29

Es regnete, und die Straßenlaterne vor Bettýs Haus im Þingholt-Viertel war kaputt. Das Licht flackerte im Regen und blinkte in regelmäßigen Abständen auf, was wie kleine Blitze wirkte. Ich saß in gebührender Entfernung zum Haus im Auto und hatte mich zusammengekauert. Ich wusste nicht, ob sie mein Auto kannte. Im Haus brannte kein Licht. Ich wartete bereits seit drei Stunden dort und beobachtete die zuckende Straßenlaterne. Ich wusste nicht, wo Bettý war. Sie konnte genauso gut in Akureyri sein, aber ich musste etwas unternehmen. Ich konnte nicht einfach nur zu Hause sitzen und warten.

Sie wussten, dass Tómas nicht an den Folgen eines Unfalls gestorben war. Der Mann von der Polizei, der bei mir anrief, erklärte, dass sie noch heute Abend mit mir sprechen müssten. Es war eine Vorladung. Als ich fragte, worum es ginge, sagte er, es hätten sich einige neue Aspekte in Bezug auf das Ableben von Tómas Ottósson Zöega ergeben. Er klang sehr formell. Ich erschrak, als er vom Ableben sprach. Es ging also nicht mehr um Tómas’ Verschwinden, sondern um seinen Tod.

Nach dem Gespräch mit Minerva fuhr ich ziellos in der Dunkelheit herum, ohne zu wissen, wohin ich fuhr. Als ich mich wieder beruhigt hatte, war ich irgendwo außerhalb der Stadt gelandet. Ich machte kehrt und bekam diese Idee, zum Palazzo zu fahren, um möglicherweise Bettý zu erwischen.

Die Laterne flackerte im Regen, und mir war kalt. Ich dachte an Bettý und daran, wie sie es geschafft hatte, das alles zu arrangieren. Ich hatte zwar nur eine grobe Vorstellung davon, was im Gange war, aber mir war zumindest so viel klar, dass sie mich in größere Schwierigkeiten bringen wollte, als ich je geargwöhnt hatte. Sie führte es aus und sagte mir im gleichen Augenblick, dass sie mich liebte.

Wer war diese Frau? Nicht genug damit, dass sie imstande war, einen Mord zu begehen, sondern sie hatte ihn minutiös wie etwas ganz Normales geplant, und jetzt ereilte sie der Fluch der Tat, ereilte uns, aber ich war mehr wie ein willenloses Werkzeug in ihrer Hand gewesen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie vorhatte, Tómas auf unserer Reise umzubringen. Ich wusste nicht, dass sie entschlossen war, etwas zur Ausführung zu bringen, worüber wir nur halb im Spaß und leichtsinnig geredet hatten. Es hatte niemals irgendein Ernst hinter dem gesteckt, was wir sagten, es war mehr wie ein Spiel gewesen. Wie alles, was wir taten. Wie ihr Fremdgehen. Wie unser Sexleben.

Ein Taxi bog in die Straße ein und hielt vor Bettýs Haus. Es hielt geraume Zeit an der Bordsteinkante. Ich sah die Umrisse des Fahrers und einer Gestalt auf dem Rücksitz. Als sich die Tür öffnete, stieg die Person auf dem Rücksitz aus.

Es war Bettý.

Ich richtete mich auf meinem Sitz auf. Das Taxi fuhr weiter, und Bettý ging auf das Haus zu. Ich öffnete die Wagentür, stieg aus und rannte los. Sie machte gerade die Tür hinter sich zu, als ich die Treppen heraufgestürzt kam und meine Hand dazwischenschob.

»Bettý, ich muss mit dir reden!«

Sie erschrak sichtlich und starrte mich so bestürzt an, als sähe sie ein Gespenst.

»Lass mich rein«, sagte ich. »Ich wurde von der Polizei angerufen. Ich muss mit dir reden!«

Sie überlegte einen Moment und schien dann eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie öffnete die Tür etwas weiter, und ich schlüpfte hinein. Sie blickte sich draußen noch einmal um, ob jemand mich gesehen hatte, und dann ließ sie die Tür ins Schloss fallen.

»Ich habe dir gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen«, sagte sie böse, indem sie sich mir zuwandte. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden.«

»Weshalb nicht?«, fragte ich. »Alle wissen doch, dass wir befreundet sind. Alle wissen, dass wir beide mit Tómas zusammen waren, als er starb. Weshalb sollten wir denn keine Verbindung zueinander haben? Warum nicht, Bettý? Macht es nicht einen viel verdächtigeren Eindruck, überhaupt nicht miteinander zu reden?«

»Komm herein«, sagte sie, ohne auf meine Fragen einzugehen. Sie zog ihren ausladenden schwarzen Nerz aus und warf ihn über einen Stuhl. Darunter trug sie ein weinrotes Kleid, das ich noch nie an ihr gesehen hatte.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie.

Ich nickte. Ich blickte mich um und dachte an all die Male, wo Bettý und ich allein in diesem Haus gewesen waren. Alles war unverändert, aber trotzdem war alles vollkommen anders.

»Warum gehst du mir aus dem Weg?«, fragte ich.

»Das weißt du doch, du Dummchen. Wir haben es doch x-mal besprochen. Du weißt, was wir getan haben.«

»Ich weiß, was du getan hast«, sagte ich. »Ich bin mir nicht sicher, was ich getan haben soll.«

Sie brachte mir ein Glas italienischen Likör.

»Weshalb dieser Ton?«, sagte sie. »Sind wir nicht befreundet?«

Sie nahm auf dem großen Sofa im Wohnzimmer Platz, zog die Zigarettenschachtel aus der Tasche und zündete sich eine an. Sie inhalierte den giftig blauen Dunst. Als sie ihn wieder ausatmete, war er fast weiß.

»Darauf hätte ich gerne eine Antwort von dir«, sagte ich und setzte mich ihr gegenüber auf einen Sessel. Sie hatte die wunderschöne Stehlampe angeknipst, die einzige Beleuchtung in diesem riesigen Raum. Der matte Schein umgab uns beide, die wir uns einmal so nahe gestanden hatten. Der Qualm der griechischen Zigarette tanzte im Licht der Lampe einen langsamen Walzer, bevor er sich in nichts auflöste. Vereinzelte Male verirrte sich ein Auto in die Straße.

»Was sagst du da? Was wollte die Polizei von dir?«

»Er hat gesagt, sie müssten sich mit mir unterhalten. Heute Abend noch. Weil Tómas’ Leiche obduziert worden ist. Hast du etwas darüber gehört?«

»Nein«, sagte Bettý. »Ich war den ganzen Abend nicht zu Hause.«

»Wo warst du?«, fragte ich. »In diesem Aufzug? Die lustige Witwe amüsiert sich also schon wieder?«

»Was soll das?«

»Kannst du dich an eine Frau erinnern, die Sylvia heißt?«, sagte ich und lehnte mich vor. »Seinerzeit eine gute Freundin von dir. Erinnerst du dich an sie?«

Bettý schaute mich an, und ich glaubte, ein winziges Lächeln um ihre Lippen zu sehen. Ich hielt es zunächst für eine Täuschung, aber dann wurde das Lächeln breiter. Sie schien mich auszulachen.

»Was hast du eigentlich getrieben?«, fragte sie, und ihre schönen weißen Zähne leuchteten. »Hast du heimlich Polizei gespielt?«

»Sie hat mir von der Abtreibung erzählt.«

»Von der Abtreibung?«

»Ja, von der Abtreibung, die du hast machen lassen.«

»Was bildet die sich ein, über mich zu wissen?«

»Erinnerst du dich an Stella?«, fragte ich.

Bettý runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Du solltest dich aber an sie erinnern. Sie hinkt. Eine äußerst nette Frau. Sie sieht dir ein bisschen ähnlich. Dunkelhaarig und schlank. Schön genug, um einen Beauty Contest zu gewinnen, und außerdem wäre sie bestimmt auch noch zum nettesten Mädchen gekürt worden.«

Bettý starrte mich an und schien zu begreifen, über wen ich sprach. Sie drückte die Zigarette aus.

»Wie geht es Stella?«, fragte sie, und ich merkte, dass sie gar nicht mehr so sicher war.

»Der Knöchel ist ziemlich steif. Und sie lässt dir keine Grüße ausrichten.«

»Warum hast du mit ihr gesprochen? Wieso quatschst und tratschst du in der ganzen Stadt herum? Bist du nicht mehr ganz dicht? Kannst du nicht einmal ein paar Wochen abwarten und Ruhe bewahren, ohne alles zu gefährden? Was ist eigentlich mit dir los?«

»Ich habe einen Mann getroffen.«

»Du hast einen Mann getroffen?«

»Er hat mir gesagt, dass nicht Tómas mich einstellen wollte, sondern du. Stimmt das? Du hast mir erzählt, dass Tómas dich extra geschickt hätte, weil ihm an meiner Mitarbeit gelegen war. Und jetzt habe ich erfahren, dass Tómas nicht das Geringste von mir wissen wollte. Das war alles hundertprozentig von dir geplant.«

»Welche Rolle spielt das?«

»Das hängt davon ab, wann alles anfing.«

»Was denn? Wann was anfing?«

»Das Ganze. Es hängt davon ab, wann du zuerst auf die Idee gekommen bist. Oder vielleicht hast du gar nicht diese Idee gehabt? Vielleicht hat dir das jemand anderes eingeflüstert. Alle diese verlockenden Millionen. Seine Milliarden. Gab es da nicht einen Weg, sie selber in die Tasche zu stecken, ohne diesen lästigen Tómas am Hals zu haben?«

Bettý blickte mich an und schwieg. Ich sah, dass sie fieberhaft überlegte, wie sie auf meine Wut und auf die Tatsache reagieren sollte, dass ich Erkundigungen über sie eingezogen hatte. Es konnte ihr nicht entgehen, in welchem Aufruhr ich war.

»Was hast du da von einer Abtreibung gesagt?«, fragte sie. »Ich kann mich an keine Sylvia erinnern. Ich weiß nicht, wer dich da anlügt …«

»Und dann ist da noch Leó«, sagte ich. »Was kannst du mir über Leó sagen? Wie hast du Tómas dazu gebracht, ihn einzustellen? Wie konnte er es so weit in der Firma bringen? Wann hat es angefangen, Bettý? Und warum hast du mich ausgewählt? Warum ausgerechnet mich?«

Bettý war nicht aus der Ruhe zu bringen und streckte die Hand nach den Zigaretten aus. Sie fischte sich eine aus der Schachtel heraus und zündete sie mit ihrem goldenen Feuerzeug an. Dann schlug sie die Beine übereinander und strich ihr Kleid glatt. Sie war völlig gelassen. Ich verlor die Geduld.

»Wo bist du gewesen?«, fragte ich.

»Tómas ist hier im Leichenschauhaus am Barónsstígur«, sagte sie und nippte am italienischen Likör. »Wegen der Autopsie. Ich musste – wie nennt man das denn noch – die Leiche identifizieren. Sie haben mir die Leiche gezeigt, Liebling. Sie haben mir gezeigt, was du mit Tómas gemacht hast. Ich bin einfach zusammengebrochen und habe gestanden, dass ich deinetwegen gelogen habe. Es tat so gut, endlich die Wahrheit zu sagen.«

»Du hast gestanden? Du?«

»Ja.«

»Wovon redest du eigentlich? Was hast du denen erzählt?«

»Ich habe ihnen von dir und Tómas erzählt«, sagte Bettý. »Ich habe ihnen endlich die Wahrheit gesagt, und weißt du, Sara, es tut so gut, sein Gewissen zu erleichtern. Sie haben mir gezeigt, wie du ihn umgebracht hast, und gesagt, dass du ihm von hinten einen Schlag in den Nacken gegeben hast, mit einem schweren Hammer oder einem kleinen Vorschlaghammer. Das haben sie ganz schnell sehen können. Sie gingen allerdings von drei Hieben aus. Da war ein Gerichtsmediziner dabei und alles. Überaus freundliche Polizisten und sehr hilfsbereit, Sara. Wirklich. Die haben Mitleid mit einer Witwe.«

»Was hast du getan?«

»Sie fanden es sehr wichtig zu wissen, dass ich einen Tag später als du und Tómas in die Berghütte gekommen bin.«

»Du einen Tag später? Ich war es, die einen Tag später gekommen ist!«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich in der Stadt aufgehalten wurde und erst am nächsten Morgen zu euch hinausgefahren bin. Tómas und du, ihr wart eine ganze Nacht allein in der Hütte.«

»Du bist zusammen mit Tómas hingefahren. Ich bin erst am nächsten Tag gekommen.«

»Das darfst du natürlich gerne behaupten«, sagte Bettý, »aber die Polizei braucht nun mal solche Kleinigkeiten wie ein Alibi. Leó sichert meins. Wir haben zusammen im Büro gearbeitet und eine Reise nach London vorbereitet, die wir unternommen hätten, wenn du Tómas nicht umgebracht hättest. Als ich dich am nächsten Tag in der Hütte traf, warst du völlig aufgelöst, weil Tómas verschwunden war, und du hast mich angefleht zu sagen, dass ich die ganze Zeit mit euch zusammen gewesen sei. Wir haben gesucht und gesucht, aber Tómas blieb verschwunden, und erst ganz zum Schluss habe ich dich dazu bringen können, sein Verschwinden zu melden.«

»Ich kann es nicht glauben«, stöhnte ich. »Du hast ihn ermordet!«

»Sie haben im Augenblick nur eine Person im Visier«, sagte Bettý, »und das bist du.«

»Wieso haben sie dir plötzlich geglaubt, dass du erst einen Tag später gekommen bist? Du hast doch erst etwas ganz anderes gesagt.«

»Ich habe ihnen gesagt, dass du mich angefleht hättest, das auszusagen, und damals hätte ich mir einfach nichts dabei gedacht. Du warst in Aufruhr, weil Tómas verschwunden war, und du brauchtest meine Unterstützung. Als deine gute Freundin war ich entschlossen, dir zu helfen. Als sich dann aber heute Abend herausstellte, dass du ihn ermordet hast, konnte ich natürlich nicht mehr an diesen Lügen festhalten.«

»Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst?«

Bettý lächelte.

»Ich habe das Gefühl, dass alles hieb- und stichfest ist«, sagte sie. »Dafür hat Leó gesorgt.«

Ich begriff nur so viel, dass das, was sie sagte, gefährlich war. Erst nach und nach verstand ich Dinge, die mir vorher ein Rätsel gewesen waren. Bettýs Ausfragerei, bevor wir mit den Ski-doos losfuhren, ob ich mit jemandem gesprochen oder ob jemand mich gesehen hätte, als ich aus der Stadt fuhr. Was sie mir eingeschärft hatte, der Polizei zu erzählen, dass ich zusammen mit Leó kommen wollte, dem dann aber etwas dazwischenkam. Die ganze sorgfältig arrangierte Lüge, um den Verdacht auf mich zu lenken.

»Tómas sagte etwas zu Leó, an diesem letzten Abend, bevor er die Stadt verließ«, sagte Bettý. »Tómas sagte zu Leó, dass er dich da oben in den Bergen treffen wollte. Ganz allein. Erinnerst du dich nicht, wie ich dich gefragt habe, ob jemand dich gesehen hätte oder ob du unterwegs irgendwo gehalten hättest, ob du am Abend vorher mit irgendjemandem gesprochen hättest?«

Ich nickte, war aber mit den Gedanken ganz woanders, weil ich versuchte, die Bruchstücke zusammenzukitten.

»Von dem Moment an war Tómas ein toter Mann«, sagte Bettý.

Sie drückte die Zigarette sorgfältig aus. »Beim ersten Versuch«, sagte sie. »Findest du das nicht unglaublich?«

*

 

Dóra starrte mich im Verhörzimmer an. Ihr war anzusehen, dass sie kein Wort von dem glaubte, was ich sagte. Larús saß neben ihr, und er hatte wieder dieses komische Grinsen auf den Lippen.

Vierundzwanzig Stunden waren seit dem letzten Verhör vergangen. Jetzt ging es mir nur noch darum, die Wahrheit zu sagen. Ich wusste, dass Bettý das nicht tat. Sie hatte die ganze Zeit gelogen.

»Was hat Bettý damit gemeint?«, fragte Dóra. »Beim ersten Versuch?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Vielleicht dass die beiden es so geplant hatten und alles gleich beim ersten Versuch geklappt hat. Vielleicht hatten sie auch noch Pläne für spätere Gelegenheiten in petto. Versteht ihr das nicht? Es geht einzig und allein darum, die Schuld auf mich abzuwälzen, das müsst ihr doch sehen! Es ist doch so offenkundig! Ich habe euch das alles gesagt! Ihr müsst mir glauben. Dóra! Sie versuchen, es mir in die Schuhe zu schieben!«

»Merkst du nicht selber, wie absurd das klingt?«, fragte Larús. »Es gibt überhaupt nichts, was deine Aussage stützt. Ganz im Gegenteil, alle Indizien sprechen gegen dich.«

»Sara«, sagte Dóra. »Wir finden nichts darüber, dass Bettý eine Abtreibung gemacht hat.«

»Sie hat den Arzt dazu gebracht, zu lügen. So ist sie. Für sie tun alle alles.«

»Wir wissen nicht einmal, welcher Arzt das gewesen sein soll«, sagte Dóra, die nicht aus der Ruhe zu bringen war. »Es gibt keine Unterlagen in den Krankenhäusern.«

»Dann hat sie es in einer Privatpraxis machen lassen.«

»Dieser Leó wurde seinerzeit verdächtigt, Stella angefahren zu haben, aber damals stand Aussage gegen Aussage. Du hast kein Alibi für den Abend und die Nacht, als Tómas und du zusammen in dem Ferienhaus wart.«

»Und außerdem gibt es ja da auch noch den Vorschlaghammer«, sagte Lárus. »Wie sollte man da etwas anderes glauben können?«