10. Alexander Nuno Pickart Alvaro und schlaflos in Straßburg

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Eine Woche später. Ich bin wegen Steffen Henssler immer noch so am Boden zerstört, dass ich gerade ziemlich nah am Wasser gebaut habe. Gestern hatte ich eine geschlagene halbe Stunde lang einen Weinkrampf, nachdem ich in der Werbepause von »Punkt 12« einen Spot von »Merci« gesehen habe. Es ist dieser Film, in dem sich zunächst ein Mädchen und ein Junge in der Schule zulächeln und dann – im Zeitraffer – gemeinsam erwachsen werden und sich nach dreißig Sekunden als altes Ehepaar herzzerreißende Blicke nach einem erfüllten Leben zuwerfen.

Ich erzähle Pia von meinem Heulkrampf, den ich der Merci-Werbung zu verdanken hatte.

»Na ja, ein stichhaltiger Beweis für deine ach so bemitleidenswerte Lage ist das noch nicht, meine Liebe. Ich weiß noch, wie du schon einmal bei einem Knoppers-Spot eine Träne verdrückt hast und den ganzen Tag furchtbar sentimental ›Es ist halb zehn in Deutschland‹ gesungen hast.«

»Mein Gott, Pia, das war gerade in der Zeit, als Jens Schluss gemacht hatte. Da war ich eben ein wenig angeschlagen und konnte es einfach nicht ertragen, wie glücklich die Menschen in diesen Keks gebissen haben.«

»Ich verstehe«, sagt Pia und tut so, als ob sie es ernst meinen würde. »Und wer soll nun der alles entscheidende letzte Kandidat sein? Hast du dir schon überlegt, wer endlich dein Herz erobern darf?«

Sie lacht.

Ich fasse es einfach nicht. Ich glaube, sie hat das ganze Ausmaß dieser Entscheidung immer noch nicht begriffen. Wenn der letzte Kandidat wieder ein Reinfall ist oder vielmehr ich wieder ein Reinfall für diesen Traummann bin, war es das mit der Suche. Endgültig. Und wahrscheinlich wird es dann tatsächlich so kommen, wie Orakel Pia es schon am Anfang prophezeit hat. Ich werde auf einer langweiligen Party jemanden kennenlernen, wir werden nach ein paar langweiligen Dates zusammenkommen und irgendwann werden wir den Bund der Ehe eingehen. Ich sehe schon, wie ich vor dem Traualtar stehe und, anstatt »Ja, ich will« zu seufzen, plötzlich anfange zu murmeln: »Kevin, Rocko, Joscha, Martin, Bernhard, Tim, Thorsten, Patrick, Steffen.«

»Haben Sie was gesagt?«, wird der Pastor mich fragen.

»Ach was, das waren nur die Namen meiner Traummänner. Aber machen Sie ruhig weiter. Diese Ehe wird schon vernünftig sein.«

Der letzte Kandidat muss es also sein. Derjenige welcher.

Pia sieht mich erwartungsvoll an. »Und? Soll jetzt vielleicht doch George Clooney der letzte Retter in der Not sein?« Sie lacht.

Ich schüttle den Kopf und gehe wie in Trance in den Flur. Dort krame ich das Portemonnaie aus meiner Handtasche und klappe es auf.

»Da ist er.« Kleinlaut gebe ich Pia das Portemonnaie. Zwischen EC-Karte, Douglas-Mitgliedskarte und einem Zettel, auf dem ich den nächsten Tierarzttermin für Elvis notiert habe, steckt hinter einer durchsichtigen Hülle ein Bild von einem Mann, rechts daneben ist ein kleiner Schriftzug zu sehen.

Pia zieht es hervor und liest den Text vor: »Der deutsche Obama«. Sie runzelt die Stirn. »Wer ist das? Und vor allem: Was macht er in deinem Portemonnaie?«

Ich atme tief durch und fange an zu erzählen.

Vor ein paar Wochen habe ich in der Brigitte einen Artikel gelesen, in dem deutsche Politiker auf ihre »Obama«-Qualitäten hin untersucht wurden. »Wir sind neidisch auf die Amerikaner, die einen derart scharfen Präsidenten haben«, hieß es da. Und da dachte man sich bei derBrigitte: Wir suchen uns auch so einen. In dem Artikel wurden darum sechs Politiker aus Deutschland vorgestellt, die Obama – ihrer Meinung nach – das Wasser reichen konnten. Die ersten Kandidaten überblätterte ich lustlos. Ich sah förmlich, wie eine Brigitte–Redakteurin verzweifelt irgendwelche Politiker rausgesucht hat, die nicht ganz so schlimm aussahen wie Roland Koch oder Guido Westerwelle. Ich wollte die Zeitschrift schon wieder zuklappen, als ich plötzlich ihn sah: den letzten Obama-Kandidaten. Und was für einen! Er hatte kurze, schwarze Haare, dunkle, sinnliche Augen, dunkle, sinnliche Augenbrauen (bis dahin wusste ich nicht, dass selbst Augenbrauen sinnlich aussehen können) und einen furchtbar sinnlichen Mund, mit dem er verschmitzt in die Kamera lächelte. Der Name: Alexander Nuno Pickart Alvaro. Ich las es wieder und wieder. Alexander Nuno Pickart Alvaro. Wo hatte er bloß diesen wunderschönen Namen her? Nachdem ich mich ein wenig gesammelt hatte, überflog ich den dazugehörigen Text. Alexander Nuno Pickart Alvaro war Abgeordneter der FDP im Europäischen Parlament, 34 Jahre alt und ich wusste: Es war Liebe auf den ersten Blick. Zumindest von meiner Seite aus.

Ich schnitt Alexander Nuno Pickart Alvaro (diesen Namen muss man einfach in der vollen Länge genießen!) sofort aus der Brigitte aus und steckte ihn in mein Portemonnaie, in das Fach mit dem durchsichtigen Gitter. Zugegeben, wenn man nah genug dran ist, erkennt man, dass das Foto aus einer Zeitschrift kommt. Das Papier ist leider so dünn, dass auf Alexanders Wangen die Anzeige für Slipeinlagen von der Rückseite durchschimmert. Aber wenn man eben nicht genau hinsieht, sieht man nur ihn: den wunderschönen Alexander Nuno Pickart Alvaro. In meinem Portemonnaie. In dem Fach, wo Frauen Bilder von ihren Ehemännern haben. Hah!

Möglichst oft lasse ich darum mein Portemonnaie offen irgendwo rumliegen. Den Höhepunkt meines Triumphes habe ich immer an der Kasse im Supermarkt. Seit Alexander in Herz und Portemonnaie ist, habe ich mir angewöhnt, auch Cent-Beträge mit der EC-Karte zu bezahlen. Dazu muss ich nämlich zunächst das Portemonnaie öffnen (die durchsichtige Hülle klappt selbstbewusst auf!), um die EC-Karte herauszukramen. Während ich der Kassiererin die Karte reiche und dann auf dem Beleg unterschreibe, liegt das Portemonnaie offen neben mir. Ich schätze, dass mindestens drei Leute hinter mir in der Schlange so nah dran sind, dass sie einen Blick auf Alexanders Foto erhaschen können. (Meistens kann ich es mir nicht verkneifen, mich nach der Zahlung noch einmal nach hinten zu drehen. Ich tue dann so, als ob ich noch irgendjemand suchen würde. Während ich mich umdrehe, höre ich förmlich, wie die Wartenden denken: »Wow, das ist also die Frau, die mit einem so schönen Mann zusammen ist.«)

»Warum zeigst du ihn mir erst jetzt?« Pia runzelt die Stirn und ich bekomme ein schlechtes Gewissen.

»Es war mir irgendwie peinlich«, druckse ich herum.

»Aber bei den Leuten im Supermarkt ist es dir nicht peinlich?«

»Nein! Die denken doch, dass er wirklich mein Ehemann ist. Aber du, na ja, du weißt ja, dass es nicht so ist. Das ist doch irgendwie demütigend. Oder?«, frage ich zaghaft.

»Ach was«, sagt Pia und lacht. »Da haben wir ihn. Ladys and gentlemen ... « Sie springt vom Sofa auf und imitiert einen Sprecher im Boxring, der den Einzug der Klitschko-Brüder verkündet. »May I present you the number ten? The perfect number ten?« Sie lacht. »Und? Soll er es sein?« Sie fuchtelt mit dem Zeitschriftenschnipsel vor meinem Gesicht herum.

Ich weiß nicht. Je aufgekratzter Pia ist, desto lethargischer werde ich. Die Enttäuschungen der letzten Wochen haben ihre Spuren hinterlassen.

 

Im Laufe meines Traummann-Feldzuges hätte ich schwören können, dass ich mich bald im Zirkus Krone um das Popcorn kümmern werde, dass Thorsten Havener mir (gedankenlesend!) das Frühstück ans Bett bringt und dass ich am »Verbotene-Liebe«-Set ein und aus gehe. Ich sah mich mit Bernhard Hoëcker eine eigene Comedyserie moderieren und war mir sicher, dass ich jeden Morgen mit Kevin Tarte ZUSAMMEN die Tanz-der-Vampire-Arie singe und mit Rocko Schamoni das Hamburger Nachtleben unsicher mache. Ich sah mich mit Steffen Henssler am Herd kleine Köstlichkeiten zaubern und wie ich mich als »die Freundin von Hugh Grant, huch, der Stimme von Hugh Grant« vorstelle. Sogar vor ein paar Wochen noch war mir klar, dass ich bald mit Tim Lobinger um die Alster joggen würde.

Fehlanzeige. Auf ganzer Linie Fehlanzeige. Es ist in der Tat zum Heulen. Ich glaube, noch eine Enttäuschung verkrafte ich nicht.

»Pia, ich weiß nicht so richtig. Vielleicht belassen wir es einfach dabei.«

»Wie meinst du das denn jetzt? Du schleppst diesen komischen FDP-Politiker nun schon seit Wochen mit dir rum und jetzt willst du ihn nicht einmal mehr kennenlernen?«

»Vielleicht ist mir der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach«, druckse ich herum. Ich meine, Alexander Nuno Pickart Alvaro macht sich in meinem Portemonnaie als Fast-Ehemann ziemlich gut. Und wenn ich ihn nun treffe und sich herausstellt, dass er schwul ist oder eine Ehefrau hat, die Elefanten dressiert, oder sogar beides, dann muss ich mich der Tatsache wohl stellen, dass er in meinem Portemonnaie nichts zu suchen hat.

»Weißt du, manchmal ist so eine Illusion doch auch ganz schön.« Kann er nicht bitte für immer in meinem Ehemannportemonnaiefach bleiben? Ich habe einen Kloß im Hals. Nur noch ein Traummann. Das wird mir gerade alles zu viel. Beziehungsweise: zu wenig.

Pia nimmt mich in den Arm.

»Ach komm, du schläfst mal eine Nacht darüber, und morgen entscheiden wir, wie es weitergeht, okay? Und wer weiß, vielleicht erscheint dir im Schlaf ja doch noch Brad Pitt als Traummann Nummer zehn. Dann suchen wir den eben. Ich bin inzwischen für alles bereit.« Sie lacht und ich muss weinen.

Den Rest des Abends verbringen wir mit Fernsehen. Therapeutin Pia hat allerdings klare Vorstellungen, was ich sehen darf und was nicht.

Erstens: Es darf kein gut aussehender Mann drin vorkommen. »Sonst verliebst du dich wieder und wir haben ein neues Problem an der Backe.«

Zweitens: nichts Romantisches (akute Rückfallgefahr!). Wenn es nach Pia geht, darf ich noch nicht einmal das »Heute Journal« sehen. (Sie glaubt, ich würde selbst zwischen Klaus Kleber und Gundula Gause irgendwelche sexuellen Energien bemerken und mich dann wieder in meiner Einsamkeit suhlen.) Jegliche Interaktion zwischen Mann und Frau muss in diesen Tagen laut meiner Therapeutin umgangen werden. Gar nicht so einfach. Wir einigen uns schließlich auf die unverfängliche Dokumentation »Abenteuer Wildnis« auf 3 Sat. Und selbst die müssen wir irgendwann ausschalten, als sich die Bärenmutter so liebevoll um ihre Babys kümmert, dass mir die Tränen kommen.

 

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Am nächsten Tag fühle ich mich schon ein wenig besser. Denn: Der Haargott meint es gut mit mir. Ich habe, man glaubt es kaum, einen »Good-Hair-Day«. Andere Haare folgen scheinbar profanen Dingen wie Bürste und Föhn. Meine Haare dagegen richten sich nach einer höheren Macht. Sie sind vollkommen unberechenbar. Mal hängen sie vollkommen unambitioniert einfach so herunter und erfüllen lediglich den Zweck »Ohren bedecken«. An manchen Tagen allerdings habe ich eine Naturkrause (wo die herkommt, ist mir ein Rätsel!), und manchmal tun sich plötzlich zwei Wirbel über dem Scheitel auf, die selbst Udo Walz nicht unter Kontrolle bringen könnte. Ich glaube, ich bin ein hoffnungsloser Haar-Fall. Und hoffnungslose Fälle neigen ja bekanntlich zu irrationalen Handlungen. Einmal habe ich für geschlagene 89 Euro eine Spülung bei einer Douglas-Beraterin gekauft, die mir beim Leben ihrer Mutter schwor, ich hätte danach eine Mähne wie Jennifer Aniston.

Aber heute? Nicht schlecht. Außergewöhnlich gut sogar. Mit gutem Willen kann man meinem Haar heute natürliches Volumen attestieren und eine Gleichmäßigkeit, die ich das letzte Mal bei meiner Konfirmation gesehen habe, als unsere Nachbarin Irmgard drei Stunden an mir herumfrisiert hat.

»Mit diesen Haaren kann ich aktiv werden«, denke ich. Der »Ich-erobere-Alexander-Nuno-Pickart-Alvaro«-Schlachtplan wird in die Tat umgesetzt. Pah, wäre doch gelacht, wenn ich diesen Politiker nicht rumkriegen würde.

Pia und ich sitzen am Frühstückstisch. Nach unserem eher gescheiterten Fernsehabend gestern hat Pia bei mir geschlafen. Das kommt relativ häufig vor. Wenn ich irgendwann wieder in einer Beziehung bin, muss ich meinem Freund schonend beibringen, dass Pia ab und zu bei mir schlafen muss, weil ich das so gewohnt bin. Ob es ihm etwas ausmacht, wenn sie hin und wieder in der Matratzenritze zwischen uns liegt? Ob es wohl Alexander Nuno Pickart Alvaro etwas ausmacht? Oh Gott, ich habe gerade das Gefühl, dass es wirklich Alexander ist, den ich frage, ob Pia bei uns schlafen kann.

»Pia, ich glaube, er ist es. Ich spüre das plötzlich.«

Pia beißt in ihr Croissant und nuschelt: »Na, das ging ja schnell. Gestern wolltest du ihn noch nicht einmal kennenlernen, weil du überzeugt warst, dass es sowieso nicht klappt. Gestern warst du sogar davon überzeugt, dass es mit NIEMANDEM JEMALS klappen wird.«

»Gestern war gestern, heute ist heute«, flöte ich fröhlich. »Und irgendwie habe ich über Nacht eine Eingebung gehabt. Ist das nicht aufregend, Pia? Bald werde ich die Frau eines Politikers sein.« Ich muss kichern und verschlucke mich am Kaffee.

»Warum soll die alles entscheidende Nummer zehn eigentlich ein Politiker sein? Das wollte ich dich gestern schon fragen.« Pia sieht mich mit großen Augen an. »Du hast mit Politik doch mal so gar nichts am Hut.«

Pia übertreibt mal wieder maßlos. Na ja, vielleicht hat sie auch ein wenig recht damit. Ich war nicht in der Schülervertretung (die trafen sich NACH Schulschluss!) und habe während des Studiums auch nicht an den Sitzblockaden gegen das neue Hochschulgesetz teilgenommen (um ehrlich zu sein, wusste ich damals gar nicht, dass wir überhaupt so ein Gesetz hatten).

Auch letzte Woche ist mir noch einmal aufgefallen, dass ich, nun, nicht zu den aktivsten Bürgern dieser Welt gehöre. Es regnete in Strömen und ich war gerade auf dem Weg nach Hause. Ich musste mich beeilen, denn es war schon fünf vor sechs und ich wollte doch unbedingt »Verbotene Liebe« sehen. Plötzlich hielt mich kurz vor meiner Haustür eine Frau an. Sie war von Kopf bis Fuß durchnässt und ihre Haare lagen wie dünne Bindfäden eng um den Kopf. Ich erschrak richtig, als sie vor mir stand; sie sah einfach nur erbärmlich aus. Ich fragte mich gerade, ob sie vielleicht Hilfe bräuchte, da hielt sie mir einen Block vor die Nase. Unter einer dicken Klarsichtfolie (auch nass!) sah ich eine Unterschriftenliste.

»Ich sammle Unterschriften für eine Änderung des Wahlsystems der Kommunalwahlen.« Sie sah mich furchtbar ernst an und erklärte in einer Wortlawine, warum der Status quo eine totale Katastrophe sei und unsere Demokratie dringend »neue Impulse« brauche. Während ich hektisch unterschrieb (ich hätte in der Situation alles unterschrieben!), rief sie mir noch etwas wie »Danke, das wird unser aller Leben retten« hinterher. Fünf Minuten später sah ich in meinem warmen Wohnzimmer zufrieden die »Verbotene Liebe« und beobachtete eine Stunde später immer noch durchs Fenster, wie die durchnässte Frau Unterschriften sammelte. Wie kann man nur, dachte ich und sah mir zur Feier des Tages auch noch »Marienhof« an.

Nun, wenn man es genau nimmt, könnte man wohl sagen, dass Pia mit ihrer Aussage über meine politische Einstellung ... äh ... genau ins Schwarze getroffen hat. Aber: Was nicht ist, kann ja noch werden. Und ich glaube, dass ich mich als Politikergattin ziemlich gut machen würde. Schließlich bringe ich die drei wichtigsten Fähigkeiten mit, die man für diesen »Job« – so möchte ich es fast nennen – mitbringen muss.

 

1. Ich besitze ein dezentes, graues Kaschmir-Kostüm von Laura Ashley. Weiß der Himmel, welcher Teufel mich vor einem Jahr geritten hat, als ich es gekauft habe. Denn seit ich es letztes Jahr für ein Vermögen (immerhin war es reduziert!) kaufte, habe ich es nicht ein Mal getragen. Als Pia mich darin sah, schrie sie entsetzt: »Du hast 390 Euro ausgegeben, um wie eine spießige Hausfrau auszusehen?« Ich sah ein, dass dieses Kostüm (das Pia irgendwie an eine Tupperdose erinnerte) wohl der teuerste Fehlkauf meines Lebens war und verbannte es in den hintersten Teil meines Schranks. Als reduzierte Ware war es vom Umtausch ausgeschlossen. Zum Glück, muss ich sagen. Denn dieses Kostüm war mit Abstand der vernünftigste und scharfsichtigste Kauf meines Lebens. Noch nie hat mein Kaufreflex so klar gesehen wie damals. Wahrscheinlich war ihm bewusst, dass dieses Kostüm nur der Anfang war. Für viele weitere, dezente Kaschmir-Kostüme in Grau, die ich bald benötigen würde.

2. Ich habe gute Lokalkenntnisse in den größten deutschen Städten und finde mich überall schnell zurecht. In Köln habe ich schließlich auch sofort den »place to be« am Aachener Weiher gefunden, obwohl ich erst zwei Stunden in der Stadt war. Nein, das muss man mir lassen. Für die Hotspots dieser Welt habe ich irgendwie ein Händchen. Und das kommt mir doch sicher zugute. Ich sehe schon, wie ich Carla Bruni und Michelle Obama durchs Brandenburger Tor führe und dabei ein wenig über Deutschlands Geschichte vor und nach der Wende plaudere.

Apropos Michelle. Ob die internationale Presse auch darüber berichten wird, wenn Alexander und ich uns einen Hund anschaffen? Einen zweiten Hund, Elvis behalten wir natürlich. Wird man Homestorys über unsere kleine, harmonische Familie drehen? Ich sehe schon, wie ich einem Fernsehteam in meinem Laura-Ashley-Kostüm die Tür aufmache und dabei in einen der vielen Räume hinter mir rufe: »Alexander, kommst du bitte? Wir drehen jetzt.«

3. Ich kann repräsentieren. Als ich im 13. Jahrgang war, suchte unser Mercedes-Händler Petersen fünf junge Damen, die ihm am Tag seiner Anbau-Neueröffnung zur Seite standen. Wir mussten in den höchsten Schuhen, die wir besaßen (darauf bestand Herr Petersen!), den ganzen Tag lang im Autohaus umherstolzieren und – so die Arbeitsanweisung – »einfach nur gut aussehen«. Wenn uns ein Besucher ansprach, sollten wir antworten: »Vielen Dank, dass Sie an unserem Autohaus interessiert sind. Ich werde sofort Herrn Petersen höchstpersönlich holen. Er kann Ihnen alle Fragen beantworten und Ihnen den Weg frei machen für eine gute Fahrt.« (Noch Monate nach unserem Job im Autohaus bin ich manchmal nachts aufgeschreckt und habe diese Sätze wiederholt.) Als wir fertig waren, bekamen wir jeder 150 DM in die Hand gedrückt, was damals einem Vermögen gleichkam, und jede von uns durfte sich einen Minimercedes aus Plastik mitnehmen. Wir haben unsere Sache wohl ziemlich gut gemacht.

Ich denke zwar nicht, dass ich an Alexanders Seite in Autohäusern jobben müsste, aber vielleicht muss ich ja mal welche einweihen? Oh Gott, wahrscheinlich muss ich auch Schiffe taufen und bei der Eröffnung von Altenheimen dabei sein. Aaah, Altenheime! Ich bin im Thema! Ich wusste doch, dass mir mein letzter PR-Auftrag mal nutzen würde.

Sicher bietet man mir auch eine karitative Stiftung an, die ich leiten soll. Politikergattinnen engagieren sich doch immer für so etwas und sprechen dann bei Johannes B. Kerner über ihren Verein, der die Zwangsbeschneidung der Frauen im Sudan bekämpft.

Nein, jetzt weiß ich’s: Ich werde sicher UNICEF-Botschafterin. Grundgütiger.

 

Oh Gott. Das Dasein als Politikergattin ist ja wohl das Glamouröseste, was man sich vorstellen kann. Himmel, bin ich aufgeregt.

Ich erzähle Pia von meinen Plänen, wie ich in meinem grauen Laura-Ashley-Kostüm Michelle und Carla durch Berlin führe.

Pia schüttelt nur lethargisch den Kopf.

»Dieser Alexander Soundso ist doch nicht US-Präsident. Er ist ja noch nicht einmal Bundeskanzler.«

»Noch nicht, liebe Pia. Ich habe nämlich schon seine Biografie recherchiert. Und ich sag dir: Der Mann hat Potenzial.«

Alexander Nuno Pickart Alvaro studierte Jura und arbeitete schon während des Studiums bei der Deutschen Bank (unsereins hat da nur ein Konto!). Er trat irgendwann in die FDP ein und war, na klar, kurz danach schon im Bundesvorstand. Vor sechs Jahren wurde er ins Europäische Parlament gewählt und ist dort – ich zitiere – »maßgeblich an der Überarbeitung des Rechtsrahmens für elektronische Kommunikation beteiligt und Berichterstatter für die e-Privacy-Richtlinie«. Himmel. Ich habe keinen Schimmer, was diese »e-Privacy-Richtlinie« ist. Aber ich bin mir sicher, dass sie unglaublich bedeutend ist.

»So jung und schon so erfolgreich«, seufze ich.

»Wenn er wirklich so erfolgreich ist, dann hat er keine Zeit für dich, weil er die ganze Zeit arbeitet.«

»Ach Blödsinn. Politiker überarbeiten sich ja nun wirklich nicht. Ich finde, in dieser Hinsicht hätte es schlimmer kommen können.« Ich sehe schon, wie Alexander und ich uns in einem Swimmingpool auf Mallorca vergnügen und die Bild auf der ersten Seite titelt: »Das Volk schwitzt, Politiker plantscht – den Deutschen reicht’s.«

 

»Macht dir das nichts aus?«, werde ich Alexander besorgt fragen, während er mir den Rücken einseift.

»Ach was, wir genießen jetzt erst einmal unseren Urlaub. Die große Politik kann warten.« Wir lachen und Alexander bekleckst meine Nase mit Schaum.

 

»Ich geb’s auf.« Pia schüttelt den Kopf und hebt die Hände wie nach einer Kapitulation. »Dann suchen wir eben den zukünftigen Bundeskanzler.« Sie lacht.

 

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Nichts leichter als das. Alexander Nuno Pickart Alvaro ist ein moderner Politiker und hat eine moderne Homepage. (Auf der er unter anderem auf sein Buch mit dem Titel »Die Situation der Grund-und Menschenrechte innerhalb der EU« verweist.)

»Und was macht Ihr Mann so?«

»Ach, er kümmert sich um Menschenrechte.«

Neben dem Link sehe ich die Kontaktdaten seiner Büroleiterin, der Botin des großen Glücks. Während Pia ein Croissant nach dem anderen in sich reinschiebt (wo lässt sie die bloß alle?), verfasse ich eine E-Mail. Ich schreibe, dass ich Politikjournalistin sei und mich gerade auf die Portraits von EU-Abgeordneten spezialisiere. Weil es die Sache vereinfacht, würde ich gerne am Anfang des Alphabets anfangen – mit Alexander Nuno Pickart Alvaro. Und da ich möglichst schnell mein Spezialgebiet aufbauen möchte, würde ich mich über einen zeitnahen (»zeitnah« klingt nun wirklich extrem professionell!) Termin sehr freuen.

»Da bin ich ja gespannt«, nuschelt Pia mit vollem Mund.

»Ich auch. Das kannst du laut sagen.«

Wir sind gerade beim Abwasch, als mein Computer ein unmissverständliches »Pling« von sich gibt. »Pling« für: »Sie haben Post.« Pia und ich sehen uns an.

»Nun mach schon. Vielleicht hast du ja wirklich schon Post aus dem Kanzleramt.« Sie kichert.

Ich gehe zum Computer und öffne zitternd das E-Mail-Programm. Tatsächlich. Die Büroleiterin hat geschrieben. Diese Antwort entscheidet über Glück und Unglück.

Ich überfliege die Mail und lese nur Bruchstücke. »Interview kein Problem«, »nächste Woche«, »Sitzungswoche in Straßburg«.

Straßburg? Natürlich! Ich hatte ja ganz vergessen, dass das Europäische Parlament nicht nur in Brüssel tagt, sondern auch in Straßburg. Das wird ja immer besser! Ich wusste es schon immer: Irgendwo da draußen wartet ein Leben im Jetset auf mich. Und jetzt ist es zum Greifen nah.

Ach herrlich, Straßburg, Brüssel, Brüssel, Straßburg. Und Hannah Jensen mittendrin. Das wird ein Traum. Ich liebe es nämlich, herumzureisen. Und sicher muss man alles doppelt haben, da man ja schlecht alle paar Wochen komplett umziehen kann. Zwei Abos für die Gala, zwei Burberry-Trenchcoats, zwei Flachbildfernseher, zwei edle Seidenbademäntel und – irgendwann, jawohl – zwei Kinderwagen. Während unsere Mitarbeiter vor Ort alles für unsere Ankunft vorbereiten, werde ich nur mit einem kleinen Köfferchen anreisen. Die Zeiten, in denen ich vier Koffer für drei Tage hinter mir herschleppe, sind endgültig vorbei. Am Flughafen werde ich nur noch »Die Frau mit dem Handgepäck« genannt.

Oh Gott. Ich werde Kanzlergattin. Na ja, fast jedenfalls. Nächste Woche geht es nach Straßburg. Ins Zentrum der Macht.

 

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Die Kanzlergattin wohnt in der Jugendherberge. Als ich in der zentralen Zimmervermittlung in Straßburg anrief, bekam die Frau am anderen Ende der Leitung einen hysterischen Lachanfall. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, sagte sie in einem Akzent, der mich sofort neidisch machte (und den ich mir auch angewöhnen werde, wenn ich erst einmal in Straßburg wohne): »Wiessen Sie, wir aben Sietzungswoche des Parlaments, kein Otel verfügbar. Pardon, Madame.«

Gnädigerweise gab sie mir noch die Nummer einer Jugendherberge. »Isch glaube niescht, dass sie was aben frei. Aber probieren können Sie, Madame. Bonne chance!«

Jugendherberge. So hatte ich mir das nun wirklich nicht vorgestellt. Eigentlich wollte ich mir zur Feier des Tages (und der staatsmännischen Entwicklung meines Lebens) ein richtig schickes Hotel gönnen. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich Alexander nach unserem Gespräch – sofern es gut lief, wovon ich natürlich ausgehe – noch auf einen »Absacker« in die Hotelbar einladen. Wir würden in zwei schweren Ledersesseln versinken, die schummrige Beleuchtung würde selbst aus meiner Haut ein ebenmäßiges Etwas zaubern, neben uns würde ein schwarzer Musiker an einem weißen Flügel leise Jazzmusik spielen, und während ich in der Handtasche schon mit dem vergoldeten Zimmerschlüssel klappere, rückt Alexander näher an mich heran.

»Da haben Sie sich aber ein schickes Hotel ausgesucht«, raunt er in mein Ohr und blickt anerkennend durch die Bar.

»Finden Sie? Ich finde es eigentlich eher durchschnittlich. Aber nein, ich will nicht ungerecht sein. Es ist schon ganz ordentlich.« Ich lache ein wenig gekünstelt und flüstere dann: »Aber lassen Sie uns doch nicht über Hotels sprechen. Wollen wir nicht lieber ... «

 

Ich befürchte, dass dieser Dialog nie stattfinden wird. Denn in der Tat war die örtliche Jugendherberge die einzige Unterkunft, die noch ein freies Bett hatte. Ein einziges.

Und genau vor dem stehe ich jetzt.

Na ja, Bett kann man das eigentlich nicht nennen. Es ist eher eine kleine Pritsche. Sie besteht komplett aus Draht und erinnert mich irgendwie an die Betten aus »Hinter Gittern«. Gegenüber davon gibt es ein kleines Fenster, aus dem man sogar hinaussehen kann, wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt. Ein schmutziges Waschbecken neben der Eingangstür und zwei wacklige Garderobenhaken runden das malerische Wohlfühlzimmer ab. Toilette auf dem Gang.

Wenn Träume wahr werden.

Falls ich Alexander wirklich, nun, also, wenn wir uns tatsächlich so gut verstehen, dass wir unser Gespräch am Abend in privater Atmosphäre weiterführen möchten, müsste ich ihm noch im Taxi die Augen verbinden. Blind könnte ich ihn dann in die Jugendherberge und in mein Gefängniszimmer führen. Ich könnte ihm sagen, dass ich das bei ersten Dates immer machen würde. »Ist doch eine witzige Idee«, würde ich hektisch flüstern, während ich ihn in mein Zimmer bugsieren würde. (Wie erkläre ich ihm bloß die lautstarken Jugendlichen im Nebenzimmer?) Irgendwann würde ich ihn dann – natürlich immer noch blind – wieder hinausführen und ihm sagen, dass er sich die Augenbinde erst wieder abmachen dürfe, wenn ihn der Taxifahrer in einem verlassenen Waldstück aussetzen würde.

Oh Gott. Ich habe zu viele Krimis gesehen. Das alles hier sollte doch eine Romanze werden. Eine romantische, gerne kitschige, aber auf jeden Fall hoch erotische Romanze. Wir sind schließlich in Frankreich. Und es ist mein letzter Traummann. Okay. Durchatmen. Keine Panik, keine Panik. Morgen wird alles gut. Ich wache in einem Fünf-Sterne-Palast auf und stelle erleichtert fest, dass ich von dieser Jugendherberge nur geträumt habe. In diesem Sinne: gute Nacht. Es kann nur besser werden.

 

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Zugegeben, es war kein böser Traum. Ich habe tatsächlich in der Jugendherberge geschlafen und mein Rücken wird nach der Nacht auf der Gefängnispritsche die nächsten zehn Jahre beim Krankengymnasten verbringen. Auch das Frühstück war etwas gewöhnungsbedürftig. Ich musste mich in einer langen Schlange einreihen (Durchschnittsalter um mich herum zarte zwölf) und bekam dann ein Croissant auf das Tablett geworfen (ohne Teller). Am Ende durfte ich zwischen Pfefferminztee und Pfefferminztee wählen und habe seitdem den Geschmack nach Krankenhaus im Mund. (Seitdem ich mit acht Jahren im Krankenhaus die Mandeln herausbekam, ist Pfefferminztee für mich der Inbegriff von Krankenhaus.) Fassen wir zusammen: Ich bin ein körperliches Wrack und habe das Gefühl, im Krankenhaus zu sein. Eigentlich, so sollte man denken, müsste ich jetzt am Boden zerstört sein.

Weit gefehlt. Ich sitze gerade im Bus Richtung Europäisches Parlament, wippe die ganze Zeit aufgeregt mit den Füßen und summe leise »O Champs-Élysées« vor mich hin. (Ich weiß, dass die in Paris und nicht in Straßburg sind, aber ich finde, an dieser Stelle sollte man nicht kleinlich sein. Was zählt, ist das Lebensgefühl!)

Kurz: Ich bin so guter Dinge wie noch nie.

Was ist passiert?

Nun, ich habe mich schlichtweg in einem Spiegel gesehen. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Handlung jemals der Grund für eine innerliche Wolke sieben sein würde, denn für gewöhnlich zucke ich jedes Mal zusammen, wenn ich vor einem Spiegel stehe.

So fertig sehe ich heute aus?

Oh Gott, ich bekomme Falten.

Ich habe eben wenig geschlafen.

Aber heute? Umwerfend. Ich sehe einfach umwerfend aus.

Pia hat mir ein Kleid von Jil Sander geliehen, das sie nur einmal auf einem Architektenball getragen hat. Es endet kniggekonform genau eine Handbreit unter dem Knie, und ich muss sagen, dass – was auch immer dieses Kleid gekostet haben mag – jeder einzelne Zentimeter Stoff sein Geld wert war.

Dazu trage ich hohe Schuhe, in denen ich einigermaßen sicher gehen kann (habe gestern Abend in der Jugendherberge geübt und bin zwischen Zimmer und Essenssaal hin und her gestakst), und eine passende Tasche aus Kalbsleder (irgendwie muss ich es schaffen, dass Alexander über das weiche Leder streift, das wird mein Türöffner!).

Einziger Wermutstropfen: Ich friere. Pia hatte entschieden, dass Strumpfhose und Strickjäckchen mein gesamtes Outfit zunichtemachen würden. Heimlich habe ich zwar einen dicken Schal aus Wolle für die Rücktour eingepackt (da ist es ja schließlich egal, wie ich aussehe), aber für den Moment muss ich sagen: Ich friere gerne.

Eigentlich frage ich mich ja immer, wie die Frauen auf dem roten Teppich das machen. Unsereins sitzt mit Wollpulli und Wärmflasche an den Füßen vor dem Fernseher und Iris Berben stolziert in einer schulterfreien Robe geduldig vor den Fotografen auf und ab. Bis jetzt hatte ich immer gedacht, dass ich – sollte ich jemals auf einem roten Teppich sein – eine Winterjacke und Schal tragen müsste. Doch jetzt, in diesem Jil-Sander-Traum, wird mir einiges klar. Wenn man so ein Kleid trägt, dann trägt man es. Und beißt die Zähne zusammen. Ich glaube, ich würde in diesem Kleid sogar bei Schneeregen und Hagel auf dem roten Teppich ausharren. Ich betrachte mich in der Fensterscheibe des Busses. Wenn man nicht in mein Gesicht schaut (das ist leider natürlich immer noch dasselbe), sehe ich verdammt gut aus.

Auf der einen Seite dezent wie eine Politikergattin, auf der anderen Seite modisch elegant. Stilvoll. Einfach stilvoll. Ich finde ja, dass Carla Bruni bei ihrem ersten Antrittsbesuch nicht so gut aussah wie ich. Ob die Brigitte mein Aussehen zum Anlass nehmen wird, eine Fotostrecke über deutsche Politikergattinnen zu machen? Auf dem Titel: »Hannah Jensen – ihr eifern alle anderen Frauen nach«.

Neben meinem anlassadäquaten Äußeren (so langsam muss ich mir mal so eine Sprache angewöhnen) bin ich auch noch perfekt vorbereitet für mein neues Leben an der Seite von Alexander.

Ich habe alle Bundespräsidenten der BRD seit Staatsgründung auswendig gelernt (nur bei Lübke und Heinemann komme ich manchmal durcheinander) und weiß, dass die Farbe der Flagge der Europäischen Union »Pantone Reflex Blue« ist. Und falls ich in irgendeine fachliche Diskussion verwickelt werde, kann ich mit diesem auswendig gelernten Satz auftrumpfen: »Ein völkerrechtlich verbindliches Instrument wie der Vertrag über die europäische Energiecharta kann einfach nicht funktionieren, da er die Interessen der Exportstaaten nicht berücksichtigt.« (Habe ich auf so einer Internetseite von einem Politikwissenschaftler gefunden.)

Himmel, so gut war ich wirklich noch nie auf ein Treffen vorbereitet. Da kann einfach gar nichts schiefgehen.

»Madame?«

Bitte? Hat mich jemand gerufen? Alexander?

»Madame?«, höre ich wieder. Ach ja, ich bin ja im Bus.

Der Busfahrer gestikuliert mit den Händen und zeigt auf eine Haltestelle. Wir sind da.

Ich steige aus, und schon in 300 Meter Luftlinie sehe ich ein Riesengebäude, an dem Dutzende von Fahnen wehen. Das ist es: das Parlament.

Aufgeregt stolziere ich über die Straße und gehe an einem Taxistand vorbei. Taxi! Natürlich! Es ist ja viel stilvoller, wenn ich vorgefahren komme, anstatt so eine popelige Straße von einer popeligen Bushaltestelle hinunterzulaufen.

Ich gehe zum ersten Taxi in der Schlange und sage, während ich auf der ledernen Rückbank Platz nehme: »Bonjour, Parlemant européen. Merci.«

Der Taxifahrer dreht den Kopf zu mir um. »Deux minutes«, sagt er und deutet mit den Fingern erst auf das Gebäude vor uns und dann auf meine Füße.

Ich weiß, dass es nur zwei Minuten dauert, um dort hinzulaufen, denke ich genervt. Aber da muss er jetzt durch. Ich zucke mit den Schultern und tue so, als ob ich nichts verstanden hätte.

»Parlement européen, merci.« Und dann schiebe ich noch ein bestimmendes »Allez, allez« hinterher und zeige auf die Straße.

Er schüttelt wieder ungläubig den Kopf, stößt irgendwelche französischen Fluche aus und fährt los.

Nun, die Fahrt ist wirklich kurz. Wir überqueren eine Kreuzung und sind nach 30 Sekunden da.

»Voila!«, sagt er unbeherrscht und schüttelt wieder den Kopf. Wir werden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr. Aber ich muss sagen, dass sich dieser kleine Kriegszustand zwischen Deutschland und Frankreich gelohnt hat.

Das Taxi hält auf einem riesigen Rondell direkt vor dem Gebäude mit den vielen Fahnen. Ein Fahrzeug reiht sich ans andere. Aus jedem springen Männer in teuren Anzügen heraus, werden von anderen Männern mit teuren Aktentaschen unter dem Arm begrüßt und schreiten dann staatsmännisch ins Gebäude.

Ich schwinge langsam und würdevoll die Beine aus dem Taxi. Diesen Auftritt muss man in aller Breite genießen, auch wenn der Fahrer schon den Gang eingelegt hat und in jedem Moment losfahren will.

Gott, ich fühle mich wie Angela Merkel, die beim G-8-Gipfel ankommt. Gleich begrüßt mich Nicolas Sarkozy.

Mir wird schwindlig.

Ich stehe direkt vor dem Eingang. Eine Drehtür trennt mich jetzt noch vom großen Glück.

Hier endet sie also, meine Suche nach dem Traummann. Zugegeben, ich hätte nicht gedacht, dass sie mich in die Welt der Politik führt. Aber ich muss sagen, dass ich in diese Kulisse wunderbar hineinpasse. Und ich glaube wirklich, dass es dieses Mal das Richtige ist. Dass es funktioniert. Mit Alexander und mir.

Ja, ich weiß. Ich habe in den letzten Monaten ziemlich oft gesagt, dass etwas funktioniert. Doch jetzt ist es wirklich was anderes. Ich weiß es nicht nur, sondern ich spüre es. Frauen haben ja bekanntlich eine hervorragende Intuition. Einen sechsten Sinn. Und genau dieser Sinn flüstert mir gerade ins Ohr: »Hannah, der große Moment ist gekommen.«

Ich sehe schon, wie Alexander und ich bald im Schloss Bellevue zu einem Bankett eingeladen werden.

»Stellen Sie sich vor«, wird Alexander in die Runde sagen, während das Dienstpersonal den Champagner und das Essen (Loup de mer, Steinbuttcarpaccio, Hummer) serviert. »Als Hannah und ich uns kennenlernten, hat sie doch tatsächlich die erste Nacht in der Jugendherberge geschlafen.«

Über das vergoldete Porzellan hinweg drückt er zärtlich meine Hand und ich erröte leicht.

Angela Merkel lacht (sehr herzlich), und auch Gordon Brown und Nicolas Sarkozy stimmen in das Gelächter mit ein und werfen ihre Köpfe in den Nacken, nachdem ihre Dolmetscher ihnen meine Jugendherbergsgeschichte übersetzt haben. Dann meldet sich Berlusconi zu Wort: »Bei mir schläfst du dafür in einem Palast, wenn ihr mich in Rom besucht.« Er haut sich grölend die Hände auf die Schenkel, die ganze Tafel lacht, Alexander haucht mir einen Kuss auf die Wange und ich schiebe mir einen Hummer in den Mund.

Grundgütiger.

 

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Mon Dieu. Jeden Moment muss er da sein. Mit einem überzeugenden »Bonjour, je m’appelle Hannah Jensen et je veux voir Alexander Nuno Pickart Alvaro« habe ich mich vor fünf Minuten am Empfang angemeldet. Die Frau schien meinen auswendig gelernten Satz tatsächlich verstanden zu haben, denn sie nickte nur wortlos und tippte eine 15-stellige Nummer in das Telefon vor sich. Nachdem sie in einem Affentempo mit irgendjemandem gesprochen hatte, sagte sie etwas zu mir – natürlich auch in einem Affentempo. Ich habe kein Wort verstanden, nickte aber nur würdevoll und sagte mit fester Stimme: »Merci.« Dann stellte ich mich selbstbewusst in die Mitte der Eingangshalle. (Es liegt doch nahe, dass die Frau irgendwas wie »Er kommt gleich« oder so gesagt hat.) Mein Gott, bin ich souverän. Ich stehe in der riesigen Halle des Europäischen Parlaments, als hätte ich nie etwas anderes getan. Die Menschen gehen an mir vorbei und beachten mich gar nicht. Ist das nicht wunderbar? Ich falle gar nicht auf. Wahrscheinlich denken sie, dass ich Teil einer internationalen Delegation bin und nur darauf warte, dass es endlich in den Sitzungssaal geht. Ob ich vielleicht auch noch aktiv in die Politik einsteige? Ich meine, Hillary Clinton ist ja auch Politikerin geworden und ihr Mann Bill sitzt jetzt zu Hause rum. Oh Gott, werde ich Alexanders Ämter irgendwann übernehmen?

Ich kann ihn gleich danach fragen. Denn da kommt er. Auf der gegenüberliegenden Treppe sehe ich ihn lässig herunterspringen. Direkt auf mich zu. Er kommt. Der Mann aus der Brigitte. Der Mann aus meinem Portemonnaie. Du meine Güte, der Mann aus meinem Portemonnaie! Ich spüre, wie mir eine Schweißperle die Stirn herunterläuft. Habe ich sein Foto aus meinem Portemonnaie genommen? Ich glaube nicht. Okay, durchatmen. Er wird es nicht sehen. Auch unter Gewaltandrohung werde ich mein Portemonnaie nicht herausholen. Ich versuche zu lächeln.

Alexander Nuno Pickart Alvaro kommt näher. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und ein hellblaues Hemd. Passt perfekt zusammen. Seine schwarzen Haare sitzen perfekt wie aus einer Werbung für Shampoo. Er lächelt verschmitzt, seine dunklen Augen leuchten und plötzlich steht er vor mir. Himmel, sieht der gut aus. Unverschämt gut. Einfach perfekt.

»Hannah Jensen?« Er gibt mir die Hand.

»Ja«, stammle ich und spüre, dass es ein großes Problem zwischen uns gibt. Genauer gesagt: Ich rieche dieses Problem.

Denn Alexander Nuno Pickart Alvaro riecht gut. Er riecht fantastisch. Er riecht wie der Mann aus der Werbung, dem alle Frauen wie die Ratten von Hameln hinterherrennen, nachdem er ein Deo benutzt hat. Oh Gott, was mach ich bloß? Düfte sind doch so wichtig; wenn es mir schlechtgeht, stelle ich mich manchmal einen ganzen Nachmittag in die Parfümabteilung des Alsterhauses. Dann atme ich tief ein und schon fühle ich mich besser. Himmel, dieser Alexander Alvaro vor mir toppt sogar das Alsterhaus! Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich sehe, dass Alexanders Mund auf-und zugeht. Anscheinend spricht er. Ob ich mir während unseres Interviews die Nase zuhalten kann? Ich könnte ja sagen, dass ich eine schlimme Nasenkrankheit habe und diese vor der Luft schützen muss. Ohgottohgottohgott.

Hannah, reiß dich zusammen, schreie ich mich innerlich an. Du musst Haltung bewahren. Nur dieses eine Mal.

Ich versuche, mir einzureden, dass Alexander neutral riecht, und folge ihm willig in eine Lounge am hintersten Ende der großen Halle.

»Kaffee?«, fragt er.

»Gerne.«

Alexander bestellt zwei Kaffee (und bezahlt). Wie gut, dass ich mein Portemonnaie nicht herausholen musste!

Wir sitzen an einem kleinen runden Tisch in der Mitte von vielen anderen kleinen runden Tischen. Rechts von uns gehen zwei Männer einen Stapel Akten durch, auf der anderen Seite unterhalten sich zwei Frauen in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe.

Himmel, wie ich dieses internationale und geschäftige Flair liebe! Vor allem weil man ja weiß, dass die alle nur so tun, als würden sie schrecklich viel arbeiten. Wahrscheinlich haben die Männer neben uns die Akten auch nur als Alibi auf dem Tisch und sprechen eigentlich über ihre neuen Yachten, die sie sich gerade in St. Tropez gekauft haben.

Ich kichere in mich hinein. So ein Leben ist doch perfekt: Man wirkt auf andere wahnsinnig beschäftigt und macht in Wirklichkeit nichts. Doch, dieses Leben kann ich mir sehr gut vorstellen.

Und nun: Auf in den Kampf. In die alles entscheidende zehnte Runde.

 

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»Wie sind Sie denn zur Politik gekommen?«, frage ich und gebe meiner Stimme den Klang einer hochkarätigen Journalistin: professionell, interessiert und souverän. Am liebsten würde ich natürlich »Sie riechen so gut und sehen so toll aus und sind so sympathisch und ich möchte Sie heiraten« sagen, aber man muss ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen.

»Das war 1991, als der Golfkrieg begann. Zum ersten Mal habe ich selbst direkt einen Krieg wahrgenommen und Angst gehabt. Ich wollte wissen, ob der Krieg sich ausbreitet, was genau passiert und wie man damit umgeht. Ich bin in eine humanistische Partei eingetreten, so eine linke Weltverbesserergruppe. Aber man hat mich da nur zum Flyer-Verteilen in der Düsseldorfer Altstadt missbraucht.«

Er lacht.

»Über einen Freund bin ich dann zu den Jungen Liberalen gekommen.«

Golfkrieg – daran erinnere ich mich auch noch dunkel. Meine Mutter hatte mir verboten, zum Kindergeburtstag von Ulrike Clausen zu gehen. »Man darf jetzt nicht fröhlich sein«, hatte sie gesagt. Als ich mich trotzig auf das Sofa schmiss und den ganzen Tag bockig Fernsehen guckte, sagte meine Mutter mit trauriger Stimme: »Irgendwann wirst auch du das verstehen.«

Ob ich Alexander erzählen soll, dass ich auf dem Sofa lag und »Love Boat« gesehen habe, während er in eine humanistische Partei eingetreten ist und die Welt verändern wollte? Um Himmels willen, nein! Außerdem haben wir ja jetzt zusammengefunden. Was zählt da schon die Vergangenheit?!

»Hat es sich gelohnt, in die Politik zu gehen? Kann man wirklich etwas verändern?« Ich muss unwillkürlich an die Frau denken, die im strömenden Regen Unterschriften für eine Bürgerinitiative gesammelt hat. Und daran, wie ich mich über sie lustig gemacht habe.

»Auf jeden Fall. Man kann sehr viel bewegen. Gerade hier im Europäischen Parlament. Da werden Gesetze für 500 Millionen Bürger gemacht, das ist schon beeindruckend.«

»Gibt es auch etwas, was Sie an Politikern kritisieren«? (Himmel, ich bin ja eine richtig seriöse Journalistin!)

»Klar«, sagt er und lacht. (Wenn er lacht, sieht er toll aus, nur so nebenbei.) »Politiker dürfen sich nicht zu ernst nehmen und auch mal zugeben, wenn sie von etwas keine Ahnung haben.«

Ob ich zugebe, dass ich von Politik mal so gar keine Ahnung habe? Nein, nicht jetzt. Das kann ich ihm immer noch stecken, wenn wir erst einmal zusammen sind.

»Und wovon haben Sie keine Ahnung?« Natürlich ist das eine rhetorische Frage. Er weiß sicher alles, seufze ich innerlich und lächle ihn an.

»Agrarpolitik. Ich weiß nur, wie so ein Feld aussieht.« Er lacht. »Haushalt muss ich auch noch lernen. Und Energiepolitik ...« Er lacht wieder. »Ganz schön viel, oder?« Er zieht eine Augenbraue hoch.

Ganz schön sympathisch, möchte ich am liebsten sagen und ihn spontan umarmen. Aber halt, Carla Bruni umarmt Nicolas Sarkozy auch nicht in aller Öffentlichkeit. Haltung bewahren, immer Haltung bewahren.

»Sie haben Jura studiert – warum haben Sie sich nicht für Politikwissenschaften entschieden?« Ob ich jetzt meinen auswendig gelernten Satz »Ein völkerrechtlich verbindliches Instrument wie der Vertrag über die europäische Energiecharta kann einfach nicht funktionieren, da er die Interessen der Exportstaaten nicht berücksichtigt« zum Besten geben soll? Während ich angestrengt überlege, wie ich den am besten einleiten könnte, antwortet Alexander.

»Ich wollte wissen, warum man etwas darf und warum nicht. Warum darf ich ein Scheißknöllchen bekommen, wenn ich im Halteverbot stehe? Brauche ich einen Kassenbon, wenn ich etwas umtauschen will? Jura ist toll. Man lernt schlichtweg die Spielregeln des Lebens.«

Dieser Alexander Nuno Pickart Alvaro wird mir immer sympathischer. Das nächste Mal, wenn mir eine H&M-Verkäuferin dumm kommt und etwas nicht zurücknehmen will, werde ich Alexander holen. Er wird dann an der Kasse etliche Paragrafen zitieren und am Ende sagen: »So, und jetzt entschuldigen Sie sich bitte bei meiner Liebsten.« Ach herrlich, wie bei »Pretty Woman«, als Richard Gere in so einer Edelboutique Julia Roberts in Schutz nimmt. Mein Leben nimmt doch noch eine hollywoodreife Wendung, ich wusste es schon immer!

»Während ich noch zur Schule ging, habe ich nebenbei viel gejobbt. Das hatte noch gar nichts mit Jura zu tun«, erzählt Alexander weiter. »Im Supermarkt zum Beispiel war ich der Chip, bevor er erfunden wurde.«

Er lacht.

»Bitte? Wie darf ich das verstehen?«

Himmel, ich mache mich verdammt gut. Zum ersten Mal habe ich kein stumpfes »Häh???« von mir gegeben, sondern mit einem stilvollen »Wie darf ich das verstehen?« nachgefragt. Vielleicht könnte ich später auch einen Etikette-Ratgeber schreiben. »Die Politikergattin Hannah Nuno Pickart Alvaro gibt Tipps aus der Welt der Schönen und Reichen.«

Huch, ich dämmere weg. Ich setze mich wieder aufrecht hin.

»Na ja, ich habe damals im Supermarkt gejobbt und musste immer die Einkaufswagen suchen und wieder zusammenschieben. Ein verantwortungsvoller Job«, sagt er ganz ernst und kann sich dann doch ein Lächeln nicht verkneifen. »Irgendwann wurde ich dann aber traurigerweise vom Chip abgelöst.«

Wir lachen so laut, dass die beiden Männer am Nebentisch (die mit den Pseudoakten) zu uns rübergucken.

»Waren Sie denn früher in der Schule ein Mädchenschwarm?« »Unsere Mädchen waren da erbarmungslos. Jedes Jahr haben sie eine Liste mit den beliebtesten Jungs geführt. Bis zur siebten Klasse war ich zuverlässig auf dem letzten Platz. Ab der achten Klasse hatte ich dann plötzlich eine Ad-hoc-Akzeptanz.« Er lacht. »Ich weiß auch nicht, wie das plötzlich kam.«

»Also, ich kann mir das gut erklären«, seufze ich und starre ihn beseelt an. Oh Gott, zurück! »Äh, ich meine natürlich, ich kann mir das gut erklären, warum Sie das verwundert hat, diese Wendung, meine ich, ist ja auch wirklich komisch.«

Ich lache albern. Schnell eine Frage hinterher.

»Was finden Sie an Frauen wichtig?«

»Mmh, ich muss mal überlegen.« Er legt die Stirn in Falten (und sieht selbst dabei wahnsinnig gut aus, das sollte er öfter tun!). »Humor. Ja, Humor ist schon sehr wichtig.«

»Und welche Art von Humor mögen Sie denn am liebsten?«

»Ach, keinen bestimmten. Ich habe eine sehr große Spannweite. Von stumpf bis feinsinnig, würde ich sagen. Schwarzen Humor finde ich auch super. Ich warte immer noch auf einen Film, der am Strand spielt und in dem alle ihre Kinder ins Wasser schmeißen, wenn es Hai-Alarm gibt.« Er lacht. »Ich finde, es gibt keine Tabus beim Thema Humor. Ein unverkrampfter Umgang mit allem macht vieles leichter.«

Auch das noch, er ist humorvoll! Ob ich ihn fragen soll, ob er »Youporn« kennt? Aus dem Gespräch mit Bernhard Hoëcker habe ich ja gelernt, dass Männer so etwas anscheinend witzig finden. Oder mache ich dadurch alles kaputt?

Gott sei Dank muss ich mich nicht entscheiden, ob ich gleich über Oralverkehr sprechen soll, denn Alexanders Handy piept.

Er sieht auf die Uhr. »So spät schon? Ich muss ja dringend in die nächste Sitzung. Aber warten Sie doch einfach hier, ich komme dann danach wieder.« Er steht auf und ich winke ihm fröhlich hinterher.

»Bis nachher«, flöte ich. Als er nicht mehr in Sichtweite ist, hole ich mein Handy heraus.

SMS an Pia.

»er sieht bombig aus.plus:witzig,intelligent,selbsironisch.kurz:ER IST ES!!!! bin furchtbar aufgeregt. bis später, hannah obama :-)«

 

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Während Alexander in der Sitzung ist, hole ich mir erst einmal einen frisch gepressten Orangensaft an der Bar und stolziere dann in der großen Empfangshalle auf und ab, um das Ambiente auf mich wirken zu lassen. Frauen in teuren Kostümen gehen geschäftig an mir vorbei, alle Männer tragen gut sitzende Anzüge und überall höre ich die unterschiedlichsten Sprachen. Diese Atmosphäre inspiriert mich irgendwie. Ich spüre sogar, wie ich mich verändere. Ich halte plötzlich das Glas Orangensaft nur mit dem Daumen und dem Mittelfinger (so wie das die Leute auf edlen Vernissagen tun!), und wenn ich trinke, schürze ich vornehm die Lippen und nehme dezent einen kleinen Schluck nach dem anderen. Ich bin nicht mehr die Hannah in der Jogginghose. Nein, ich bin ein ganz anderer Mensch geworden!

In der Sendung »Nur die Liebe zählt« habe ich einmal gesehen, wie ein Mann seiner Frau ein Ständchen gesungen hat, weil sie ihn von Alkohol und Heroin weggebracht hatte. Auf die Melodie von »One moment in time« von Whitney Houston sang er »Du hast mich bekehrt«.

Ob ich das auch gleich schmettern soll, wenn Alexander aus der Sitzung kommt? Irgendwie passt dieses Lied doch auch zu uns. Und meiner Verwandlung.

Ich verwerfe den Gedanken, weil mir nämlich etwas viel Besseres eingefallen ist. Sicher ist dies Alexanders letzte Sitzung für heute. Da könnten wir doch gleich noch wunderbar ein wenig durch Straßburg bummeln. Er könnte mir die berühmte Kathedrale zeigen und dann würden wir durch die kleinen Läden in der Altstadt schlendern. In einem Souvenirladen würde Alexander schließlich darauf bestehen, mir eine kleine Kathedrale aus Kunststoff zu kaufen.

»Als Andenken«, flüstert er.

»Aber ich werde nun doch öfter hier sein«, flüstere ich zurück.

»Das stimmt«, haucht er und nimmt mich in den Arm.

Während ich leicht wegdämmere, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass Alexander wiederkommt. Ich versuche, mich zu fangen und möglichst geschäftig zu wirken. Aber wie schafft man das, wenn man einfach nur auf der Stelle steht? In der Hoffnung, dass es unheimlich dynamisch rüberkommt, trete ich von einem Bein aufs andere und immer wieder zurück.

»Oh hallo«, sage ich überrascht. »Setzen wir uns wieder?« Ich zeige auf einen der Tische. »War es eigentlich Ihre letzte Sitzung für heute?« (Immer diese rhetorischen Fragen, natürlich war es seine letzte Sitzung!) Ich lächle ihn selbstsicher an.

Alexander Alvaro lacht. »Ich glaube, da kommen noch drei.«

Ich verschlucke mich am Orangensaft und bekomme einen Hustenanfall. Noch drei??? Was redet er da? Wie meint er das bloß? Zu mir kann er doch offen sein und zugeben, dass die hier alle nur so tun, als ob sie arbeiten.

Na ja, vielleicht könnte ich ja zur Not noch eine Nacht bleiben und wir bummeln morgen durch die Stadt. Die Jugendherberge hat sicher noch was frei. Mal sehen, ob er überhaupt offen dafür ist.

»Wohnen Sie denn gerne in Straßburg?«

»Von ›wohnen‹ kann man eigentlich nicht sprechen. Ich bekomme ja gar nichts von der Stadt mit, wenn ich hier bin. Wir schlafen direkt in der Nähe des Parlaments und arbeiten die ganze Zeit. Sowieso ist dieses ganze Hin und Her zwischen Straßburg und Brüssel total ineffektiv. Das kostet nur Zeit und Geld. Das wird eine wichtige Aufgabe des Parlaments sein, diese Standortfrage noch einmal in Ruhe zu diskutieren.«

Ich fasse es nicht, er findet Straßburg ineffektiv. Ich freue mich doch schon so darauf, mit meinem kleinen Köfferchen immer hin und her zu reisen.

»Mögen Sie Straßburg denn gar nicht?« Ich befürchte, dass meine Stimme sich verzweifelt anhört, nahezu flehend.

»Doch, ich mag Straßburg. Der Süden liegt mir sowieso generell. Ich hasse nämlich den Winter. Wenn ich friere, laufe ich nur auf 70 Prozent. Ich könnte mir auch gut vorstellen, irgendwann einmal auszuwandern.«

Ich schlucke. So viele Gemeinsamkeiten! Das gibt’s doch gar nicht! Er wird sicher auch meine Mütze im Bett akzeptieren. Nein, besser noch: Wahrscheinlich trägt er selbst auch eine! Ich strahle über das ganze Gesicht. So sicher war ich mir wirklich noch nie, dass es klappen könnte.

»Haben Sie auch einen Lieblingsort im Süden?« (Wenn er jetzt gleich »Lord Howe Island« vor Australien sagt, schreie ich. Natürlich war ich dort noch nie, aber ich habe einmal eine Reportage darüber auf »VOX« gesehen und bin mir seitdem sicher, dass es mein Lieblingsort werden könnte.)

Er lächelt. »Wissen Sie, ich bin schon ziemlich viel gereist. Ich war schon in Indien, in Palästina, im Dschungel oder auch in Taiwan.« Ich schmelze dahin. Wir werden auch noch viel reisen, das ist einfach zu schön, um wahr zu sein. »Aber wissen Sie, so richtig zu Hause fühle ich mich nur, wenn ich in Düsseldorf bin.« Düsseldorf? Das ist jetzt aber wirklich ein wenig unglamourös. Ich versuche, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

»Mögen Sie dann etwa auch Karneval?«

»Um Gottes willen. Aber ich hatte mal ein witziges Erlebnis mit Karneval. Eine Kollegin hatte mich überredet, zu einem Karnevalsball zu gehen. Ich hatte überhaupt keine Lust, aber ließ mich irgendwie breitschlagen. Und natürlich gehört zu einer Karnevalsparty auch eine Verkleidung, dachte ich. Ich ging als Football-Spieler und meine Kollegin war von oben bis unten Kunstrasen. Als wir dann die Tür zum Saal öffneten, waren wir die Einzigen, die verkleidet waren. Es war wie in einem schlechten Hollywood-Film.« Er lacht. Und ich lache.

Plötzlich holt Alexander wieder sein Blackberry aus der Hosentasche. »Huch, ich dachte, es hätte geklingelt. Hat es aber gar nicht. So weit ist es also schon mit mir gekommen. Ich höre Geräusche.«

»Haben Sie Wahnvorstellungen?«

»Ich würde es eher Sinnestäuschungen nennen.« Wir lachen.

Doch plötzlich wird er ernst. »Es ist wirklich schwierig, abzuschalten. Wie in einem Computer-Fenster poppt dauernd etwas hoch. Man kommt nie zur Ruhe.«

Himmel, der Gute ist ja wirklich nicht stresserprobt. Ich meine, er arbeitet beim Europäischen Parlament. Hallo? Gibt es einen entspannteren Job?

»Wie lange arbeiten Sie denn in der Woche?«

»Im Schnitt 80 bis 90 Stunden. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es so stressig ist.«

80 bis 90 Stunden??? Ich verschlucke mich am letzten Rest meines Orangensafts. Bevor ich mich und mein Weltbild wieder in geordnete Bahnen bringen kann, sieht Alexander schon wieder auf die Uhr.

»Nächste Besprechung.« Er zuckt mit den Schultern. »Dauert aber nicht lange. Bin gleich wieder da.« Er lacht. Ich sitze wie paralysiert am Tisch und halte mich in einer Art Schockstarre am leeren Glas fest. 80 bis 90 Stunden. Ich fasse es nicht.

Alexander springt auf und ich sehe ihm hinterher. Plötzlich dreht er sich noch einmal um. »Eine Frage noch: Haben Sie früher mit Playmobil oder mit Lego gespielt?«

»Äh, Playmobil«, stottere ich und denke an meine Playmobil-Burg, mein Playmobil-Pferdchen, das sogar den Schweif bewegen konnte, und natürlich an mein Playmobil-Ritterfräulein, das ich auf den Namen »Jutta« taufte (wie ich auf den kam, ist mir bis heute schleierhaft) und dem ich jeden Abend ein kleines Bett aus Zeitungen baute.

»Und Sie?«, frage ich schüchtern.

»Ich war eher der Lego-Typ. Playmobil war mir zu statisch.« Er lacht und winkt mir zu. »Bis nachher!« Mit beschwingtem Schritt federt er davon.

In meinem Kopf dreht sich alles. Auf der einen Seite sehe und höre ich förmlich, wie ich auf dem Boden eines wunderschönen Kinderzimmers knie und einem kleinen, süßen Fratz eine Playmobil-Figur in die Hand drücke und dabei verschwörerisch flüstere: »Lass den Papa das nicht sehen, der mag lieber Lego.«

Und auf der anderen Seite kann ich immer nur an eines denken: 80 bis 90 Stunden. Das sind bei sieben Tagen Arbeit zwölf Stunden pro Tag. Und bei fünf Tagen 18 Stunden Arbeit am Tag. So viel kann ein Mensch doch gar nicht arbeiten. Ich komme einfach nicht darüber hinweg. Wenn ich irgendwann einmal gefragt werde, ob mir eine Zahl etwas Besonderes bedeuten würde, werde ich sagen: »Ja, ab dem 29. Lebensjahr bestimmten die Zahlen 80 und 90 mein Leben.«

Seit meiner Beziehung mit Michael bin ich traumatisiert, was arbeitende Männer betrifft. Na ja, natürlich will ich, dass mein Mann arbeitet und erfolgreich und angesehen und geschäftig ist, aber eben nicht ausschließlich. Nur allzu gut erinnere ich mich daran, wie ich wochenlang auf Michael gewartet habe, während er Dokumentationen im kongolesischen Sumpfgebiet drehte. Ich erinnere mich sogar daran, was ich mir schluchzend schwor, als es endgültig aus war zwischen uns: »Der Nächste wird ein Hartz-IV-Empfänger!« Natürlich war ich zu dem Zeitpunkt nicht Herrin meiner Sinne, aber ich befürchte, dass Alexander Nuno Pickart Alvaro meinen Michael um Längen schlägt, wenn es um die Arbeitszeit geht. Nicht mit mir. Ich will nicht schon wieder Opfer sein.

Für einen Moment überlege ich, Alexander hinterherzurennen und ihm zu sagen, dass es mit uns leider nichts werden kann unter den Umständen. Aber streng genommen bin ich ja diejenige, die etwas will, und er ahnt noch gar nichts davon. Oh Gott. Was tue ich bloß? Es hätte doch alles so schön werden können.

Mit zittrigen Händen hole ich mein Handy aus der Tasche.

SMS an Pia.

»kann ein traummann ein traummann sein, wenn er ein mann ist und dennoch ein traum bleibt?«

So viel Tiefsinn in noch nicht einmal 160 Zeichen. Und das in meinem Zustand. Das zeigt nur, dass mein Hormonhaushalt und meine romantische Seele vollkommen in Wallung geraten sind. Ob es hier wohl irgendwo Alkohol gibt? Ich muss mich betrinken.

 

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Um Himmels willen. Keinen Alkohol. Ich muss einen klaren Kopf bewahren. In fünf Minuten werde ich im Europäischen Parlament sitzen. In einer Sitzung. Nicht auf der Besuchertribüne, sondern ganz regulär unten im Saal, im »Mitmachteil« (oder wie nennt man das bloß???). Jawohl. Ich. Hannah Jensen aus Klixbüll. Die noch nicht einmal weiß, welches Wahlsystem wir in Deutschland haben und die bei den Bundespräsidenten immer durcheinanderkommt. Ob es hier wohl irgendwo eine Beruhigungsspritze gibt?

Kurze Rückblende, wie es zu dieser ... äh ... einmaligen Chance kommen konnte.

Als Alexander vor fünf Minuten aus der Besprechung zurückkam, sagte er mir, dass er gleich schon wieder weitermüsse, in die »konstituierende Sitzung des Parlaments«. Vor zwei Wochen wurde nämlich das Parlament neu gewählt und nun finden die ersten Sitzungen statt. Ich habe wohl irgendwas von »Das klingt ja spannend« von mir gegeben, denn plötzlich meinte Alexander: »Warum kommen Sie nicht einfach mit? Ist eigentlich verboten, aber ich werde Sie schon irgendwie reinschmuggeln.«

Und genau an diesem Punkt sind wir nun. Ich soll feindliches Gebiet betreten, der Grenzübergang steht unmittelbar bevor. Während ich ihm hinterherhetze (Himmel, hat der ein Tempo drauf!), zischt mir Schleuser Alvaro letzte Verhaltensinstruktionen zu, damit wir die Kontrollen am Eingang sicher überstehen.

Er wird die Kontrolleure begrüßen.

Ich soll ihm selbstbewusst folgen.

Nicht anhalten.

Immer weitergehen.

Selbstbewusst wirken.

Nett grüßen.

Einfach reingehen.

Ohje, ich fühle mich wie ein DDR-Flüchtling, der – getarnt als Westdeutscher – den Checkpoint Charlie überqueren soll. Diese ganze Grenzdramatik bekommt plötzlich eine völlig neue Dimension.

Nervös sprinte ich Alexander durch ein Labyrinth von Gebäuden, Fluren und Fahrstühlen hinterher (hier finde ich niemals wieder alleine raus!). Doch dann biegen wir um eine Ecke und plötzlich stehen sie da: die Kontrolleure.

Alexander ist souverän. Grüßt, lächelt und geht selbstbewusst rein. Ich trotte wie in Trance hinterher. Und bin: drin.

»Setzen Sie sich einfach hier irgendwo hin, ich muss da rüber. Viel Spaß und bis nachher, ich hol Sie wieder ab!« Ehe ich mich’s versehe, ist Alexander in der Mitte des Saales verschwunden. Eine Traube von Abgeordneten steht zusammen, dann setzen sich alle.

Ich nehme schnell den ersten Platz, der mir in die Quere kommt: sechste Reihe, ganz außen. Ich lasse mich in den Sessel sinken und habe das erste Mal wieder die Gelegenheit, tief durchzuatmen (das wär’s ja noch, wenn ich im Europäischen Parlament vor lauter Aufregung in Ohnmacht fiele. Ob Alexander dann heldenhaft Mund zu Mund ...) Ich muss leise vor mich hin kichern, doch ein Mann neben mir (Aktenberg vor sich, Anzug, Krawatte, strenger Blick) brummt leise, aber bestimmt: »Quiet please.«

»Äh, sorry«, stottere ich und lache gequält. Wo bin ich bloß hier gelandet? Zum ersten Mal sehe ich mich um.

Der Saal ist riesig. Hunderte Stühle sind so angeordnet, dass sie wie ein großer Fächer auf ein Podest ganz vorne zulaufen. Überall stehen Kameras (oh Gott, auch zwei Meter schräg hinter mir, ob mein Hinterkopf gleich bei »Phoenix« groß rauskommt?) und über dem Saal sehe ich auf einer Empore eine Unmenge kleiner Kabinen. In jeder Kabine sitzt hinter einer Fensterscheibe ein Mensch mit Kopfhörer auf dem Kopf und Mikrofon vor dem Mund. Natürlich, die Dolmetscher!

Ich starre fasziniert nach oben. Wenn ich nicht immer die Zahlen 80 und 90 im Kopf hätte, wäre ich jetzt der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich hätte bald einen internationalen Freundeskreis und wahrscheinlich wären sogar die unwahrscheinlich lässigen Dolmetscher da oben meine engsten Vertrauten. Bei Jacqueline aus der Frankreichkabine wären wir bald zum Crêpe-Essen eingeladen, Jorge aus Spanien würde mir immer frivol zuzwinkern, wenn ich ihm auf einem der Gänge begegnen würde, und die Partys bei den Dolmetschern aus dem Ostblock wären die wildesten, und noch Tage danach würden alle darüber sprechen, wie ausgelassen man auf den Tischen getanzt habe.

Es könnte alles so schön werden. Ob Alexander den Job wohl auch in Teilzeit machen könnte? Ich sehe heimlich zu ihm rüber. Er gestikuliert wild mit den Armen, diskutiert mit seinen beiden Nachbarn und arbeitet noch schnell Akten durch, die auf seinem Tisch liegen. Von allen da drüben wirkt er mit Abstand am engagiertesten. Es ist zum Heulen. Da wünsche ich mir eigentlich, dass er noch Kanzler wird, und nun will ich, dass er in Teilzeit geht.

Oh Gott, die Sitzung beginnt. Der Mann auf dem Podest klopft plötzlich an sein Mikro und die Dolmetscher in ihren Kabinen richten sich auf. Auch Alexander und seine Kollegen verstummen. Wie alle anderen setze ich mir den Kopfhörer auf, der auf meinem Tisch liegt. An einem Knopf daneben kann man zwischen den verschiedenen Sprachen wählen. Ich drücke mich durch die Kanäle. Französisch, Englisch, Spanisch – in meinem Ohr erklingen abwechselnd so viele unterschiedliche Sprachen, wie ich sie zuletzt beim Grand Prix Eurovision de la Chanson gehört habe. (Der Italiener auf Kanal vier klingt übrigens am tollsten. Wahnsinnig erotisch und gleichzeitig enorm männlich. Und die holländische Übersetzerin gefällt mir gut. Ich finde, wir sollten den Holländern die Weltherrschaft anvertrauen – wer so nett spricht, kann nichts Böses im Schilde führen.)

Himmel, ist das alles aufregend. Ich sitze im Europäischen Parlament im Mitmachteil, habe einen Kopfhörer auf und mache Sprachkanal-Hopping, als hätte ich nie etwas anderes getan. Wie lässig das aussehen muss. Ob ich den Mann neben mir frage, ob er ein Foto von mir machen kann? Mein Handy hat ja eine ganz gute Kamera, die Qualität wäre sicher super. Und wenn er das Handy schräg unter dem Tisch hält, bekommt auch keiner etwas davon mit. Ich sehe verstohlen zur Seite. Der Mann neben mir sieht wie gebannt nach vorne und nickt regelmäßig. Der ist beschäftigt, das kann ich vergessen.

Auch ich konzentriere mich jetzt besser auf die Sitzung. Nachher fragt mich Alexander noch, was ich am interessantesten fand, und ich müsste sagen: »Nun, ich habe mich eigentlich nur mit dem Übersetzungsknopf befasst. Und da Sie ja sowieso die ganze Zeit arbeiten – könnten Sie wohl für mich die Telefonnummer vom Italiener auf Kanal vier herausfinden?«

Ich setze mich aufrecht hin und sehe angestrengt nach vorne. Ein Abgeordneter nach dem anderen meldet sich zu Wort. Am Anfang beglückwünscht jeder von ihnen den neuen Vorsitzenden zur Wahl. Danach sagt jeder, was er sich von der neuen Legislaturperiode erhofft.

Eine Italienerin wünscht sich eine Anti-Mafia-Kommission. Die Zustände seien verheerend. Man müsse dringend handeln.

Ich bekomme Gänsehaut. Hier geht es ja wirklich um etwas!

Dann steht eine Ungarin auf und schreit förmlich: »Ungarn ist in einer Menschenrechtskrise. Warum will das niemand sehen?«

Sie klingt verzweifelt. Morgen trete ich in einen Verein ein, der sich um die Menschenrechte in Ungarn kümmert.

Und dann meldet sich noch eine Spanierin zu Wort. Die Problematik der ETA muss dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden. Ein Polizist sei vor Kurzem ermordet worden. Die Abgeordnete sieht ergriffen in die Runde und regt eine Schweigeminute an.

Ich muss schlucken. Wer hätte gedacht, dass Hannah Jensen aus Klixbüll für einen ermordeten spanischen Polizisten irgendwann einmal eine Schweigeminute einlegt? Das glauben mir meine Eltern nie!

Den Rest der Sitzung kann ich mich nicht mehr konzentrieren.

 

Nach einer halben Stunde, in der ich andächtig vor mich hin starre, ist alles vorbei. Die Abgeordneten schwirren zu den Ausgängen und Alexander Alvaro holt mich wie versprochen von meinem Platz ab.

»War’s spannend?«, fragt er.

Ich bringe ein »Und ob!« heraus und strahle ihn an.

Wir gehen Richtung Lobby zurück, da überholt uns eine blonde Frau, Marke Topmodel. Während sie an uns vorbeigeht, dreht sie sich kurz zu uns um und ruft lachend (Perlweiß-Zähne): »See you tomorrow, Alexander!«

»See you«, ruft er und wendet sich dann wieder mir zu: »Das war meine holländische Kollegin.«

Kann man eine Frau hassen, ohne sie zu kennen? Ja, man kann.

»Ist das hier eigentlich ein Heiratsmarkt?«, frage ich, als sie außer Sichtweite ist. »Ich meine, weil man sich ja dauernd sieht und so.« Ich lache etwas albern.

»Heiratsmarkt?« Alexander schüttelt vehement den Kopf. »Ich würde eher von einer großen Scheidungsparty sprechen. Es gibt Studien, die zeigen, dass jede dritte Ehe hier geschieden wird. Man muss sagen, dass es für eine Beziehung wirklich schwierig ist, wenn einer von beiden hier arbeitet. Die Gefahr, dass sie zerbricht, ist auf jeden Fall groß.«

 

Okay, ich habe verstanden. Er arbeitet 18 Stunden am Tag und in den sechs verbleibenden Stunden würde unsere Beziehung zerbrechen. Warum musste mein Traummann Nummer zehn bloß ein Politiker aus dem Europäischen Parlament sein? So kann das ja nichts werden. Mit mir und der Liebe.

Wir sind inzwischen in der Lobby angekommen. Dort, wo vor ein paar Stunden alles so hoffnungsfroh begann. Die große Drehtür schwingt nach draußen. Noch zwei Schritte, dann bin ich wieder in meiner alten Welt.

»Vielen Dank für das nette Gespräch«, sage ich.

»Gern geschehen. Sehen Sie sich jetzt noch Straßburg an?«

»Ja«, druckse ich. Und würde am liebsten hinzufügen: »Das wollte ich eigentlich mit Ihnen machen. Und dann hätten Sie mir eine kleine Kathedrale kaufen können.«

 

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Es könnte perfekt sein. Ich sitze in einem kleinen Straßencafé in der Straßburger Altstadt, der Kellner hat mich mit »Bonjour Madame« begrüßt und mir charmant zugezwinkert, am Himmel ist keine Wolke zu sehen und in einiger Entfernung spielt ein Straßenmusikant auf dem Saxofon französische Schnulzen. Es ist die perfekte Atmosphäre für ein verliebtes Pärchen, das Arm in Arm durch die Gassen schlendert und sich nach jedem Schritt tief in die Augen sieht. Und genau das ist das Problem: Ich habe das Gefühl, dass ganz Straßburg um mich herum das genauso sieht. Alle sind verliebt! Gerade fragte mich ein chinesisches Pärchen, ob ich von ihnen ein Bild vor der Kathedrale machen könnte. Kurz bevor ich den Auslöser drückte, küsste der Junge das Mädchen beherzt auf den Mund. Hallo? Ich dachte, dass Chinesen dafür bekannt sind, dass sie in der Öffentlichkeit keine Emotionen zeigen. Sogar bei denen fallen hier alle Hemmungen! Es ist zum Heulen.

Ich bestelle mir den zweiten Milchkaffee für geschlagene 5 Euro 20 (egal, heute ist alles egal) und sehe mich um. Ich sitze alleine am Tisch. Natürlich, Alexander ist bestimmt in einer Sitzung oder flirtet mit der doofen Holländerin. Wenn ich die Beine ausstrecke, berühren sie das kalte Messing des Stuhlbeines neben mir. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt die Beine von ...

Das Telefon klingelt. Alexander sagt, dass er seinen Job an den Nagel gehängt hat und schon auf dem Weg zu mir ist, um mir gleich eine kleine Kathedrale zu kaufen. (Mein Gott, die scheint es mir wirklich angetan zu haben.)

Mit einem winzigen Funken Hoffnung schaue ich aufs Display. Natürlich, Pia!

»Guten Tag«, sagt Pia mit verstellter Stimme. »Ich würde gern die Politikergattin Frau Jensen sprechen. Wäre das möglich oder ist sie gerade mit Barack Obama unterwegs?« Sie kichert.

»Das Weiße Haus lässt ausrichten, dass Frau Jensen nicht gestört werden möchte. Sie unterzeichnet gerade die Scheidungspapiere.«

»Scheidungspapiere?« Pia hat wieder ihre normale Stimme angenommen und klingt ehrlich entsetzt. »Hat’s nicht funktioniert? Deine SMS klang doch so verheißungsvoll.«

»Ach so, du meinst meinen Ausflug in die Poesie? Nun, die Antwort ist: Er ist ein Mann und ein Traum und bleibt ein Traum«, sage ich kryptisch. »Erzähl ich dir alles morgen in Ruhe.«

Wir legen auf.

 

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Das waren sie also. Meine zehn Traummänner. Sie waren lustig, intelligent, gut aussehend, selbstironisch, tiefsinnig und charmant. Und was habe ich daraus gemacht? Nichts.

Na ja, kein Problem. Für den nächsten Mann werde ich einfach lernen, Elefanten zu dressieren, versaute Witze zu erzählen und Sauce Carbonara zu kochen. Wenn ich dann noch sportlich werde und meine Stimme in einen angenehmen Altton verwandle, kann eigentlich nichts schiefgehen.

Während ich einen Kloß in meinem Hals spüre, sehe ich, wie der Saxofonspieler von der anderen Straßenseite auf mich zukommt. Er hält direkt vor mir. Was spielt er denn da? Oh Gott. Jetzt wird es kitschig. Es ist »I did it my way« von Frank Sinatra. Ich muss schlucken.

Ich krame einen Zehn-Euro-Schein aus meinem Portemonnaie. Er verbeugt sich dankend und ich fange an zu weinen. Langsam laufen mir die Tränen übers Gesicht. Es stimmt. I did it my way. Der nächste Mann wird das zu schätzen wissen. Und ich bin mir sicher: Es wird einen nächsten Mann geben. Einen ganz realen Traummann. Ich muss lächeln.