DONNERSTAG, 29. OKTOBER

Gier, dachte er. Gier ist die ärgste Feindin des Verbrechens. Mäßigung ist der Weg zum Erfolg.

Es war bitter kalt, und hier oben in den Bergen lag schon seit Wochen Schnee. Er hatte in Dokka die Winterreifen montiert, nachdem er zweimal auf die Gegenspur geschlittert war. Trotzdem machte ihm der steile, langgezogene Hang auf dem letzten Kilometer bis zur Hütte Probleme. Solche Schwierigkeiten hatte er bisher erst einmal gehabt, und dabei befand die Hütte sich schon seit über zwanzig Jahren im Familienbesitz. Lag es an der Glätte, oder spielten seine Nerven ihm einen Streich? Auf dem kleinen Parkplatz stand kein Auto, er konnte die Umrisse der vier Hütten nur ahnen. Keine menschliche Lichtquelle war zu sehen, aber der Mond half ihm, als er die zweihundert Meter vom Parkplatz zur Hütte auf Schneetellern zurücklegte. Seine Hände waren eiskalt, und ihm fiel zweimal der Schlüssel in den Schnee, ehe er endlich die Tür öffnen konnte.

Es roch muffig und eingesperrt. Er schloß hinter sich ab, obwohl er einsah, daß das nicht nötig war. Es war schwierig, den Docht der Petroleumlampe zum Brennen zu bringen, offenbar war kein Petroleum mehr da, und der Docht war in der klammen Luft feucht geworden. Nach einigen Versuchen wurde es endlich hell, aber die Rußflocken wurden in bedrohlichen Mengen zur Decke hochgewirbelt. Das Sonnenenergieaggregat lieferte keinen Strom, und er begriff nicht, wieso nicht. Er befestigte die Taschenlampe an der Decke, zog seine Jacke aus und streifte sich einen dicken Isländerpullover über den Kopf.

Eine Stunde später war alles in Ordnung. Der Petroleumbrenner verweigerte den Dienst, und schließlich machte er sich statt dessen ein gutes altmodisches Kaminfeuer. Es war zwar alles andere als warm im Zimmer, vor allem, weil er eine halbe Stunde lang gelüftet hatte. Aber das Feuer prasselte, und der Schornstein schien damit fertig zu werden. Der Gasherd tat seine Pflicht, und er gönnte sich eine Tasse Kaffee. Er beschloß, seine wichtige Aufgabe aufzuschieben, bis es in der Hütte warm genug war. Seine Arbeit würde naß und kalt sein. In einem Korb lag ein ganzer Stapel Comics aus den sechziger Jahren, er fischte einen heraus und blätterte mit klammen Fingern darin herum. Er hatte ihn schon hundertmal gelesen, aber zum Zeitvertreib war er immer noch geeignet. Die Unruhe quälte ihn.

Es wurde Mitternacht, ehe er sich wieder anzog. Er suchte sich im Kabuff einen Overall, und die alten derben Stiefel saßen noch immer gut; es war dreißig Jahre her, daß er sie vom Militär hatte mitgehen lassen. Der Mond hing hochschwanger am Himmel, und vorerst war seine Taschenlampe überflüssig. Über einer Schulter trug er ein aufgerolltes Seil, in der Hand hielt er eine Schneeschaufel aus Aluminium. Die Schneeteller lehnten an der Hüttenwand, die vierzig Meter zum Brunnen schaffte er auch ohne.

Das Brunnenhaus ragte wie ein Wegweiser unterhalb der Hütte über einem Gelände auf, das fast schon als Moor bezeichnet werden mußte. Sie waren vor dem Wasser gewarnt worden, hatten aber niemals Probleme damit gehabt. Das Wasser war immer frisch und süß und änderte je nach Jahreszeit seinen Geschmack. Vier dicke Stöcke waren wie zu einem spitzen, vereinfachten Samizelt zusammengebunden. Darauf waren zu einem A zurechtgeschnittene Furnierplatten genagelt, eine davon hatte eine Öffnung. Eine schlichte Tür war mit einem kleinen Hängeschloß versperrt. Ursprünglich war sie so klein gewesen, daß nur der Eimer hindurch paßte, aber vor vier Jahren hatte er sie erweitert. Jetzt konnte ein Mann zur Not in das kleine Brunnenhaus kriechen, was die Familie immer für unnötig gehalten hatte. Aber es war jetzt unleugbar leichter, das Wasser hochzuziehen.

Er brauchte fast eine Viertelstunde, um die Tür so weit vom Schnee zu befreien, daß sie sich öffnen ließ. Der Mann schwitzte und keuchte. Er sicherte die offene Tür mit Schnee, dann robbte er ins Brunnenhaus. Dessen unterer Rand umgrenzte etwas über einen Quadratmeter, nach oben hin spitzte sich das Holzwerk so rasch zu, daß er nicht aufrecht stehen konnte. Mit einiger Mühe konnte er die Taschenlampe aufs Wasser richten. Es war stockfinster und still. Eine alte Schulterverletzung klagte über seine gebückte Haltung, und vor Anstrengung entschlüpften ihm ein Furz und ein Stöhnen. Schließlich gelang es ihm, den schmalen Lichtkegel auf den kleinen Vorsprung fünfzig Zentimeter tiefer gleich bei der Wasseroberfläche zu richten. Vorsichtig setzte er den Fuß darauf und fand schließlich Halt. Er wiederholte diese Übung auf der gegenüberliegenden Seite, und endlich stand er da, breitbeinig, aber einigermaßen sicher und aufrecht. Er zog die Handschuhe aus und legte sie auf einen Querbalken gegenüber. Danach krempelte er sich soweit wie möglich die Ärmel des Overalls hoch. Das war schwierig, der Overall war zu dick, seine Finger waren klamm. Schließlich pfiff er darauf. Er hockte sich hin und streckte den rechten Arm in das eiskalte Wasser, während er sich mit der Linken an der Eimeraufhängung anklammerte. Nach wenigen Sekunden war sein Arm taub, und er spürte, wie sein Herz härter schlug, es tat ihm weh in der Brust. Seine Finger tasteten über die Brunnenwand eine Eile unter der Wasseroberfläche. Er fand des Gesuchte nicht. Er fluchte und mußte den Arm zurückziehen. Es half ein wenig, den Ärmel herunterzukrempeln, er rieb sich über die Hand und hauchte die erfrorene Haut an. Nach einigen Minuten faßte er Mut zu einem weiteren Versuch.

Nun hatte er mehr Glück. Schon nach wenigen Sekunden bekam er einen losen Stein zu fassen und zog ihn vorsichtig aus dem Wasser. Sein schweißnasser Rücken, sein eiskalter Arm und sein schwer hämmerndes Herz versuchten vereint, ihn zum Aufgeben zu überreden. Er biß die Zähne zusammen und steckte noch einmal die Hand in den Brunnen. Diesmal wußte er den Weg, und behutsam zog er einen Gegenstand heraus, der so groß war wie ein kleiner, aber dicker Diplomatenkoffer. Ein Handgriff an einem Ende ragte ins Wasser, und der Mann vergewisserte sich, ob er alles im Griff hatte, ehe er den Koffer vorsichtig aus seinem Versteck zog.

Als der Koffer, der sich als große Schatulle entpuppte, sich der Oberfläche näherte, konnten seine tauben Finger nicht mehr. Der Mann verlor das Behältnis aus dem Griff und machte einige verzweifelte Armbewegungen, um es wieder zu fassen zu kriegen. Dadurch verlor er die Balance, und sein linker Fuß glitt vom Vorsprung. Der Mann verschwand ungefähr gleichzeitig mit der Schatulle im Wasser.

Er sah nichts; Ohren, Mund und Nase füllten sich mit Wasser. Sein schwerer Overall saugte sich rasch voll, und er spürte, wie Kleider und Stiefel ihn nach unten zogen. Er war völlig außer sich. Seine Angst galt nicht ihm selbst, sondern seiner Beute. Überraschend schnell bekam er die Schatulle, die durch seinen Körper am Sinken gehindert wurde, zu fassen. Mit gewaltiger Kraftanstrengung konnte er sich zum anderthalb Meter höher gelegenen Türrand ausstrecken und die Schatulle in den Schnee werfen. Dann überkam ihn wirklich die Angst. Er fuchtelte mit den Armen, merkte jedoch schon, daß seine Bewegungen träge wurden, Arme und Beine gehorchten seinen Befehlen nicht mehr. Trotzdem konnte er endlich die Aufhängung packen und drückte innerlich die Daumen, daß die Bolzen in der dünnen Furnierwand halten würden. Er zog sich aufwärts und kam hoch genug, um einen Arm über den Rand der Türöffnung auszustrecken. Er faßte den Mut, die Aufhängung loszulassen, und konnte seinen Oberkörper durch die Öffnung ziehen. Eine Minute später stand er triefnaß und keuchend im Mondschein. Sein Herz protestierte jetzt noch heftiger, und er faßte sich an die Brust. Es tat unerträglich weh, und er schloß die Brunnentür nicht ab, sondern griff nach der Schatulle und schwankte zur Hütte zurück.

Er kämpfte sich aus seinen Kleidern und stellte sich nackt vor den Kamin. Es schien verlockend, ganz hineinzukriechen, er krümmte sich auf dem kleinen Vorsprang nur zwanzig Zentimeter vor dem Feuer zusammen. Schließlich kam er auf die Idee, sich eine Decke zu holen. Die war klamm und kalt, aber schon nach wenigen Minuten wußte er, daß er nicht erfrieren würde. Die Kralle in seiner Brust hatte losgelassen, seine Haut prickelte und brannte. Seine Zähne klapperten wie besessen, aber das erschien ihm als gutes Zeichen. In der Hütte waren es bereits mindestens fünfzehn Grad, und nach einer halben Stunde hatte er sich so weit erholt, daß er einen alten Trainingsanzug, den Isländer, Wollsocken und Filzpantoffeln anziehen konnte. Er kochte sich noch eine Tasse Kaffee, und dann setzte er sich hin und öffnete die Schatulle. Sie war aus Metall, mit Gummibeschichtung und wasserdichtem Schloß.

Alles war vorhanden. Dreiundzwanzig Zettel mit Codes, ein neunseitiges zusammengeheftetes Dokument und eine Liste mit siebzehn Namen. Alles lag in einer Plastiktüte, eine unnötige Sicherheitsmaßnahme, die Schatulle war schließlich wasserdicht. Er hob die Tüte hoch. Den restlichen Inhalt machten sieben Bündel Geldscheine aus, zweihunderttausend jeweils. Fünf lagen quer, die anderen längs. Eine Million und vierhunderttausend Kronen.

Er nahm sich auf gut Glück ein Viertel von einem Bündel. Den Rest ließ er liegen. Sorgfältig schloß er die Schatulle und stellte sie auf den Boden.

Die Papiere waren ganz trocken. Erst warf er einen Blick auf die Namensliste, dann hielt er sie ins Feuer, bis er sie loslassen mußte, um sich nicht seine tauben Finger zu verbrennen. Danach blätterte er in dem Dokument.

Es war eine einfach strukturierte Organisation. Er selbst fühlte sich als unbekannter Pate im Hintergrund. Er hatte seine beiden Helfer sorgfältig ausgesucht. Hansa Olsen, weil der sich mit Kriminellen auskannte, ausgeprägtes Interesse an Geld und ein vages Verhältnis zum Gesetz hatte. Jørgen Lavik, weil er scheinbar der genaue Gegensatz zu Olsen war, tüchtig, erfolgreich, nüchtern und eiskalt. Die Hysterie des jungen Mannes in letzter Zeit bewies allerdings, daß der Alte sich geirrt hatte. Er hatte sich Schritt für Schritt vorgetastet, ungeheuer vorsichtig, als wollte er eine Jungfrau verführen. Hier eine zweideutige Bemerkung, dort ein Wort mit doppeltem Boden. Schließlich hatte er beide bekommen. Niemals – zu keinem Zeitpunkt – war er selbst in die Arbeit verwickelt gewesen. Er war das Gehirn, er hatte das Startkapital gebracht. Er kannte alle Namen, plante alle Züge. Nach zahllosen Mandaten als Verteidiger wußte er, wo die Fallen lagen. Gier. Die Gier brachte sie zur Strecke. Drogen zu schmuggeln war leicht. Er hatte gelernt, woher sie kamen, auf welche Verbindungen Verlaß war. Zahlreiche Mandanten hatten ihm kopfschüttelnd von dem kleinen Fehlgriff erzählt, der sie erledigt hatte: übertriebene Gier. Es war wichtig, jede Operation in Grenzen zu halten. Nicht zu hart zuzulangen. Ein begrenztes, aber regelmäßiges Einkommen war besser, als sich von zwei Erfolgen zum großen Wurf verlocken zu lassen.

Nein, der Import war nicht das Problem. Beim Verkauf lag das Risiko. In einer Szene voller Informanten, zugedröhnten Käufern und geldgeilen Dealern mußte man vorsichtig auftreten. Deshalb hatte er sich nie mit den unteren Ebenen der Organisation befaßt.

Nur zweimal war es schiefgegangen. Die Kuriere hatten das büßen müssen, aber die Operationen waren so klein gewesen, daß die Polizei keine Organisation im Hintergrund geahnt hatte. Die Jungs hatten die Klappe gehalten, ihr Urteil wie ein Mann getragen und sich über das eingeschmuggelte Versprechen gefreut, daß ihnen eine schöne Belohnung zuteil würde, wenn sie in nicht allzu ferner Zukunft das Gefängnis verließen. Vier Jahre waren die Höchststrafe gewesen. Aber die Männer wußten, daß sie hinter Gittern ein gutes Jahresgehalt verdienten. Doch selbst wenn die Kuriere geredet hätten, hätten sie nicht viel zu erzählen gehabt. Das hatte er jedenfalls bis vor kurzem geglaubt, ihm war nicht klar gewesen, daß seine beiden Kronprinzen ihre Befugnisse überschritten hatten.

Er hatte bedeutende Beträge eingesackt. Zusätzlich zu einem stattlichen legalen Jahreseinkommen, weshalb er in sehr guten Verhältnissen lebte. Einiges hatte er nach und nach vorsichtig ausgegeben, aber immer so, daß es angesichts seines offiziellen Einkommens vertretbar war. Das Brunnengeld gehörte ihm. Außerdem hatte er einen entsprechenden Betrag auf ein Schweizer Konto eingezahlt. Der größere Teil des Ertrages jedoch befand sich auf einem Konto, über das er nicht selbst verfügte. Er konnte Geld einzahlen, aber nicht abheben. Dieses Konto galt dem ZIEL. Er war stolz darauf. Die Freude, zum Erreichen des Ziels beitragen zu können, hatte seine Skrupel gegenüber einem Leben zwischen Recht und Unrecht, Verbrechen und Gesetzestreue verdrängen können. Er war der Erwählte und tat das Richtige. Das Schicksal, das über so viele Jahre hinweg seine schützende Hand über die Operationen gehalten hatte, war auf seiner Seite. Die wenigen Fehler waren berechenbar, die Ereignisse der letzten Zeit nur eine Mahnung eben dieses Schicksals, das Geschäft nun abzuwickeln. Der graumelierte Mann betrachtete das Schicksal als guten Freund und hörte auf die Signale, die es ihm schickte. Er hatte zahllose Millionen verdient. Nun sollten andere übernehmen.

Der Bonus für die unglückseligen Kuriere hatte das Kapital ein wenig verringert, war aber sinnvoll angelegt. Nur die beiden Kollegen hatten gewußt, wer er war. Olsen war tot. Lavik hielt die Klappe. Bis auf weiteres jedenfalls. Er würde sich später darum kümmern, er hatte für alle denkbaren Probleme einen Plan.

Hansa Olsen war das erste Mordopfer in Friedenszeiten. Es war erstaunlich einfach gewesen. Es hatte sein müssen, und im Grunde war es auch nicht viel anders als damals, als zwei deutsche Soldaten mit blutigen Löchern in ihren Uniformen vor ihm im Schnee gelegen hatten. Er selbst war damals, siebzehnjährig, nach Schweden unterwegs gewesen. Die Pistolenschüsse hatten in seinen Ohren noch nachgehallt, als er die beiden nach Wertgegenständen abgesucht hatte; danach war er, erfüllt von nationalen Gefühlen, weiter nach Schweden und in Richtung Freiheit gestapft. Es war kurz vor Weihnachten 1944 gewesen, und er hatte gewußt, daß er auf der Siegerseite stand. Er hatte zwei Feinde getötet und empfand deswegen keinerlei Reue. Auch der Mord an Hansa Olsen hatte ihm keine Schuldgefühle beschert. Es hatte schließlich sein müssen. Er hatte eine Art Erregung verspürt, eine Freude, die verwandt war mit dem Siegesgefühl nach einer gelungenen Apfelklauaktion vor über fünfzig Jahren in Nachbars Garten. Die Waffe war alt gewesen, nicht registriert, in bestem Zustand, gekauft von einem längst verstorbenen Mandanten.

Er hatte das Dokument gelesen. Nun rollte er es zu einer Fackel zusammen und warf es ins Feuer. Die dreiundzwanzig Codezettel nahmen denselben Weg. Zehn Minuten später gab es auf der ganzen Welt kein Dokument mehr, das ihn mit anderem als ehrsamer Arbeit hätte in Verbindung bringen können. Keine Unterschrift, nichts Handschriftliches, keine Fingerabdrücke. Keine Beweise.

Er fröstelte und holte trockene Kleider aus dem Kabuff. Es war einfacher, die Schatulle wieder im Brunnen zu verstecken, als sie zu holen. Er kippte den Kaffeesatz in den Kamin, dann zog er sich die trockenen Sachen an, hängte die nassen in den Schuppen und schloß die Hütte ab. Es war zwei Uhr, er konnte gerade noch rechtzeitig in der Stadt sein, um frisch geduscht zur Arbeit zu erscheinen. Erkältet und müde zwar, aber daran war sicher ein neues Virus schuld. Das meinte jedenfalls seine Sekretärin.