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Bettý.

Keine habe ich so gut gekannt, und keine war mir so fremd. Sie war wie ein offenes Buch für mich, aber gleichzeitig war sie mir auch ein komplettes, unlösbares Rätsel.

Gemeinsam mit meinem Rechtsanwalt habe ich versucht, Bettýs Vergangenheit auszuleuchten. Ich habe ihm alle Informationen, die mir zur Verfügung standen, überlassen und ihn auf Leute, zumeist Frauen, hingewiesen, mit denen er sich in Verbindung gesetzt hat. Wir haben einiges über ihre Jugend herausgefunden, wovon ich keine Ahnung hatte, aber über den Zeitraum, in dem sie erwachsen wurde und bevor sie Tómas Ottósson Zöega kennen lernte, hatten wir so gut wie nichts in den Händen.

Sie wurde 1967 geboren und wuchs in einer der Sozialwohnungen in Breiðholt auf, die damals entstanden. Ihre Eltern waren alles andere als Stützen der Gesellschaft. Dauernd erschien die Polizei bei ihnen wegen Ruhestörung oder um ihren Stiefvater abzutransportieren, der immer wieder straffällig wurde. Bettýs Vater war gestorben, als sie noch ganz jung war. Das Jugendamt musste sich mit der Familie befassen, mit Bettý und ihren beiden älteren Brüdern. Ausschweifendes Leben, Alkohol und Drogen waren in ihrem Zuhause an der Tagesordnung. Daher hatte sie ihre Einstellung zum Leben, dass alles erlaubt ist und man sich auf niemanden verlassen kann außer auf sich selbst. Schon als Teenager hatte sie bestimmt mehr und schlimmere Erfahrungen hinter sich als manches andere Mädchen in ihrem Alter. Sie wusste sich zu helfen. Sie hatte nicht nur gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, sondern auch begriffen, dass es ganz allein von ihr abhing, wie sie im Leben zurechtkam. Sie war wegen verschiedener Delikte wie Diebstahl und Drogenhandel mit der Polizei in Berührung gekommen, bevor sie vierzehn war. Später zeigte sie ihren Stiefvater an, weil er versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Mit achtzehn war sie von zu Hause ausgezogen.

Von einer überaus merkwürdigen Begebenheit in ihrem Leben hörte ich zufällig, als ich eines Abends mit ein paar Kollegen in Akureyri ausgegangen war. Wir saßen in einem Lokal in der Innenstadt, und irgendjemand fing an, über Bettý zu reden und diese seltsame Geschichte zu erzählen.

Als sie etwa zwanzig war, lebte Bettý eine Weile in Dalvik in Nordisland und arbeitete in der Fischfabrik. Zur gleichen Zeit wurde in diesem Landesteil ein Schönheitswettbewerb veranstaltet. Bettý landete auf dem ersten Platz. Das Mädchen, das seinerzeit eigentlich als sichere Siegerin galt, hatte zwei Tage vor der Entscheidung einen Unfall. Sie legte Einspruch ein gegen das Ergebnis des Wettbewerbs und behauptete, dass der Junge, mit dem Bettý damals zusammenlebte, sie absichtlich angefahren hatte, als sie abends mit dem Fahrrad unterwegs war. Sie hatte sich die Nummer gemerkt, aber es stellte sich heraus, dass das Auto gestohlen war. Es gab keine anderen Zeugen bei diesem Vorfall. Bettý und ihr Freund stritten die Anschuldigungen des Mädchens hartnäckig ab, und Bettý behielt ihren Titel.

Ich hörte mir die Geschichte an und versuchte, mich nach einigen Details zu erkundigen, ohne zu viel Neugier oder Interesse an den Tag zu legen, aber mehr wusste der Mann nicht. Ich habe Bettý nie nach dieser Geschichte gefragt. Vielleicht war das auch einer von den Fehlern, die ich gemacht habe.

Einige Jahre nach diesem Schönheitswettbewerb wurde Bettý immer öfter in Begleitung von Tómas Ottósson Zöega gesehen, einem zweimal geschiedenen Großreeder aus Akureyri, der mehr als zwanzig Jahre älter als sie war. Das stieß auf lebhaftes Interesse seitens der Regenbogenpresse, wo häufig Bilder erschienen, wenn sie zusammen ausgingen.

Bettý hatte sich schon immer zu helfen gewusst.

Tozzi liebte Bettý. Er machte ein neues Testament zu ihren Gunsten, als Bettý ein Kind von ihm erwartete, und überschrieb ihr Besitztümer im Gesamtwert von etwa zweihundert Millionen Kronen. Tómas hatte keine Kinder, und je älter er wurde, desto mehr wünschte er sich welche. Er wollte einen Erben. Jemanden, der nach ihm den ganzen Reichtum übernehmen sollte. Bettý sollte ihm diesen Erben schenken.

Sie waren zwei Jahre lang zusammen gewesen, als Bettý schwanger wurde und er seine Freude mit einem neuen Testament dokumentierte. Aber zwei Monate später hatte Bettý eine Fehlgeburt, und seitdem war nichts geschehen. Es sah nicht danach aus, dass ein Tómas Zöega junior jemals das Licht der Welt erblicken würde, und Bettý bekam das zu spüren. Ihre Beziehung zu Tómas wurde immer schwieriger. Zwar hatte er das Testament noch nicht geändert, aber sie merkte, dass sein Interesse an ihr nachließ.

So erzählte sie es mir. Eine Abends begann sie wie aus heiterem Himmel über die gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf Ehe und Erbrecht zu reden. Nach isländischem Gesetz ist der Partner der so genannte gesetzliche Erbe, was bedeutet, dass die Frau im Falle des plötzlichen Ablebens des Mannes Alleinerbin ist, falls es keine Kinder gibt. Es bedarf keines Testaments, keiner Papiere, die Gesetze allein besagten, dass die Ehefrau alles bekam. Falls Tómas das Zeitliche segnete, würde Bettý alles erben.

Falls sie verheiratet wären.

»Warum habt ihr nicht schon längst geheiratet?«, fragte ich und erinnerte mich an das Gespräch in London.

»Es stand immer auf dem Programm«, sagte Bettý. Sie zuckte mit den Achseln. »Er war aber bereits zweimal verheiratet gewesen und meinte, er wolle unsere Beziehung vorsichtiger angehen. Und jetzt …«

»Was?«

»Jetzt ist sie auf dem absteigenden Ast«, sagte sie. »Ich spüre das, es wird nicht mehr lange gut gehen.«

»Ist das der Grund, warum ihr nicht geheiratet habt?«, fragte ich. »Will er nicht, dass dir das Unternehmen zufällt?«

»Ich habe das Testament gesehen«, sagte Bettý. »Ich bekomme mehr als genug, wenn irgendwas passiert.«

Als Bettý und ich uns das erste Mal begegneten, befand sich ihre Beziehung in dieser kritischen Phase. Tómas Ottósson hielt Ausschau nach einer anderen Frau, einer Frau, mit der er Kinder bekommen könnte, vielleicht sogar eine jüngere als Bettý.

Bettý weinte, als sie mir von der Fehlgeburt erzählte.

Später erfuhr ich die Wahrheit über diese kullernden Tränen, aber da war es zu spät.

*

Ab und zu besucht mich eine Psychologin von der Staatsanwaltschaft. Auch die Psychiaterin, die manchmal kommt, sich mit mir unterhält und mir irgendwelche Tests vorlegt, arbeitet in ihrem Auftrag. Zwei Frauen. Ich weiß, dass sie mich nicht verurteilen. Sie machen einen sehr liberalen Eindruck. Die Psychologin ist etwa zehn Jahre älter als ich und immer wie aus dem Ei gepellt, sie färbt sich die Haare blond und mit künstlerischer Akribie die Augenbrauen schwarz, hat lange Mascara-Wimpern und ein beinahe glänzendes Make-up, das jedes Fältchen, jeden unerwünschten Fleck verhüllt. Ich verstehe sie gut. Sie hat ein schönes Gesicht und versucht nach Kräften, es zu konservieren. Die Psychiaterin dagegen macht einen richtig schlampigen Eindruck. Manchmal geht ein unangenehmer Geruch von ihr aus, wenn sie mir in Jeans und dickem, grünem Pullover gegenübersitzt. Hässlich. Sie hat tatsächlich eine Warze am Kinn. Wenn ich sie anschaue, muss ich unwillkürlich an Gundel Gaukeley denken.

Indem ich das Geschehene wieder und wieder rekapituliere, kann ich nicht umhin, mir Gedanken darüber zu machen, wie unser Bettgeflüster zu dem Vorsatz werden konnte, einen Mord zu begehen, aber begreifen tue ich es trotzdem nicht. Wie sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, ich kann den Augenblick nicht festmachen. Ich weiß nicht genau, wann es geschah. Wann sich die Idee in einen festen Vorsatz verwandelte. Vielleicht habe ich es aus Scham in die Tiefen des Unterbewusstseins gedrängt. Es zu vergessen versucht wie ein Geschwür. Doch es verschwindet nicht, auch wenn ich das möchte. Ganz im Gegenteil, es wuchert immer mehr und verursacht mir unerträgliche Qualen.

Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es diesen einen Augenblick gar nicht. Ich glaube, dass wir niemals zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt haben: Ja, das machen wir, wir bringen Tómas um. Wenn es so war, habe ich es vergessen. Vielleicht willentlich. In Wirklichkeit wurde auch nie etwas ausdrücklich gesagt, oder ich erinnere mich nicht mehr. Nichts, was von Bedeutung gewesen wäre. Wir haben nicht dagesessen und bis tief in die Nacht hinein mit mordlüsternem Glitzern in den Augen die Möglichkeiten ausgelotet. Dann hätte ich nämlich gemerkt, wie falsch und absurd alles war. Das wäre vielleicht besser gewesen. Aber so ergab eines das andere.

Oder zumindest sehe ich es so. Ich weiß, dass ich von meiner Veranlagung her zu keiner Gewalttat fähig bin. Trotz allem. Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Die meisten Menschen sind so, oder zumindest möchten sich die meisten gern weismachen, dass sie so sind. Aber niemand sollte sich selbst überschätzen.

Wir haben darüber geredet, was wir tun würden, wenn es keinen Tómas mehr gäbe. Das war wie ein Spiel. Was würdest du mit all den Millionen machen, wenn Tómas tot wäre? Wir stellten uns vor, wie viel Zeit wir füreinander hätten. Wir redeten über die Freiheit. Über unsere immer währende Liebe.

So ist es meiner Meinung nach gewesen. Vielleicht war es aber Selbsttäuschung, ich weiß es nicht. Ich ging davon aus, dass Bettý und ich uns auf einer Ebene befänden. Mit der Zeit übernahm ich aber völlig unkritisch ihre Sicht der Dinge. So lief es in unserer Beziehung. Sie bestimmte, was wir machten, dachten, besprachen. Es war Bettý, die uns langsam, aber sicher auf das Verhängnis zusteuerte, indem sie in mir Zorn und Hass auf Tómas Ottósson Zöega schürte. Die längste Zeit war ich der Meinung, dass wir nur über eine ferne und völlig irreale Möglichkeit sprachen. Es war irgendwie ein Spiel zwischen uns, das aber immer ernster wurde, bis es dann kein Zurück mehr gab.

Für mich war es Spiel und nicht Ernst. Mir ist inzwischen zwar klar, dass ich in gewissem Sinne Verantwortung trage, aber genauso steht fest, dass ich völlig unschuldig bin. Das war meine Aussage bei der ersten Vernehmung, und ich wiederhole es stets und ständig: Ich habe nichts getan. Ich habe nichts getan. Sie haben mir selbstverständlich nicht geglaubt. Das verstehe ich gut. Ich habe nichts an der Hand, um es beweisen zu können. Nur die Wahrheit ist auf meiner Seite: Ich habe nichts getan.

Ich habe keine Entschuldigung und suche auch nach keiner. Ich bin der Meinung, einige meiner Schwächen zu kennen, die mich in diese entsetzliche Situation brachten. Wir alle haben Schwächen. Es hat keinen Sinn, das abzustreiten. Manche Menschen sind vielleicht stärker als andere und können sie so weit in den Griff bekommen, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihr Handeln haben. Die meisten von uns haben irgendwann im Leben einmal gesagt: Verdammt noch mal, das Schwein könnte ich umbringen! Die meisten von uns lassen es aber dabei bewenden. Das ist die Regel.

Während ich daliege und zurückdenke, kann ich diesen Augenblick nicht festmachen, von dem an sich unser beider Leben wie von selbst nur noch um den Mord an Tómas Ottósson Zöega zu drehen schien. Als sich mein Leben in diesen nicht enden wollenden Albtraum verwandelte, aus dem ich um jeden Preis erwachen möchte.

Vielleicht war es, als Bettý anfing, über diesen Mann zu reden, der in eine Lavaspalte stürzte?