20
Ich sehe die Szene vor mir, als es geschah. Sie gleicht einem schneeweißen Albtraum.
Ich wage nicht, die Augen zu schließen. Ich starre in die Dunkelheit und versuche, an etwas anderes zu denken. Manchmal gelingt es. Meistens aber nicht.
Ich will mich nicht daran erinnern. Ich will es irgendwo vergraben, wo niemand daran rühren kann, nicht einmal ich selber. In mir gibt es Fächer, die ich nur ganz selten öffne, manche sogar nie. Ich möchte das alles in ein solches Fach schieben, bis es von selber verschwunden ist. Am liebsten würde ich es austilgen. Nein, am liebsten wollte ich, dass es nie geschehen wäre.
Aber es ist geschehen.
Und es verschwindet nicht.
Ich lasse es nur in kleinen, zusammenhanglosen Bruchstücken an die Oberfläche. Es hatte fast den Anschein, als hätte ich das Geschehen in die Luft gesprengt, und Splitter davon irrten umher, verletzten mich und stachen mich, wenn ich am wenigsten darauf gefasst war. Mein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, ich stöhne oder halte mir die Hände vors Gesicht. Manchmal weine ich, wenn diese Splitter, die mich stechen, so viele werden, dass ich unwillkürlich aufschreie.
Ich sehe, wie sie zum Hieb ausholt.
Ich schreie sie an, es nicht zu tun.
Er schaut zu mir herüber, er geht in die Knie und sinkt in den Schnee.
Kurze Zeit später standen wir beide am Rand einer großen Lavaspalte und schauten auf ihn hinunter, der vier Meter tiefer lag. Er schaute mich an und schien mir etwas sagen zu wollen. Seine Lippen bewegten sich, und er streckte eine Hand zu uns hoch. Sein Kopf war ganz blutig, und der Schnee unter ihm rötete sich. Er hatte gar nicht begriffen, was geschehen war, das konnte ich ihm ansehen. Ich sah es an seinen Augen. Er begriff überhaupt nichts. Er war so bemitleidenswert. Dann schlossen sich die Augen ganz langsam, die Hand sank herab und fiel in den Schnee, und er rührte sich nicht mehr. Es fing an zu schneien, und große, weiche Flocken legten sich auf ihn …
Ich starre auf den Tod, und über ihm ist diese eigenartige schneeweiße Helligkeit.
Ich hoffe immer noch, dass es nur ein Albtraum ist, aus dem ich erwache, um wieder in mein altes, klappriges Auto zu steigen, das nicht immer anspringt, und in mein kleines Büro zu fahren und nie von Bettý gehört oder Tómas getroffen zu haben. Ich hoffe immer noch, dass ich wieder zu dem Leben erwache, das ich lebte, bevor ich Bettý begegnete. Mein Wunsch geht nicht in Erfüllung. Es ist, als hätte ich nie ein anderes Leben gehabt als das mit Bettý. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Manchmal hasse ich sie. Manchmal sehne ich mich so verzweifelt nach ihr, dass ich körperliche Schmerzen empfinde.
Der Schnee war ein glücklicher Umstand für uns. Große, schwere Flocken, die vom Himmel rieselten und das Verbrechen verhüllten. Unsere Spuren verhüllten. Tómas war tot, und wir waren sehr überlegt vorgegangen. Wir waren auf zwei Motorschlitten unterwegs gewesen. Tómas’ Schlitten musste in die Spalte gesetzt werden. Bettý übernahm das. Sie fuhr zweihundert Meter vom Spaltenrand zurück, gab Gas und warf sich, kurz bevor sie den Rand der Spalte erreichte, vom Schlitten, der in die Spalte stürzte, gegen die Lavawand krachte und in der Tiefe verschwand. Rauch schlängelte sich vom Grund der Spalte hoch. Bettý stand auf und klopfte sich den Schnee ab. Ich würgte. Bittere Galle stieg in mir hoch, und immer wieder musste ich in den Schnee spucken.
Bettý umsorgte mich.
Ich fühle mich besser, wenn ich an das Vorgefallene wie an einen Traum zurückdenke. Wie an etwas Irreales, das nie stattgefunden hat. So möchte ich es am liebsten haben, wie etwas, das ich vor mir sehe, das aber nie geschehen ist. Und ich weiß, dass ich bald aufwachen werde, und dann bin ich nicht in dieser dreckigen Gefängniszelle, sondern zu Hause in meinem Zimmer und schaue auf das Foto von Papa auf dem Nachttisch, und er lächelt mich wie immer an.
Ich muss bloß aufwachen.
Könnte ich doch bloß aufwachen.
Bettý und ich schauten in die Spalte hinunter. Der Motorschlitten lag so bei Tómas, dass es ganz den Anschein hatte, als habe er einen schrecklichen Unfall gehabt. Wir hatten zu dritt diese Fahrt mit den Motorschlitten unternommen, und dann passierte es tragischerweise, dass er auf seinem Schlitten in die Spalte stürzte. Er hatte sich von uns getrennt und gesagt, dass er seinen neuen Motorschlitten testen müsse. Tómas hatte ihn gerade erst eine Woche vorher gekauft, und dieser Wochenendausflug drehte sich vor allem darum, ihn auszuprobieren. Ein Freund aus Reykjavik besaß das Wochenendhaus, das uns zur Verfügung stand. Es befand sich nicht in einer Ferienhauskolonie, sondern stand ganz allein für sich in der winterlichen Einöde. Genau der richtige Ort für Schlittentouren im Winter, hatte der Freund gesagt, aber auch erwähnt, dass Tómas, Bettý und ich uns vor den vielen Spalten in Acht nehmen müssten, die sich in einem bestimmten Gebiet in nordöstlicher Richtung vom Haus befanden.
Tómas war bekannt für seine draufgängerische Art. Bekannt dafür, bei welchem Fahrzeug auch immer, das Gaspedal voll durchzutreten und niemals einen Helm oder einen Sicherheitsgurt zu benutzen.
Ich trat zurück von der Kante und sank in den Schnee. Bettý kam zu mir und kniete sich neben mich. Sie griff mir unter das Kinn und hob mein Gesicht an, bis wir uns in die Augen sahen.
»Wir haben lange genug darüber gesprochen, dass wir es tun würden«, sagte sie.
»Du hast mir nicht gesagt, dass es jetzt sein würde. Ich …«
»Was?«
»Es ist eine Sache, darüber zu reden«, sagte ich.
»Es wird keine Probleme geben.«
»Ich kann es nicht glauben. Weißt du, was du getan hast? Du hast ihn umgebracht! Du hast Tómas umgebracht!«
»Wir«, sagte Bettý und stand auf. »Vergiss das nicht. Wir haben das für uns getan. Für unsere Zukunft.«
»Zukunft?«, stöhnte ich.
Es schneite unentwegt. Bettý briefte mich mit den Lügen, die sie sich zurechtgelegt hatte.
Als er nicht von der Schlittenfahrt zurückkehrte und es anfing, dunkel zu werden, brachen wir auf, um nach ihm zu suchen. Wir fuhren auf dem anderen Schlitten und versuchten, seinen Spuren zu folgen, aber es hatte den ganzen Tag so geschneit und geweht, dass seine Spuren verschwunden waren. Wir riefen und schrien, aber vergeblich. Dann kehrten wir in das Ferienhaus zurück. Dort war keine Netzverbindung, deswegen konnten wir die Handys nicht verwenden. Wir mussten zum nächsten Bauernhof fahren, von wo aus wir die Polizei und die Rettungsmannschaften verständigten.
Die Leute auf dem Hof behielten uns bei sich. Es war Mitternacht, und wir saßen im Wohnzimmer. Die Frau des Hauses kochte Kaffee. Das Ehepaar und die schon erwachsenen Kinder kümmerten sich rührend um uns.
Obwohl Tómas mir das angetan hatte, weinte ich. Niemand verdiente es, so zu sterben.
Bettý saß nur stumm da, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen.
Polizei und Rettungsmannschaften trafen noch in der Nacht auf dem Hof ein. Wir fuhren mit ihnen zu dem Ferienhaus, das sehr abgelegen liegt, weil der Besitzer nicht belästigt werden möchte. Seit dem Morgen waren Unmengen von Schnee niedergegangen, und deswegen war es mit Schwierigkeiten verbunden, wieder zum Haus zu gelangen. Als sich herausstellte, dass kein Geringerer als Tómas Ottósson Zöega vermisst wurde, wurden nicht nur weitere Rettungsmannschaften auf den Plan gerufen, sondern auch der Hubschrauber der Küstenwache. Von der Firma wurden weitere Helikopter angemietet. Bei Tagesanbruch sah das Gelände rings um das Haus herum wie ein seltsames Schlachtfeld aus, mit Hubschraubern, Geländewagen, Motorschlitten, dutzenden von Menschen und bellenden Hunden, die sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten.
Bettý und ich beteiligten uns ebenfalls an der Suche. Wir fuhren auf Motorschlitten, stapften mit den Rettungsmannschaften durch den tiefen Schnee. Bettý bestieg einen der Hubschrauber, und sie überflogen das Gelände mit ihr. Unsere Aussagen waren wichtig. Wir konnten ihnen Hinweise geben, denn wir hatten gesehen, in welche Richtung Tómas losgefahren war, und wir konnten ihnen sagen, dass wir ihn zuletzt in östlicher Richtung am Horizont gesehen hatten. Sie hörten uns zu und organisierten die Suche in Übereinstimmung mit unseren Aussagen.
Nichts davon war wahr.
Sie sahen, dass ich unter Schock stand, und sagten mir, ich solle mich hinlegen. Im Hause herrschte ein totales Chaos, denn sie hatten es in ein Basislager umgewandelt. Ich fand ein unbenutztes Zimmer und legte mich völlig erschöpft ins Bett, nicht weil ich vierundzwanzig Stunden lang kein Auge zugetan hatte, sondern wegen dem, was Bettý und ich getan hatten. Ich sehnte mich danach, es dem Nächstbesten ins Gesicht zu schreien. Alles zu gestehen. Mich von allem zu befreien, was mich quälte.
Ich habe ihn nicht umgebracht. Falls das eine Entschuldigung ist. Ich wusste ja nicht einmal, dass Bettý es vorhatte. Ich hatte zwar immer eine gewisse Befriedigung verspürt, darüber zu reden, Pläne zu schmieden und mir vorzustellen, wie es werden würde, wenn alles vorüber wäre. Erst als Bettýs Hiebe auf ihn niedergingen, begriff ich, welch unbeugsamer und unerbittlicher Wille dahinter steckte.
Ich war nicht daran beteiligt, den Mord so zu planen. So weit waren wir in unseren Gesprächen nie gekommen. Als der Vorschlaghammer auf Tómas niederging, hatte ich das Gefühl, sie hätte gleichzeitig mich getroffen.
Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich bin mitschuldig, bis zu einem gewissen Grad mitschuldig. Aber ich bin keine Mörderin. Ich bin keine Mörderin.