psychiatrischen Klinik, in der Dr. Maslennikow arbeitete, fuhr Nastja zu sich nach Hause, in die Stschelkowskoje-Chaussee. Während der langen Fahrt kam sie erneut zu dem Schluss, dass ihr Verdacht gegen Boris Kartaschow keinesfalls unbegründet war. Wenn jemand außer Kartaschow selbst daran interessiert gewesen wäre, die Nachricht zu entfernen, hätte er das ganze Band gelöscht oder die Kassette verschwinden lassen. Aber Boris bewahrte die besprochenen Kassetten für alle Fälle auf, und deshalb hatte er die eine Nachricht gelöscht, die ihn der Teilnahme an der Ermordung von Vika Jeremina überführt hätte. Nastja war sich fast sicher, dass die gelöschte Nachricht das Geheimnis von Vikas Verschwinden barg.

* * *

Nastja übergab Gordejew das Blatt mit ihren Aufträgen für Mischa Dozenko und schloss sich danach in ihrem Büro ein. Heute wollte sie einen Tag am Schreibtisch verbringen. Es war an der Zeit, ihre Gedanken zu ordnen und die gesammelten Informationen zu systematisieren.

Sie stellte den Wasserkocher an, holte eine Dose mit Instantkaffee und ein Paket Würfelzucker aus dem Schreibtisch, zog den Aschenbecher näher zu sich heran, beschrieb einige Blätter Papier mit nur ihr selbst verständlichen Überschriften und vertiefte sich in die Arbeit.

Die Zeit verging, der Aschenbecher füllte sich mit Zigarettenkippen, die Blätter mit Sätzen, einzelnen Wörtern, Quadraten, Kringeln und Pfeilen . . .

Als es an der Tür klopfte, beschloss Nastja, nicht zu öffnen. Ihr Chef konnte es nicht sein, er hätte sie über das interne Telefon angerufen, wenn er sie gebraucht hätte. Und vor Begegnungen mit ihren Kollegen fürchtete sie sich ein wenig. Sie wollte niemandem freundlich lächelnd in die Augen sehen und sich dabei die unvermeidbare Frage stellen müssen: Bist du vielleicht derjenige, von dem Knüppelchen gesprochen hat?

Doch das Klopfen hörte nicht auf. Nastja ging zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Vor ihr stand Wolodja Larzew.

»Verzeih, Nastja, ich muss dringend telefonieren, und in unserem Büro hängt Korotkow an der Strippe.«

Larzew war grau im Gesicht, seine Augen waren eingefallen, im Lauf des letzten Jahres war er sehr schmal geworden. Als er die Telefonnummer wählte, bemerkte Nastja, dass seine Hände zitterten.

»Nadja? Wo warst du?. . . Du hast heute fünf Unterrichtsstunden gehabt, du hättest spätestens um halb zwei zu Hause sein müssen . . . Ach so, dann ist es gut. . . Hast du etwas gegessen?. . . Warum nicht?. . . Bist du gerade erst nach Hause gekommen?. . . Hast du Noten bekommen? . . . Sehr gut . . . du bist ein braves Mädchen . . . Zu welcher Freundin?. . . Welche Julia?. . . Ist sie aus deiner Klasse?. . . Aus dem Nachbarhaus?. . . Wie hast du sie denn kennen gelernt?. . . Im Hof?. . . Wann?. . . Nadjuscha, vielleicht ist es besser, wenn Julia zu uns nach Hause kommt, ihr könnt doch auch bei uns spielen . . . Ach so, ihr wollt Computerspiele machen . . . Dann ist es natürlich etwas anderes. Hat Julia Telefon?. . . Du weißt es nicht?. . . Wie heißt sie denn mit Nachnamen?. . . Das weißt du auch nicht? . . . Dann wenigstens die Adresse, die Wohnungsnummer . . . Auch nicht? Gut, dann machen wir es so. Du isst jetzt etwas, in einer halben Stunde rufe ich dich wieder an, und wir besprechen die ganze Sache noch einmal. Vergiss nicht, dass auf dem Fensterbrett ein Topf mit Kompott steht. Bis nachher.«

Larzew legte auf und sah Nastja schuldbewusst an.

»Darf ich noch einmal telefonieren?«

»Natürlich. Aber du bist ja ein richtiger Zerberus, Wolodja. Warum darf deine Tochter nicht zu ihrer Freundin gehen, um ein bisschen mit ihr zu spielen?«

»Weil ich immer genau wissen muss, wohin sie geht und wann sie zurückkommt. Um fünf Uhr ist es draußen schon dunkel. Hallo! Jekaterina Alexejewna? Guten Tag, hier spricht der Vater von Nadja Larzewa. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Kennen Sie vielleicht zufällig eine Familie in Ihrem Haus, in der es ein etwa elfjähriges Mädchen namens Julia gibt? Die Obraszows? Wer sind denn diese Leute?. . . Haben Sie vielleicht die Telefonnummer und die Wohnungsnummer?. . . Danke, vielen Dank, Jekaterina Alexejewna. Noch eine Frage: Ist dort tagsüber jemand von den Erwachsenen zu Hause?. . . Die Großmutter? . . . Wie heißt sie denn?. . . Nochmals vielen Dank, Sie sind mein Schutzengel, was würde ich ohne Sie tun! Auf Wiederhören, alles Gute!«

»Nicht schlecht«, sagte Nastja voller Bewunderung. »Deine kriminalistischen Fähigkeiten müsste man besitzen, und dann zum Wohl der Allgemeinheit.«

Sie bereute sofort, was sie gesagt hatte. Sie hatte keinesfalls vor, sich mit Larzew auf eine Diskussion über die Qualität seiner Arbeit einzulassen. Sie hatte Olschanskij ihr Wort gegeben, dass sie mit Wolodja nicht über diese Dinge sprechen würde. Außerdem hätte so eine Unterhaltung sie sofort auf die Ermittlungen im Mordfall Jeremina gebracht, und Gordejew hatte ihr verboten, mit jemandem über den Fall zu sprechen. Aber Larzew schien ihre unüberlegte Bemerkung offenbar gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

»Wenn du eines Tages eine Tochter hast, wirst du mich verstehen. Ich predige ihr jeden Tag, den Gott werden lässt, die bekannten Weisheiten von den fremden Onkels und Tanten, aber wenn sie auch nur zehn Minuten zu spät von der Schule nach Hause kommt, vergehe ich vor Angst. Ach, Nastja«, seine Stimme bebte, die Augen blitzten verräterisch auf, »möge der liebe Gott dir solche Qualen ersparen. Es reicht, dass ich meine Frau und das Baby verloren habe, noch so ein Unglück überlebe ich nicht. Darf ich noch einmal telefonieren?«

»Warum fragst du denn ständig? Natürlich darfst du.«

Nachdem Larzew die telefonische Bekanntschaft mit der Großmutter des Mädchens gemacht hatte, das einen Computer besaß, und ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, dass sie Nadja entweder vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause schicken oder jemand von den Erwachsenen sie begleiten würde, rief er seine Tochter an und gab ihr die väterliche Erlaubnis zum Besuch der Freundin. Nastja sah ihn an und dachte, dass nur ein völlig herzloser Mensch imstande wäre, Larzew vorzuwerfen, dass er schlampig arbeitete. Nein, Olschanskij würde das nicht über sich bringen und sie selbst auch nicht.

* * *

Nastja erblickte schon von weitem die ihr gut bekannte rötliche Haarmähne und wunderte sich. Im Laufe von vielen Jahren war Ljoscha Tschistjakow wohl zum ersten Mal pünktlich. Sie hatten sich in der Metro verabredet und wollten gemeinsam zu Nastjas Stiefvater fahren. In Erfüllung seines Versprechens wollte Leonid Petrowitsch Nastja mit der Frau bekannt machen, die ihm sein Strohwitwerdasein versüßte.

Nastja selbst hatte sich noch nie in ihrem Leben verspätet. Sie war bequem und langsam, schnelles Gehen war ihr zuwider, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, einem davonfahrenden Bus hinterherzulaufen. Sie plante ihre Wege immer mit einer großzügigen Zeitreserve, und meistens war sie früher da als nötig. Von ihrem Freund Ljoscha Tschistjakow hingegen konnte man keinesfalls dasselbe behaupten. Ein begabter Mathematiker, der bereits mit dreißig Jahren Doktor der Wissenschaft geworden war, war er so zerstreut und vergesslich, dass er Nastja gelegentlich zur Verzweiflung brachte.

»Ich bin von den Socken«, sagte Nastja und küsste Ljoscha auf die Wange. »Warum kommst du nicht zu spät, wie es sich gehört?«

»Ein Unglücksfall. Es wird nicht wieder Vorkommen.«

Tschistjakow zupfte Nastja scherzhaft am Ohrläppchen, nahm ihren Arm und zog sie schnell zur Rolltreppe.

»Irgendwie kommst du mir traurig vor, meine Liebe. Ist etwas passiert?«, fragte er, als sie bereits durch die dunklen Hinterhöfe gingen, die zum Haus von Nastjas Eltern führten.

»Ich bin angespannt«, erwiderte Nastja knapp.

»Warum? Wegen dieser Frau?«

»Ja.«

»Aber du wolltest sie doch selbst kennen lernen.«

»Ja, sicher. Trotzdem . . . Ich bin nervös und weiß selbst nicht, warum. Was mache ich denn, wenn sie mir gefällt?«

»Was sollte daran schlecht sein?«

»Und meine Mutter? Irgendwie muss ich dann mein Verhältnis zwischen ihr und dieser Dame ausbalancieren.«

»Jetzt machst du aber eine Mördergrube aus deinem Herzen, Nastja. Und wenn sie dir nicht gefällt? Wirst du dann dein Verhältnis zu deinem Stiefvater überdenken müssen?«

»So ist es. Und überhaupt ist die Situation irgendwie . . . zweideutig. Hätte ich vielleicht lieber die Finger davon lassen sollen?«

»Du bist ein kluges Mädchen und tust nie etwas ohne Grund. Hör auf, dich aufzuregen.«

»Und du hör auf, mich zu beschwichtigen. In mir drin zittert alles. Lass uns einen Moment stehen bleiben, damit ich eine Zigarette rauchen kann.«

»Sag mal, wirst du eigentlich nie erwachsen? Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen. Als gäbe es keine Grautöne zwischen Gut und Schlecht, Gefallen und Nichtgefallen.«

Sie blieben an der Toreinfahrt zu Nastjas Elternhaus stehen. Nastja setzte sich auf eine Bank und holte ihre Zigaretten aus der Handtasche. Sie machte einen tiefen Zug, nahm Ljoschas Hand und drückte sie an ihre Wange.

»Ich bin dumm, Ljoscha, nicht wahr? Bring mich zur Vernunft, sag mir etwas Kluges, damit ich mich beruhige. Ich schäme mich so. Es ist, als würde ich meine Mutter verraten.«

Ljoscha setzte sich neben sie und legte zärtlich den Arm um ihre Schultern.

»Du bist wirklich noch ein Kind, Nastja. Mit dreiunddreißig Jahren hast du immer noch keine Vorstellung von Ehe und Familie.«

»Das sagt ausgerechnet ein so angeschimmelter Junggeselle wie du. Du bist mir der richtige Fachmann für Ehe- und Familienangelegenheiten.«

»Bei mir ist das etwas anderes. Ich lebe noch bei meinen Eltern und sehe jeden Tag, wie sie miteinander umgehen. Aber du lebst seit langem allein und hast vergessen, was es bedeutet, im Laufe vieler Jahre Tag für Tag mit einem anderen Menschen Tisch und Bett zu teilen. Hör auf, dich schon im Voraus aufzuregen. Rauch lieber schnell zu Ende, damit wir gehen können.«

»Ljoscha, weißt du, woran ich gerade denken muss?«

»Wenn du damals die Abtreibung nicht gemacht hättest, wäre unser Kind bereits dreizehn Jahre alt.«

»Wie hast du es erraten?«

»Ich habe genau dasselbe gedacht. Außerdem kenne ich dich schon seit zwanzig Jahren. Ich habe es gelernt, deine Gedanken zu lesen.«

»Wirklich? Dann lies weiter.«

»Du hast daran gedacht, wie anders heute alles wäre, wenn du damals das Kind behalten und mich geheiratet hättest. Dann würdest du dich jetzt nicht mit der Frage herumschlagen müssen, ob es ethisch vertretbar ist, dass du die Geliebte deines Stiefvaters kennen lernst und dich mit ihr an einen Tisch setzt, während er immer noch der Ehemann deiner Mutter ist. Du würdest einfach keine Zeit haben, dir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Und vielleicht hättest du auch ein anderes Verhältnis zu ihnen. Stimmt’s?«

»Soll ich dir die Wahrheit sagen, Ljoscha?«

»Sag die ganze Wahrheit, und dann lass uns endlich gehen. Ich bin schon ganz steif vor Kälte.«

Er erhob sich von der Bank und zog Nastja mit sich.

»Ich warte auf die versprochene Wahrheit«, sagte er lächelnd.

»Ich liebe dich sehr. Aber manchmal machst du mir Angst.«

»Du lügst«, erwiderte Ljoscha leise und streichelte ihre Wange. »Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du mich nicht auf der kalten Straße festhalten, während das köstliche Knoblauchhähnchen deines Stiefvaters auf uns wartet. Und der Mensch, der dir Angst einjagen könnte, ist noch nicht geboren auf dieser Welt.«

* * *

Nastja lauschte Ljoschas gleichmäßigem Atem. Er schläft, dachte sie. Warum nur verteilt die Natur ihre Gaben so ungerecht? Die einen zählen bis zehn und schlafen sofort ein, die andern, solche wie ich, liegen bis zum Morgengrauen wach und können ohne Schlafmittel kein Auge zutun.

Sie stand wieder auf, warf sich einen warmen Morgenmantel über und schlich auf Zehenspitzen in die Küche. Obwohl die Heizung auf vollen Touren lief, war es kalt in der Wohnung, weil die Balkontür und die Fenster undicht waren. Es gab niemanden, der das hätte in Ordnung bringen können, und Nastja selbst war zu faul, die klaffenden Ritzen mit Watte oder Schaumstoff zuzustopfen. Sie zündete auf dem Gasherd alle vier Flammen an, und nach einigen Minuten wurde es in der Küche stickig warm.

Sie ging in Gedanken noch einmal den Abend durch. Ljoscha hatte Recht, man durfte das Verhältnis zu seinen Eltern nicht von ihren Beziehungen zu andern Menschen abhängig machen. Die Spannung, mit der Nastja diesem Abend entgegengesehen hatte, hatte sich schon sehr bald gelegt. Die Freundin ihres Stiefvaters hatte sich als reizende, sehr sympathische Frau erwiesen, die keinerlei Ähnlichkeit mit Nadeschda Rostislawowna, Nastjas Mutter, hatte. Ljoscha hatte sich nach Kräften bemüht, galant und scharfsinnig zu sein, was ihm auch voll und ganz gelungen war. Jedenfalls hatte er die neue Bekannte völlig verzaubert. Der Stiefvater war mit dem Verlauf des Abends ganz offensichtlich sehr zufrieden gewesen, er hatte seine Gäste mit einem köstlichen georgischen Knoblauchhähnchen bewirtet und sich keinerlei Familiaritäten oder plumpe Vertraulichkeiten in Bezug auf seine Bekannte erlaubt. Gegen Ende des Abends hatte Nastja sich beruhigt, aber ein undeutliches Schuldgefühl der Mutter gegenüber nagte auch jetzt noch an ihr.

Sie griff zögernd zum Telefonhörer und wählte die lange Telefonnummer im fernen Schweden, wo es jetzt noch nicht so spät war wie in Moskau.

»Nastja? Was ist passiert?«, fragte Nadeschda Rostislawowna beunruhigt.

»Nichts ist passiert. Du hast nur schon sehr lange nicht mehr angerufen.«

»Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«, fragte die Mutter noch einmal nach. Es war sehr ungewöhnlich, dass Nastja von sich aus bei ihr anrief, noch dazu um diese späte Stunde.

»Es ist wirklich alles in Ordnung, Mama, mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut.«

»Und dein Stiefvater?«

»Dem geht es auch gut. Ljoscha und ich waren heute Abend bei ihm. Er hat uns ein sehr leckeres georgisches Knoblauchhähnchen vorgesetzt.«

»Sagst du auch die Wahrheit? Ist bei euch wirklich alles in Ordnung.«

»Ja, wirklich. Muss denn erst etwas passieren, damit wir einander anrufen? Ich habe einfach Sehnsucht nach dir.«

»Ich habe auch Sehnsucht nach dir, Töchterchen. Wie geht es dir mit der Arbeit?«

»Wie immer. Am zwölften Dezember fliege ich mit einer Delegation von Kripobeamten nach Rom.«

»Tatsächlich?«, rief die Mutter erfreut aus. »Das ist ja großartig. Herzlichen Glückwunsch. Wie war das, wann genau fliegst du?«

»Am zwölften Dezember. Und am neunzehnten komme ich zurück.«

»Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«, fragte Nadeschda Rostislawowna mit Enttäuschung in der Stimme. »Jetzt wird es mir wahrscheinlich nicht mehr gelingen, bis dahin ein Visum für Italien zu bekommen, aber ich werde es trotzdem versuchen. Vom dreizehnten bis siebzehnten Dezember bin ich auf einem Linguistik-Symposium in Frankreich, mein Vortrag ist für den fünfzehnten geplant, und wenn es mit dem Visum klappt, sehen wir uns in Rom. Wo kann ich dich dort finden?«

»Das weiß ich nicht. Und wo kann ich dich finden?«

»Ich weiß es auch nicht«, lachte die Mutter. »Lass es uns so machen. Wenn ich das Visum bekomme, treffen wir uns am sechzehnten um sieben Uhr abends auf dem Platz vorm Petersdom. Es ist ein großer, übersichtlicher Platz, dort können wir uns nicht verfehlen. Abgemacht?«

Nastja war etwas überrascht von der Hartnäckigkeit ihrer Mutter.

»Aber Mama, ich fliege doch nicht allein, sondern mit einer Gruppe von Kollegen. Woher soll ich wissen, was für ein Programm wir haben werden. Vielleicht werde ich am sechzehnten keine Zeit haben.«

»Unsinn!«, sagte die Mutter entschieden. »Ich werde bis acht Uhr auf dich warten. Wenn du nicht kommst, warte ich am nächsten Tag wieder. Ich werde Zusehen, dass es mit dem Visum klappt, und hoffe, dich zu treffen, Töchterchen, hörst du?«

»Gut, Mama.« Nastja schluckte krampfhaft. Ihre Mutter sollte nicht bemerken, dass sie weinte. »Ich werde da sein.«

»Wie steht es mit der italienischen Sprache bei dir?«, fragte die Mutter streng. »Erinnerst du dich noch an etwas, oder hast du schon alles vergessen?«

»Keine Sorge, dort kommt man auch mit Englisch zurecht.«

»Nein, Kleines, so geht das nicht. Versprich mir, dass du bis dahin dein Italienisch auffrischst. Als Kind hast du die Sprache sehr gut gesprochen.«

»Meine Kindheit ist längst vorbei, Mama. Ich arbeite von morgens bis abends und weiß nicht, ob ich die Zeit finden werde, mein Italienisch aufzufrischen. Sei mir bitte nicht böse.«

»Ich bin dir nicht böse.« Nastja war sich sicher, dass ihre Mutter in diesem Moment lächelte. »Ich bin stolz auf dich, Nastjenka. Und hör auf zu weinen. Glaubst du etwa, ich höre nicht, wie du ständig die Nase hochziehst? Geh schlafen und ruiniere dein schmales Budget nicht mit Auslandstelefonaten. Du hast keinen Grund, traurig zu sein. Denk dran, jeden Abend um sieben Uhr vor dem Petersdom. Umarme bitte deinen Stiefvater von mir, und Ljoscha auch.«

Nastja ließ den Hörer langsam auf die Gabel sinken und bemerkte erst jetzt, dass Ljoscha unbeweglich in der offenen Küchentür stand.

»Na? Ist dir jetzt wohler?«, fragte er lächelnd.

»Habe ich dich geweckt?«, murmelte sie schuldbewusst. »Entschuldige bitte.«

»Mein Gott, was bist du nur für ein Kind«, seufzte Tschistjakow.

Sie blieben noch eine halbe Stunde in der warmen Küche sitzen, bis Nastja sich endgültig beruhigt hatte.