21
Man muß sterben weil man sie kennt.
Sterben an der unsäglichen Blüthe des Lebens
sterben an ihren leichten Händen.
Sterben an Frauen.
RAINER MARIA RILKE
Vielleicht lag es an ihrem grundsätzlich heiteren Naturell, daß Mandy trotz allen Grauens der letzten Zeit auch jetzt noch in der Lage war, sich auf die bevorstehenden Tage in den Bergen zu freuen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie tatsächlich ein so fröhlicher Mensch war, wie alle glaubten, oder ob es nicht einfach ihr Überlebenswille war, der sie zwang, das Erlebte zu verdrängen. Denn schon der winzigste Augenblick, den sie sich gestattete, an ihn zu denken, verursachte Übelkeit und Panikattacken.
Sie sah auf die Uhr und schätzte, daß sie innerhalb der nächsten Stunde im »Bernsteinhof« eintreffen würden. Edward wollte zwei Tage später nachkommen. Das Anwesen lag außerhalb von Berchtesgaden, und obwohl Mandy mit Edward nur ein- oder zweimal dort gewesen war, erinnerte sie sich daran, wie sicher und zuverlässig die dicken, goldgelben Mauern der alten Villa auf sie gewirkt hatten.
Mit einer von Edward gezeichneten Karte saß Mandy auf dem Beifahrersitz und dirigierte Dorothee durch die Berge, wo inzwischen die Dämmerung hereingebrochen war. Ein paar Kilometer zuvor waren sie von der Hauptstraße abgebogen und hatten damit jegliche Zivilisation hinter sich gelassen. Nur der Vollmond schien fahl auf den unbefestigten Kiesweg, und das Surren des Motors war das einzige Geräusch, das die schwarze Stille durchdrang.
Die Steine knirschten unter den Rädern, die sich tapfer Stück für Stück den steilen Weg hinaufquälten. Inzwischen hegte Mandy echte Bedenken, was ihren Orientierungssinn anging, aber um Dorothee nicht zu beunruhigen, hielt sie lieber den Mund. Der Anblick der Tannen, die sich in düsterer und beängstigender Dichte am Wegrand drängten, trug kaum dazu bei, die aufkommenden Zweifel zu besänftigen. Doch als sogar die Silhouetten der hochgewachsenen Bäume verschwunden waren und so der Blick auf den Abgrund frei war, fragte Mandy mit etwas gepreßter Stimme: »Meinst du, wir sind hier richtig?«
»Schau mal, da«, sagte Dorothee mit dünner Stimme und deutete auf einen Haufen Steine, aus dem ein Stück Holz gen Himmel ragte, »das Gipfelkreuz.«
»Wenn hier das Gipfelkreuz ist, dann muß es ja demnächst wieder bergab gehen.« Mandy starrte auf ein Schild, auf dem »Vorsicht, Steinschlag« stand, und versuchte ihrem Tonfall einen beruhigenden Klang beizumischen.
»Stimmt«, antwortete Dorothee, und ihre Hände umklammerten das Lenkrad noch ein wenig fester, während Mandy angestrengt auf Edwards Karte starrte.
»Laut Beschreibung müßten wir bald dasein …
Bernsteinhof, Bernsteinhof«, murmelte sie vor sich hin, als gelte es, das Haus durch das Aufsagen eines Mantras herbeizulocken.
Schweigend fuhren sie weiter durch die Dunkelheit, bis Mandy nach einer scharfen Kurve plötzlich die verwitterten Granitblöcke entdeckte, die die Auffahrt der Villa markierten.
»Halt! Da, da!« schrie sie unvermittelt. Dorothee gab einen Schreckensschrei von sich und trat gleichzeitig so heftig auf die Bremse, daß es die beiden Frauen in ihren Gurten nach vorn schleuderte.
»Mensch, schrei doch nicht so rum«, fauchte Dorothee und funkelte Mandy böse an.
»Tut mir leid, aber wir hätten sonst die Einfahrt verpaßt.«
Dorothee lenkte den Wagen durch das Tor. Der dicht mit Moos überwucherte Weg schlängelte sich ein paar hundert Meter durch ein morastiges Waldstück, bis er sich unerwartet lichtete und den Blick auf die alte Villa freigab.
Mandy, die das Haus von einem warmen Sommertag in Erinnerung hatte, fröstelte kurz bei seinem Anblick, denn in der spätherbstlichen Atmosphäre hatte es seinen leuchtenden Charme verloren. Verlassen stand es da, bewacht von einer erfrorenen Wiese und einem toten Swimmingpool.
»Irgendwie unheimlich«, sagte Dorothee. Mandy gab sich einen Ruck und stieg aus. Draußen war es schon so eisig, daß sie ihren Atem in kleinen Wölkchen vor sich aufsteigen sah.
»Schnell, laß uns reingehen«, sagte sie in bewußt forschem Ton und griff nach ihrer Reisetasche. Dorothee hielt ein paar Schritte Abstand, als wollte sie erst einmal abwarten, ob sich hinter der schweren Holztür nicht doch noch etwas Grauenvolles verbarg.
Doch als Mandy aufschloß und das Licht anknipste, war sie von der heimeligen Atmosphäre der Eingangshalle angenehm überrascht. Das Haus trug seinen Namen nicht umsonst, denn das Licht strahlte golden von den rauhverputzten Wänden, und der honigfarbene Parkettboden paßte ideal zu den hell gebeizten Antikmöbeln.
»Wow«, machte Dorothee, die statt des italienischen Ambientes ausgestopfte Gemsenköpfe und bayerische Bauernstuben erwartet hatte. »Dein Edward ist wirklich eine gute Partie. Allein dieses Haus ist es schon wert, ihm alle seine früheren Sünden zu verzeihen.«
»Hm«, antwortete Mandy und schloß sorgfältig die Tür hinter sich ab. Unerklärlicherweise hatte sie vergessen, wie schön es hier war. »Gehen wir gleich nach oben, da sind die Gästezimmer. Such dir das aus, was dir am besten gefällt. Und dann laß uns erst mal einheizen. Es ist ja eiskalt hier.«
Fünf Minuten später war klar, daß Dorothee ins Turmzimmer ziehen würde. Mandy konnte ihr die Wahl nicht verübeln, denn es war der romantischste Raum im ganzen Haus. Sie dachte daran, wie anheimelnd sie es jedes Mal empfunden hatte, wenn der Regen auf das Kupferdach geprasselt und ihr wohlige Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Sie selbst bezog das Rosenzimmer im ersten Stock. Mit seinem Himmelbett und dem üppigen Rosendekor – alles, von der Tapete bis zum Bettüberwurf, war mit hellroten Knospen übersät – war es das »englischste« aller Zimmer und ließ keinen Zweifel daran, wer die Besitzerin des Hauses war. Ideal für Liebesnächte, schoß es Mandy durch den Kopf, und sie dachte sehnsüchtig an Edward.
Nachdem sie in einen bequemen Hausanzug geschlüpft war, ging sie nach unten in den Salon und zündete ein Feuer im Kamin an. Sie hatte sich gerade einen Eggnog gebraut, als Dorothee ins Zimmer trat.
»Auch einen?« fragte Mandy und hielt ihrer Freundin das dampfende Getränk unter die Nase.
»Gern«, sagte Dorothee und kuschelte sich mit einer Wolldecke auf das ausladende Sofa. Minuten später war sie eingeschlafen, während Mandy in die lautlose Dunkelheit lauschte, die das Haus mit falscher Freundlichkeit umschloß.
Als die Polizei eintraf, lag Grassers Haus gänzlich im Dunkeln. Nach dem Anruf des Rechtsanwaltes von Habeisberg war sich Kommissar Jürgen Schwan vollkommen sicher, den Fall jetzt endlich abschließen und den Arzt doch als den Dornröschenmörder entlarven zu können. Er klingelte Sturm, doch nichts in der Wohnung rührte sich. Sekunden später gab er das Zeichen, die Wohnungstür aufzubrechen. Alles blieb still. Minuten vergingen, bis einer der Männer auf das jämmerliche Heulen aufmerksam wurde, das aus dem Keller drang. Als die Mannschaft den verborgenen Raum betrat, fiel ihr Blick als erstes auf den winselnden Pudel. Dann erst bemerkten sie den abstoßenden Geruch. Der Anblick, der sich ihren erfahrenen Augen bot, war so grauenvoll, daß Kommissar Schwan an all seine Männlichkeit und kriminalkommissarische Würde appellieren mußte, um sich nicht spontan zu übergeben. Ein ungewohntes Geräusch riß Mandy aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf und stellte erleichtert fest, daß es das muntere Gezwitscher eines Vogels war. Barfüßig tappte sie über den gescheuerten Holzboden und öffnete die Vorhänge.
Vor ihr lagen die Berge in ihrer majestätischen Pracht, und als hätte ein gütiges Schicksal entschieden, sie nach den Schrecknissen der letzten Tage zu belohnen, strahlte die Sonne auf die schneebedeckten Gipfel.
Aus dem Flur drang Kaffeegeruch in ihr Zimmer, und die Uhr auf dem Nachtisch zeigte auf halb elf. Sie hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen. Rasch schlüpfte sie in ihren Bademantel und schlurfte zufrieden nach unten in die wohlig warme Küche. Dorothee stand am Herd und bereitete das Frühstück zu. Als sie Mandy hörte, unterbrach sie ihr geschäftiges Tun.
»Guten Morgen, du Schlafmütze. Bist du doch von alleine aufgewacht, ich wollte dich schon wecken.«
»Nicht nötig«, entgegnete Mandy gut gelaunt. »Ich mach mich mal eben ein wenig frisch, und dann rufe ich Edward an, um ihm zu sagen, daß wir gut angekommen sind.« Am Abend zuvor hatte sie noch versucht, ihm Bescheid zu geben, aber niemand war ans Telefon gegangen. Sie hatte sich gewundert, war aber zu müde gewesen, um darüber nachzudenken.
Diesmal war er zu Hause, und der Klang seiner tiefen Stimme ließ ihr Herz einen erfreuten Hüpfer machen. Er wollte schon am nächsten Tag nachkommen, hatte aber vorher noch etwas Dringendes zu erledigen. Als Mandy näher darauf eingehen wollte, lenkte er rasch, aber zielstrebig ab, und es kam ihr fast so vor, als wolle er etwas vor ihr verbergen.
Als er auflegte, vernahm Edward ein leises Klicken in der Leitung. Gwendolyn hatte vom Apparat in ihrem Zimmer mitgehört, und ein kryptisches Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen. Endlich hatte sie erreicht, was sie wollte. Es wurde allerhöchste Zeit, die letzten Vorkehrungen zu treffen.
Während Sabine Bergerhoff am Krankenbett ihrer Tochter saß und ihr ein mallorquinisches Märchen vorlas, lag ihre beste Freundin auf dem Rücken und genoß Fredericks kitzelnde Zunge zwischen ihren Schenkeln. »Ja, ja, genau so«, seufzte sie und drückte seinen Kopf noch ein wenig fester an sich. Cordula Schiller hatte immer gewußt, daß Sabines Mann »gut im Bett« war – und vierteljährlicher Sex mit dem Ex war auf die Dauer wirklich nicht das Wahre.
Als Frederick sie vor ein paar Tagen gefragt hatte, was er tun könne, um sich weiterhin ihres Schweigens gegenüber seiner Frau zu versichern, hatte Cordula Schiller ihre Chance gesehen und war mit dem Vorschlag herausgerückt. Die Art, wie sie ihr Anliegen umschrieben hatte, hatte ihn an einen feisten, kahlköpfigen Geschäftsmann denken lassen, der einer langmähnigen Blondine einen unsittlichen Antrag machte und zwinkernd die Hunderter zwischen den Fingern rieb.
Frederick hatte gelassen reagiert und war auf ihre Anfrage eingegangen. Einmal pro Woche – warum nicht? Und so übel war das alte Mädchen schließlich auch nicht. Hatte er gedacht. Aber als er jetzt zwischen ihren Beinen sein Bestes gab, hoffte er inständig, sie würde ihren Höhepunkt erreichen, ohne daß er vorher für das lustlose Baumeln zwischen seinen Schenkeln eine Erklärung finden mußte. Er strengte sich noch ein bißchen mehr an und hörte sie freudig stöhnen. Gleich ist es geschafft, dachte er erleichtert, während ein Schwall ihres schweren Parfums in seine Nase drang: Opium, gegen das er von jeher eine Aversion verspürt hatte. Mona hatte immer nach Maiglöckchen gerochen, während Mandy den Duft nach frischen Melonen bevorzugt hatte. Die Erinnerung an sie ließ ihn für einen Moment die Frau vor ihm vergessen, worauf das Stimmungsbarometer unterhalb seines Nabels prompt reagierte.
Cordulas Protest mißachtend, robbte er nach oben, packte ihre Handgelenke und drückte ihren Körper tief in die Matratze. Sein Gesicht an ihrer Schulter vergraben, dachte er weiter an Mandy und wie sie ihre Beine um ihn geschlungen hatte. Er wußte inzwischen, daß sie ihn betrogen hatte – Edward von Habeisberg, sein Anwalt, hatte sich quasi bei ihm entschuldigt –, aber so einfach würde er sie nicht davonkommen lassen. Dieser Esel hatte ihm erst heute morgen am Telefon gesteckt, daß sie sich in seinem Haus in den Bergen aufhielt. Frederick hatte einige Male das Haus für seine Zwecke genutzt, und in Gedanken war er schon unterwegs.
Die Vorstellung, was er dort mit Mandy machen würde, steigerte seine Erregung ins Unermeßliche. Als es ihm mit einem dumpfen Aufschrei kam und er keuchend auf ihr lag, dachte Cordula befriedigt, daß sie es immer noch grandios beherrschte, einen Mann zum Wahnsinn zu treiben. Wozu brauchte man Kirschkuchen mit Sahne, wenn man das haben konnte?
Die kalte, klare Luft tat gut. Nach ihrem Aufenthalt in Grassers stickigem Keller konnte Mandy gar nicht genug davon bekommen. Sie und Dorothee hatten sich nach ihrem ausführlichen Frühstück in warme Sachen gehüllt und waren zu einem langen Spaziergang aufgebrochen. Dorothees Fürsorge, die prächtige Umgebung und nicht zuletzt der Gedanke, daß keiner wußte, wo sie sich aufhielt, bewirkten, daß die Anspannung schwand und sie das Gefühl von Weite und Freiheit mehr denn je genoß.
Nicht ahnend, wie nah der Tod noch immer lauerte, wirbelte Mandy mit der Spitze ihres Stiefels das goldgelbe Laub auf dem Weg in die Höhe und umarmte Dorothee stumm und überschwenglich. Es bedurfte in diesem Augenblick keiner Worte zwischen ihnen – Dorothee verstand auch so, was sie empfand, und drückte lächelnd ihre Hand. Fast drei Stunden stapften sie durch das hügelige Gelände, bis sie sich, auf angenehme Art durchgefroren, wieder im Haus einfanden.
»Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte, Dorothee?«
»Auf eine schöne, heiße Tasse Tee?«
»Genau. Wollen wir ihn in der Bibliothek trinken? Dort gibt es auch einen offenen Kamin.« Mandy begann, Tassen, Zuckerdose und Zitrone auf ein Tablett zu packen.
»Hier gibt es tatsächlich eine Bibliothek? Mein Gott, Mandy, deine Beziehung zu Edward ist ein wandelndes Klischee. Manchmal habe ich das Gefühl, ich wäre eine Randfigur in einem Roman von Hedwig Courths-Mahler.« Dorothee ließ Wasser in den Kessel laufen und sah Mandy kopfschüttelnd an.
»Meine Beziehung zu Edward ein wandelndes Klischee? Ehrlich gesagt, versteh ich nicht genau, was du damit sagen willst.« Mandy schien ein wenig ungehalten.
»Na ja, überleg doch mal. Sie – schön, intelligent, aber arm – trifft ihn, den attraktiven Grafen. Nicht nur, daß er ihrem Charme und ihrem Sex-Appeal verfällt, nein, er ist auch noch tatsächlich reich, besitzt eine Villa in der Stadt, führt eine eigene Anwaltskanzlei und winkt mit einem Traumhaus auf dem Land. Natürlich gibt es da auch noch die Gegenspieler, die unermüdlich versuchen, das Paar zu trennen, aber vergeblich, denn am Ende siegt immer die Liebe. Sie heiraten, bekommen viele Kinder und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage und werden nebeneinander in der Familiengruft bestattet. Wenn das nicht klingt wie das Drehbuch zu einer Vorabendserie!«
»Dorothee, du spinnst komplett.« Mandy mußte lachen. »Also willst du nun in der Bibliothek Tee trinken, oder möchtest du lieber bei den Dienstmädchen in der Küche verweilen?«
Dorothee machte einen artigen Knicks. »Nein, Madame, selbstverständlich folge ich Ihnen in die Bibliothek.«
»Na bitte, Eure Ladyschaft, das wäre dann ja wohl geklärt.« Mandy packte das Tablett und ging voran.
Obwohl Mandy die Frotzeleien ihrer Freundin manchmal auf die Nerven fielen, mußte sie ihr insgeheim recht geben. Ab und zu fühlte sie sich selbst ein wenig wie die Hauptfigur aus einer Operette. Als sie die Tür zur Bibliothek öffnete, hätte es sie nicht gewundert, wenn ihr Professor Higgins im rohseidenen Schlafrock, die Hände auf dem Rücken verschränkt, entgegengekommen wäre und ihr ein schlechtgelauntes »Wo zum Teufel sind meine Pantoffeln, Eliza« an den Kopf geworfen hätte.
Das Zimmer war so perfekt, daß es tatsächlich als Kulisse für einen großen Hollywoodfilm hätte dienen können. Unzählige Bücher standen in den deckenhohen Regalen aus poliertem Mahagoni, und indirektes Licht aus versteckt angebrachten Strahlern beleuchtete die leinen- und ledergebundenen Rücken. Alles war nach Themenbereichen sortiert: Klassiker neben Biographien, Zeitgenössisches neben antiquarischen Erstausgaben, und eine Wand war allein juristischer Fachliteratur gewidmet.
»Mann«, hauchte Dorothee ehrfürchtig und ließ sich auf das abgewetzte dunkelrote Ledersofa sinken. »Wessen Werk ist das denn? Das müssen ja einige tausend Bücher sein.«
»Edwards Vater hat die Sammlung schon von seinem Vater übernommen und sie natürlich noch erweitert. Ich bin auch jedesmal ganz beeindruckt. Vor allem weiß man gar nicht, wo man anfangen soll«, sagte Mandy und griff in eines der Regale. »Sieh mal hier, eine handsignierte Ausgabe von Hemingway.«
»Das glaub ich nicht, zeig mal her«, Dorothee riß ihr das Buch fast aus der Hand.
»Vorsicht, Mensch! Das ist doch unbezahlbar.« Beinahe sah es so aus, als wollte Mandy Dorothee einen Klaps auf die Finger geben, doch da hielt sie schon den nächsten Band in Händen. »Hier gleich daneben – das gibt es doch nicht – Somerset Maughams ›Of Human’s Bondage‹, ebenfalls mit Signatur und Widmung.«
»Und hier, ›Anna Karenina‹ von Tolstoi!« Dorothee konnte ihre Begeisterung kaum noch bremsen, als sie eine Originalausgabe des Buches in der Hand hielt.
Immer mehr ließen sich die beiden Frauen in den Bann der kostbaren alten Bücher ziehen. Mandy hatte sich gerade mit einer ledergebundenen Ausgabe von Eduard Keyserlings »Wellen« in eine Ecke verkrochen, als ein seltsamer Laut sie in die Wirklichkeit zurückholte. Ein wenig verärgert über die Störung hob sie den Kopf und blickte zu ihrer Freundin hinüber, die sich mit fassungslosem Gesicht über ihre Lektüre beugte.
»Du ahnst nicht, was ich hier gefunden habe.« Dorothees große braune Augen blickten, als hätte sie das Geheimnis von Loch Ness gelüftet.
»Jetzt mach es doch nicht so spannend. Was ist es denn?« Mandy war ungeduldig, sie wollte gerne weiterlesen.
»Komm her und sieh es dir selbst an. Du wirst deinen Augen nicht trauen.«
Etwas ungehalten stand Mandy auf und ging hinüber zu Dorothee, die ihr ein dickes, in königsblaues Leinen gebundenes Buch überreichte. Es mußte aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen, denn sowohl die Schrift als auch die Ornamente darauf waren eindeutig Jugendstil. Der Titel klang in Mandys Ohren allerdings banal: »Gesund durch die Kräfte der Natur.«
»Stimmt, das ist wirklich ein schön aufbereitetes Buch, aber ich sehe nicht, was daran so sensationell sein soll.« Sie wollte Dorothee das Exemplar zurückgeben, als diese sie am Handgelenk packte.
»Schlag es auf«, drängte sie. »Los.«
Mandy zögerte einen Augenblick und seufzte. Sie hob den Buchdeckel an und hielt verwundert inne.
Was sie in der Hand hielt, sah aus wie ein ganz normales Buch, war aber keines. Der prächtige Deckel und der Rücken bildeten einen Hohlraum, in dem ein Stapel alter, vergilbter Schulhefte lag. Sie waren alle an den Seiten mit einer Schleife verschlossen und fein säuberlich mit demselben Namen beschriftet: Gwendolyn Sarah Cunningham. Darunter jeweils die Angabe von Tag, Monat und Jahr.
Es waren die Tagebücher von Edwards Mutter. Mandy starrte sprachlos darauf. Warum hatte Gwendolyn die Aufzeichnungen so sorgfältig versteckt? Die Tagebücher begannen im letzten Kriegsjahr 1945 und endeten 2001. Die Aufzeichnungen waren allerdings nicht kontinuierlich, dazwischen gab es etliche Lücken.
Währenddessen widmete sich Dorothee wieder der Regalwand, aus der sie die Niederschriften gezogen hatte. Verblüfft wandte sie sich Mandy zu.
»Du hast mir nie davon erzählt, daß Edwards Mutter sich so ausführlich mit Naturheilkunde beschäftigt hat.«
»Ich hatte offen gestanden keine Ahnung davon. Wie kommst du darauf?«
»Na ja, sieh doch mal hier. Neben all den juristischen Fachbüchern gibt es jede Menge Literatur zu Themen wie Homöopathie, Ayurveda und chinesische Heilkunst.« Dorothee deutete auf mindestens drei Regalreihen.
»Und wie kommst du darauf, daß sie Gwendolyn gehören?« Mandys Berufseifer war erwacht.
»Ganz einfach, Miss Marple«, sagte Dorothee, die den professionellen Unterton in Mandys Stimme nicht überhört hatte. »In den Büchern steht ihr Name. Teilweise sogar noch ihr Mädchenname. Damit ist ja wohl klar, wem sie gehören.«
»Seltsam«, murmelte Mandy. »Sie hat nie etwas darüber verlauten lassen. Eigentlich hat sie ohnehin kaum von sich oder ihrem vergangenen Leben erzählt. Unsere Gespräche waren meist nur langweilige und höfliche Konversation. Du weißt schon, über das Wetter, bei wem sie diniert hatte, und wenn sie ganz gesprächig war, dann haben wir uns auch mal über Politik unterhalten. Aber offensichtlich hat sie noch wesentlich mehr zu sagen«, meinte Mandy und deutete auf die Tagebücher.
»Und was, das findest du am besten heraus, indem du die Aufzeichnungen liest.« Manchmal war Mandy von Dorothees kaltschnäuzigem Pragmatismus mehr als überrascht.
»Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein? Wenn Gwendolyn gewollt hätte, daß ich weiß, was in den Büchern steht, dann hätte sie sie mir zum Lesen gegeben.«
»Wenn Gwendolyn gewollt hätte, daß niemand sie findet, dann hätte sie sie eben besser verstecken müssen. Außerdem brennst du doch selber darauf, herauszufinden, was die Alte zu verbergen hat. Und wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann ist es Heuchelei.«
Mandy schmunzelte. Sie packte die Hefte zurück in die Buchhülle und schleppte sie, wie ein Fuchs seine Beute, in ihr Zimmer. Mit geradezu diebischer Freude dachte sie, daß sie sich an diesem Abend ein Drei-Sterne-Betthupferl zu Gemüte führen würde.
Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit verschwand Mandy überraschend schnell nach dem Abendessen. Sie kuschelte sich behaglich in die Kissen und begann die Lektüre der Tagebücher, die Gwendolyn in ihrer Muttersprache verfaßt hatte. Mandy, die ein Jahr als Au-Pair-Mädchen in Boston verbracht hatte, konnte den Text mühelos übersetzen. Auf der ersten Seite des Heftes von 1945 standen in steiler Kinderschrift ein paar Zeilen in Versform:
»We lay my love and I
beneath a weeping willow
but now alone I lie
and weep beside the tree.
Singing oh willow waly
by the tree that weeps with me
singing oh willow waly
till my lover returns to me.«
Bevor Mandy weiterlas, überlegte sie, was diese Strophen bedeuten könnten. Warum schrieb ein Mädchen von acht Jahren in so melodramatischer Manier von der verlorenen Liebe?
5. Mai 1945
Ich habe von einem Mädchen gelesen, das alles in ein Tagebuch schreibt. Ich finde, das ist eine gute Idee. Es ist immer jemand da, dem man alles sagen kann und der zuhört. Deswegen tue ich das jetzt auch.
Liza hat gesagt, der Krieg ist bald aus. Und dann wird sie nicht mehr weinen. Sie hat so viel geweint, weil ihr Bruder mit dem Flugzeug nach Deutschland geflogen war. Liza hat hier in London immer Angst, sie schießen ihn ab. Ich habe jeden Abend gebetet, damit das nicht passiert. Ich mag nicht, wenn Liza weint.
17. Mai 1945
Papa hat nie Zeit für mich. Heute bin ich zu ihm gegangen und habe mich einfach auf seinen Schoß gesetzt, aber da hat er mich genommen und mich wieder auf den Boden gestellt. Er hat gar nichts gesagt, nur so komisch geguckt. Fast habe ich geweint, aber ich habe die Tränen gerade noch hinunterschlucken können. Dann bin ich hinausgegangen. Liza sagt, er hat soviel zu tun, weil er bald bei einem wichtigen Polospiel mitmacht. Liza hat gesagt, sogar die Königin schaut zu. Aber ich darf nicht mit. Ich freu mich für Papa und hoffe, er kommt zu unserer Schulaufführung. Wir spielen Cinderella, und ich bin dabei eine Maus. Cinderella hat auch keine Mutter mehr, genau wie ich. Aber Cinderella hat eine böse Stiefmutter, die gemein zu ihr ist. Da habe ich es viel besser, ich habe Liza. Sie ist meine Nanny, und ich habe sie sehr lieb. Sie hat mir versprochen, sie erzählt mir mehr von meiner richtigen Mutter, wenn ich größer bin. fetzt kenne ich nur ein Bild von ihr. Ich finde, sie war sehr schön.
21. Mai 1945
Papa ist nicht zu unserer Schulaufführung gekommen. Von allen anderen waren die Eltern da, nur von mir und Jessica Milford nicht. Aber ihre Mutter ist krank und konnte deshalb nicht kommen. Ich weiß nicht, warum Papa nie wissen will, was ich so mache. Manchmal denke ich, er schämt sich dafür, daß ich ein Mädchen bin. Aber das ist doch nicht meine Schuld. Außerdem hat Liza gemeint, daß unser Reitlehrer gesagt hat, ich könnte genausogut mit Pferden umgehen wie ein Junge. Und das hat sie auch zu Papa gesagt. Ich will jetzt aber nicht traurig sein, denn draußen scheint die Sonne, und Mark Stamfordham und ich wollen am Bach im Park einen Staudamm bauen.
5. Juni 1945
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist etwas ganz Schreckliches passiert. Am liebsten würde ich von zu Hause weglaufen. Ich könnte mich in unserem Baumhaus verstecken, dann finden sie mich nicht, und er müßte alleine fahren. Ich will nicht nach Indien. Ich weiß ja nicht mal, wo das liegt. Und Liza darf nicht mit. Aber Papa muß dorthin für die Königin. Er ist jetzt Diplomat und hat gesagt, ich kann nicht in England bleiben. Die Stadt, wo wir hin sollen, hat einen komischen Namen: Tscheipur oder so ähnlich.
Ich weiß gar nicht, warum Papa mich mitnehmen will. Er kümmert sich doch sonst auch nicht um mich. Er hat dieses fahr sogar meinen Geburtstag vergessen. Ich habe kein Geschenk von ihm bekommen. Ich kann ihn nicht leiden. Ich wünschte, er wäre tot, dann könnte ich bei Liza bleiben, und sie würde immer für mich sorgen. Ich weiß, daß sie traurig ist, wenn ich fortgehe. Gestern haben wir darüber gesprochen, und sie hat geweint.
Aber heute hat sie gesagt, ich muß tapfer sein, und daß sie vielleicht nachkommt. Aber ich weiß, daß sie lügt. Erwachsene lügen immer, wenn sie nicht mehr wissen, was sie den Kindern sagen sollen.
3. August 1945
Seit einer Woche sind wir in Jaipur. Papa sehe ich hier noch weniger als in London. Aber ich bin darüber nicht mehr traurig. Wenn ich ihn sehe, redet er fast sowieso nichts mit mir. Also ist es auch egal, ob er da ist. Wir haben ein großes Haus und viele Diener, aber es gefällt mir überhaupt nicht. Ich kann die Leute nicht verstehen und sie mich auch nicht, und sie sind alle schwarz, und ich fürchte mich vor ihnen. Nur einer von ihnen, er heißt Sankara, kann ein bißchen Eng lisch, und er ist immer nett zu mir. Er ist auch nicht so schwarz wie die anderen, seine Haut sieht aus wie
dunkler Honig, und sein Haar ist ganz kurz und weiß, und er hat einen Bart.
Papa hat gesagt, daß Sankara eine Tochter hat, die bald zu uns kommt. Sita soll mein neues Kindermädchen sein. In Indien heißt das Ayah. Aber ich brauche überhaupt kein neues Kindermädchen. Ich habe doch Liza in England, und wenn Sita kommt, dann erlaubt Papa der Liza bestimmt nicht, zu uns zu kommen. Dabei habe ich solches Heimweh nach ihr, und ich weine jede Nacht. Manchmal kann ich überhaupt nicht schlafen, weil da so ein Schmerz ist, und dann wünsche ich mir, sie wäre da und nimmt mich in den Arm. Ich möchte mich so gern an sie kuscheln.
Es wäre so schön, wenn jemand da wäre, der mich lieb hat. Aber da ist niemand, nur ein großes schwarzes Loch in mir, und das tut sehr weh. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll, aber es ist jede Nacht da. Es geht wohl erst weg, wenn Liza kommt, aber ich glaube, ich seh sie nie wieder. Heute habe ich einen Brief von ihr bekommen, und sie hat mich getröstet und mir gesagt, daß sie mich lieb hat und immer an mich denkt, aber wie soll ich das glauben, wenn ich es nicht sehe.
Es war bereits tief in der Nacht, doch Mandy verspürte nicht die geringste Müdigkeit. Sie fraß sich geradezu durch die Tagebücher, und nachdem sie die ersten fünf Hefte gelesen hatte, empfand sie tiefes Mitgefühl für Edwards Mutter. Ihre Kindheit mußte trostlos gewesen sein. Ein einsames, kleines Mädchen, das sich nach nichts mehr gesehnt hatte als nach der Anerkennung und Zuneigung seines Vaters.
Doch offenbar war ihr die verwehrt geblieben. Den Grund dafür hatte Gwendolyn schon früh erraten: Sie war nicht der ersehnte Sohn, den sich ihr Vater Hamish Cunningham, Earl of Stanhope, von seiner Frau erhofft hatte.
Schon allein die Geschichte ihrer Ehe klang wie ein Groschenroman aus der damaligen Zeit. Wenn normal Sterbliche heirateten, spielten Liebe, Treue und Versorgtsein eine Rolle. Wenn Angehörige der britischen Aristokratie heirateten, so wurde Mandy durch die Tagebücher belehrt, war einiges mehr im Spiel.
Denn der Graf liebte nicht Alice, sondern seine langjährige Mätresse. Die Heirat hatte er als irdische Fusion und nicht als himmlischen Bund betrachtet. Er hielt um ihre Hand an, doch was er wollte, war ihr Land. Und einen Stammhalter, am besten noch einen in Reserve dazu.
Drei Jahre dauerte es, bis Alice endlich schwanger wurde, und die Enttäuschung des Grafen, als ihm nur eine Tochter geboren wurde, war unermeßlich. Er hatte so fest mit einem Sohn gerechnet, daß er nicht einmal einen Mädchennamen in petto hatte. In aller Eile einigte man sich schließlich auf den Namen Gwendolyn Sarah.
Doch das Schicksal hatte für den selbstgefälligen Mann einen weiteren Denkzettel parat: Alice starb wenige Wochen nach der Geburt, und damit wurde auch die Hoffnung auf einen Sohn begraben. Es sollte dabei bleiben, denn wie Mandy aus den Tagebüchern erfuhr, hatte Gwendolyns Vater nie mehr geheiratet und seine Tochter ein Leben lang mit seiner Mißachtung gestraft.
Mandy, die in einer lebhaften und warmherzigen
Familie aufgewachsen war, fiel es nicht ganz leicht, sich in die karge Gefühlswelt der jungen Gwendolyn zu versetzen. Es klang alles so bitter und freudlos, doch die traurige Wahrheit in ihren kindlichen Worten führten dazu, daß Mandys Gedanken sich noch im Schlaf mit dem Schicksal von Edwards Mutter befaßten.
Als sie am nächsten Morgen mit Dorothee beim Frühstück saß, gab es kein anderes Thema. Selbst Dorothee, die die Dinge immer mit einer gewissen Skepsis und Distanz betrachtete, empfand nach den Schilderungen ihrer Freundin so etwas wie Mitleid für Gwendolyn. Was Mandy ziemlich überraschte, denn eigentlich hätte sie am ehesten mit einer spöttischen Bemerkung gerechnet.
»Du hattest übrigens recht«, meinte Mandy, »Gwendolyn hat sich tatsächlich mit Naturheilverfahren und dergleichen beschäftigt. Nachdem ihr Vater Liza nicht nach Indien hat nachkommen lassen, hat sie sich im Laufe der Zeit sehr eng an ihr neues Kindermädchen angeschlossen. Die Angehörigen von Sita waren Anhänger eines Swamis mit dem Namen Nayinar und meditierten einmal in der Woche in seinem Aschram. Dieser Swami beschäftigte sich unter anderem mit Heilung durch Meditation, Pflanzen und Akupunktur und vermittelte seine Lehren an seine Schüler, und Sita gab sie weiter an Gwendolyn. Wenn ich ihre Tagebücher richtig interpretiere«, fuhr Mandy fort, »dann war sie von dem Thema richtig besessen.«
Den Nachmittag verbrachte Mandy auf der Couch im Wohnzimmer, vertieft in Gwendolyns Geschichte.
12. Dezember 1958
London! Seit zwei Wochen wohne ich bei Tante Laura, aber an die Kälte gewöhne ich mich nicht. Wenn man es wie ich gewohnt ist, immer einen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, dann ist Schnee schon etwas Seltsames. Trotzdem genieße ich es, wieder hier zu sein. Und all die Geschäfte und was man darin alles kaufen kann – und zwar sofort, ohne daß man es erst bestellen und darauf warten muß.
Obwohl ich mich an Indien gewöhnt hatte, möchte ich nicht mehr dorthin zurück. In meinem Herzen und meinem Wesen bin ich Europäerin geblieben. Und morgen werde ich Kleider einkaufen gehen. Tante Laura kennt die besten Geschäfte. Sie ist ja so elegant.
27. März 1959
Ja, ich weiß, ich habe lange nichts mehr von mir hören lassen. Aber ich war so beschäftigt, daß ich gar keine Zeit und keine Gedanken für mein Tagebuch hatte. Inzwischen habe ich so viel erlebt, daß ich es einfach aufschreiben muß. Nicht nur, daß ich viele Bälle besucht habe (Tante Laura hat sogar zwei mir zu Ehren gegeben), ich war auch viel verreist.
Nach Weihnachten – es war übrigens ein wunderschönes Fest, das schönste Weihnachten in meinem Leben überhaupt – fuhr ich nach Magnolias Garden auf Madeira. Das Haus gehört einem Cousin meiner Mutter und liegt außerhalb der Hauptstadt Funchal. Ich wurde sehr liebevoll empfangen und fühlte mich auch gleich heimisch. Mein Gott, wie ist es schön dort! Diese Blumenpracht und diese Farben sind wahrscheinlich einzigartig auf der Welt, jedenfalls habe ich noch nichts Vergleichbares gesehen.
Es war noch nicht so warm, daß wir schwimmen konnten, dafür segelten wir fast jeden Tag auf dem Meer und angelten. Abends gaben wir die Fische der Köchin. Ich habe mir bislang gar nicht vorstellen können, wieviel Spaß so etwas machen kann. Außerdem hatte ich auch zwei Verehrer, Philippe Calmon aus Toulon und Charles Warwick aus London. Sie waren beide sehr aufmerksam, und eigentlich hätte ich nur mit dem Finger schnippen müssen, doch wenn ich ehrlich bin, waren sie mir zu jung. Grüne Jungs! Ich glaube, ich interessiere mich eher für reifere Männer.
Und so ging es über viele Seiten hinweg. Die nächsten vier Jahre verbrachte Gwendolyn damit, durch die Welt zu reisen und Sprachen zu studieren. Wie Mandy zwischen den Zeilen lesen konnte, mußte sie sich zu einer jungen Frau entwickelt haben, die sich ihrer Anziehungskraft durchaus bewußt war.
Dennoch entströmte ihren Worten eine gewisse kühle Aura, die den Leser ahnen ließ, daß sie in jeglicher Hinsicht unberührt geblieben war. Wie schöner, aber kalter Marmor, dachte Mandy. Dann, im Frühjahr 1963, schien sich das Blatt zu wenden. Gwendolyn verbrachte mehrere Monate in New York.
15. April 1963
Vor ein paar Tagen bin ich hier in New York angekommen, und es ist das Aufregendste, was ich je erlebt habe. Kathy Sparks hat mich eingeladen, sie hier zu besuchen. Sie lebt mit ihren Eltern in einem dieser wunderschönen Art-Deco-Häuser an der Upper Eastside direkt am Central Park, und ich habe das Gefühl, ich müßte Edith Wharton begegnen, sobald ich die Straße überquere.
Ich bin wirklich froh, daß ich die Erbschaft von meiner Mutter habe, die mir all diese schönen Dinge erlaubt, denn von Vater wäre das nicht zu erwarten. Ich habe vorgestern mit ihm telefoniert, aber er war so schweigsam wie immer, gerade daß er seinen Pflichtteil am Gespräch erfüllt hat. Warum gebe ich es nicht auf? Vielleicht habe ich immer noch die Hoffnung, er ändert sich eines Tages. Ich bin doch ganz gut geraten – warum hat er mich denn nicht gern? Warum ist er nie stolz auf mich? Wenn ich wüßte, was zu tun wäre, um seine Anerkennung und seine Zuneigung zu bekommen, dann würde ich es tun. Aber ich habe alles probiert, und mir fällt einfach nichts mehr ein.
Manchmal denke ich, er gibt mir die Schuld am Tod meiner Mutter, aber warum sollte ihn das traurig stimmen? Er hat sie doch ebensowenig geliebt wie mich. Tante Laura hat mir genau erzählt, wie das damals alles war …
Jetzt bin ich richtig abgeschweift. Das tue ich immer, sobald ich nur an diesen hageren, kalten Mann da in seinem Londoner Haus denke, dabei wollte ich doch von New York erzählen.
23. April 1963
In einer Seitenstraße der Fifth Avenue habe ich eine kleine feine Boutique entdeckt. Endlich habe ich das Kleid für den Ball bei den Copelands gefunden: Ein Traum in dunkelroter Seide und schwarzer Spitze. Oleg Cassini hat es entworfen, der Couturier von Grace Kelly, oder vielmehr sollte ich sagen, der Fürstin von Monaco. Danach ging ich zum Friseur und ließ mir die Haare im Jackie-Kennedy-Look schneiden. Jetzt bin ich die perfekte Mischung aus Fürstin und Präsidentengattin.
25. April 1963
Eigentlich hatte ich mir geschworen, mich nie zu verlieben. Wohin das führt, habe ich ja durch die Ehe meiner Eltern gesehen. Wer liebt, ist immer der Schwächere – und meine Mutter war anscheinend so schwach, daß sie den Tod dem heben vorgezogen hat. Aber trotzdem: Ich will mein Leben leben, und Liebe läßt sich eben nicht verhindern. Selbst wenn ich es wollte, ich glaube, ich kann es nicht.
Ich war in einem dieser schönen alten Buchläden in Greenwich Village, um mir endlich »The Grass Harp« von Truman Capote zu kaufen. Ein Freund von Kathy schwärmte mir neulich den ganzen Abend davon vor. Ich stand also zwischen den Regalen und schmökerte in verschiedenen Büchern, als ich ihn plötzlich sah. Er las in einem Buch über Chagall und war ganz vertieft. Mich schien er ohnehin nicht zu bemerken. Doch dann blickte er hoch und sah mich an.
Ich werde diesen Blick nie vergessen, auch wenn ich diesen Mann nie mehr sehen werde. Was wahrscheinlich ist. Aber diese Augen hatten für mich etwas Einzigartiges. So sehnsuchtsvoll und melancholisch – ich hatte den Eindruck, als könnte dieser Mann in den tiefsten Abgrund meiner Seele blicken. Ich fühlte mich beinahe nackt. Mein Herz klopfte wie wild, ich hatte so etwas noch nie erlebt. Wenn er mich angesprochen hätte, wäre mir vor Aufregung wahrscheinlich die Luft weggeblieben.
Ach, hätte er es nur getan, dann wüßte ich wenigstens, wer er ist. Die ganze Zeit überlege ich, wie ich ihn wiedertreffen könnte. Aber die Stadt ist zu groß, um auf den Zufall zu hoffen …
26. April 1963
Ich kann nicht schlafen, denn ich habe ihn wiedergesehen. Sein Name ist Frank von Arnstein. Er ist Rechtsanwalt und stammt aus einer angesehenen Familie. Ich traf ihn heute abend auf dem Ball bei den Copelands. Zuerst habe ich ihn gar nicht bemerkt, aber dann, während ich mit Jimmy Dicks tanzte, da ging er mit einer brünetten Frau im Arm an uns vorüber.
Ich habe ihn sofort erkannt. Mit seiner Größe überragte er alle anderen, und mit den dunklen Haaren und den graumelierten Schläfen sieht er einfach unverschämt gut aus. Außerdem – ich weiß nicht, ob es so war oder ob ich es mir nur einbildete – erkannte er mich auch, obwohl er sich nichts anmerken ließ, als wir einander vorgestellt wurden.
Trotz meiner Aufregung hatte ich das Gefühl, als würde ich ihn schon lange kennen. Anstatt des üblichen Small Talks war ich mit ihm sofort in ein echtes Gespräch vertieft. Wir unterhielten uns über Literatur und Kunst und stellten bald fest, daß wir dieselben Maler und Autoren bevorzugen. Sicherlich wäre es eines der interessantesten Gespräche gewesen, das ich in New York bisher geführt habe, wäre da nicht immer sein besonderes Lächeln gewesen. Im Gegensatz zu anderen Menschen lächelt er nicht mit dem gesamten Mund, sondern zieht nur den rechten Mundwinkel schräg nach oben. Verbunden mit diesem intensiven, unergründlichen Blick hat es etwas Verwegenes, was mich über alle Maßen irritiert. Noch mehr irritiert hat mich allerdings, daß er mich um ein Wiedersehen gebeten hat. Ich habe natürlich zugesagt, konnte es kaum erwarten, daß er mich fragt. Wir werden uns »La Damnation de Faust« in der Met ansehen. Aber das ist mir eigentlich völlig egal. Wichtig ist nur, daß ich ihn wiedersehe.
27. April 1963
Heute morgen um zehn Uhr klingelte es. Es war ein Bote, der mir ein Geschenk von ihm brachte. Rosen. Dunkelrote Rosen. Aber nicht wie üblich als Strauß gebunden, sondern als Kranz. Dazu schrieb er: »Für Titania, deren Zauber noch immer wirkt.«
Ich habe das Gefühl, als würde sich der schwarze Abgrund in mir endlich schließen, als warte etwas Wundervolles auf mich …
2. Mai 1963
Es war der schönste Abend meines Lebens. Wir waren in der Oper! Die Musik war wie meine Empfindungen: aufwühlend, ergreifend, ungebändigt, anrührend. Er saß neben mir, und seine bloße Anwesenheit machte mich atemlos und verwirrte mich. Ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt. Meine Hand zitterte, als ich nach dem Opernglas griff, ich konnte es gar nicht unterdrücken. Ich hoffe nur, er hat es nicht bemerkt.
Dann, nach der Vorstellung, lud er mich noch zu einem Glas Champagner ein, in eine kleine Bar gleich bei der Oper. Eine Idee, für die ich dankbar war, denn gleich nach den ersten Schlückchen wurde ich ein wenig ruhiger, und es gelang mir, wie eine halbwegs Erwachsene Konversation zu machen.
Als seine Hand wie zufällig über meine strich, spürte ich diese Berührung, als würde mein ganzer Körper davon ergriffen. Und als er mir dann in die Augen sah, mit diesem besonderen Blick, da wollte ich ihm nur noch nahe sein. Ich meine, wirklich nahe sein. Und ich glaube, er hat es gewußt. Als er fragte, ob wir gehen wollen, fragte ich gar nicht, wohin, sondern sagte einfach ja. Er rief ein Taxi, und wir fuhren zu ihm.
Als ich am Morgen neben ihm erwachte, wußte ich, daß ich ihn liebe und daß sich daran niemals etwas ändern wird.
Mandy klappte das Heft zu und legte es zur Seite. Es schien ihr kaum vorstellbar, daß diese Frau, die zu solchen Empfindungen fähig gewesen war, dieselbe sein sollte, die heute so stumm und abweisend in ihrer Villa residierte. Was war passiert, daß aus diesem lebendigen, jungen Wesen eine so freudlose Person geworden war?
Wie besessen las Mandy weiter. Es folgte Seite um Seite, auf denen Gwendolyn von ihrer Liebe zu diesem Frank von Arnstein erzählte. Doch dann, drei Monate später, passierte etwas, was den dünnen Schleier aus Illusion und Wunsch vehement zerreißen ließ. Gwendolyns Schrift, die bislang leicht und elegant über die Seiten des Tagebuchs geflossen war, änderte sich auffällig: Sie war stellenweise unleserlich und so eckig, als wäre sie aus völlig verkrampfter Hand aufs Papier gekommen.
5. August 1963
Seit gestern weiß ich es definitiv: Ich bin schwanger. Ich habe es Frank noch nicht gesagt, und ich werde es ihm auch nicht sagen. Er wird heiraten. Aber nicht mich. Ich habe es gestern abend Susan McKenna sagen hören, und sie wußte es von Elaine Parkinson, und die ist eine Cousine von Isabelle Davenport, Franks zukünftiger Frau. Er selbst bat es mir bislang verschwiegen. Ja, er tut sogar so, als wäre alles wie früher.
Doch ich weiß genau, woran ich bin: Er hat mich die ganze Zeit belogen, es war ihm niemals wirklich ernst mit mir. Ich war nichts weiter für ihn als ein amüsanter kleiner Zeitvertreib. Wahrscheinlich hat er sich über mich und meine Anhänglichkeit insgeheim lustig gemacht. Aber geliebt hat er mich nicht, auch wenn er es immer wieder beteuert hat.
Denn würde er dann eine andere heiraten? Noch dazu Isabelle Davenport, diese affektierte, dümmliche Gans, die nichts zu bieten hat außer Geld. Doch was habe ich zu bieten? Vielleicht einen guten Namen, aber eben kein Vermögen in der Hinterhand. Und das braucht er wohl dringender als eine Frau, die er lieben kann.
Offensichtlich bin ich niemandem gut genug. Mein Vater hat es mich ja schon immer spüren lassen, und anstatt daran zu denken, war ich tatsächlich so vermessen, zu glauben, das könnte jetzt anders werden. Wie lächerlich. Ich bin nichts weiter als ein Mädchen, das sich viel zu schnell und bedingungslos hingegeben hat. Wie sollte da ein Mann auch Respekt haben können? Also brauche ich gar nicht zu jammern, denn ich habe es nicht anders verdient.
In drei Tagen werde ich abreisen, zu meinen Verwandten in Deutschland. Und dann werde ich weitersehen. Auf keinen Fall werde ich Frank von dem Kind erzählen. Nichts wäre schlimmer, als wenn er sich aus Mitleid für mich entscheiden würde. Ich habe in diesem Spiel zwar verloren, aber meinen Stolz habe ich behalten.
In Deutschland war Gwendolyn dann Gregor Graf Habeisberg begegnet, und der hatte sie nur wenige Monate später geheiratet. Obwohl aus den Einträgen hervorging, daß Gwendolyn wohl Sympathie für ihn empfunden haben mußte – Liebe war es von ihrer Seite her nicht. Das Auffälligste an den Eintragungen dieser Zeit war das starke Besitzdenken, was ihren Sohn anging. Es schien, als müßte Edward ihr all das in ihrem Leben sein, was ihr woanders versagt geblieben war.
6. Februar 1966
Es stört mich, daß Gregor so tut, als wäre Edward auch sein Sohn. Natürlich soll der Kleine nichts anderes glauben, aber Gregor kennt die Wahrheit, und es wird endlich Zeit für ihn zu akzeptieren, daß Edward nur mein Sohn ist. Ich bestimme, wie er erzogen werden soll …
14. September 1966
Oh, mein Gott, was habe ich nur aus mir und meinem Leben gemacht. An allem bin ich selber schuld. Ich bin einfach nichts wert, ich kann nichts und war auch nie gewollt. Manchmal habe ich nur den Wunsch, mich selbst zu verletzen. Ich habe dann die Vorstellung von einem Messer, das durch meine Venen fährt. Es hat
etwas so Befreiendes. Alles, was mich noch in diesem Leben hält, ist der Gedanke an meinen Sohn. Ich kann ihn doch nicht so im Stich lassen, wie es meine Mutter mit mir getan hat.
24. November 1967
Endlich habe ich die Faltermeier gefeuert. Sie hat als Haushälterin einfach nichts getaugt. Überall war Dreck, Dreck, Dreck. Ich kann es nicht ertragen. Schmutz symbolisiert menschliches Versagen. Am liebsten würde ich erst einmal selbst tagelang alles schrubben, ich habe das Gefühl, als würde dann auch der Dreck von meiner Seele verschwinden. Am schlimmsten ist aber der Gedanke, mein Kind könnte mit Schmutz in Berührung kommen. Dabei ist Edward so klein und so unschuldig. Ich wünsche mir, es könnte immer so bleiben. Deswegen muß ich dafür sorgen, daß er nicht auf Menschen trifft, die ihn verderben könnten. Ist das nicht die erste Aufgabe einer jeden Mutter?
31. März 1978
Ich habe doch gewußt, daß es falsch war, Edward zu erlauben, mit seiner Klasse in den Skiurlaub zu fahren. Als er zurückkam, fand ich in seiner Tasche einen Brief von einer Bettina Hösl. Erst dreizehn und schon so ein Früchtchen. Jeder weiß doch, daß Mädchen in dem Alter viel weiter entwickelt sind als Jungen, und die Absichten dieser Bettina sind eindeutig. Von wegen Händchen halten – die Mädchen von heute geben sich damit nicht mehr zufrieden. Und ein unwissender Junge wie mein Edward fällt doch leicht auf dieses süße Getue herein.
Ich habe den Brief genommen und ihn zerrissen. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und vielleicht vergißt er den Brief schnell, wenn er nicht mehr greifbar für ihn ist. Gott, es ist so schwer, einen Halbwüchsigen vor all diesen Dingen zu bewahren.
24. Mai 1978
Kathy Sparks hat mir geschrieben und die Kopie eines Zeitungsartikels aus der »Newsweek« beigelegt. Er zeigt Frank im Kreise seiner Familie zum fünfjährigen Jubiläum seiner Zeitschrift. Ich wünschte, Kathy hätte es nicht getan. Ich will ihn nie wieder sehen und nie wieder etwas von ihm hören. Der Schmerz wird nie vorübergehen, und ich erlebe ihn ohnehin jeden Tag, wenn ich Edward ansehe. Er wird seinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher. Manchmal ist es grauenvoll, und ich habe das Gefühl, innerlich zu verätzen.
23. November 1990
Die Wunden an meinem Kopf hören nicht auf zu eitern. Aber war es nicht meine eigene Schuld, den Kranz aus Rosen noch einmal auf meinem Kopf zu spüren? Es ist, als schwärte der Eiter aus meiner Seele an die Oberfläche und suchte so nach einem Weg, diesen Sumpf und diese Qual zu verlassen. Schon mein ganzes Leben empfinde ich dieses Leid. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem es endlich vorbei sein wird, aber ich fühle, ich muß die Dinge selbst in die Hand nehmen, wenn ich sie ändern will, besonders jetzt, wo Edward ausgezogen ist und mit einer Frau zusammenlebt. Es ist unvorstellbar für mich. Mein kleiner Junge in den Fängen einer Sirene …
18. Mai 2001
Er ist tot. Frank ist tot. Verunglückt an der Seite einer jungen Frau. Charlotte Stokes. Und für die hat er sich scheiden lassen. In seinem Alter. Erst Isabelle, dann die kleine Charlotte, und was ist mir geblieben? Nichts. Höchstens eine kleine, schmerzliche Erinnerung. Nicht mehr. Ein zweites Mal wird mir das nicht passieren. Frank lebt ja weiter. In Edward. Und er wird mir nicht genommen werden. Bei Gott!
Das Licht in Mandys Zimmer war verloschen. Sie hatte bis spät in die Nacht gelesen, doch dann waren ihr die Augen zugefallen. Obwohl die Müdigkeit durch ihren Körper gekrochen war wie ein pelziges Tier, war ihr Schlaf unruhig, die Augäpfel hinter ihren Lidern zuckten im Traum, in dem sich die Ereignisse der Vergangenheit mit denen der Gegenwart mischten.
Im Erdgeschoß fiel eine Tür mit einem vorsichtigen Schnappen ins Schloß, und ein Schatten bewegte sich lautlos über die Treppe. In der reglosen Stille war der leise keuchende Atem kaum zu hören. Stufe um Stufe wurde die Treppe zum Zimmer der rothaarigen Frau erklommen. Durch die Scheiben der Sprossenfenster fiel ein Streifen fahlen Mondlichts.
Ein leises Geräusch ließ die Person aufhorchen, und angestrengt lauschte sie nach der Ursache: Wasser rauschte, und die Tür des Badezimmers klappte. Im selben Moment ging das Licht im Treppenhaus an. Die Schritte verstummten, und hastig suchte die Person Schutz in der Dunkelheit einer Flurnische.
Das ausgiebige Schaumbad hatte Dorothee müde gemacht, barfuß und im Bademantel huschte sie über die Holzplanken zu ihrem Zimmer. Sie sehnte sich nach der wohligen Wärme ihrer Daunendecke, doch bevor sie ihr Zimmer erreichte, raubte ihr die Wucht eines Schlages auf ihren Schädel den Atem. Mit einem Ächzen sackte sie zu Boden und blieb reglos liegen. Schwer und klebrig sickerte das Blut aus einer Wunde an ihrem Hinterkopf und hinterließ ein dunkelrotes Rinnsal auf dem weißen Frottee.
Daß außer Mandy noch jemand im Haus war, hatte die Person nicht einkalkuliert. Mühsam schleifte sie die junge Frau über die Holzdielen zu einem der Wandschränke. Ich darf nicht vergessen, das Blut wegzuwischen. Schwer atmend öffnete sie eine der Holztüren und stieß den leblosen Körper mitleidslos hinein. Mit dem Zuklappen der Schranktür schien das letzte Hindernis überwunden, der Weg zum Ziel war frei. Niemand würde sie jetzt mehr aufhalten können. Nur noch dieses eine Mal, dachte die Person, während sie die letzten Blutspuren beseitigte, und nichts wird sich mehr zwischen uns stellen.
Es war nur ein leises Summen, doch die Melodie des alten Kinderliedes drang tief in Mandys Unterbewußtsein. Sie erwachte und blickte im diffusen Mondlicht in die schwarzglänzende Mündung einer Pistole. Nein! Bitte nicht! Wie hatte Grasser sie hier gefunden? Während die Gedanken blitzschnell durch ihren Kopf rasten, wurde das Bild vor ihren schlaftrunkenen Augen immer klarer, und plötzlich erkannte sie, wer da vor ihr stand. Sie wollte nicht glauben, was sie sah.
Edward meinte inzwischen die Wahrheit zu kennen und hatte alle Vorkehrungen getroffen. So sehr es ihn auch erschütterte, er hatte keine andere Wahl. Er mußte es tun, auch wenn er damit eine der bittersten Entscheidungen seines Lebens traf.
Die Hände auf dem Lenkrad zitterten, als er durch die Dunkelheit fuhr. Es waren nur noch ein paar Kilometer, die vor ihm lagen, doch das Verlangen, bei Mandy zu sein, ließ die kurze Strecke wie einen endlosen Weg erscheinen. Angespannt trat er aufs Gaspedal, als wüßte er, daß ihm nicht mehr viel Zeit bliebe.
Die Dornen des Rosenkranzes bohrten sich tief in ihre Kopfhaut, und Mandy spürte, wie ihr das Blut über die Schläfen rann. Sie kniete mit nackten Beinen auf dem Boden und starrte noch immer in die Mündung der Pistole. Wieso überraschte die Wahrheit sie so? Sie hätte es doch längst ahnen müssen, wer all die anderen Frauen umgebracht hatte und daß diese Person gerade sie niemals entkommen lassen würde.
»Es tut mir leid, Malina, aber es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich kann für dich keine Ausnahme machen.« Wie von ferne drang die Stimme, die sie schon so oft gehört hatte, zu ihr vor, und sie spürte, wie die Angst sie würgte.
Während ihre Kniescheiben zu schmerzen anfingen, fragte sie sich, warum sie die Antwort nicht schon beim Lesen der Tagebücher entdeckt hatte. Wo sie doch die ganze Zeit so offensichtlich gewesen war wie die Mündung der Pistole vor ihr. Es war immer um Edward gegangen. Edward, der nach all den Enttäuschungen zu Gwendolyns einzigem Lebensinhalt geworden war, Edward, dessen Verlust an eine junge Frau für sie unerträglich gewesen wäre. Allein deshalb, weil sich die Geschichte damit wiederholt hätte.
Mandy glaubte sich zu erinnern, daß die Morde begonnen hatten, kurz nachdem Frank von Arnstein tödlich verunglückt war. Damit war er für Gwendolyn für immer unerreichbar geworden und hatte somit in Gwendolyns Augen zum zweitenmal Verrat begangen. Und war Verrat nicht deshalb von solch immenser Bedeutung in Gwendolyns Leben, weil sie von allen, die sie geliebt hatte, verraten worden war? Die Mutter, die sich in den Tod geflüchtet hatte, um dem Vater zu entkommen. Der Vater, der Gwendolyn zeitlebens mißachtet hatte, und schließlich jener Frank von Arnstein, für den sie ihre Angst überwunden und den sie schließlich bedingungslos geliebt hatte.
Im Grunde, schoß es Mandy durch den Kopf, hatte Gwendolyn es lange Zeit sehr gut verstanden, die Zerstörtheit ihrer Psyche zu verbergen, obwohl ein aufmerksamer Beobachter durchaus gewisse Anzeichen hätte wahrnehmen können. Mandy erinnerte sich lebhaft an Gwendolyns pathologischen Drang zur Reinlichkeit. So als hätte sie versucht, durch die absolute Ordnung und Sauberkeit in ihrer Umgebung das Chaos und den Schmutz in ihrem Inneren zu beseitigen.
Wie die Fetzen eines zerrissenen Stoffes flogen die Gedanken durch Mandys Kopf, während sie noch immer auf die Pistole starrte und krampfhaft überlegte, wie sie ihren Tod hinauszögern könnte. Langsam hob sie den Kopf und sah Gwendolyn geradewegs in die Augen.
»Warum willst du auf einmal eine Pistole benutzen? Du würdest damit Spuren hinterlassen, das hast du bisher doch vermieden?« Dorothee, Dorothee! Hilf mir, hilf mir doch! Hätte Mandy gewußt, daß ihre Freundin bewußtlos in einem Wandschrank lag, hätte sie jegliche Hoffnung verloren.
»Ich habe nicht vor, dich zu erschießen. Du wirst genau wie deine Vorgängerinnen sterben – schnell, schmerzlos und ohne sichtbare Verletzungen. Aber du wirst sicher verstehen, daß ich die Pistole zur Kontrolle brauche – oder wie sonst sollte ich dich zum Stillhalten bewegen, während ich mein Werk vollende?«
»Und warum der Rosenkranz auf meinem Kopf?« Mandy schrie fast. Sie hatte die Hoffnung, daß Dorothee sie hören konnte, immer noch nicht ganz aufgegeben. Aber nichts im Haus regte sich.
»Reg dich doch nicht so auf, meine Liebe«, Gwendolyn klang merkwürdig sanft, so als ob sie die Situation überhaupt nicht wahrnehmen würde. »Die Rosen sind ein Symbol.«
»Ein Symbol? Für was?«
»Für das Verderben. Für das Verderben, das die Liebe in mein Leben gebracht hat. Genau wie du, wie Mona Krug, wie Elisabeth Heller und wie all die anderen.«
Die Pistole an Mandys Schläfe gedrückt, begann Gwendolyn ihr das schweißnasse Haar aus dem Nacken zu streichen. Strähne für Strähne wickelte sie um die Dornenkrone, während sie immer wieder dieselbe Melodie summte: »We lay my love and I beneath a weeping willow, but now alone I lie and weep beside the tree …«
In ihrem weißen Nachthemd am Boden kniend, erinnerte Mandy an eine Verurteilte, deren Leben durch die Guillotine ausgelöscht werden sollte. Aus einem braunen Wildledertäschchen zog Gwendolyn die Nadel und löste sie aus ihrer Papierhülle. Anschließend hielt sie Mandy ein Glas mit dem aufgelösten Beruhigungsmittel an den Mund.
»Trink das, es wirkt schnell und nimmt dir die Angst.« Wenig später bemerkte Mandy, wie ein Gefühl der Gleichgültigkeit allmählich ihre Sinne benebelte und sie willenlos in sich zusammensacken ließ. Die Hand, die langsam über ihren Nacken fuhr, um die richtige Stelle zu finden, nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie spürte auch nicht, wie Gwendolyn die Haut zwischen Zeige- und Mittelfinger zusammenkniff und die Nadel geschickt durch die oberste Schicht schob, bis der Tod nur noch wenige Atemzüge entfernt war.
Es sollte lange dauern, bis Edward die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, verarbeitet hatte. Jahre später, als er meinte, sie überwunden zu haben, holte ihn das Entsetzen, das er in jener Nacht verspürt hatte, plötzlich wieder in seinen Träumen ein. Nie würde er das Grauen vergessen, das er empfand, nachdem er die Tür zu Mandys Zimmer geöffnet hatte. Es war wie ein Déjà-vu-Erlebnis, als er sah, wie seine Mutter sich über Mandys Körper beugte und mit der tödlichen Nadel in den Nacken stach. Das Bild aus dem Traum, in dem Gwendolyn Mandys Herz durchbohrt hatte, stand unvermittelt vor ihm, und er spürte, wie sich sein Mund öffnete, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus.
Erst in dem Moment, als Gwendolyn ihn bemerkte, kehrte das Leben in ihn zurück, und ihr Blick ließ sein Herz für den Bruchteil einer Sekunde stocken. Obwohl er über ihren Geisteszustand Bescheid wußte, war es unerträglich, wie der Wahnsinn in ihren Augen glomm. Sie waren weit aufgerissen, und ein unnatürlich triumphierendes Leuchten flackerte darin, als wüßte sie nicht, daß der Sieg, den sie erringen wollte, letztendlich sie selbst vernichten würde.
Ohne sich bewußt zu sein, was er tat, machte Edward einen Schritt auf sie zu. Mit einer einzigen Bewegung stieß er Gwendolyn jäh zur Seite, zog die Nadel aus der Haut und riß Mandy in seine Arme. Ein rauhes Schluchzen kam über seine Lippen, und gleichzeitig gab Gwendolyn einen Schrei von sich, der den tobenden Schmerz in ihr verriet. Der Ton sollte ewig in Edwards Ohren gellen.
Wie lange es gedauert hatte, bis Mandy wieder bei vollem Bewußtsein war, konnte er später nicht mehr sagen, nur wie ungeheuer seine Erleichterung darüber gewesen war, daß sie noch lebte. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß sie keine ernsthafte Verletzung erlitten hatte, wurde ihm die Stille im Raum bewußt: Gwendolyn war spurlos verschwunden.
Gwendolyn blieb verschwunden. Nachdem Edward und Mandy die bewußtlose Dorothee gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatten, waren sie zu Gwendolyns Villa in München gefahren. Alles war unverändert, sogar der leichte Lavendelduft zog noch durch die Räume, nur Gwendolyns Kleider und ihre Papiere waren nicht mehr da. Ebensowenig wie eine Nachricht, wohin sie gegangen war. Wochen vergingen, ohne daß sie etwas von ihr hörten.
Edward machte sich Vorwürfe, daß er nicht schon viel früher eingeschritten war, wo er doch schon lange geahnt hatte, wer hinter den Dornröschenmorden steckte. Spätestens seitdem ihm sein Feuerzeug in Elisabeth Hellers Wohnung in die Hände gefallen war, hatte er gewußt, daß nur seine Mutter es dort vergessen haben konnte. Er selbst hatte Elisabeth in ihrer Wohnung nicht mehr aufgesucht, und über die Vorliebe seiner Mutter, seine Feuerzeuge unbewußt einzustecken, hatte er sich früher schon lustig gemacht.
Früher, das erschien ihm jetzt wie ein anderes Leben. Er hatte seine Mutter geliebt, und einen Teil von ihr liebte er immer noch. Den, der ihm eine behütete Kindheit gegeben hatte und das Gefühl, für immer beschützt zu sein. Nur deshalb konnte er es vor sich entschuldigen, daß er nicht die Polizei hinzugezogen hatte, als sein Verdacht immer stärker wurde und sich zuletzt bestätigt hatte.
In den Tagen vor Mandys Rettung hatte er fieberhaft alles vorbereitet, um Gwendolyn in ein Sanatorium in Norddeutschland zu bringen, wo sie unter strengster ärztlicher Aufsicht gestanden hätte. Um seine Mutter zu schützen, hatte er dem zuständigen Professor eine völlig andere Geschichte erzählt, die Gwendolyns Geisteszustand erklären sollte, und spätestens beim Anblick einer runden Summe Bargeld war der Arzt vollständig von deren Glaubwürdigkeit überzeugt gewesen. Jetzt war Gwendolyn fort, und Edward hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie war, ob sie jemals zurückkehren würde und was dann geschähe.
Auch Mandys Leben hatte sich geändert. Durch die Ereignisse war ihr bewußt geworden, wie naiv sie gehandelt hatte. Sie, die immer furchtlos gewesen war und sich über die Ängstlichkeit anderer mokiert hatte, wußte jetzt, welches Gefängnis die Angst in einem Leben bauen konnte. Andererseits fiel es ihr nicht schwer, Edwards zwiespältige Gefühle seiner Mutter gegenüber nachzuempfinden. Sie empfand Mitleid für Gwendolyn, trotz allem, was sie ihr und ihrer Freundin angetan hatte.
Trotz der schweren Verletzung erholte Dorothee sich rasch. Im Laufe der Zeit gewann sie eine neue, lebensfrohere Einstellung. Sie sprach davon, häufiger auszugehen und daß es endlich Zeit würde, jemanden kennenzulernen. Zum ersten Mal gestand sie ihre Sehnsucht nach einem Menschen, der zu ihr gehörte, freimütig ein. Es war, als hätte sie durch das furchtbare Erlebnis begriffen, daß es in jedem Fall klüger war, ein Risiko einzugehen, als niemals etwas zu versuchen – selbst auf die Gefahr hin, etwas zu verlieren.