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Wenn du bloß wüsstest.

Wenn ich daran denke, worüber wir geredet haben, bevor alles in Gang gekommen und nicht mehr rückgängig zu machen war, gehen solche Sätze wie Tellerminen in meinem Kopf hoch. War damals der Plan bereits ausgereift? Stimmte es, was sie über das Testament behauptete? Ich weiß nicht, ob sie mir etwas vorgelogen hat. Der Gedanke kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Als schließlich eine Lüge nach der anderen ans Licht kam, war es zu spät.

Ich habe genügend Zeit gehabt, um über das nachzudenken, was geschehen ist, und mich damit zu quälen. Bettý wird mir immer ein Rätsel bleiben. Ich weiß, dass ich niemals begreifen werde, wer sie ist. Ich war nicht so vorausschauend wie sie. Ich sah nie das Fernziel. Dazu vertraute ich ihr viel zu sehr. Ich sah nie das Gesamtbild, sondern nur mich als winzigen Punkt auf Bettýs Landkarte, von dem ich aber nicht wusste, wo genau er zu finden war. Das sah ich erst, als es zu spät war. Ich vertraute ihr.

Ich hätte ihr sogar mein Leben anvertraut.

Kurz nach diesem Gespräch über die Art der Beziehung zwischen ihr und Tómas klingelte es bei mir an der Tür. Ich hatte den ganzen Tag in meinem Büro in Reykjavik verbracht und wusste, dass Tómas und Bettý in der Stadt waren. Ich erwartete keinen Besuch, aber manchmal tauchte Bettý unerwartet auf, und das war an diesem Abend genau der Fall.

Sie hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht.

»Er hat mir das angetan«, schluchzte sie und fiel in meine ausgebreiteten Arme. »Ich dachte, er würde mich umbringen.«

Als ich sie umarmte, spürte ich die Wut in mir hochsteigen. Ich schloss die Tür und führte sie ins Wohnzimmer. Wir setzten uns aufs Sofa, und ich versuchte, ihr das Taschentuch vom Gesicht zu ziehen, aber sie ließ es nicht zu.

»Dieses perverse Schwein«, sagte ich.

»Ich habe ihn so oft gebeten, mein Gesicht zu verschonen.«

»Was ist passiert?«

»Ich dachte, er würde nie aufhören! Dieses Arschloch!«

»Du musst ihn verlassen, Bettý. Um Himmels willen, du musst ihn verlassen!«

Am liebsten wäre ich losgestürzt, um Tómas umzubringen. Ihn ganz einfach umbringen. Ich schäumte vor Wut. Das also kriegte er für sein verdammtes Geld. Bettýs blutiges Gesicht.

»Was ist passiert?«

Bettý antwortete nicht.

»Weiß er von uns?«, fragte ich. »Ist er deswegen über dich hergefallen?«

»Nein«, entgegnete sie. »Er weiß nichts. Er hat mich mit dem Kopf gegen die Bettkante gestoßen. Immer wieder. Ich habe ihn angefleht …«

»Wo ist er jetzt?«

»In unserem Haus.«

»Weiß er, wo du hin bist?«

»Nein. Er ist eingeschlafen. Er war betrunken.«

»Was sind das eigentlich für Spiele?«, sagte ich. »Was treibst du da eigentlich mit ihm?«

»Nichts«, sagte sie. »Ich treibe nichts mit ihm. So ist er eben. Er will es so haben. Gib doch nicht mir die Schuld daran!«

»Du hast zugelassen, dass er zu weit geht. Du musst …«

»Gibst du mir die Schuld daran?!«, rief sie und nahm das Taschentuch weg. Das halbe Gesicht war blutverschmiert. An der Augenbraue waren eine Platzwunde und eine Beule, die dunkelblau angeschwollen war. Sie legte das Taschentuch wieder auf die Wunde. Ich stand auf, holte Eis aus dem Gefrierfach, das ich in ein Handtuch wickelte und ihr reichte.

»Das musst du behandeln lassen«, sagte ich. »Du musst zur Ambulanz.«

»Es ist nicht so schlimm«, erwiderte sie.

»So kann es doch einfach nicht weitergehen«, sagte ich.

»Dieses verfluchte Schwein!«

»Du musst Schluss mit ihm machen. Sag ihm, dass es jetzt reicht. Sag ihm, dass du ihn verlassen willst.«

»Vielleicht hat er Verdacht geschöpft«, sagte Bettý.

»Hat er das gesagt? Hat er irgendwas angedeutet?«

»Nein, aber … Er ist noch nie so zügellos, so wütend gewesen«, sagte sie. »Er ist noch nie so weit gegangen. Bestimmt wird er später behaupten, dass es ein Unfall war. Dass es nicht seine Absicht gewesen ist. Dass ich aus Versehen gegen die Bettkante gestoßen bin. Dass ich gestürzt bin.«

»Bettý …«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fehlten sämtliche Worte.

»Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht«, sagte sie. »Darüber haben wir bereits diskutiert, und ich weiß, dass ich dir ins Gesicht gelacht und dir gesagt habe, dass ich ihn nie verlassen würde, und du glaubst, dass es bloß wegen des Geldes ist. Aber da ist noch so vieles andere, persönliche Dinge. Etwas, was in ihm steckt, in seinem verdammten Ego. Ich kenne ihn. Ich weiß, er würde es nie dulden, dass ich ihn verlasse. Das hat er zu mir gesagt. Dass er mich nie freigeben würde. Dass wir für immer zusammen wären. Er würde es nicht verwinden, wenn er von uns beiden erführe. Er könnte es nicht ertragen, wenn ich ihn verließe. Und auf gar keinen Fall, wenn er wüsste, dass es deinetwegen wäre. Du musst das … Er würde es nie verwinden können.«

Ich starrte sie an.

»Hast du es versucht?«, fragte ich. »Hast du es schon einmal versucht, ihn zu verlassen?«

Sie nickte.

»Wirklich? Warum hast du mir nie davon erzählt? Wie …«

»Ich hatte genug von ihm. Er hintergeht mich nach Strich und Faden. Überall lauern die Weiber in Scharen darauf, ihn mit offenen Armen zu empfangen.«

»Bettý …«

»Er betrachtet mich als sein Eigentum«, sagte Bettý, »und was er einmal besitzt, lässt er nie wieder los. Das hat er mir gesagt.«

»Dieses verdammte Schwein«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Mir war es völlig ernst. Nie zuvor hatte ich einen solchen Zorn in mir verspürt. Erst in diesem Augenblick wurde mir endgültig klar, wie sehr ich Bettý liebte und wie sehr ich mich danach sehnte, mein Leben mit ihr zu verbringen. Wie sehr ich mich danach sehnte, sie für mich allein zu haben, und welche tiefe und bohrende Eifersucht ich ihrem Mann gegenüber verspürte. Von dieser Stunde an begann ich, Tómas Ottósson Zöega zu hassen.

Dieses Gefühl habe ich nie zuvor einem Menschen gegenüber empfunden, und Bettý war sehr darauf bedacht, es wie ein zartes Pflänzchen zu hegen und zu pflegen.

*

 

Nach außen schien die Beziehung zwischen Bettý und Tómas ganz in Ordnung zu sein. Nur ein einziges Mal wurde ich Zeuge davon, dass die beiden über private Dinge sprachen. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns in einem Londoner Hotel, und sie waren offenbar der Meinung, dass sie auf Isländisch so laut reden konnten, wie sie wollten, weil niemand sie verstand. Tómas führte Vertragsverhandlungen mit einer großen Ladenkette. Ich stand ihm in den Verhandlungen mit Rat und Tat zur Seite, sowohl um zu übersetzen, weil er kaum Englisch konnte, als auch im Zusammenhang mit den Vertragsentwürfen, da war ich in meinem Metier.

Wir hatten vereinbart, uns im Foyer des Hotels zu treffen, um anschließend gemeinsam essen zu gehen. Als ich sie im Foyer nicht finden konnte, ging ich in die Bar, die sich in einem pompösen Saal befand. Es war natürlich eines der renommiertesten Hotels in London, und die Bar bildete die kreisförmige Mitte des Saals. Es gab Trennwände zwischen den einzelnen Sitzgruppen, und in einer von ihnen hörte ich Tómas und Bettý reden. Ich ging den Stimmen nach und wollte mich zu ihnen setzen, aber als mir klar wurde, dass sie sich stritten, blieb ich stehen und lauschte.

»… und ich finde das nicht fair«, hörte ich Tómas sagen. »Ich finde das ziemlich mies von dir.«

»Lass mich in Ruhe.«

»Ich bin gut genug, um dich auszuhalten. Ich bin gut genug, um dich reich zu machen und dir allen Luxus zu bieten, den du dir erträumen kannst, aber mit dir schlafen darf ich nicht.«

»Tómas, ich bin einfach nicht dazu aufgelegt.«

»Du bist schon einen ganzen Monat nicht aufgelegt‹.«

»Tómas …«

»Man könnte fast denken, dass da ein anderer im Spiel ist«, stieß Tómas hervor.

»Mein Lieber …«

»Zuzutrauen wär’s dir.«

»Sagt der Mann, der sich weigert, mich zu heiraten. Wie lange müssen wir zusammen sein, bis …«

»So langsam fange ich an zu glauben, dass es richtig war, damit zu warten.«

»Wo ich doch schon angefangen hatte, die Hochzeit zu planen …«

»Aber ohne auf einen Heiratsantrag zu warten.«

»… als du auf einmal entschieden hast, dass es nicht der richtige Zeitpunkt sei. Wann ist er denn? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Sag mir das!«

»Ähm … möchten Sie einen Drink?«

Einer der Barkeeper stand ganz plötzlich neben mir, und ich zuckte zusammen. Ich ging zu Bettýs und Tómas’ Nische und tat, als sei ich gerade erst gekommen.

»Da seid ihr also! Ich ging davon aus, dass wir uns im Foyer treffen würden.«

Tómas schwieg verbissen, während Bettý mich kalt anlächelte und mir ein leeres Glas reichte.

»Manhattan«, sagte sie. »Den kann ich wirklich brauchen. Tómas glaubt, dass ich fremdgehe.«

Ich erstarrte.

»Halt die Schnauze«, sagte Tómas.

»Bestimmt mit dir«, sagte Bettý und lachte. Sie wollte ihn provozieren, und es gelang ihr.

»Du dämliche Kuh«, sagte Tómas, stand auf und verließ die Bar. Wir sahen ihn an diesem Abend nicht wieder, und beim Einschlafen dachte ich nur: Wenn Tómas ein gewalttätiger Mensch ist, war es dann nicht äußerst gefährlich, so zu reden, und noch dazu vor Dritten?

Ich habe Bettý nie danach gefragt. Ich weiß nicht, ob es eine Rolle gespielt hätte. Sie hätte ganz bestimmt eine Antwort parat gehabt. Dieses Gespräch hatte mir aber auch vor Augen geführt, dass Bettý Tómas unbedingt heiraten wollte, auch wenn sie es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnte. Er hatte sich geweigert. Er, der sonst alles tat, was sie wollte.

Vielleicht war hier der Anfang.