MONTAG, 12. OKTOBER

»Das geht einfach nicht, verdammte Pest!« Håkon Sand fluchte nur, wenn er wütend war. »Daß wir, zum Teufel, nicht mal im Büro sicher sind! Und das an einem Scheißsonntag!« Er spuckte die Wörter aus; Vorwürfe der absoluten Unfähigkeit an unbekannte Adresse. Er stand mitten im Zimmer und stampfte im Takt seiner Beschimpfungen mit den Füßen auf.

»Was bringen schon abgeschlossene Türen und Sicherheitsvorschriften, wenn jeder Idiot uns jederzeit überfallen kann?«

Der Abteilungschef von A 2.11, ein Stoiker in den Fünfzigern, hörte und verfolgte diesen Auftritt, ohne eine Miene zu verziehen. Er sagte erst etwas, als der Adjutant sich müde gewütet hatte.

»Es hat keinen Zweck, irgendwen Bestimmtes dafür verantwortlich zu machen. Wir sind keine Festung, und wir wollen auch keine sein. In einem Haus mit fast zweitausend Angestellten kann jeder sich dranhängen, wenn jemand den Personaleingang benutzt. Man braucht bloß das Tempo zu koordinieren. Man kann sich bei der Kirche hinter einem Baum verstecken und dann jemandem mit Türkarte folgen. Du hast doch sicher auch schon Leuten die Tür aufgehalten, ob du sie nun gekannt hast oder nicht.«

Håkon Sand gab keine Antwort, was der Abteilungsleiter korrekt als Eingeständnis auffaßte.

»Außerdem kann man sich theoretisch im Haus verstecken, solange es offen ist, in den Toiletten oder sonstwo. Raus kommt man immer wieder. Statt zu fragen, wie, sollten wir uns lieber fragen, warum.«

»Das ist ja wohl verdammt klar«, tobte Håkon Sand weiter.

»Der Fall, zum Henker! Der Fall! Der ist aus Hannes Büro verschwunden. An sich keine Tragödie, wir haben mehrere Kopien, aber offenbar will irgendwer herausfinden, was wir wissen.« Er unterbrach sich und sah auf die Uhr. Seine Wut ebbte zu peinlicher Verlegenheit ab. »Ich muß los. Bin um neun Uhr zur Chefin bestellt. Tu mir einen Gefallen. Ruf im Krankenhaus an und erkundige dich, ob Hanne Besuch empfangen kann. Leg mir einen Zettel hin, sowie du etwas weißt.«

 

Frau Justitia war prachtvoll. Sie ragte auf der Tischplatte fünfunddreißig Zentimeter hoch auf, und die oxydierte Bronze schien auf ein beträchtliches Alter hinzuweisen. Die Binde um ihre Augen war fast grün, das Schwert in ihrer Rechten rötlich. Aber die beiden flachen Waagschalen waren noch ganz blank. Håkon Sand sah, daß es sich um eine echte Waage handelte, sie bewegte sich schwach im Zug, als er das Zimmer betrat. Er konnte sich nicht beherrschen und berührte die Figur.

»Schön, nicht?« Die uniformierte Frau hinter dem Schreibtisch stellte eher eine Tatsache fest, als daß sie gefragt hätte.

»Die hat mir mein Vater letzte Woche zum Geburtstag geschenkt. Sie hat ewig in seinem Büro gestanden. Ich habe sie schon als Kind bewundert. Mein Urgroßvater hat sie in den USA gekauft. Irgendwann um 1890. Vielleicht ist sie wertvoll. Prachtvoll ist sie auf jeden Fall.«

Sie war Oslos erste Polizeipräsidentin. Sie hatte diesen Posten von einem stattlichen Bergenser übernommen. Der war umstritten gewesen und hatte dauernd mit seinen Angestellten im Clinch gelegen. Dennoch verfügte er über eine Integrität und eine Tatkraft, die im Haus Mangelware gewesen waren, bis er vor sieben Jahren seine Stellung angetreten hatte. Er hatte einen weitaus besseren Arbeitsplatz verlassen, als er vorgefunden hatte, und das hatte seinen Preis gehabt. Seine Familie war erleichtert gewesen, als er in Pension gehen konnte, etwas verfrüht zwar, aber in allen Ehren.

Die fünfundvierzigjährige Frau, die jetzt auf seinem Stuhl saß, war von ganz anderem Kaliber. Hakon Sand konnte sie nicht ausstehen. Sie war stinkfein, intriganter als irgendwer geahnt hatte. Sie hatte sich im Laufe vieler Dienstjahre zielsicher in diese Stellung manövriert, hatte sich an die richtigen Personen gehalten, die richtigen Gesellschaften besucht und bei allen beruflichen Terminen den richtigen Leuten zugeprostet. Ihr Mann arbeitete im Justizministerium, was durchaus nicht zu ihrem Nachteil war. Außerdem war sie unbestreitbar tüchtig. Wenn ihr Vorgänger nicht unbedingt in Pension hätte gehen wollen, hätte sie sicher eine Zwischenstation als Staatsanwältin eingelegt. Håkon Sand wußte nicht, was schlimmer gewesen wäre.

Er brachte seine Erklärungen so nüchtern wie möglich vor, aber sie waren alles andere als vollständig. Nach kurzem Überlegen kam er zu dem Schluß, daß es eine echte Frechheit wäre, seiner obersten Vorgesetzten nicht von dem Zusammenhang zu erzählen, den sie zwischen den Fällen sahen. Zu seinem Ärger begriff sie alles sofort, stellte einige angemessene Fragen, nickte zu seinen Schlußfolgerungen und sprach ihm zuletzt ihre Anerkennung für seine bisherige Arbeit aus. Sie bat darum, auf dem laufenden gehalten zu werden, am liebsten schriftlich. Dann fügte sie noch hinzu:

»Nicht zu viel spekulieren, Håkon. Nimm dir einen Mord nach dem anderen vor. Der Sandersen-Fall ist klar. Die technischen Beweise reichen für die Verurteilung. Such nicht nach Gespenstern, wo es keine gibt. Das kannst du übrigens als Befehl auffassen.«

»Strenggenommen ist doch wohl der Staatsanwalt in einer Ermittlungsfrage mein Vorgesetzter«, parierte er.

Als Antwort wurde er entlassen.

Als er aufstand, fragte er: »Warum hat sie eigentlich die Augen verbunden?« Er nickte zur Göttin der Gerechtigkeit hinüber, die auf der riesigen Tischplatte stand und nur zwei Telefone zur Gesellschaft hatte.

»Sie soll sich von keiner Seite beeinflussen lassen. Sie soll blinde Gerechtigkeit üben«, belehrte die Polizeipräsidentin ihn.

»Aber mit verbundenen Augen kann sie doch nichts sehen«, sagte Håkon Sand, ohne eine Reaktion zu provozieren. Der König, der neben seiner Gemahlin in einem Goldrahmen über der Schulter der Polizeipräsidentin hing, schien ihm dagegen zuzustimmen. Håkon beschloß, das unergründliche Lächeln Seiner Majestät als Antwort zu betrachten, und verließ das Büro im sechsten Stock. Er war gereizter als bei seinem Eintreffen.

 

Hanne Wilhelmsen freute sich, als sie ihn sah. Selbst mit dem Verband über dem Auge und einer rasierten Kopfhälfte war sie überwältigend schön. Die Blässe ließ ihre Augen größer wirken, und zum erstenmal, seit er von dem Überfall gehört hatte, wurde ihm klar, wie sehr er sich um sie gesorgt hatte. Er traute sich nicht, sie zu umarmen. Vielleicht hielt der Verband ihn davon ab, aber bei genauerem Nachdenken ging ihm auf, daß es auch sonst nicht natürlich gewesen wäre. Hanne hatte über das berufliche Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachte, hinaus nie zu Nähe eingeladen. Aber offenbar freute sie sich über seinen Besuch. Er wußte nicht so recht, wohin mit seinem Blumenstrauß, und nach einigen verwirrten Sekunden legte er ihn auf den Boden. Der Nachttisch war bereits überfüllt. Er zog einen Stahlrohrstuhl an die Bettkante.

»Mir geht’s gut«, sagte Hanne, noch ehe er fragen konnte.

»Ich komm’ so schnell wie möglich zurück. Und auf jeden Fall ist das hier der endgültige Beweis dafür, daß wir einer großen Sache auf der Spur sind.«

Der Galgenhumor paßte nicht zu ihr, und er sah, daß es ihr weh tat, als sie zu lächeln versuchte.

»Komm erst dann zurück, wenn du wieder richtig gesund bist. Das ist ein Befehl.«

Er versuchte ein Lächeln, nahm sich aber zusammen. Das würde sie nur verleiten, es ihm gleichzutun, trotz ihrer Schmerzen. Ihre ganze Kieferpartie färbte sich langsam blaugelb.

»Die Originalpapiere sind aus deinem Büro verschwunden. Haben wir von irgendwas keine Kopie?«

Das war eher eine hoffnungsvolle Feststellung als eine Frage, aber Hanne mußte ihn enttäuschen.

»Ja«, antwortete sie leise. »Ich hatte eine Notiz geschrieben, einfach so zum Privatgebrauch. Ich weiß ja, was darin stand, ein Verlust ist es also nicht. Aber es ist ein Scheiß, daß andere das jetzt lesen können.«

Håkon Sand merkte, daß ihm heiß wurde, und er wußte, daß seine Wangen jeden Moment unkleidsam rot anlaufen würden.

»Ich habe die unangenehme Befürchtung, daß Karen Borg für den Mann, der mich überfallen hat, ziemlich interessant ist. Wir haben ja schon darüber gesprochen, daß sie wahrscheinlich mehr weiß, als sie uns sagt. Ich habe darüber ein paar Überlegungen angestellt. Und ich habe einiges über die Verbindung zwischen den beiden Fällen notiert.« Sie sah ihn mit einer Grimasse an und faßte sich vorsichtig an den Kopf.

»Nicht sehr gut, was?«

Håkon Sand stimmte zu. Das war überhaupt nicht gut.

 

Fredrick Myhreng war ziemlich anspruchsvoll. Andererseits hatte er recht, wenn er behauptete, seinen Teil der Abmachung eingehalten zu haben. Jetzt saß er da wie ein eifriger Schulbube und notierte alles, was Håkon Sand ihm erzählen konnte. Der Gedanke, als erster die Nachricht bringen zu können, daß die Polizei es hier nicht mit zwei zufälligen Fällen in der langen – und dauernd wachsenden – Kette von mehr oder minder motivierten Morden zu tun hatte, sondern mit einem Doppelmord, dessen Fäden in den Rauschgifthandel und vielleicht auch in die organisierte Kriminalität hineinreichten – dieser Gedanke sorgte dafür, daß ihm der Schweiß ausbrach und seine fesche Brille trotz der praktischen Sportbügel immer wieder von seiner Nase zu rutschen drohte. Die Tinte spritzte nur so, als er schrieb. Håkon Sand überlegte sich, daß der Junge Ölzeug tragen müßte, so, wie er sein Schreibgerät mißhandelte. Er bot dem Journalisten als Ersatz für den zerbrochenen Kugelschreiber einen Bleistift an.

»Wie schätzt du die Möglichkeiten der Aufklärung ein?« fragte Myhreng, nachdem er sich die zensierte, aber dennoch sehr interessante Darstellung des Polizeiadjutanten angehört hatte. Sein Nasenrücken war inzwischen gänzlich blau vom vielen Brilleschieben.

Håkon Sand fragte sich, ob er den Mann auf sein wenig vorteilhaftes Aussehen aufmerksam machen müßte. Er kam zu dem Schluß, daß es dem Journalisten nicht schaden konnte, sich lächerlich zu machen, und deshalb sagte er: »Wir glauben immer an eine Aufklärung. Aber das kann dauern. Wir haben viele Spuren. Das kannst du gern zitieren.«

Mehr konnte Fredrick Myhreng an diesem Tag aus Håkon Sand nicht herausholen. Aber er war mehr als zufrieden.