DONNERSTAG, 12. NOVEMBER

Jørgen Ulf Lavik war so selbstsicher wie beim letztenmal. Håkon Sand kam sich in seiner ausgebeulten Cordhose und dem fünf Jahre alten Pullover mit einem erschöpften, zerknautschten Alligator, dem das Waschwasser nicht bekommen war, blöd vor. Der Anzug des Anwalts stand in schreiendem Widerspruch zu der Theorie, der Mann sei ein Geizkragen.

»Warum ist der eigentlich dabei?« fragte Lavik Hanne und nickte dabei zu Håkon Sand hinüber. »Ich dachte, die Juristen wären hier für die Sklavenarbeit zuständig.« Beide waren sauer. Was wahrscheinlich beabsichtigt gewesen war.

»Und was ist heute mein Status?« fragte Lavik weiter, ohne eine Erklärung für Håkon Sands Anwesenheit zu erwarten.

»Stehe ich unter irgendeinem Verdacht, oder bin ich weiterhin nur Zeuge?«

»Du bist Zeuge«, antwortete Hanne kurz.

»Darf ich fragen, was ich bezeugen soll? Ich bin jetzt zum zweitenmal hier. Ich bin ja der Polizei gegenüber positiv eingestellt, wißt ihr, aber ich verweigere weitere Besuche, wenn ihr mir nicht bald konkrete Fragen stellen könnt.«

Hanne Wilhelmsen starrte ihn sekundenlang an, und er mußte den Blick abwenden. Er sah Håkon Sand spöttisch an.

»Was hast du für einen Wagen, Lavik?«

Der Mann mußte nicht einmal nachdenken. »Das wißt ihr doch genau! Die Polizei hat doch beobachtet, wie ich mich nachts mit meinem Mandanten getroffen habe. Volvo, Baujahr einundneunzig. Meine Frau hat einen Toyota.«

»Habt ihr die neu oder gebraucht gekauft?«

»Der Volvo war neu. Standard Kombiwagen. Der Toyota war ein Jahr alt, wenn ich mich richtig erinnere. Vielleicht anderthalb.« Noch immer wirkte er sicher.

»Und den Toyota habt ihr nicht beim Händler gekauft?« regte Hanne freundlich an.

Das stimmte. Sie hatten den Toyota von einem Kollegen.

Das Fenster war nur einen knappen Zentimeter geöffnet. Draußen wehte ein kräftiger Wind, und in unregelmäßigen Abständen hörten sie ein klagendes Pfeifen, fast schon ein dünnes Heulen, wenn der Wind über die Metallkante ins Zimmer strich. Es wirkte beinahe beruhigend.

»Kennst du einen Mann, der in Sagene Autos verkauft?« Sofort bereute sie ihre Frage. Sie hätte klüger vorgehen müssen, eine schlauere Falle stellen. Das hier war überhaupt keine Falle. Anfängerin! Verlor sie ihren Job aus dem Griff? Hatte die Kopfverletzung ihre List, auf die sie so stolz war, beseitigt? Der Patzer brachte sie dazu, an einem Nagel zu knabbern.

Der Anwalt hatte genügend Zeit. Er dachte gründlich nach, offenbar gründlicher als notwendig. »Ich gebe meine Mandanten ja eigentlich nicht an. Aber da du nun mal fragst: Ich habe einen alten Mandanten namens Roger. Der hat einen kleinen Autoladen, ich glaube, in Sagene. Ich war noch nie da. Mehr möchte ich nicht sagen. Diskretion, ihr wißt schon. In dieser Branche muß man diskret sein. Sonst laufen uns die Mandanten weg.« Er schlug die Beine übereinander und legte die Hände um die Knie. Der Sieg gehörte ihm. Das wußten alle.

»Seltsam, daß er deine Telefonnummer in einem Code notiert hat.« Hanne Wilhelmsen machte einen Versuch, wenn auch vergebens.

Anwalt Lavik lächelte. »Wenn du wüßtest, wie paranoid manche Menschen sind, dann würde dich das überhaupt nicht wundern. Ich hatte einmal einen Mandanten, der bei jeder Besprechung meine Kanzlei erst mal mit einem Wanzendetektor durchsucht hat. Ich habe ihm bei einem Mietvertrag geholfen! Einem Mietvertrag!«

Er lachte lärmend, aber überhaupt nicht ansteckend. Hanne Wilhelmsen hatte keine Fragen mehr. Es stand nichts auf dem Papier. Sie gab auf, Anwalt Lavik durfte gehen. Als er sich den Mantel anzog, sprang sie dennoch auf und trat bis auf dreißig Zentimeter an ihn heran.

»Ich weiß, daß du Dreck am Stecken hast, Lavik. Du weißt, daß ich das weiß. Du bist Anwalt genug, um dir darüber im klaren zu sein, daß wir hier mehr wissen, als wir je verwenden können. Aber eines verspreche ich dir: Ich werde an dir kleben. Wir haben noch immer unsere Quellen, unsere Informationen und unsere versteckten Tatsachen. Han van der Kerch sitzt bei uns in U-Haft. Du weißt, daß er im Moment nicht viel sagt. Aber er hat eine Anwältin, mit der er gesprochen hat, eine Anwältin von ganz anderem ethischen Kaliber als du erbärmlicher Winkeladvokat. Du hast keine Ahnung, was sie weiß, und du hast nicht den geringsten Dunst davon, was sie uns erzählt hat. Damit mußt du leben. Schau nur zurück, Lavik, ich bin hinter dir her.«

Der Mann war tiefrot geworden, während seine Nasenwurzel sich kreideweiß abzeichnete. Er war keinen Zentimeter vor Hanne zurückgewichen, aber seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er fauchte: »Das sind Drohungen, Frau Wachtmeisterin. Das sind Drohungen. Ich werde eine schriftliche Klage einreichen. Noch heute!«

»Ich bin keine Wachtmeisterin, Lavik. Ich bin Polizeibeamtin. Und diese Polizeibeamtin wird wie ein Schatten an dir haften, bis du zusammenbrichst. Beschwer dich ruhig.«

Er hätte ihr sicher gern ins Gesicht gespuckt, aber er riß sich zusammen und verließ wortlos das Büro. Die Tür knallte hinter ihm ins Schloß. Die Schwingungen pulsierten sekundenlang zwischen den Wänden. Håkon hatte den Mund aufgerissen und wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen.

»Mit dem Gesicht siehst du mongoloid aus!«

Er riß sich zusammen und klappte den Mund zu. »Was sollte denn das? Willst du Karen in Gefahr bringen? Der Kerl wird sich beschweren.«

»Soll er.« Trotz ihres dicken Patzers wirkte sie zufrieden. »Ich habe ihm richtig Angst eingejagt, Håkon. Menschen, die Angst haben, machen Fehler. Es würde mich nicht wundern, wenn deine Freundin Karen Borg bald noch einen Strafrechtler unter ihren Verehrern hätte. Und das wäre ein Fehler von ihm.«

»Aber wenn sie ihr etwas antun?«

»Niemand wird Karen Borg etwas tun. So dumm sind sie nicht.« Einen Moment lang empfand sie einen eiskalten Zweifel, aber den verdrängte sie sofort. Sie rieb sich die Schläfe und trank den restlichen Kaffee. Aus der obersten Schreibtischschublade nahm sie ein Taschentuch und eine Plastiktüte mit Druckverschluß. Vorsichtig faßte sie die Kaffeetasse, an der Lavik nur genippt hatte, am Henkel. »Er hat die Tasse überall angefaßt«, sagte sie zufrieden. »Es ist gar nicht schlecht, ein kühles Büro zu haben. Wollte sich sicher die Pfoten wärmen.«

Die Tasse verschwand in der Tüte, und das Taschentuch landete wieder in der Schublade. »Irgendwelche Fragen?«

»Du verdienst deinen guten Ruf nicht. Auf diese Weise sammeln wir keine Fingerabdrücke.«

»Paragraph 160, Strafprozeßordnung«, sagte sie wie ein braves Schulkind. »Aber wenn wir ihn unter Verdacht haben, brauchen wir keine Erlaubnis, um Fingerabdrücke zu nehmen. Ich verdächtige ihn. Du auch. Das erfüllt die Forderungen des Gesetzes.«

Håkon Sand schüttelte den Kopf. »Das war die wortklauberischste Gesetzesauslegung, die ich je gehört habe. Der Kerl hat das Recht zu erfahren, daß wir seine Fingerabdrücke haben. Er hat sogar das Recht zu fordern, daß wir sie vernichten, wenn unser Verdacht sich nicht bestätigt.«

»Das wird er aber«, sagte sie überzeugt. »Mach dich an die Arbeit!«

 

Sie hatten den Gürtel vergessen. Er durfte doch nichts behalten. Warum hatten sie den Gürtel vergessen? Als er zu der Polizistin mit der Schokolade zum Verhör gebracht werden sollte, war seine Hose gerutscht. Er hatte versucht, sie festzuhalten, aber als ihm die Handschellen angelegt wurden, rutschte sie wieder herunter. Die beiden blonden Männer hatten von einem Hilfswärter seinen Gürtel holen lassen und mit einer Schere ein neues Loch hineingestochen. Das war nett von ihnen. Aber warum hatten sie ihm den Gürtel nicht wieder abgenommen? Das mußte ein Versehen sein. Also nahm er ihn ab und schob ihn nachts unter seine Matratze. Mehrmals wurde er wach und sah nach, ob er noch da war. Das träumte er nicht.

Der Gürtel wurde zu einem kleinen Schatz. Über einen Tag lang war der Niederländer glücklich über den geheimen Gürtel. Das war etwas, von dem die anderen nichts wußten, etwas, das er hatte und doch nicht haben durfte. Zweimal während dieses Tages, gleich nach dem Kontrollblick des Wärters durchs Türfenster, hatte er ihn rasch umgeschnallt, hatte ein paar Laschen übersprungen, weil er es eilig hatte, und war mit gut sitzender Hose und einem breiten Lächeln durch die Zelle gelaufen. Aber nur ein paar Minuten lang, dann hatte er den Gürtel abgenommen und unter der Matratze verstaut.

Er versuchte, in seinen Illustrierten zu blättern. Er fühlte sich obenauf. Trotzdem konnte er sich nicht konzentrieren, er dachte nur an seinen Plan. Aber zuerst mußte er einen Brief schreiben. Dafür brauchte er nicht lange. Vielleicht würde sie sich freuen? Sie war nett und hatte gute Hände. Die beiden letzten Male hatte er sich schlafend gestellt. Es war so schön, wenn sie seinen Rücken streichelte. Es tat gut, angefaßt zu werden.

Der Brief war fertig. Er schob seinen Hocker vom Schreibtisch zu dem kleinen Fenster, das hoch oben in der Mauer saß. Wenn er sich streckte, konnte er den Gürtel am Gitter befestigen. Er machte einen Knoten und hoffte, daß es halten würde. Vorher hatte er das eine Ende durch die Gürtelschnalle geschoben und eine Schlinge gebildet. Eine schöne feste Schlinge, die er leicht über den Kopf streifen konnte.

Sein letzter Gedanke galt seiner Mutter in Holland. Für den Bruchteil einer Sekunde bereute er, aber es war zu spät. Der Hocker bewegte sich schon unter ihm, und der Gürtel spannte sich blitzschnell. Fünf Sekunden lang konnte er feststellen, daß er nicht das Genick gebrochen hatte. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen, und das Blut, das durch seine Adern vom Hals in den Kopf strömte, wurde vom Gürtel am Rückweg zum Herzen gehindert. Nach wenigen Minuten quoll die Zunge aus seinem Mund, blau und groß, und seine Augen erinnerten an die eines Fisches auf dem Trockenen. Han van der Kerch war tot, er war nur dreiundzwanzig Jahre alt geworden.