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 Wieso bin ich hier gelandet?

Was muss passiert sein, dass jemand wie ich an einem Ort wie diesem landet?

Es liegt jedenfalls nicht daran, dass ich krumme Dinger gedreht hätte. Ich bin nie in meinem Leben mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wie es so schön heißt. Ich nehme an, dass ich so bin wie alle anderen, ich bezahle die Parkgebühren, fahre nicht bei Rot über die Ampel und schmuggele allenfalls hin und wieder eine Extraflasche Alkohol durch den Zoll. Das tun wir doch fast alle.

Was ist also schief gelaufen? Wie kam es dazu, dass sich mein ruhiges und einförmiges Leben in ein solches Chaos verwandelt hat?

Vielleicht war ich einsamer, als ich zugeben wollte. Ich besaß nur wenige Freunde und jetzt wahrscheinlich gar keine mehr. Ich habe aber auch kaum je Freunde gebraucht. Meine Familie ist nicht groß, aber dazu möchte ich nichts weiter sagen, denn da liegt einiges im Argen. Vielleicht mache ich mir zu wenig aus den Menschen. Vielleicht …

Bettý hat diese Isolation durchbrochen. Möglicherweise fand ich sie deswegen spannend. Sie trat zur richtigen Zeit auf den Plan, sie hatte meine Schwachstellen augenblicklich erfasst und war seltsam zielstrebig und willensstark. Bettý kannte keine Skrupel.

Vielleicht war ich ein dankbares Opfer für sie, und wahrscheinlich habe ich mich anfangs nicht genug zur Wehr gesetzt. Ich habe keine andere Entschuldigung, als dass ich keine Ahnung hatte, was da über mich hereinbrach. Bettý warf mich aus der Bahn. Ich fand es frappierend, welche Risiken sie einging. Schon nach ganz kurzer Bekanntschaft. Das machte sie unwiderstehlich. Diese Hemmungslosigkeit.

Ich weiß, es war Begierde.

Bei ihr und bei mir.

*

 

In den nächsten Wochen rief sie immer wieder bei mir an.

Erst nach geraumer Zeit gelang es ihr, mich dazu zu bewegen, sie wieder zu treffen. Ich musste ständig darauf gefasst sein, ihre rauchig griechische Stimme in der Leitung zu hören. Manchmal vergingen ein paar Tage zwischen ihren Anrufen, manchmal meldete sie sich zwei Mal an ein und demselben Abend. Es ging mir wahrscheinlich weniger auf die Nerven, als ich mir einredete. Ihre Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit waren nicht unangenehm, Bettý konnte einen nicht nerven. Wenn ich mich abends langweilte, kam es sogar vor, dass ich einen Anruf herbeisehnte. Dann sah ich im Geiste ihre kleinen Brüste vor mir, die sich unter dem Kleid abzeichneten.

Schließlich warf ich eines Abends nach einem eher frostigen Gespräch das Handtuch.

Ich kam gerade zur Tür herein, als das Telefon klingelte. Der Tag im Büro hatte mir eigentlich jede Lust genommen, ans Telefon zu gehen. Die Wohnungseigentümer des Wohnblocks in Breiðholt hatten mich den ganzen Tag angerufen und sich beschwert, weil sie irgendetwas an dem Vertragsentwurf auszusetzen hatten. Ich warf einen Blick auf das Display und sah ihre Nummer. Ich ließ es einfach klingeln. Ging ins Badezimmer, ließ Wasser in die Badewanne einlaufen, suchte eine CD von Dylan heraus und legte sie ein, stieg in das heiße Wasser und versuchte zu entspannen. Im Wohnzimmer ging wieder das Telefon. Ich wusste, dass sie es war.

Ich hätte nie antworten sollen. Hätte ich alles gewusst, was ich jetzt weiß, wäre ich nie an den Apparat gegangen. Aber was weiß man über die Zukunft? Kurz nach neun rief sie noch zwei weitere Male an, und da ich befürchtete, dass sie mich damit wachhalten würde, nahm ich ab. Ich wollte es kurz machen.

»Hör auf, bei mir anzurufen«, sagte ich, bevor sie noch Zeit hatte, einen Ton zu sagen.

»Hast du gewusst, dass ich es bin?«, sagte sie.

»Lass mich in Ruhe.«

»Hast du mich den ganzen Abend anrufen lassen, ohne abzuheben?«

»Ich möchte, dass du mit diesen Anrufen aufhörst. Ich kenne dich überhaupt nicht. Ich weiß nicht, was du von mir willst. Dein Mann ist ein eingebildeter Fatzke, der überhaupt kein Interesse daran hat, dass ich für ihn arbeite, deshalb versteh ich einfach nicht, was du von mir willst. Lass mich gefälligst in Frieden!«

Sie ließ sich nicht beirren.

»Können wir uns treffen?«, fragte sie. »Tozzi will unbedingt, dass du für ihn arbeitest. Im Hotel Saga hat er sich nur ein bisschen wichtig gemacht. Er muss immer irgendeine Schau abziehen. Er wollte bloß sehen, wie du reagieren würdest, wenn er dich so behandelt. Das war keineswegs böse gemeint.«

Ich beschloss, sie nach dem blauen Auge zu fragen. Das hatte ich bislang nicht gemacht, aber jetzt schien mir dafür die passende Gelegenheit zu sein.

»Warum hast du den Anruf nicht im Badezimmer entgegengenommen?«, fragte ich.

Ihre Antwort ließ auf sich warten. Als ihr klar wurde, worum es ging, versuchte sie zuerst, Ausflüchte zu machen.

»Ich weiß nicht, worüber du redest. Können wir uns treffen?«

»Als du dich an der Tür gestoßen hast«, sagte ich. »Du hast behauptet, du hättest im Wohnzimmer ans Telefon gehen wollen. Aber im Badezimmer ist doch auch ein Telefon, das mit Sicherheit geklingelt hat, und du hättest das Gespräch dort entgegennehmen können.«

Wieder Schweigen.

»Ich erzähle es dir, wenn du damit einverstanden bist, mich zu treffen.«

Ich ließ nicht locker.

»Vergiss es«, sagte ich. »Ich will es gar nicht wissen. Ich habe nicht das geringste Interesse an all den kleinen Geheimnissen, die du und Tozzi haben. Lass mich in Ruhe und hör auf, bei mir anzurufen.«

Dann knallte ich den Hörer auf. Nach einer halben Stunde klingelte es wieder. Ich warf einen Blick auf das Display. Es war dieselbe Nummer. Ich musste lächeln. Ich nahm das Gespräch entgegen.

»Du gibst nicht auf«, sagte ich.

»Erst, wenn du versprichst, dich mit mir zu treffen«, sagte sie. Ich hörte, wie sie den Rauch einer griechischen Zigarette von sich blies, und sah im Geiste ihren roten Mund und die Lippenstiftspuren auf dem Zigarettenpapier.

»Wo?«, fragte ich.

Ihr Haus im Þingholt-Viertel war eine Riesenvilla. Nachdem ihr Mann es gekauft hatte, wurde dies sogar in der Presse erwähnt, denn ein bekannter Autohändler war ebenfalls daran interessiert gewesen. Sie überboten sich gegenseitig, und es endete damit, dass er zwanzig Millionen Kronen mehr als den Schätzpreis auf den Tisch blättern musste. Innen war das Haus nicht viel weiter als im Rohbau oder wie man das nennt. Sämtliche Türen fehlten. Um die Küche zu vergrößern, hatte man eine Wand eingerissen und die Kücheneinrichtung entfernt. Nur der nackte Steinboden starrte einen in jedem einzelnen Zimmer an. Zum Teil waren neue Türöffnungen herausgebrochen worden, und im Fußboden im Erdgeschoss klaffte ein Loch für eine Wendeltreppe, die in den Keller führen sollte, aber noch fehlte. Die Fenster waren wegen der Malerarbeiten mit Schutzabdeckungen versehen.

Es gab drei Wohnzimmer. Als ich eintraf, stand sie in einem von ihnen und rauchte. Die Haustür war offen, ich klopfte und hörte sie von drinnen rufen, ich solle hereinkommen. Sie trug ein elegantes beigefarbenes Kostüm mit einem kurzen Rock, der kaum bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, dazu hochhackige, helle Pumps. Wir gaben einander die Hand, und sie sagte, sie würde mir gerne das Haus zeigen. Wir gingen von einem Raum zum anderen, und mir kam alles kalt und tot vor. Ich weiß noch heute, wie ich im Stillen überlegte, dass es genauso tot und kalt bleiben würde, auch wenn der Fangquotenkönig weitere hundert Millionen hineinsteckte.

»Habt ihr Kinder?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann werdet ihr hier ja reichlich Platz haben«, sagte ich.

Wir standen in der Küche, und sie erklärte mir, wo der Gasherd stehen sollte. Sie war voll und ganz bei der Sache, als sie mir das Haus beschrieb und auf sämtliche Details, was Fliesen und Parkett betraf, einging. Sie erklärte mir, dass das Haus allerdings in erster Linie Tozzis Projekt sei. Dieses Monster von einem Rohbau.

»Er meint, dass die Kinder später kommen. Er hat sowieso kaum Zeit für etwas anderes, als Geld zu scheffeln«, sagte sie.

Es hatte eher den Anschein, als hätte er keine Zeit für sie. Ihre Stimme klang nämlich gelangweilt und etwas enttäuscht. Ich stand in der Küche und fühlte mich völlig fehl am Platz. Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Leute überhaupt näher kennen lernen wollte. Ich spürte bei ihnen eine Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit, die nackt und grob und keinerlei Schranken zu kennen schienen. Beide hatten irgendetwas, das einen abstieß, etwas Ungehobeltes, gleichzeitig aber auch seltsam Faszinierendes.

»Möchtest du Kinder haben?«, fragte ich.

»Wir haben es versucht«, sagte sie. »Vielleicht klappt es eines Tages.«

Sie führte mich weiter durch das Haus, bis wir den größten Raum im Obergeschoss betraten. Sie sagte, dass hier das eheliche Schlafzimmer geplant sei, und beschrieb, wie sie es einrichten würde, wenn sie darüber zu bestimmen hätte.

Ich nickte, aber mein Interesse hielt sich in Grenzen.

»Wirst du für uns arbeiten?«, fragte sie.

»Ich glaube, ich habe nichts …«

Sie gestattete mir nicht, den Satz zu Ende zu führen.

»Doch«, sagte sie, und wieder fiel mir das Wort ein: hoheitsvoll. Das Parfüm, das sie verwendete, kannte ich nicht, aber es hatte uns auf dem Gang durch das Haus begleitet und an etwas Gefährliches und Aufregendes gemahnt.

»Kannst du es nicht mir zuliebe tun?«, fragte sie und trat näher an mich heran.

»Geld kann man natürlich immer gebrauchen«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen.

Sie trat noch ein Stück näher in ihren hochhackigen Schuhen und dem engen Rock, der ihre kräftigen Schenkel so sexy wirken ließ, dass ich kaum meine Augen abwenden konnte. Ich rührte mich nicht vom Fleck und sah sie an, sah das Funkeln in ihren braunen Augen, betrachtete ihre vollen Lippen und ihr schönes, irgendwie südländisches Gesicht.

Sie trat dicht an mich heran.

»Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst«, sagte sie mit gesenkter Stimme.

Außer uns war niemand im Haus. Sie hatte mir gesagt, dass am nächsten Tag mit den Instandsetzungsarbeiten begonnen würde und Heerscharen von Handwerkern zu erwarten seien, um den Palazzo des Fangquotenkönigs auf Hochglanz zu bringen. Ich war völlig verwirrt. Sollte ich bleiben oder mich höflich entschuldigen und verabschieden, oder lieber schnurstracks aus dem Haus rennen und nie wieder zurückkehren?

Sie schien zu wissen, was in mir vorging.

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie so leise, dass ich es kaum hören konnte.

Dann tat sie etwas, was ich zeit meines Lebens nicht vergessen werde.

Ihre Blicke glitten an mir herunter, sie ergriff meine Hand und führte sie an ihrem Schenkel hoch. Ich konnte meine Blicke nicht von ihr abwenden. Sie schob die Hand bis unter den Rocksaum hoch und höher. Sie trug keine Strumpfhosen, sondern Seidenstrümpfe, die mit Strapsen befestigt waren. Meine Finger glitten über den Gummizug. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mir war noch nie so etwas passiert. Ihr Mund öffnete sich, und sie schob meine Hand an die Innenseite des Schenkels und so weit nach oben, bis ich ihre sanfte Hitze spürte und mir klar wurde, dass sie keinen Slip trug.

Ich wollte meine Hand zurückziehen, aber sie merkte es und hielt mein Handgelenk fest gepackt. »Ist schon in Ordnung«, wiederholte sie sanft. Ihr Gesicht näherte sich, und sie küsste mich. Unwillkürlich öffnete ich den Mund und spürte ihre Zunge, die leicht und vorsichtig und ein wenig zitternd eindrang.