DIENSTAG, 13. OKTOBER
Das Titelbild fiel dramatisch aus. Die Leute im Bildarchiv hatten eines der schon früher veröffentlichten Fotos von Ludvig Sandersens Leichnam herausgesucht und mit einem alten Archivbild von Hansa Olsen zusammenmontiert. Es war sicher über zehn Jahre alt, unscharf und offenbar eine Vergrößerung aus einem ursprünglichen Gruppenbild. Olsen sah überrascht aus und schien zwinkern zu wollen, weswegen seine Augen träge und geistesabwesend blickten. Die Schlagzeile war hellrot und zog sich teilweise über die Bildmontage.
»Mafia steht hinter zwei Morden!« lautete die gewaltige Botschaft. Håkon Sand erkannte sich kaum wieder. Er las die drei Seiten, die die Zeitung dem Artikel spendiert hatte. Oben auf jeder Seite stand weiß in einem schwarzen Streifen: »Der Mafia-Fall«. Er knirschte vor Ärger mit den Zähnen, mußte bei genauerem Hinsehen jedoch zugeben, daß Myhreng keine direkten Unwahrheiten brachte. Die Tatsachen waren gedehnt worden, die Spekulationen grob und so gut getarnt, daß sie möglicherweise als Wahrheit durchgehen konnten. Aber Håkon war korrekt zitiert und durfte sich nicht beklagen.
»Nun gut. Es hätte schlimmer sein können«, sagte er und reichte die Zeitung an Karen Borg weiter, die sein Büro inzwischen gut genug kannte, um sich selbst aus dem Vorzimmer kalten Kaffee zu holen. »Höchste Zeit, daß du etwas über deinen Klienten erzählst«, verkündete er. »Der Knabe sitzt noch immer in der Unterhose da und weigert sich, den Mund aufzumachen. Und wo wir nun schon so viel wissen, mußt du anstandshalber weiterhelfen.«
Sie musterten sich gegenseitig. Karen griff zu einer stillen Kampfstrategie aus alten Zeiten. Sie fing seinen Blick auf und hielt ihn so lange fest, bis alles außer ihren graugrünen Augen zu einem Nebel zerfloß. Er konnte die winzigen braunen Sprenkel in der Iris erkennen, im rechten Auge mehr als im linken; er zwinkerte nicht, traute sich nicht, aus Angst, daß sich dabei sein Blick unrettbar senken würde. Verdammt, es war ihm nie gelungen, dieses Spiel zu gewinnen. Immer starrte sie ihn so lange an, bis er verlegen den Blick senkte, der Verlierer, der Kleinere von beiden.
Diesmal mußte sie aufgeben. Er sah, daß sich ihre Augen mit Wasser füllten, daß sie zwinkern mußte und daß schließlich ihr Blick seitlich auswich, begleitet von einer schwachen Röte, die sich über die linke Wange zog. Der Sieger triumphierte nicht. Er war verblüfft von seiner Haltung. Ihre Flanken lagen offen, aber er faßte einfach ihre Hände.
»Ich habe ein bißchen Angst«, sagte er aufrichtig. »Wir wissen nicht viel über diese Bande – oder Mafia, wie sie jetzt heißt. Aber wir wissen, daß das keine Sonntagsschüler sind. Die Zeitung hat sicher Grund zu ihrer Behauptung, daß diese Leute über Leichen gehen, um ihre Interessen zu wahren. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sie wissen, daß du etwas weißt. Jedenfalls haben sie den Verdacht.«
Er erzählte ihr von Hanne Wilhelmsens auf Abwege geratener Notiz. Das machte sichtlich Eindruck. Ihre Haltung war ihm völlig fremd, sie schien bei ihm Schutz zu suchen, bei Håkon, den sie ein ganzes Studium hindurch beschützt und getriezt hatte.
»Wir können dich nicht beschützen, wenn du uns nicht erzählst, was du weißt!« Er merkte, daß er ihre Hände zu fest preßte. Dort, wo er sie gehalten hatte, waren sie jetzt weiß und rot gefleckt. Er ließ sie los.
»Han van der Kerch hat mir einiges erzählt. Nicht viel, er will nicht, daß es sich herumspricht. Aber eins darf ich euch sagen. Ich weiß nur nicht, was das wert ist.« Sie hatte sich gefaßt. Ihre Schultern waren wieder straff, und ihr Kostüm saß, wie es sich gehörte. »Er sollte Geld für eine Lieferung holen. Als er die Scheine durchzählte, hat er gemerkt, daß einer mit Kugelschreiber beschrieben war. Eine Telefonnummer. Die hat er vergessen, aber daneben standen drei Buchstaben, die ihm vorkamen wie Anfangsbuchstaben; zwischen ihnen standen Punkte. Er erinnert sich an die Buchstaben, weil sie ein Wort ergaben. J.U.L.«
»JUL?«
»Ja, mit Punkten dazwischen. Er hat gegrinst und dem Typen gesagt, er wolle keine beschmierten Geldscheine. Der Typ schnappte sich den Zettel und war ziemlich sauer.«
»Hast du dir überlegt, was das bedeuten könnte?«
»Ja, allerdings.«
Es wurde ganz still, und sie waren in ein vertrautes Muster zurückgefallen.
»Was hast du dir überlegt, Karen?« bat Håkon leise.
»Ich habe mir überlegt, daß es in Oslo nur einen Anwalt mit diesen Initialen gibt. Nur einen, ich habe in der Anwaltsliste nachgesehen.«
»Jørgen Ulf Lavik.«
Håkon Sands Tip war nicht sehr beeindruckend. Sie hatten mit Lavik studiert; er war schon damals eine bekannte Gestalt gewesen. Begabt, umschwärmt und politisch engagiert. Håkon hatte Karen lange verdächtigt, in ihn verliebt zu sein, was sie bei jeder kleinsten Anspielung kategorisch bestritten hatte. Lavik war ziemlich konservativ, und Karen hatte für die Soz. Front im Fachschaftsrat gesessen. Damals waren solche Schranken fast unüberwindbar gewesen, und Karen hatte ihren Kommilitonen oft in aller Öffentlichkeit als reaktionäres Arschloch bezeichnet. Nur zweimal hatten sie miteinander geredet, unter anderem, weil sie sich gemeinsam gegen die Einführung des Numerus clausus gewehrt hatten. Er war sogar einmal in der Hütte ihrer Eltern gewesen, zu einem Wochenendseminar, das sich zur puren Sause entwickelt hatte. Danach war Lavik ihr auch nicht sympathischer gewesen.
»Ich kapier’ das alles nicht. In der Zeitung steht ja, daß Juristen hinter dieser Bande stecken könnten. Ich kann mir Jørgen Lavik zwar nicht als Bandenchef vorstellen, aber nimm dir diese Information zu Herzen.« Håkon Sand nahm sich diese Information in der Tat zu Herzen. Um so mehr, als Karen gleich darauf hinzufügte: »Du wirst es noch selbst herausfinden. Aber um dir die Mühe zu ersparen: Jørgen hat seine Karriere bei einem von den ganz Großen angefangen. Errätst du, bei wem?«
»Peter Strup«, antwortete Håkon Sand prompt, und sein Gesicht öffnete sich zu einem riesigen Lächeln.
Ehe Karen Borg an diesem Nachmittag das Polizeigebäude verließ, überreichte er ihr ein Walkie-talkie. Ihr kam das Gerät altmodisch vor, viel klobiger als ein Mobiltelefon. Sie drehte an einem Knopf, und dann knisterte und rauschte es wie in einem amerikanischen Kriminalfilm. Danach mußte sie auf einen anderen Knopf drücken, um direkten Kontakt mit der polizeilichen Operationszentrale aufnehmen zu können. Sie hieß WT 04. Die Zentrale war WT 01.
»Das mußt du immer bei dir haben«, befahl Håkon. »Benutz es, sowie etwas ist. Die Operationszentrale weiß Bescheid. In fünf Minuten kann die Polizei bei dir sein.«
»Fünf Minuten können lang sein«, erklärte Karen Borg.