MONTAG, 14. DEZEMBER
Nur noch zehn Tage bis Weihnachten. Die Wettergottheiten freuten sich und versuchten zum sechstenmal innerhalb von zwei Monaten, die Stadt zum Fest zu schmücken. Auf den weiten Rasenflächen vor dem klobigen grauen Polizeigebäude lagen bereits zwanzig Zentimeter Schnee. Die Pflastersteine vor dem Eingang waren spiegelglatt, und nur zehn Meter von der Tür entfernt rutschte Håkon Sand sein verletztes Bein weg. Der Taxifahrer hatte sich geweigert, die nicht gestreute Auffahrt zu befahren.
Er kam wieder auf die Beine und humpelte ins Warme. Wie immer war die Eingangshalle voll. Håkon blieb einen Moment stehen und ließ seinen Blick zu den oberen Etagen hinaufwandern. Das Haus stand so fest da wie immer. Mit dem Nachrichtendienst sah es nicht ganz so gut aus.
Der Lärm war noch längst nicht verklungen. Die Zeitungen erschienen jeden Tag mit Sonderausgaben, und die Nachrichtenredaktion des Fernsehens hatte drei Tage lang Extrasendungen ausgestrahlt. Der sofortige Rücktritt des Justizministers war ein Versuch gewesen, die übrige Regierung zu retten, aber noch stand nicht fest, ob das gelingen würde. Der Nachrichtendienst hatte einen wütenden Untersuchungsausschuß am Hals, und schon war die Rede von einer radikalen Umstrukturierung. Ein erst vor wenigen Monaten erschienenes Buch, das die Beziehung zwischen Regierungspartei und Geheimdiensten zum Thema hatte, war von neuer und erschreckender Aktualität. Eine riesige Nachauflage war im Druck. Ein bürgerlicher Politiker, der seit langem behauptet hatte, überwacht und abgehört zu werden, ohne daß irgendwer darauf eingegangen wäre, wurde plötzlich ernst genommen.
Håkon war es schnurz, daß ihm der Fall entzogen worden war, und auch der absolute Mangel an anerkennenden Worten von seinen Vorgesetzten machte ihm nichts aus. Der Job war getan, der Fall erledigt, er hatte Samstag und Sonntag frei. Das letzte freie Wochenende war eine Ewigkeit her.
Vor der Tür mit den halbabgerissenen Disneyfiguren blieb er stehen und machte sich an seinem Schlüsselbund zu schaffen. Er betrat sein Büro und blieb abrupt stehen, als er die Figur auf dem Schreibtisch erblickte.
Es war Frau Justitia. Im ersten Moment hielt er sie für das Exemplar der Polizeipräsidentin und begriff überhaupt nichts. Aber dann sah er, daß diese Ausgabe größer und blanker war. Vermutlich war sie ziemlich neu. Außerdem war sie stilisierter; die Dame war hoheitsvoller, und der Künstler hatte sich bei der Anatomie einige Freiheiten erlaubt. Der Körper war im Verhältnis zum Kopf zu lang, und das Schwert ragte von der Taille her schräg nach oben, statt an ihren Röcken nach unten zu hängen. Sie schien zuschlagen zu wollen.
Er ging zum Tisch und hob die Figur hoch. Sie war schwer. Die Bronze glänzte rot, sie hatte noch keine Patina angesetzt. Eine Karte fiel zu Boden. Er stellte die Figur zurück auf den Tisch, bückte sich, wobei er das verletzte Bein steif ausstreckte, und hob den kleinen Briefumschlag auf.
Er war von Karen. »Liebster Håkon. Ich danke Dir mit tausend zärtlichen Küssen für alles. Du bist mein Held. Ich glaube, ich liebe Dich. Gib mich nicht auf. Ruf nicht an, ich melde mich bald. Deine (ob Du’s glaubst oder nicht) Karen. PS: Herzlichen Glückwunsch!!! Dies.«
Er las den Brief wieder und wieder. Seine Hände zitterten, als er mit der strahlenden Bronzefigur spielte. Sie war kühl und glatt, es war angenehm, sie zu berühren. Einen Augenblick stutzte er und kniff zweimal schnell die Augen zu. Er war ganz sicher, es gesehen zu haben.
Die Göttin der Gerechtigkeit hatte ganz kurz hinter der soliden Binde, durch die sie blind gemacht worden war, hervorgelugt. Ein Auge hatte ihn direkt angesehen, und er hätte schwören können, daß sie für den Bruchteil einer Sekunde gezwinkert hatte. Und gelächelt. Ein schräges, rätselhaftes Lächeln.