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Meine Seele ist vielleicht grad und gut;

aber mein Herz, mein verborgenes Blut,

all das, was mir wehe thut,

kann sie nicht aufrecht tragen.

RAINER MARIA RILKE

 

Unablässig spuckte die Drehtür des Glasfassadenturms am Rosenkavalierplatz Männer und Frauen aus. Dicht aneinandergeschmiegt folgten Mandy und Frederick dem Menschenstrom. Ihre Gelassenheit nahm sich neben der Hektik der anderen geradezu unverschämt aus.

Der Himmel leuchtete in strahlendem Blau. Frederick war schon am Morgen auf die Idee gekommen, am Nachmittag segeln zu gehen, und hatte Mandy überredet mitzukommen. Sie warf ihm einen verliebten Blick zu und dachte daran, wie gut es doch war, daß sie sich durch ihre berufliche Unabhängigkeit einen winzigen Zipfel von Luxus gesichert hatte: Sie konnte frei über ihre Zeit verfügen.

Auf der Straßenseite gegenüber verfolgte die Person jede Bewegung der beiden. Kalte Augen registrierten, wie das Paar in Fredericks Cabrio stieg. Und am Ende büßt doch jeder.

 

Wenig später trieb ein Segelboot lautlos auf der gekräuselten Oberfläche des Starnberger Sees. Mandy hatte sich von der trägen Stimmung des Augenblicks anstecken lassen und ließ ihre Hand versonnen durchs Wasser gleiten. In ihrem weißen Wollpulli und der blauen Baseball-Kappe auf dem Kopf erinnerte sie von weitem an einen hochgewachsenen Schiffsjungen.

Als Frederick ihr etwas zurief, wandte sie den Kopf und tippte sich lachend an die Stirn. Er beugte sich zu ihr, griff nach ihrem Arm und zog sie mit einem Ruck an sich. Spielerisch wehrte sie ihn ab, worauf er sie um so fester in die Arme schloß. Mit einer raschen Bewegung zog er ihr die Mütze vom Kopf, und die roten Haare fielen ihr über die Schultern. Seine Hand fuhr durch ihre Locken und zog ihren Kopf weit in den Nacken. Dann beugte er sich über sie und preßte seine Lippen auf ihren Mund.

 

Eine Geste der Liebe, und am Ende ist alles nur Lüge. Im Innern der Person am Seeufer schrie es. Geblieben war ihr nur der Dämon. Ihr unbändiger Haß übertrug sich auf die unbeschwerte Frau im Segelboot. Du Hure, du entkommst mir nicht.

Ein kalter Schauer glitt über den Körper der Gestalt. Für einen kurzen Moment noch beobachtete sie das Treiben auf dem Boot, dann setzte die Person das Fernglas entschlossen ab.

 

Zögernd wählte Edward von Habeisberg die Nummer einer New Yorker Anwaltskanzlei. Obwohl er in den vergangenen Tagen an der Richtigkeit seines Entschlusses gezweifelt hatte, war er sich darüber im klaren, daß es nur einen Weg gab, seiner Angst Herr zu werden: Er mußte sich der Wahrheit stellen.

Auf der Rückseite jenes vergilbten Fotos mit dem Mann, dem er so ähnlich sah, hatte er den verblichenen Stempelabdruck eines New Yorker Fotostudios gefunden. Und die Frage, wer dieser Mann war und warum Gwendolyn seine Fotografie über Jahrzehnte vor ihm geheimgehalten hatte, war immer drängender geworden.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich David Becker. Sie hatten zusammen studiert und über die Jahre den Kontakt aufrechterhalten, obwohl David gleich nach dem Studium von einer renommierten New Yorker Kanzlei für internationales Medienrecht engagiert worden war.

David versprach, nach dem Fotostudio zu forschen, bezweifelte allerdings, ob es überhaupt noch existierte. Und wenn, würde es überhaupt einen Hinweis auf die Identität des abgebildeten Mannes geben? Schließlich war das Foto fast vierzig Jahre alt.

 

Es war sieben Uhr abends. Schweren Herzens hatte Mandy Fredericks Einladung zum Essen abgelehnt. Statt dessen stand sie – eine Wollmütze tief ins Gesicht gezogen – mit ihrem Wagen im Schutz der Dunkelheit vor Grassers Haus.

Gegen halb neun wurde ihre Geduld belohnt, die Haustür öffnete sich, und Grasser trat mit behäbigem Schritt, seinen Pudel an der Leine führend, heraus. Gemächlich führte er den Hund über den Grünstreifen und verschwand hinter der nächsten Häuserecke. Mandy wußte: in exakt einer Stunde würde er zurückkommen. Schließlich hatte sie an den drei vorangegangenen Abenden dieselbe Szene um dieselbe Zeit beobachtet. Mephistos Verdauungsapparat funktionierte auf die Minute, und das Gassigehen war ein zeitlich festgesetztes Ritual.

Heute, am vierten Abend, traute sie sich zu, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Von Kopf bis Fuß in tarnendes Schwarz gewandet, huschte sie auf Gummisohlen über die Straße. Die Gartenpforte war nur angelehnt. Sie sah sich noch einmal um und huschte durch den Vorgarten.

Vor der Haustür zog sie einen Dietrich aus dem Werkzeuggürtel, den sie unter ihrem Pullover trug, und verschaffte sich in Sekundenschnelle Zutritt. Das Haus strahlte Leere und Verlassenheit aus. Mandy stieg die Stufen in die obere Etage hinauf, wo sie Grassers Wohnräume vermutete. Richtig: hier befanden sich das Schlafzimmer, ein dunkel getäfeltes Wohnzimmer und eine geräumige Küche. Gründlich durchstöberte Mandy jeden Schrank, jede Schublade, jedes Regal. Aber es fand sich kein einziger brauchbarer Hinweis auf die Identität des Mannes. Es hatte den Anschein, als sei Grasser Gast in seinem eigenen Haus.

Mandy ging wieder ins Erdgeschoß und steuerte auf Grassers Sprechzimmer zu. Dort fiel ihr Blick auf den Anrufbeantworter. Zögernd streckte Mandy die Hand aus und spielte das Band ab. Eine Patientin fragte nach einem Termin, eine Schreinerei teilte mit, daß der Schrank repariert worden sei, und ein pharmazeutisches Unternehmen gab einen Liefertermin für Medikamente bekannt. Enttäuscht über so viel Nichtssagendes stieß Mandy einen tiefen Seufzer aus. Doch dann erklang eine sonore Stimme:

»Guten Tag, Herr Kollege. Lehmann hier, Psychiatrische Klinik, Gabersee. Es geht um Ihren letzten Aufenthalt bei uns. Es gäbe da noch einige Fragen bezüglich der Abrechnung mit Ihrer Krankenkasse. Bitte rufen Sie mich doch zurück.«

Mandy starrte auf das Gerät, das keine Scheu kannte, ihr, einer Fremden, solche Vertraulichkeiten preiszugeben. Grasser war Patient einer psychiatrischen Klinik! Ja, mehr noch: Seine Erkrankung war offenbar so schwer, daß sie stationär behandelt werden mußte. Wer war dieser Mann wirklich?

Aus dem Flur tönte das Schlagen einer Uhr. Nervös blickte Mandy auf das Zifferblatt. Es blieben ihr noch dreißig Minuten, um sich mit den Dateien von Grassers Computer zu beschäftigen. Ähnlich wie seine Schränke und Schubladen enthielten auch die elektronischen Ordner nichts Persönliches. Das Datenblatt von Mona Krug in der Krankendatei war vor knapp zwei Monaten gelöscht worden. Seltsamerweise genau am 24. August, einen Tag nach ihrem Tod.

Mandy wollte den Computer herunterfahren und drückte in der Eile eine falsche Tastenkombination. Aus dem Innern des Computers ertönte ein hallender Gong, und auf dem Bildschirm erschien in einer grellblauen Schrift Grassers Leitsatz: »Träume brauchen Wirklichkeit …«

Im selben Augenblick drang aus einem der Nachbarzimmer ein dröhnendes, dumpfes Ächzen. Das Blut gefror ihr in den Adern. In ihren Ohren rauschte es, und ihr Pulsschlag stand hörbar im Raum. Raus hier, war ihr erster Gedanke, aber die Füße gehorchten ihr nicht, sondern klebten wie festzementiert am Boden.

Minutenlang verharrte Mandy in ihrer Position, doch das gespenstische Geräusch kehrte nicht wieder. Mit zitternden Knien schlich sie durch den Flur, während ihr der Schweiß über den Rücken lief. An der Tür zu einem der Behandlungszimmer blieb sie stehen.

Da sah sie es: Neben einem schweren Medikamentenschrank klaffte wie ein weitaufgerissener Rachen ein riesiges, schwarzes Loch in der Wand. Durch die Tastenkombination auf dem Computer wurde offenbar ein Mechanismus ausgelöst, der den Schrank zur Seite schob und eine geheime Öffnung freigab. Wie hypnotisiert ging Mandy darauf zu. Eine abgetretene graue Steintreppe führte durch einen schmalen Schacht nach unten. Vorsichtig, im Schein ihrer Taschenlampe, tastete sie sich die Stufen hinab.

Ein schaler und abgestandener Geruch schlug ihr entgegen, als sie mit der Hand über die kalkgetünchte Wand fuhr, bis sie schließlich einen abgegriffenen Drehschalter unter ihren Fingern spürte. Vom grellen Licht geblendet, hielt sie sich instinktiv die Hand vor die Augen. Langsam gewöhnte sie sich an den gleißenden Schein. Als Mandy die Gestalt sah, die ihr aus bleichem Gesicht entgegenstarrte, stockte ihr der Atem. Es dauerte Sekunden, bis sie begriff, daß sie ihrem eigenen Spiegelbild gegenüberstand.

Erst nach einer Weile ließ das Dröhnen in ihrem Kopf nach, und die verzerrten Eindrücke formten sich zu einem klaren Bild. Das Zimmer ähnelte einer Künstlergarderobe, wie man sie aus alten Theatern kennt. In der Mitte dominierte der überdimensionale Spiegel, in dessen Rahmen seitlich Autogrammkarten steckten. Jede zeigte Grasser in einer anderen Rolle. Er grinste feist und listig als Falstaff, verkörperte als Heinrich VIII. derbe Sinnlichkeit, und die Verschlagenheit, die er als Richard III. zum Ausdruck brachte, wirkte mehr echt als gespielt.

Das also war Grassers Geheimnis: ein Mausoleum, vollgestopft mit Illusionen. Zwischen Samtvorhängen, verstaubten Requisiten, zerschlissenen Kostümen entfaltete er seine Persönlichkeit. In der Verborgenheit eines Kellers wurden seine Träume wahr, hier spielte sein ersehntes Leben: er war Publikum, Schauspieler und Regisseur zugleich. Grassers Aura schwebte so deutlich im Raum, daß Mandy glaubte, sie müßte nur die Hand ausstrecken, um seine Seele zu berühren.

Völlig im Bann des mysteriösen Zimmers ließ Mandy sich auf ein Kanapee sinken. Ihr Blick wanderte langsam über die zahlreichen Theaterplakate und Szenenfotos an den Wänden. Merkwürdigerweise war Grasser selbst kein einziges Mal darauf abgebildet. Schließlich blieb ihr Blick an einem dunkelblauen Samtvorhang hängen. Neugierig ging sie darauf zu und schob den Stoff zur Seite.

Dahinter verbarg sich eine Art kleiner Altar. In Form einer Pyramide waren mehrere Konsolen an der Wand befestigt. Auf der obersten stand ein dunkel gerahmtes, vergilbtes Foto. Es zeigte eine schöne, melancholisch blickende, junge Frau. Das Bild war von duftenden roten Rosen umgeben. Daneben lag ein filigran gearbeitetes Haarkämmchen aus Metall, dessen Farbe so verändert war, als wäre es durch die Einwirkung übermäßiger Hitze oxydiert.

Auf der Konsole darunter fand Mandy ein schneeweißes Holzkästchen, dessen Deckel von einem schwarzen Kreuz geschmückt war. Angespannt nahm sie es zwischen die Hände und erkannte plötzlich, daß es die Form eines Sarges hatte. Der Verschluß aus Messing ließ sich unerwartet leicht öffnen. Auf glänzende weiße Seide gebettet lagen Knochen verschiedener Größe.

Mandy zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. Das Kästchen glitt ihr aus den Fingern und krachte zu Boden. Gleichzeitig hörte sie oben eine Tür schlagen. Erschrocken drehte sie sich um und lauschte. Nichts. Ihr Blick streifte ein Metallplättchen unterhalb der Konsolen, das wie in einem Museum einen Schriftzug trug: »In memoriam Franca Grasser.«

Mehr als je zuvor wünschte sich Mandy, sie hätte das Zimmer niemals entdeckt. Es taten sich Abgründe auf, die sie hinter Grassers freundlich-verschmitzter Fassade nie vermutet hätte. Die Furcht vor noch grausigeren Funden schnürte ihr die Kehle zu.

Gerade wollte sie sich bücken, um die Knochen aufzusammeln, als ihr plötzlich etwas Weiches, Warmes um die Beine strich. Sie fuhr herum, bereit, sich zu verteidigen. Doch vor ihr stand nur Grassers grauer Pudel, der vor Freude über den neuen Spielkameraden mit dem Schwanz wedelte. In seiner Schnauze hielt er einen der Knochen, den er nun triumphierend vor Mandys Füße legte.

Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Was, wenn er auch noch bellen würde? Mit einer verschwörerischen Geste legte sie die Finger auf die Lippen. Das Tier blieb still, als könnte es sie tatsächlich verstehen. Unter seinem aufmerksamen Blick sammelte sie zitternd die sterblichen Überreste von Grassers Mutter ein und stellte den Miniatursarg an seinen Platz zurück.

»Mephisto! Mephisto!« dröhnte von oben Grassers Stimme. Der Hund reagierte nicht, sondern blieb erwartungsvoll vor Mandy sitzen. Irgendwie mußte sie ihn dazu bringen, den Raum zu verlassen, bevor Grasser sie entdeckte. Leise ging sie ein paar Treppenstufen hoch und hörte, wie sich die schweren Schritte des Arztes dem Sprechzimmer näherten. Dazwischen gab er schrille Pfiffe von sich.

Verzweifelt blickte Mandy um sich, in der Hoffnung, etwas zu finden, womit sie den Hund weglocken könnte. Schließlich riß sie sich die Mütze vom Kopf, löste die große Perlmuttspange aus den Haaren und schleuderte sie mit aller Kraft die Treppe hinauf. Mist, das gute Stück Chanel, schoß es ihr durch den Kopf, und sie wunderte sich, wie sie in einer solchen Situation an etwas so Banales denken konnte.

»Such, Mephisto«, flüsterte sie, und wie ein Blitz schoß der Hund dem vermeintlichen Spielzeug hinterher. Erleichtert atmete sie auf. Vorsichtig schlich sie die Stufen hinauf und hörte, wie Grasser in liebevollem Singsang mit seinem kleinen Liebling sprach.

»Na, du Böser? Was hast du denn da Schönes? Zeig doch mal her.«

O Gott, wenn er die Spange entdeckte, war sie verloren! Sicher würde Grasser jeden umbringen, der hinter sein Geheimnis kam. Noch nie in ihrem Leben hatte Mandy solche Angst verspürt. Sie dachte an all ihre Pläne und Hoffnungen, an Frederick und an das, was sie sich mit ihm gewünscht hatte. In Gedanken verfluchte sie ihre Abenteuerlust, die sie davon abgehalten hatte, einer ruhigen Schreibtischtätigkeit nachzugehen.

Ihre dunkle Ahnung schien sich zu erfüllen. Deutlich hörte sie, wie Grasser, aufgeregt vor sich hin murmelnd, durch die Zimmer ging. Mit pochendem Herzen spähte sie hinter dem Rahmen der Geheimtür hervor. Grassers Schritte hallten in ihren Ohren wie Donnerschläge.

Plötzlich erklang ein durchdringender Ton. Die Schritte verstummten, und der Ton wiederholte sich. Das Telefon! Der Mann schien einen Moment zu zögern. Doch dann besann er sich offensichtlich, machte kehrt und ging in sein Sprechzimmer.

Sekunden später hörte Mandy, wie er mit jemandem sprach. Das war die Gelegenheit, endlich abzuhauen. Atemlos huschte sie in den Flur, der mittlerweile hell erleuchtet war. Grasser telefonierte noch, und aus einem der Räume hörte sie ein gleichmäßiges Schlabbern. Gott sei Dank, Mephisto war beschäftigt. Mit einem Satz war sie an der Haustür und hetzte hinaus. Drinnen hob der Hund lauschend den Kopf und begann lauthals zu bellen.