MITTWOCH, 11. NOVEMBER

Er war stocksauer und unzufrieden. Sein Fall, der große Fall, schien im Sande zu verlaufen. Aus der Polizei konnte er nichts herausholen. Das lag sicher daran, daß die steckengeblieben waren. Ihm ging es auch nicht anders. Sein Redakteur war unzufrieden und hatte ihn in den normalen Dienst zurückbeordert. Es ödete ihn an, bei Gericht herumzulungern und wortkargen Polizeiräten nichtssagende Informationen zu entlocken, mit denen sich höchstens ein Einspalter füllen ließ.

Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und sah aus wie ein vergrätzter Dreijähriger in der Trotzphase. Sein Kaffee war bitter und kalt. Sogar seine Zigarette schmeckte zum Kotzen. Sein Notizblock war leer.

Er fuhr so plötzlich auf, daß er seine Kaffeetasse umwarf. Ihr schwarzer Inhalt ergoß sich über Zeitungen, Notizen und ein Taschenbuch. Fredrick Myhreng sah sich den Dreck einige Sekunden lang an, dann beschloß er, darauf zu scheißen. Er schnappte sich seine Jacke und eilte aus der Redaktion, ehe irgend jemand ihn aufhalten konnte.

Ein alter Schulkamerad betrieb den kleinen Laden. Myhreng schaute ab und zu vorbei, um neue Schlüssel für die jeweils neue Dame zu besorgen – sie gaben sie ja nie zurück – oder weil er neue Absätze für seine Stiefel brauchte. Was Schlüsselmachen mit Schuhmacherei zu tun hatte, war ihm unbegreiflich, aber sein Schulkamerad war nicht der einzige in der Stadt, der beides kombinierte.

Sie begrüßten einander absolut überschwenglich. Fredrick Myhreng hatte das unangenehme Gefühl, daß der Mann in dem kleinen Laden stolz darauf war, einen Hauptstadtjournalisten zu kennen, behielt dieses Ritual aber bei. Der winzige Laden war leer, und der Inhaber war mit einem abgelatschten schwarzen Winterstiefel beschäftigt.

»Schon wieder eine Neue, Fredrick! Du hast doch bald an die hundert Schlüssel zu deiner Wohnung in der Stadt verstreut!« Der Mann grinste breit und grob.

»Nein, immer noch dieselbe, Mann. Ich wollte dich wegen etwas ganz anderem um Hilfe bitten.« Der Journalist fischte eine kleine Metalldose aus einer seiner geräumigen Taschen. Er öffnete sie und zog vorsichtig die beiden Knetgummiabdrücke heraus. Soweit er sehen konnte, waren sie beide unbeschädigt. Er hielt sie seinem Schulkameraden hin.

»Aber Fredrick, bist du unter die Gauner gegangen?« In seiner Stimme lag ein Hauch von Ernst, und er fügte hinzu: »Ist das von einem numerierten Schlüssel? Davon mache ich keine Kopien. Nicht einmal für dich, alter Kumpel.«

»Nein, der ist nicht numeriert. Das siehst du doch am Abdruck.«

»Der Abdruck ist keine Garantie. Schließlich kannst du den Abdruck der Nummer entfernt haben. Aber ich glaub’ dir mal.«

»Heißt das, du kannst eine Kopie machen?«

»Ja, aber das dauert seine Zeit. Ich hab’ hier nicht das richtige Werkzeug. Normalerweise benutze ich fertig gegossene Rohlinge, das machen wir fast alle. Die schleife ich mit diesem feschen Gerät hier zurecht.« Er streichelte ein Ungetüm von einem Apparat mit Knöpfen und Schaltern. »Du kannst in einer Woche mal vorbeischauen. Dann müßte ich soweit sein.«

Fredrick Myhreng nannte ihn einen Engel und war schon fast draußen, als er sich noch einmal umdrehte. »Hast du eine Ahnung, was das für ein Schlüssel sein kann?«

Der Schlüsselmann zögerte. »Er ist klein. Vielleicht für einen Schrank? Vielleicht auch für ein Schließfach. Ich werd’s mir durch den Kopf gehen lassen.«

Myhreng stapfte zu seiner Redaktion zurück, er war jetzt ein wenig besser gelaunt.

 

Vielleicht hatte der Junge im Nebelheim Lust auf einen kleinen Spaziergang. Hanne Wilhelmsen jedenfalls war bereit, einen neuen Versuch zu wagen. Die Nachrichten aus dem Gefängnis ließen vermuten, daß es dem Niederländer etwas besser ging. Was nicht viel hieß.

»Nehmt ihm die Ketten ab«, befahl sie, während sie sich im stillen fragte, ob junge Polizisten unfähig zum Selberdenken waren. Die apathische, abgemagerte Gestalt vor ihr hätte sich gegen zwei kräftige Polizisten nun wirklich nicht wehren können. Es war sogar die Frage, ob er überhaupt rennen konnte. Sein Hemd umschlotterte ihn, sein dünner Hals ragte wie der eines hungernden Kriegsgefangenen daraus hervor. Die Hose hatte ihm sicher irgendwann einmal gepaßt; jetzt wurde sie nur von einem strammen Gürtel gehalten, in den irgendwer viele Zentimeter neben dem letzten ein neues Loch gemacht hatte. Das Loch war schief angebracht, und das lose Gürtelende ragte nach oben, um dann unter seinem eigenen Gewicht abzuknicken, wie eine mißlungene Erektion. Der Mann trug keine Socken. Er war blaß, ungepflegt und sah zehn Jahre älter aus als bei ihrer letzten Begegnung. Sie bot ihm eine Zigarette und eine Halspastille an. Er hustete. Sie erinnerte sich an seine Vorlieben, er lächelte schwach.

»Wie geht es dir?« fragte sie freundlich, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Sie bekam auch keine. »Möchtest du irgend etwas? Cola, etwas zu essen?«

»Schokolade.«

Seine Stimme war leise und rauh. Wahrscheinlich hatte er seit Wochen kaum ein Wort gesagt. Hanne bat über die Sprechanlage um drei Schokoriegel. Und zwei Tassen Kaffee. Sie hatte kein Papier in die Schreibmaschine gespannt. Die Maschine war nicht einmal eingeschaltet.

»Kannst du mir überhaupt irgend etwas erzählen?«

»Schokolade«, antwortete er leise.

Sie warteten sechs Minuten. Niemand sagte etwas. Eine Schreibkraft brachte Schokolade und Kaffee und schien leicht verärgert, weil sie hier als Kellnerin eingesetzt wurde. Die Dankesbezeugungen der Kommissarin stimmten sie wieder milde.

Der schokoladeessende Niederländer bot einen seltsamen Anblick. Zuerst wickelte er die Schokolade vorsichtig aus, ohne das Papier einzureißen. Dann zerbrach er sie penibel an den markierten Stellen. Er breitete das Papier auf dem Schreibtisch aus und legte die Schokoladenstücke in exakten Millimeterabständen darauf.

Danach arbeitete er sich in einem Zickzackmuster aufwärts, fing mit einer Ecke an, aß dann das Stück, das schräg darüber lag und machte weiter, bis er in dieser Zickzacklinie oben angekommen war. Dann fing er von oben an und aß sich im selben Muster abwärts, bis er die ganze Schokolade vertilgt hatte. Das dauerte fünf Minuten. Schließlich leckte er sorgfältig das Papier ab, strich es mit den Fingern glatt und faltete es zu einem komplizierten Muster.

»Ich hab’ doch gestanden«, sagte er schließlich.

Hanne fuhr zusammen. »Nein, strenggenommen hast du das noch nicht«, sagte sie. Heftige Bewegungen vermeidend, spannte sie das Papier, das sie schon mit den vorgeschriebenen persönlichen Angaben versehen hatte, in die Maschine. »Du brauchst keine Aussage zu machen«, sagte sie ruhig. »Und außerdem hast du Anspruch auf Anwesenheit deiner Anwältin.«

Damit hatte sie sich an die Vorschriften gehalten. Sie erahnte ein Lächeln in seinem Gesicht, als sie seine Anwältin erwähnte. Ein gutes Lächeln. »Du magst Karen Borg«, stellte sie freundlich fest.

»Die ist lieb.«

Er hatte sich jetzt an den zweiten Schokoriegel gemacht und folgte derselben Prozedur wie beim ersten.

»Soll sie herkommen, oder geht es in Ordnung, wenn wir beide uns allein unterhalten?«

»Das geht in Ordnung.«

Sie wußte nicht, welche Alternative er meinte, aber sie interpretierte seine Bereitwilligkeit zu ihrem Vorteil. »Du hast also Ludvig Sandersen umgebracht.«

»Ja«, sagte er und interessierte sich viel mehr für das Schokoladenmuster. Er hatte offenbar ein Stück angestoßen und das Muster gestört, und das machte ihm zu schaffen.

Hanne Wilhelmsen seufzte und überlegte sich, daß dieses Verhör vielleicht weniger wert war als das Papier, auf dem es protokolliert wurde. Aber es war den Versuch wert. »Warum hast du das gemacht, Han?«

Er sah sie nicht einmal an.

»Willst du mir nicht sagen, warum?«

Noch immer gab er keine Antwort. Die Schokolade war halb gegessen.

»Möchtest du mir vielleicht etwas anderes erzählen?«

»Roger«, sagte er laut und deutlich, und sein Blick schien für den Bruchteil einer Sekunde anwesend zu sein.

»Roger? Hat Roger dir aufgetragen, ihn umzubringen?«

»Roger.« Er verschwand schon wieder, seine Stimme klang greisenhaft. Oder wie die eines Kindes.

»Wie heißt Roger denn weiter?«

Aber es war Schluß mit seinem Mitteilungsbedürfnis. Sein Tausendmeterblick hatte übernommen. Die Kommissarin rief die beiden Breitschultrigen, verbot Handschellen und gab dem Niederländer den letzten Schokoriegel als Proviant mit. Er war glücklich und verschwand lächelnd.

 

Der Zettel mit der Telefonnummer hing an der Pinnwand. Sofort wurde abgenommen, und sie stellte sich vor. Karen Borg hörte sich freundlich, aber überrascht an. Sie redeten einige Minuten lang, ehe Hanne zur Sache kam.

»Du brauchst das nicht zu beantworten. Ich frage aber trotzdem. Hat Han van der Kerch dir gegenüber je den Namen Roger erwähnt?« Volltreffer. Die Anwältin verstummte. Auch Hanne schwieg.

»Alles, was ich weiß, ist, daß er irgendwo in Sagene wohnt. Versuch’s mal da. Ich glaube, du kannst dich nach einem Autohändler umsehen. Ich dürfte das nicht sagen. Ich habe es nicht gesagt.«

Hanne versicherte, es nie gehört zu haben, bedankte sich überschwenglich, brach das Gespräch ab und wählte eine dreiziffrige Nummer auf der Hausanlage.

»Ist Billy T. da?«

»Der hat frei, wollte aber noch mal reinschauen, glaube ich.«

»Dann sag ihm, er soll sich bei Hanne melden.«

»Alles klar!«

 

Hinter den Autofenstern sah es aus wie wütende, schiefe Bleistiftstriche. Trotz aller Bemühungen der Scheibenwischer klebte der Schneematsch an der Scheibe. Der Herbst war seltsam gewesen, Eiseskälte, Schnee sowie Regen und acht Grad plus hatten einander immer wieder abgewechselt. Im Moment hatte sich das Thermometer irgendwo auf halber Höhe eingependelt, das Wetter war seit Tagen übel.

»Du nutzt eine alte Freundschaft wirklich ganz schön aus, Hanne.« Er war nicht sauer, er zierte sich nur ein bißchen. »Ich arbeite bei der Unruhe. Und nicht als Laufbursche für Ihre Hoheit Wilhelmsen. Heute habe ich noch dazu frei. Mit anderen Worten: Du schuldest mir einen freien Tag. Vergiß das nicht.«

Er mußte seinen riesigen Körper ganz nahe zur Windschutzscheibe vorbeugen, um überhaupt etwas zu sehen. Wenn er nicht so groß und so kahl gewesen wäre, hätte er in dieser Haltung für eine vierzigjährige Dame aus dem Villenviertel mit einem zwei Jahre alten Führerschein gehalten werden können.

»Ich bin dir zu ewigem Dank verpflichtet«, beteuerte sie und fuhr zusammen, als er vor einem plötzlich auftauchenden Schatten bremste, der sich als unvorsichtiger Teenie entpuppte.

»Scheiße, ich seh’ ja nichts«, sagte er und versuchte wütend, die beschlagene Fensterscheibe sauberzuwischen, aber sie beschlug genauso schnell, wie sie freigewischt wurde.

Hanne drehte die Heizung höher, ohne irgendeine Wirkung zu erzielen. »Öffentliches Eigentum«, murmelte sie und prägte sich die Wagennummer ein, damit sie diesen Dienstwagen künftig meiden konnte. »Ich habe in Sagene nur einen Roger in der Autobranche gefunden. Also brauchen wir nicht lange zu suchen«, sagte sie, um Billy T. aufzumuntern.

Der Wagen fuhr auf einen Bordstein, und Hanne wurde gegen die Tür geschleudert und stieß sich den Ellbogen am Fenstergriff.

»Au, willst du mich umbringen?« fragte sie wütend. Erst dann merkte sie, daß sie am Ziel waren.

Billy T. parkte vor einer grauen Betonmauer mit einem großen aufgemalten Parkverbotsschild. Er stellte den Motor ab und blieb, die Hände im Schoß, sitzen. »Was wollen wir hier eigentlich?«

»Uns ein bißchen umsehen. Ihm vielleicht einen Schrecken einjagen.«

»Bin ich Räuber oder Gendarm?«

»Kunde, Billy T. Du bist Kunde. Jedenfalls, solange ich nichts anderes sage.«

»Und wonach suchen wir?«

»Nach allem und jedem. Chiffre: alles, was interessant ist.«

Sie stieg aus und verriegelte die Wagentür. Ziemlich unnötig, Billy T. warf seine einfach ins Schloß.

»Die Mühle klaut doch keiner«, erklärte er und zuckte mit den Schultern, vor allem, um sich vor dem Regen zu schützen, der zu seiner Begrüßung um die Ecke gewirbelt kam.

»Sagene Car Sale«. Sie konnte den Namen erraten, obwohl die Neonbuchstaben längst hätten erneuert werden müssen. In der Dämmerung war nur »Sa ene Ca  S le« zu lesen. »Ganz schön international, was!«

Irgendwo bimmelte eine Glocke, als sie den Laden betraten. Es roch nach Volvo Amazon. Ein absolut ekelerregender Geruch; er war der reichhaltigsten Auswahl an sogenannten Luftreinigern zuzuschreiben, die Hanne Wilhelmsen je gesehen hatte. Vier Weihnachtsbäume aus Pappe, jeder fünfzig bis sechzig Zentimeter hoch, standen auf einem fünf Meter langen Tresen aufgereiht. Sie waren mit kleineren Weihnachtsbäumen an Silberfäden und busenschönen Comicdamen dekoriert. Wie lauter kleine Weihnachtsgeschenke umringte ein duftendes Heer von Plastikschildkröten die Weihnachtsbäume und sorgte dafür, daß die Luft um die Kasse herum die reinste in der ganzen Stadt sein mußte. Die Schildkröten hatten lockere, an Sprungfedern befestigte Köpfchen und nickten ihnen im Luftzug der Tür herzlich zu.

Ansonsten war der Laden vollgestopft mit allem, was Dinge, die auf vier Rädern liefen, vielleicht gebrauchen konnten. Es gab Auspuffanlagen und Tankverschlüsse, Sitzbezüge aus Nylon mit Leopardenmuster, Nackenpolster und Zigarettenanzünder. Zwischen den Regalen, wo kein Platz für weitere Fächer gewesen war, hingen alte Kalenderbilder von halbbekleideten Frauen. Ihre Busen nahmen drei Viertel der Bilder ein, während die Wochentage unten auf einem schmalen und überflüssigen Streifen verzeichnet waren.

Eine gute Minute nach dem Bimmeln trat ein Mann aus den hinteren Gemächern. Hanne Wilhelmsen mußte sich den Zeigefingernagel in die Hand bohren, um nicht loszuprusten. Der Typ war das wandelnde Klischee. Er war klein und vierschrötig, kaum über eins siebzig. Seine Hose war aus braunem Terylen, mit eingenähter Bügelfalte. Über dem Knie war die Naht aufgegangen. Es sah komisch aus, der schmale lange Würstchensaum, der sich über dem Knie in einen losen Faden auflöste, um sich fünfzehn Zentimeter weiter oben wieder zu sammeln. Die Hose war bestimmt zwanzig Jahre alt. Jedenfalls war es so lange her, daß Hanne eingenähte Bügelfalten gesehen hatte. Sein Hemd war von der Sorte, die sie auf dem Gymnasium »Nußhemd« genannt hatten, hellblau mit kleinen Rhomben; aus Liebe zur Wahrheit mußte zugegeben werden, daß der Schlips dazu paßte. Auch der war hellblau. Über der ganzen Pracht trug der Mann ein Sakko mit Pepitamuster; ein Knopf fehlte. Das machte nichts, das Sakko war so eng, daß er es unmöglich hätte zuknöpfen können. Auf dem Kopf sah er aus wie ein Igel.

»Kann ich behilflich sein?« fragte er laut und freundlich. Der Mann mit dem Ohrring schien ihm fast angst zu machen. Offenbar beruhigte Hannes Anwesenheit ihn, denn er strahlte, als er sich ihr zuwandte und sein Angebot wiederholte.

»Ja, wir würden uns gern einen Gebrauchtwagen ansehen«, sagte Hanne mit leichtem Zögern und warf einen Blick über die Schulter des kleinen Mannes auf eine Tür mit einem Fenster, das in den letzten beiden Jahren wohl kaum geputzt worden war. Sie ging davon aus, daß sich dahinter ein Lagerhaus voller Gebrauchtwagen verbarg.

»Gebrauchtwagen, ja, da seid ihr an der richtigen Adresse«, lachte der Mann, jetzt noch freundlicher. Er hatte zuerst wohl geglaubt, sie wollten ein Autofeuerzeug, und schien nun die Möglichkeit eines größeren Geschäftes zu sehen. »Wenn die Herrschaften mir folgen wollen?«

Er führte sie durch die verdreckte Tür, und Billy T. registrierte gleich daneben eine weitere identische Tür. Sie führte in eine Art Büro. Der Ölgestank war nach den vielen Weihnachtsbäumen eine Erleichterung. Es roch nach echten Autos. Der Laden hatte offenbar nicht den Ehrgeiz, sich zu spezialisieren; es gab Ladas und Peugeots, Opel und scheinbar brauchbare vier, fünf Jahre alte Mercedes.

»Hier habt ihr noch die freie Auswahl! Darf ich fragen, welche Preisklasse das Ehepaar sich so vorgestellt hat?« Er lächelte hoffnungsvoll und schielte zu dem nächststehenden Mercedes hinüber.

»So vielleicht Drei-, Viertausend«, murmelte Billy T, und der Mann machte seinen nassen Mund so spitz wie möglich.

»Er macht Witze«, beruhigte Hanne. »Wir haben an die Siebzigtausend, aber das ist nicht unbedingt die Höchstgrenze. Nette Eltern können auch noch was zuschießen«, flüsterte sie vertraulich und beugte sich zu ihm vor.

Der Autohändler strahlte und nahm ihren Arm. »Dann solltest du mal einen Blick auf diesen Kadett hier werfen.«

Der Kadett sah ziemlich gut aus.

»Baujahr siebenundachtzig, nur vierzigtausend gefahren, garantiert; und nur ein Vorbesitzer. Gediegenes Auto. Ich kann einen guten Preis bieten. Einen guten Preis.«

»Schöner Wagen.« Hanne nickte und bedachte ihren Gatten mit einem unmißverständlichen Blick. Er faßte sich an den Schritt und fragte den Mann im Pepita nach der Toilette.

»Gleich da draußen, gleich da draußen«, antwortete der freundlich, und Hanne begann sich zu fragen, ob er vielleicht einen Sprachfehler hatte, der ihn zwang, alles zweimal zu sagen. Eine Art avancierte Form des Stotterns, dachte sie. Billy T. verschwand.

»Nervöser Magen«, erklärte sie. »Er hat heute nachmittag noch ein Bewerbungsgespräch. Jetzt muß er schon zum viertenmal, der Arme.«

Der Händler bekundete tiefes Mitgefühl und schlug vor, sie solle sich doch mal in den Kadett setzen. Und der war wirklich schön. »Ich kenne dieses Auto nicht«, sagte sie. »Macht es dir was aus, dich neben mich zu setzen und mir alles zu erklären?«

Das machte ihm überhaupt nichts aus. Er drehte den Zündschlüssel und führte ihr alle Feinheiten vor. »Scharfes Modell«, erklärte er nachdrücklich. »Gediegenes Teil. Unter uns gesagt: Der Vorbesitzer war ein Geizkragen. Aber das Gute daran ist, daß er die Mühle gehegt und gepflegt hat.« Er fuhr über das frischgewaschene Armaturenbrett, ließ die Scheinwerfer aufflackern, regulierte die Rücklehne, schaltete das Radio ein, schob eine Kassette mit norwegischer Countrymusik ein und brauchte unnötig viel Zeit, um Hanne den Sicherheitsgurt umzulegen.

Sie drehte sich zu ihm hin. »Und der Preis?« Keiner der Wagen wies ein Preisschild auf, was sie seltsam fand.

»Der Preis, ja, der Preis …« Er kostete dieses Wort ein Weilchen aus und lutschte erst einmal an seinen Zähnen, ehe er ihr ein Lächeln schenkte, das vermutlich freundlich und kameradschaftlich sein sollte. »Du hast Siebzigtausend und liebe Eltern. Für dich sage ich Fünfundsiebzig. Inklusive Radio und neue Winterreifen.«

Sie saßen nun schon über fünf Minuten im Auto, und langsam sehnte sie sich nach Billy T. Es gab Grenzen dafür, wie lange sie um ein Auto feilschen konnte, ohne es plötzlich gekauft zu haben. Drei Minuten später klopfte er ans Fenster. Sie kurbelte es herunter.

»Wir müssen los. Wir müssen die Kinder holen«, sagte er.

»Nein, die hole ich. Du mußt doch zu deinem Bewerbungsgespräch«, korrigierte sie.

»Ich rufe noch einmal an«, versprach sie dem Terylenmann, der seine Enttäuschung allerdings nicht verhehlen konnte; er hatte den Handel bereits für komplett gehalten. Er riß sich zusammen und reichte ihr seine Visitenkarte. Sie war genauso geschmacklos wie der Inhaber, eine Art dunkelblaues Kunstseidenpapier mit Roger Strømsjord, adm. Dir. in Goldschrift.

Hochgestochener Titel.

»Das ist mein Laden«, erklärte er mit bescheidenem Schulterzucken. »Aber du mußt dich beeilen. Diese Wagen sind hier nur auf Stippvisite. Mächtig populär. Mächtig populär, das kann ich dir sagen.«

Sie bogen um die Ecke, diesmal mit Rückenwind, erreichten ihr Auto und lachten zwei Minuten lang. Dann wischte Hanne sich die Tränen ab.

»Hast du etwas Interessantes gefunden?«

Er beugte sich vor und hob eine Arschbacke, um ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche zu fischen. Er warf es in ihren Schoß. »Das einzige, was da von Interesse sein konnte. Es steckte in seiner Anoraktasche.«

Hanne Wilhelmsen lachte nicht mehr. »Der Teufel soll dich holen, Billy T.! So was haben wir auf der Polizeischule nicht gelernt. Außerdem ist es verdammt blöd, für den Fall, daß da was von Interesse drinsteht. So können wir es nicht als Beweis verwenden. Ungesetzliche Beschlagnahmung! Wie willst du das erklären?«

»Jetzt reg dich ab. Das Buch da bringt niemanden hinter Gitter. Aber es kann dir ein bißchen weiterhelfen. Vielleicht. Ich habe keine Ahnung, was drinsteht, ich habe es nur kurz durchgeblättert. Telefonnummern. Sei lieber ein bißchen dankbar!«

Die Neugier hatte den Ärger der Kommissarin bereits verdrängt. Sie blätterte das Notizbuch durch. Natürlich strömte auch das den Wunderbaumgeruch aus. Es enthielt wirklich eine Menge Telefonnummern. Die meisten standen auf den ersten sechs Seiten, dann Namen in alphabetischer Reihenfolge, danach ging es wild durcheinander. Die letzten Nummern waren namenlos, einige wenige mit Initialen, die meisten aber nur mit kleinen unbegreiflichen Zeichen. Hanne stutzte. Einige Nummern fingen mit Zahlen an, mit denen in Oslo keine Telefonnummer anfing. Vorwahlen waren aber nicht angegeben. Sie blätterte weiter und blieb bei drei Initialen hängen.

»H. v. d. K.«, rief sie. »Han van der Kerch! Aber die Nummer sagt mir nichts …«

»Sieh doch mal im Telefonbuch nach«, sagte Billy T. und hatte es schon aus dem Handschuhfach gezogen, ehe Hanne reagieren konnte. »Worunter steht van der Kerch, unter van oder der oder Kerch?«

»Keine Ahnung, versuch’s einfach.«

Er fand den Eintrag bei Kerch. Die Nummer stimmte durchaus nicht mit der im Notizbuch überein. Hanne war enttäuscht, hatte aber das Gefühl, irgend etwas an diesen beiden Nummern noch nicht richtig erklären zu können. Etwas ähnliches, so unterschiedlich sie auch waren.

Sie brauchte dreißig Sekunden, um zu kapieren. »Heureka! Die Nummer im Telefonbuch ist die Nummer im Notizbuch minus der nächsten Ziffer in der Reihe, wenn du auch negative Zahlen mitberechnest, aber das Minus streichst.«

Billy T verstand nur noch Bahnhof.

»Hast du nie solche Gesellschaftsspiele mit Zahlen mitgemacht? Dir wird eine Zahlenreihe vorgelegt, und dann sollst du das System entdecken und die letzte Zahl hinzufügen. Eine Art Intelligenztest, behaupten manche, aber ich halte es für ein Gesellschaftsspiel. Sieh mal: Die Nummer im Notizbuch ist 932435. Also rechnen wir neun minus drei, macht sechs. Drei minus zwei ist eins, zwei minus vier ist minus zwei, wir scheißen auf das Minus. Vier minus drei ist eins, und drei minus fünf ist minus zwei. Von fünf ziehen wir die erste Zahl ab, neun, das macht minus vier. Die Nummer im Telefonbuch muß dann 612124 sein.«

»Stimmt.« Er war ehrlich beeindruckt. »Woher in aller Welt weißt du das?«

»Ja, Himmel, ich wollte doch tatsächlich mal Mathematik studieren. Zahlen faszinieren mich. Das hier kann kein Zufall sein. Schlag mal die Nummer von Jørgen Lavik nach.«

Sie wandte dieselbe Methode an und hatte Erfolg. Die Nummer stand in kodierter Form auf Seite acht des Notizbuches. Billy T. ließ den Wagen mit einem so triumphierenden Gebrüll an, wie es einem müden Opel Corsa nur zu entlocken war, und bretterte in den grauen Nachmittag hinaus.

»Entweder kauft Jørgen Lavik viele Gebrauchtwagen, oder das hier ist das Handfesteste, was wir in diesem Fall bisher haben«, sagte Hanne siegessicher.

»Du bist ein Genie, Hanne«, sagte Billy T. mit einem Lächeln, das sein ganzes Gesicht zerschnitt. »Ein verdammtes Genie!«

Schweigend fuhren sie weiter.

»Im Grunde habe ich richtig Lust auf diesen Kadett«, murmelte Hanne, als sie in die Garage des Polizeigebäudes huckelten.