15
Tómas Ottósson Zöega war das, was man einen Outdoor-Freak nennt. Das hatte aber nichts mit Umweltbewusstsein zu tun, sondern eher mit dem Gegenteil. Er jagte, angelte und verfolgte alles, was sich bewegte, mit Ausnahme von Vögeln, die dank ihrer Reaktionsschnelligkeit meist mit dem Leben davonkamen. Tómas liebte es, in der freien Natur zu sein. Im Sommer angelte er Lachs in den besten Flüssen des Landes und war dabei umgeben von isländischen und ausländischen Geschäftspartnern, von seinen Freunden, von Politikern und all den Leuten, die um ihn herumscharwenzelten. Im Herbst zog er in den Osten des Landes, um Rentiere zu schießen. Er streifte mit seinen Flinten durch die Berge und machte Jagd auf die Böcke. Während des Winters unternahm er abenteuerliche Trips ins Hochland und auf die Gletscher hinauf, tobte sich auf hochgepowerten Ski-doos und Jeeps aus und düste kreuz und quer durchs Land. Im Frühling kam es manchmal vor, dass er auf einem seiner Trawler mitfuhr. Er ging auch im Ausland auf Jagd, beispielsweise in Alaska. Einmal hatte er auch eine Safari in Kenia unternommen.
Das waren alles Unternehmungen für gestandene Männer, und normalerweise waren es immer dieselben, die daran teilnahmen. Man trank, erzählte sich obszöne Witze, und es ging hoch her – das war der Sinn des Ganzen. Auf einer solchen Angeltour vor zwei Jahren wurde einer von Tómas’ Gästen, ein Wirtschaftsprüfer aus Reykjavik, in aller Herrgottsfrühe von einem blökenden Schaf in seinem Zimmer geweckt, das ihn mit gelben Augen anstarrte. Seine Kumpane hatten es nachts bei der Angelhütte eingefangen und in sein Zimmer geschafft. Bei Tómas Ottósson musste immer etwas los sein, je verrückter es zuging, desto besser.
Bettý war nur selten mit von der Partie. Sie hatte kein Interesse an seinen Jagdausflügen und Angeltouren und blieb ihnen meist fern. Aber manchmal machten sie zu zweit etwas weniger wilde Touren. Tómas hatte ihr beigebracht, mit einem Gewehr umzugehen. Er besaß diverse Schusswaffen, Gewehre, Schrotflinten und außerdem Revolver. Das kostbarste Stück in seiner Waffensammlung war eine französische Armbrust. Bettý war eine gelehrige Schülerin und kannte sich mit einigen Dingen aus, von denen ich nicht die geringste Ahnung hatte. Sie war imstande, die Waffentypen zu unterscheiden, Kaliber, Munition, und sie wusste sogar über Pfeilspitzen Bescheid. Außerdem besaß Tómas Jagdmesser in allen möglichen Ausführungen und Größen. Bettý zeigte mir einmal, als Tómas im Ausland war, die Waffenkollektion in seinem Büro in Akureyri; sie erklärte mir die Waffen und zu welchem Zweck sie jeweils am besten geeignet waren. »Das hier benutzt er, um Rentieren den Bauch aufzuschneiden«, erklärte sie und holte ein Riesenmesser aus dem Schrank.
Sie deutete auf ein anderes Messer, das nicht viel kleiner war und einen großen silberbeschlagenen Knauf am Ende des Schafts hatte.
»Das hier ist sein Lieblingsmesser für Lachs«, sagte sie. »Der Knauf wirkt wie ein Totschläger, ein unglaublich schweres Ding, hier, heb mal. Tozzi kann mit einem Hieb dem Lachs beide Augen ausschlagen. Ich habe gesehen, wie er es gemacht hat.«
Ich fasste nach dem silberbeschlagenen Knauf. Ich habe nie einen Lachs geangelt. Ich habe nie ein Tier getötet. Ich spürte das Gewicht.
»Damit könnte man ja einen Bullen erschlagen«, sagte ich.
Bettý lächelte.
»Hat er für all diese Waffen Lizenzen?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte Bettý. »Auf den Trawlern schmuggeln sie so einiges für ihn ins Land. Waffen sind eine Leidenschaft von ihm. Die Sammlung daheim bei uns im Keller ist noch viel größer. Er hat sich ein ganzes Zimmer damit eingerichtet, und niemand außer ihm hat einen Schlüssel dazu.«
Sie nahm mir den Totschläger ab und wog ihn in der Hand.
»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte sie.
»Nachrichten?«, fragte ich und hatte keine Ahnung, wovon sie redete. »Was für Nachrichten? Über die Firma?«
»Die Firma!«, sagte Bettý mit einem abschätzigen Lachen. »Nein, über diese Leute, die vermisst waren. Das war jetzt am Wochenende. Hast du das nicht mitbekommen?«
»Die Leute, die vermisst waren?«
Sie schaute mich mitleidig an und erzählte mir dann die Geschichte. Ich kapierte ziemlich schnell, worauf sie hinauswollte. Die Sache hatte großes Aufsehen erregt und einmal mehr die Diskussion über diese leichtsinnigen Leute aufleben lassen, die schlecht ausgerüstet und in völliger Unkenntnis der Verhältnisse ins unbewohnte Hochland aufbrachen, mit dem Ergebnis, dass Rettungsmannschaften eingesetzt werden mussten, wenn sie in eine gefährliche Situation gerieten und sich eine Katastrophe anbahnte.
Drei Männer waren auf Jagd gegangen. Sie stammten aus Reykjavik, waren aber von Akureyri aus losgefahren, nachdem sie am Abend vorher dort ordentlich einen draufgemacht hatten. Es war Ende November, und das Wetter war völlig unberechenbar. In der Wettervorhersage war von starken Niederschlägen im Norden mit strichweise stürmischen Winden die Rede gewesen. Im Nordosten sollte es sogar zu einem ausgewachsenen Schneesturm kommen, und die Bevölkerung war gebeten worden, nicht ohne zwingende Gründe das Haus zu verlassen.
Die Jagdkumpane fanden, dass ihnen da, wo sie hinwollten, nichts passieren konnte, aber nach der durchzechten Nacht in Akureyri waren sie wohl kaum in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen. Bettý erzählte mir, und ich weiß nicht, woher sie diese Informationen hatte, dass einer noch total betrunken gewesen sei, als sie von Akureyri aufbrachen und auf der Ringstraße eins über Víkurskarð in östliche Richtung fuhren. Kurz nach Mittag waren sie im Jagdgebiet eingetroffen, und das Wetter hatte sich schon erheblich verschlechtert, als sie den Jeep verließen und zu Fuß mit ihren Schrotflinten losmarschierten. Der Himmel verdunkelte sich immer mehr, denn das heftige Schneetreiben, das für Nordostisland angesagt worden war, hatte sich weiter nach Westen ausgedehnt. Nach kurzer Zeit hatten sie einander aus den Augen verloren und kämpften sich orientierungslos vorwärts.
Als man am Sonntag nichts von den Männern gehört hatte und die Familien unruhig geworden waren, kamen die Rettungsmannschaften in Akureyri und im Mývatn-Gebiet zum Einsatz und ebenso der Hubschrauber der Küstenwache. Der Schneesturm hatte zu dem Zeitpunkt nachgelassen, und es dauerte nicht lange, bis man zwei der Männer fand. Sie wurden entkräftet und unterkühlt nach Akureyri ins Krankenhaus gebracht. Trotz der umfangreichen Suchaktion wurde der dritte Mann nie gefunden. Das war vor drei Wochen passiert, und vor ein paar Tagen war die Suche eingestellt worden.
»Sie haben ihn jetzt gefunden«, sagte Bettý. »Ich habe es am Wochenende in den Nachrichten gehört. Andere Jäger, die dort unterwegs waren.«
»Haben sie den dritten Mann gefunden?«
»Ja«, sagte Bettý. »Natürlich nicht ihn, sondern seine Leiche. Endlich.«
»Wo?«
»In einer Lavaspalte, in die er gestürzt war. Dort wurde er zugeschneit. In den letzten Tagen hat es so viel geregnet, dass der ganze Schnee weggetaut ist, und ein Hund von diesen Jägern hat ihn aufgespürt. Der Mann war natürlich tot. Es heißt, dass er den Sturz nicht überlebt hat.«
»Der arme Mann«, sagte ich. »Er hat nicht gesehen, wo er hintrat.«
»Sie hatten Glück, dass sie nicht alle umgekommen sind«, sagte Bettý kalt. »Wie kann man nur so blöd sein, bei so einem verrückten Wetter loszuziehen.«
Wir schwiegen.
»Sie war gar nicht mal sehr tief«, sagte Bettý plötzlich.
»Was?«
»Die Spalte«, sagte Bettý. »Sie war überhaupt nicht tief. Kaum mehr als vielleicht zwei Meter. Sie sagen, dass er vielleicht überlebt hätte, wenn er einen Helm getragen hätte.«
»Einen Helm?«
»Er hat sich den Schädel gebrochen«, sagte Bettý. »Dort gibt es viele solcher Lavaspalten mit scharfen Zacken, und er ist mit dem Kopf aufgeschlagen, als er hineinstürzte. Und dann wurde er zugeschneit.«
»Wieso weißt du das alles so genau?«, fragte ich.
»Ich habe die Nachrichten verfolgt«, erklärte Bettý. »Das solltest du auch manchmal tun.«
»Weshalb interessierst du dich so für diesen Unfall?«, fragte ich mit einem idiotischen Lächeln. Bettý war irgendwie so ernst, dass ich nicht wusste, wie ich mich zu verhalten hatte.
Sie lächelte nicht, sondern ließ ihre Blicke über die Waffensammlung schweifen und legte schließlich das Lachsmesser an seinen Platz zurück.
»Du weißt, was für einen Spaß Tozzi an solchen Jagdabenteuern hat«, sagte sie. »Das ganze Jahr über, immer, und er vertraut auch immer auf seinen Jeep und den Motorschlitten, genau wie diese drei Verrückten.«
»Ja«, sagte ich, war mir aber nicht sicher, was sie meinte. Tómas düste wie verrückt auf seinen Ski-doos herum. Ich hatte es zwar nie erlebt, aber die Polizei hatte sich hin und wieder eingeschaltet, wenn er mit abenteuerlichem Tempo über die Straßen von Akureyri bretterte.
»Na ja, ich habe halt einfach nur überlegt«, sagte Bettý.
»Was? Was hast du überlegt?«
»Tozzi trägt doch auch nie einen Helm«, sagte sie. »Nie. Er besitzt nicht einmal einen Helm.«
»Ist Tómas nicht überhaupt ziemlich nachlässig?«, fragte ich. »In all diesen Sachen, Sicherheitsgurt, Helm …«
Bettý lächelte.
»Ja«, sagte sie. »Das ist eine seiner liebenswertesten Seiten.«
*
Der Staatsanwalt hat eine Untersuchung auf geistige Zurechnungsfähigkeit angeordnet. Die Psychologin und die Psychiaterin arbeiten zusammen daran. Wir sprechen über Bettý und Tómas und mich und alles, was geschehen ist. Ich gebe mich so abweisend wie nur möglich, ich mache alle möglichen Ausflüchte und tue mein Bestes, um ihnen den Job schwer zu machen, aber das kennen sie alles schon von womöglich viel schlimmeren Fällen als meinem, und sie warten einfach ab. Sie sagen, sie hätten Zeit genug. Sie arbeiten nach einer bestimmten Methode und weichen äußerst selten davon ab. Aber manchmal kommt es doch vor.
»Was für ein Verhältnis hast du zu deiner Mutter?«, fragte die Psychiaterin einmal, als sie schon im Aufbruch war und ihren ganzen Kram in den dicken Aktenkoffer gepackt hatte. Schaute mit ihrer Warze am Kinn auf mich herunter und fragte mich so ganz nebenbei nach meiner Mutter. Vielleicht war das ihre Methode, Leute zu überraschen, ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie sich einiges von den Verhörmethoden der Polizei abgeguckt.
»Lass meine Mutter aus dem Spiel«, sagte ich.
Sie sagte eine Weile nichts und fragte dann: »Ist das vielleicht ein heikles Thema für dich?«
»Waren wir nicht fertig für heute? Ich dachte, du würdest jetzt gehen. Hast doch schon abgecheckt, welche Schrauben bei mir locker sind.«
»Findest du es unangenehm, über deine Mutter zu reden?«
»Findest du es unangenehm, über deine Mutter zu reden«, äffte ich sie nach.
»Ganz und gar nicht«, sagte sie. »Aber zu meinem Vater habe ich nie eine Verbindung gehabt. Das ist viel schwieriger. Das …«
Sie unterbrach sich mitten im Satz und fragte dann: »Und dein Vater?«
»Ich bin nicht daran interessiert, über meine Familie zu sprechen«, sagte ich und wurde wütend. »Sie hat überhaupt nichts damit zu tun, und ich habe definitiv etwas dagegen, dass du mich nach meinen Eltern oder meinem Bruder fragst oder etwas dergleichen. Ich will das nicht, verstehst du?«
Sie nickte.
»Was ist deiner Meinung nach wohl der Grund dafür?«, fragte sie schließlich, und ich sah den Starrsinn in ihren Augen. Aus dem gleichen Starrsinn heraus weigerte sie sich, die Warze am Kinn mit einem simplen, billigen und schmerzlosen Eingriff entfernen zu lassen.
»Können wir Schluss machen?«, fragte ich.
»Was ist los?«
»Nichts. Lass mich in Ruhe.«
»Das scheint dir ja eindeutig nahe zu gehen«, sagte sie.
Ich schwieg, aber sie gab nicht auf.
»Da ist irgendwas, was das Ganze erklärt, nicht wahr?«, sagte sie. »Erklärt, warum du so bist. Erklärt, was du getan hast.«
»Ich habe nichts getan!«
»In Ordnung.«
»Warum lässt du dir nicht die Warze entfernen?«, fragte ich.
Ich wollte sie verletzen. Ich wollte sehen, ob es mir gelingen konnte, sie zu verletzen. Ich wollte ihren Gesichtsausdruck sehen. Wollte wissen, ob ich ihre Selbstsicherheit erschüttern und einen Wutausbruch provozieren konnte. Natürlich weiß ich, dass man solche Fragen nicht stellen darf, unter gar keinen Umständen. Ich hätte diese Warze gar nicht wahrnehmen sollen, hätte so tun sollen, als sei sie gar nicht vorhanden. Ich weiß, dass es keine Entschuldigung ist, dass ich mehr Tage in Untersuchungshaft zugebracht habe, als ich zählen kann, und es angefangen hatte, mir zuzusetzen. Bettý hätte sie gleich am ersten Tag danach gefragt und überhaupt nicht versucht, sich zu entschuldigen.
Meine Besorgnis war unbegründet.
»Ich bin stolz darauf, wie ich bin, der Mensch zu sein, der ich bin«, sagte die Psychiaterin. »Es ist ein sehr gutes Gefühl, aber ich glaube, dass du es nie gehabt hast.«
»Verdammt noch mal, was weißt du schon darüber?«
»Vielleicht versuche ich, es herauszufinden.«
»Lass mich in Ruhe!«
»In Ordnung«, sagte sie. »Wir können uns später darüber unterhalten.«
»Ja, oder wir können es auch vergessen.«
Sie stand auf.
»Entschuldige«, sagte ich, »ich wollte dich nicht …«
»Genau das wolltest du aber. Es hat dir bloß etwas ausgemacht, weil du im tiefsten Inneren von guten Gefühlen, Anständigkeit und Fairness gesteuert wirst und nicht von Bosheit, genau wie die meisten anderen.«
Wir schauten einander in die Augen.
»Du weißt wohl immer hundertprozentig Bescheid«, sagte ich. »Du hast dir das alles wunderbar zurechtgelegt, du weißt alles und hast die Antworten auf alles …«
»Weshalb glaubst du eigentlich, dass du hier einsitzt? Weshalb wohl?«
Ich schwieg.
»Hast du nicht immer nach Anerkennung in irgendeiner Form gesucht? Geht es deiner Meinung nach nicht um die Frage nach Anerkennung? Vielleicht um etwas, was mit deiner Mutter zu tun hat?«
Ich gab ihr keine Antwort. Ich saß nur schweigend da, dachte über ihre Worte nach und wurde wütend. War Anerkennung so wichtig? Jetzt war ich aber nicht wütend auf sie, sondern auf meine Schwäche, mit der ich immer gekämpft habe. Ich wusste ganz genau, dass ich ihretwegen im Gefängnis gelandet war.
»Hau ab«, sagte ich. »Hau ab und lass mich in Ruhe. Mach, dass du wegkommst und LASS MICH VERDAMMT NOCH MAL IN RUHE!«, brüllte ich sie an.