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Nicht weinen mehr.

Nun kommt der Sohn ins Haus

 zurück zu dir.

RAINER MARIA RILKE

 

Edward empfand das Schweigen am Tisch als so erdrückend wie die Schwüle einer Gewitternacht. Mit trockenem Mund biß er in ein Stück Baguette, und das Krachen der Rinde durchbrach auf unangenehme Weise die lähmende Stille.

Gwendolyn saß ihm mit gesenktem Kopf gegenüber und schien mit ihren Salatblättern beschäftigt zu sein. Er wußte, daß ihr Schweigen Taktik war. Sie hatte seinen Einzug kommentarlos akzeptiert, aber er war sicher, daß sie innerlich triumphiert hatte.

Er seufzte, und nur das Klappern des Bestecks verliehen der Szenerie ein vages Gefühl von Leben. Fast empfand er so etwas wie Dankbarkeit für die langjährige Haushälterin Frau Hindenberger, die sich rücksichtsvoll nach seinen Wünschen erkundigt und damit zumindest einen Hauch von Wärme verbreitet hatte.

»Iß doch noch etwas, mein Junge.« Gwendolyn gab ihr Schweigen für einen Moment auf und zeigte sich plötzlich als besorgte Mutter. »Ich habe zum Nachtisch extra eine Birne Helene machen lassen. Die mochtest du doch immer so gerne. Definitely.«

»Heute nicht, Mutter. Ich habe keinen großen Hunger.« Edward sah verdrossen auf seinen Teller.

»Edward, du läßt dir doch nicht von dieser Rothaarigen den Appetit verderben. Wir wollen froh sein, daß diese Geschichte vorbei ist. Ich habe dir ja von Anfang an gesagt, daß diese Frau nichts für dich ist.«

Liebevoll betrachtete Gwendolyn ihren hochgewachsenen, dunkelhaarigen Sohn. Ihr selbst ähnelte Edward nicht. Die sanfte Lebendigkeit, die ihrem Gesicht früher seinen munteren Reiz verliehen hatte, war im Laufe der Jahre einer asketischen Strenge gewichen. Die hellgrünen Augen hatten ihre sonnige Apfelfrische verloren, statt dessen klirrte jetzt darin die Kälte eisiger Januartage. Wie immer, wenn sie ihren Sohn ansah, erblickte sie in dessen Zügen auch seinen Vater. Doch während seine Augen von Wärme und Humor erfüllt gewesen waren, lag in Edwards Blick häufig kühle Skepsis. Ein wenig mitleidig konstatierte sie, daß sein dichtes, dunkles Haar mittlerweile von eisgrauen Fäden durchzogen war. Die Art, wie es geschnitten war, betonte vorteilhaft seinen ausgeprägten Hinterkopf.

Sein markantes Gesicht hätte beinahe unnahbar gewirkt, wenn er nicht auch das Lächeln seines Vaters geerbt hätte. Es war unverwechselbar und zog sich über den rechten Mundwinkel schräg nach oben – entwaffnend und siegessicher zugleich.

Doch im Augenblick war von diesem Lächeln keine Spur zu sehen. Gwendolyns Arie über die Entbehrlichkeit anderer Frauen kannte Edward zur Genüge, und sie fiel ihm mehr denn je auf die Nerven.

»Ist ja gut, Mutter«, räumte er mißmutig ein. »Ich bin ja wieder hier. Ich gehe jetzt nach oben und packe meine Sachen aus.«

 

Das Zimmer war so unverändert, als hätte er es gestern zum letzten Mal betreten. Die antiquarische Hemingway-Gesamtausgabe stand in Reih und Glied ohne ein Körnchen Staub im Bücherschrank. Auf seinem Bett lag ein Überwurf im klassischen Schottenmuster, die schweren Vorhänge aus dunkelrotem Chintz hatte Frau Hindenberger bereits zugezogen.

Die einzigen Fremdkörper in dem makellosen Zimmer waren die drei Koffer. Als Edward sie öffnete, packte ihn die kalte Wut. Mandy hatte seine Sachen so wahllos hineingeworfen, wie sie sie aus dem Schrank gezerrt hatte. Im nachhinein erschien es ihm wie blanker Hohn, daß er sich eben noch einer gewissen Wehmut hingegeben hatte. Denn der Blick in die Koffer machte ihm deutlich, mit welch konsequenter Rücksichtslosigkeit sie ihn abserviert hatte.

Mit einer typisch männlichen, über Jahre hinweg kultivierten Taktik verdrängte er seinen eigenen Anteil am Mißlingen der Beziehung und erinnerte sich um so deutlicher daran, wie sehr ihm ihr Versuch, ihn in die Einbahnstraße der Ehe zu locken, auf die Nerven gefallen war. Endstation Reihenhaus. Aber nicht mit ihm!

Edward atmete tief durch. Mandys Anhänglichkeit war für ihn kein Zeichen von Zuneigung, sondern vielmehr ein Zeichen von Schwäche gewesen. Genau wie ihre Eifersucht. Was, in aller Welt, war falsch daran, ab und zu mit einer anderen Frau auszugehen? In seiner Selbstgerechtigkeit vergaß er allerdings, daß sich dieses »Ausgehen« nicht nur auf ein Glas Wein beschränkt hatte …

Und trotzdem war da diese kleine Stimme, die sich durch das Gestrüpp seiner männlichen Eitelkeit hartnäckig Gehör verschaffte. Sie erinnerte ihn wispernd an die Art, wie sie den Hals nach hinten gebogen hatte, wenn er sie küßte, und wie kindlich sie in ihrer Freude gewesen war, als sie ihn zum Geburtstag mit einer Reise nach Florenz überrascht hatte.

Obwohl er sich dagegen sträubte, entstand vor seinem inneren Auge ein Bild, das er in die Tiefen seines Gedächtnisses verbannt hatte. Es war ein milder Sommermorgen gewesen. Durch die Ritzen der Jalousien hatten die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer gelugt, und Mandy hatte weich und warm in seinem Arm gelegen. Ganz unvermittelt hatte sie ihn angesehen und gesagt: Wenn ich es nicht selber wäre, die hier liegt, dann würde ich mich bestimmt beneiden. Er hatte sie nur um so fester an sich gezogen und gedacht, wie wunderbar es doch war, daß es jemanden gab, der ihm so etwas sagte. Und jetzt kochte sie für einen anderen Mann! So hartgesotten, wie er glaubte, war er gar nicht.

Mit einem resignierten Seufzer öffnete Edward den Kleiderschrank. Lavendelduft strömte ihm entgegen. Er nahm einen Kleiderbügel und begann, seine Hosen und Hemden aufzuhängen. Hinter ihm war Gwendolyn ins Zimmer getreten.

»Ich dachte, ich helfe dir beim Einräumen. Damit alles seine Ordnung hat.« Sie griff in den Koffer und zog ein Jackett auf einem Bügel heraus. Als sie es in den Schrank hängen wollte, verzerrten sich ihre Gesichtszüge.

»Ein Drahtbügel!« rief sie hysterisch. »Du weißt doch, daß ich Drahtbügel hasse. Nicht zu fassen, daß du sie hierher mitbringst.« Sie riß den Bügel aus der Jacke und schleuderte ihn durchs Zimmer.

»Aber Mutter, beruhige dich. Wir können doch auch einen anderen Bügel nehmen. Es sind ja genug da.« Edward war über Gwendolyns Ausbruch erschrocken. Doch sie hörte ihn nicht.

»Ich habe doch gewußt, daß du bei dieser Mandy verkommst. Frau Hindenberger, kommen Sie, kommen Sie!« rief sie durch die offene Tür.

Die Haushälterin eilte die Treppe herauf. »Was ist denn, gnä’ Frau? Was ham’s denn wieder?« Frau Hindenberger war mit der leichten Erregbarkeit der Gräfin vertraut und blieb völlig gelassen.

»Weg mit diesen Drahtbügeln! Ich will sie nicht mehr sehen.« Gwendolyn stürzte aus dem Zimmer.

Die Haushälterin legte begütigend ihre Hand auf Edwards Arm. »Regen Sie sich riet auf, Herr Graf. Sie wissen ja eh, wie sie ist. Sie ist halt amal auf ihre Ordnung bedacht. Da darf nix stören.« Frau Hindenberger sammelte die übrigen Bügel gleichmütig ein und ging hinaus. Edward blieb fassungslos zurück.

 

Zwei Stunden später lag er noch immer wach in seinem Bett. Ein rasselndes Geräusch ließ ihn hochfahren. Er richtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Trotzdem stand er auf und suchte vergeblich nach dem Lichtschalter. Vorsichtig, um nicht zu stolpern, tastete er sich die Treppenstufen hinab. Auch im Erdgeschoß regte sich nichts. Nur ein schmaler Lichtstreifen schimmerte durch den Spalt der Kellertür.

Er folgte dem Schein und stieg die Kellertreppe hinab. Modriger Geruch schlug ihm entgegen. An den Wänden tanzten dunkle Schatten im flackernden Feuerschein. Tonlose Stimmen von weither wisperten seinen Namen. In der Mitte des Raums stand Gwendolyn. Mit wirrem Haar und aufgerissenen Augen starrte sie Frau Hindenberger an. Die Haushälterin griff in eine Holzkiste und reichte der Gräfin einen schimmernden Gegenstand.

»Geben Sie mir alle, es darf keiner übrigbleiben«, sagte Gwendolyn mit blecherner Stimme. Edward trat lautlos näher und konnte nun sehen, was seine Mutter da in Händen hielt. Es waren die Drahtbügel aus seinen Koffern. Mit einem Aufschrei warf Gwendolyn sie in die lodernden Flammen des Heizkessels.

»Waren das alle?« Sie sah Frau Hindenberger drohend an. »Sie wissen doch, wenn Sie einen vergessen, muß ich Sie bestrafen. Genau wie die dort drüben.«

Grausig hallte Frau Hindenbergers Kichern durch den Raum, und ihre Vogelaugen glühten. Edward folgte ihrem Blick und erstarrte: In einer Ecke des Gewölbes saß Mandy auf einem Stuhl. Ihre schönen Haare hingen glanzlos über die Schultern, der Blick ihrer weit geöffneten Augen war gebrochen. Dann sah Edward den roten Fleck auf ihrer weißen Bluse. In ihrem Herzen steckte einer der Drahtbügel. Edward schrie auf.

Schweißgebadet erwachte er aus seinem Alptraum.