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Ich hatte noch nicht begriffen, wie widerspruchsvoll die menschliche Natur ist; Ich wußte nicht, wieviel Pose im Ernst, wieviel Unechtes im Edlen, wieviel Tugend im Verworfenen steckt.

WILLIAM SOMERSET MAUGHAM

 

Im Gegensatz zu Edward, der sich für den Rest der Nacht schlaflos in den Kissen gewälzt hatte, hatte Mandy tief und wohlig geschlafen. Diese Tatsache schrieb sie allerdings weniger ihrer seelischen Ausgeglichenheit zu als der Wirkung des Bordeaux, den sie zusammen mit Dorothee bis zum letzten Tropfen geleert hatte.

Selbstbewußt marschierte sie am nächsten Morgen durch die Gänge von Europa-Film. Die Teppiche schimmerten in abgetretenem Grau, und auch die ehemals hellblaue Tapete hatte bessere Tage gesehen. Kalter Zigarettenrauch hing in der Luft. In einer schmuddeligen Teeküche spuckte eine Kaffeemaschine röchelnd die letzten Tropfen aus.

Mandy klopfte an eine weiß gestrichene Tür.

»Jaaa«, antwortete die genervte Stimme der Redaktionsassistentin. Mandy trat ein.

»Guten Morgen, ich würde gerne mit Frau Schiller sprechen.«

»Mit der Besetzung ist es noch nicht so weit«, meinte das blonde Girlie schnippisch. Mit seinen kajalumrandeten Augen taxierte es Mandys dunkelgrünes Kleid.

»Mein Name ist Malina Maltzan, ich habe einen Termin«, sagte Mandy.

»Ach, Frau Maltzan. Natürlich. Herr Ruttlich erwartet Sie schon. Frau Schiller nimmt gerade an einem wichtigen Meeting teil. Heino Ruttlich ist unser Redaktionsleiter.«

Die junge Frau führte Mandy den Gang entlang zum übernächsten Zimmer. Ein großer Mann mit kahlem Schädel stand am Fenster und sah hinaus. Die Hände steckten in den Hosentaschen seines dunkelblauen Anzugs. Als Mandy eintrat, drehte er sich langsam um. Seine Haut war blaß, und seine blutleeren Lippen, die sich beim Sprechen kaum bewegten, übten eine unheimliche Wirkung auf Mandy aus.

»Man muß sterben weil man sie kennt. Sterben an der unsäglichen Blüthe des Lebens, sterben an ihren leichten Händen. Sterben an Frauen.«

»Rilke«, sagte Mandy ungerührt. »Ich bin Malina Maltzan. Sie sind Herr Ruttlich?«

Sie streckte dem Mann forsch die Hand entgegen. Er ergriff sie, und sie spürte seine feuchte Handinnenfläche.

»Freut mich«, sagte er mit tonloser Stimme und musterte Mandy, verschlagen wie ein Hai auf der Suche nach Beute. »Wie viele Männer sind schon durch Ihre leichten Hände gestorben, Frau Maltzan?«

»Sehr dramatisch, Ihr Auftritt. Haben Sie lange dafür probiert?« Sie lachte nervös. »Eigentlich bin ich hier, um mir die restlichen Unterlagen über Richard Grasser abzuholen. Ich dachte, Sie wüßten Bescheid.«

Heino Ruttlich räusperte sich vernehmlich. Seine Schultern strafften sich, doch der Versuch, seinem Gesicht einen verbindlichen Ausdruck zu geben, mißlang. Es lag noch immer etwas Lauerndes in seinen wäßrigblauen Augen.

»Ach ja«, sagte er. »Sie sind also die Detektivin. Wühlen Sie gern in anderer Leute Dreck?«

Mandy hatte sein theatralisches Gehabe langsam satt. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, Sie sind nicht der richtige Ansprechpartner. Ich warte wohl besser auf Frau Schiller.«

Sie wandte sich zur Tür um, aber Ruttlich war schneller. Er griff nach ihr und hielt sie fest. Als er sie wieder losließ, zeichneten sich die Abdrücke seiner Finger auf ihrem Unterarm ab.

»Loslassen«, fauchte Mandy und schubste ihn weg.

»Bitte, gehen Sie nicht.« Er lächelte zum erstenmal, aber es war ein unangenehmes Lächeln. »Ich werde jetzt auch ganz artig sein.« Seine gepreßte Stimme verfiel in einen hohen Singsang. Er ging zurück an seinen Schreibtisch und wühlte in den Papieren. Mandy stand abwartend da.

»Hier sind die Unterlagen.« Er reichte ihr eine dicke Mappe. »Ich hoffe, das wird Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen.«

Sie bedankte sich knapp und wollte sich verabschieden, aber Ruttlich hielt sie noch mal zurück.

»Seien Sie nicht allzu unglücklich, Frau Maltzan …«

»Wie kommen Sie darauf, daß ich unglücklich bin?« unterbrach sie ihn.

»Ich sehe es Ihnen an. Ihre Augen … Am Ende büßt eben jeder.«

»Auf Wiedersehen, Herr Ruttlich.« Vehement öffnete sie die Tür und ging hinaus.

 

Das merkwürdige Benehmen des Mannes beschäftigte Mandy noch, als sie schon längst wieder an ihrem Schreibtisch saß. Ihr zu unterstellen, sie sei unglücklich! Wie kam der eigentlich darauf? Schließlich hatte sie sich ja nicht »Single« auf die Stirn tätowieren lassen. Und dann seine ominösen Worte. Bei dem Kerl konnte man wirklich eine Gänsehaut bekommen.

Mandy beschloß, die ganze Angelegenheit aus dem Gedächtnis zu streichen und sich auf ihren eigentlichen Auftrag zu konzentrieren. Doch eines war klar: Ruttlich wollte sie nicht noch einmal begegnen.

Sie rief Cordula Schiller an, die mit gekünsteltem Erstaunen reagierte. Wie? Ruttlich habe sich seltsam verhalten? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Heino Ruttlich war doch einer der charmantesten und witzigsten Männer, die sie überhaupt kannte. Sie kicherte affektiert.

»Vielleicht haben Sie ihn ja provoziert, Frau Maltzan. Sie sind ja auch ein wenig, na ja, wie soll ich sagen … auffallender als andere Frauen. Aber gut, Frau Maltzan, dann wenden Sie sich in Zukunft eben nur an mich. Finde ich eigentlich auch besser so. Dann kommt Heino nicht auf dumme Gedanken.« Wieder stieß sie ihr albernes Kichern aus.

Allmählich fragte sich Mandy, wie sie ihre exzentrische Auftraggeberin zukünftig in Zaum halten sollte. Da hatte sie sich wahrhaftig etwas Schönes eingebrockt: eine Regisseurin, die sich schlimmer als eine Siebzehnjährige benahm, und ein irrer Redaktionsleiter, der angeblich vor Sexappeal nur so strotzte. Fehlte nur noch, daß Grasser in Wirklichkeit eine Frau in den Wechseljahren war.

Mandy setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die Mappe mit den Unterlagen zu Richard Grasser. Haufenweise Fotos. Grasser als dickes Baby, Grasser bei der Erstkommunion als pausbäckiger Bub mit pomadeverschmierten Haaren. Dahinter Grasser als etwas schlankerer junger Mann beim Fußballspielen, später bei einem Motorradrennen. Grasser im weißen Arztkittel und dann im Bühnenkostüm des Sir John Falstaff. Sehr eindrucksvoll.

Die Fotos waren allesamt ordentlich beschriftet. Für einen Mann von dreiundfünfzig Jahren war die Schrift außergewöhnlich kindlich. »Ich mit meinem ersten Motorrad«, las Mandy. Auf einem Bild, das Grasser mit einem Pokal und Schärpe zeigte, stand: »Der Sieger.« Mit Hilfe der Fotos konnte sich Mandy ein Bild vom Äußeren des Mannes machen, aber die Set-Card, die sie unter dem Bilderstapel fand, war in ihren Augen der eigentliche Schlüssel zu Grassers Persönlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie allerdings noch keine Ahnung, welche Abgründe hinter den dicken schwarzen Lettern verborgen lagen: »Träume brauchen Wirklichkeit.«

Auch auf den glänzenden Seiten des Faltblatts war der Mann in verschiedenen Posen abgebildet. Und wieder war jedes Bild mit einer eigenen Überschrift versehen: »Der Magier«, »Der Philosoph«, »Der Arzt«, »Der Okkultist«, »Der Schauspieler«. Daß der Mann dabei immer von sich in der dritten Person sprach, ließ Mandy stutzen. Als hätte er sich von seinem eigentlichen Ich gelöst, um sich dann wieder neu zu erschaffen.

Das schriftliche Material war dürftig. Außer einem Lebenslauf fanden sich nur ein paar Zeitungsausschnitte. Immerhin war seine außergewöhnliche Lebensgeschichte schon in renommierten Blättern gedruckt worden. Mandy legte das Band mit der ungeschnittenen Fassung des Filmmaterials in den Videorecorder. Zum erstenmal hatte sie die Gelegenheit, einen Blick auf den Privatmann Grasser zu werfen: mit Freunden beim gemeinsamen Essen und beim Reiten. Die nächste Szene präsentierte ihn als Arzt in seiner Praxis, und schließlich sah man ihn in ölverschmierter Montur beim Reparieren seines Motorrads. Er wirkte etwas poltrig, hatte fast immer ein gutmütiges Grinsen im Gesicht und schien vor gesundem Selbstbewußtsein nur so zu strotzen. Ein imaginäres »Mir kann keiner was« schien ihm auf die Stirn geschrieben. In allen Szenen agierte er wie ein Schauspieler, der sich des Beifalls seines Publikums vollkommen sicher war.

Mandy fiel es schwer zu glauben, daß Grasser ein Hochstapler sein sollte. Er wirkte so rechtschaffen wie die Erde unter seinen Füßen. Nicht nur ihre Neugier, sondern auch ihre Zweifel wuchsen.