8. Patrick Winczewski, Hugh Grant und ich

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Ist ja gut. Ich habe es kapiert. Heute ist nicht mein Tag. Hiermit gebe ich, Hannah Jensen, das Konzept des positiven Denkens offiziell auf und stelle fest: In den letzten Stunden ist so ziemlich alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte.

Ich wachte auf und wie ein Gewehr feuerte mein Kopf Gedankensalven in meinen Körper.

1. Du hast einen Mann getroffen, der Gedanken lesen kann.

2. Du wirst nie mit diesem Mann zusammenkommen.

3. Wenn du an einen geliebten Menschen denken sollst, denkst du an deinen Hund.

Nachdem ich unter der Dusche die Arie »Draußen ist Freiheit« gesungen hatte (trotz der Kevin-Tarte-Enttäuschung halte ich immer noch an meinem Ritual fest, ich finde, das zeugt von enormer Größe), fühlte ich mich schon besser. Und ich beschloss: Nach der Thorsten-Havener-Enttäuschung sollte dies mein Tag werden. Mein absoluter Wohlfühltag. Mir fiel ein neues Spa ein, das gerade am Jungfernstieg aufgemacht hatte. Eine Stunde Massage inklusive Ganzkörperpeeling kostete nur 99 Euro, Einführungsangebot. (Ab nächster Woche würde das Ganze 129 Euro kosten, ich sparte also auch noch!)

Wenn nicht heute, wann dann, fragte ich mich und sah schon, wie ein gut aussehender Spa-Mitarbeiter jeder unnützen Hautschuppe meines Körpers den Kampf ansagt. Wahrscheinlich würde er sich besonders viel Mühe geben, weil das Spa ja neu aufgemacht hat und es sich ja gerade am Anfang schnell rumspricht, wenn etwas nicht so gut ist. Wenn ich dann außerdem im Nebensatz noch erwähnen würde, dass ich Journalistin bin ... Ach herrlich. Er würde sich nicht wahrscheinlich Mühe geben, sondern auf jeden Fall würde er so gut sein wie noch nie. Und danach könnte ich mit der Haut eines Babypopos noch ein wenig einkaufen gehen.

Mein Tag begann damit, dass ich mir meine absolute Lieblingsjeans anzog, die ich mir immer für besondere Anlässe aufspare. (Ich trage sie nur selten, da Waschen viel zu riskant wäre!) Sie hat geschlagene 219 Euro gekostet und ist jeden einzelnen verdammten Cent wert. Denn sie macht selbst aus meinen eher unscheinbaren Pobacken einen richtigen Jennifer-Lopez-Arsch. Das letzte Mal kam sie zum Einsatz, als Stefan mit mir Schluss gemacht hatte und wir uns noch einmal zu einem klärenden Abschlussgespräch trafen. (Natürlich muss man in klärenden Gesprächen mit dem Ex das Beste aus sich rausholen und so umwerfend wie möglich aussehen.) Ich wusste: Meine Hose war die einzige Möglichkeit, ihn noch zurückzuerobern. Darum musste sie auch eine tragende Rolle während des Gesprächs übernehmen. Ich ging also alle zehn Minuten auf die Toilette, nur damit Stefan jedes Mal von hinten meinen Hintern bewundern konnte. Ich war mir sicher, dass er irgendwann denken würde: »Verdammt, diesen Hintern kann ich einfach nicht verlassen.« Doch auch nachdem ich zum fünften Mal langsam zur Toilette geschritten war und dabei lasziv meine Hüften bewegt hatte, sagte Stefan nichts.

Ich weiß zwar nicht, woran es damals gescheitert ist, aber an meiner Hose lag es hundertprozentig nicht. Sie hat ihr Bestes gegeben.

Auch heute Morgen verhielt sie sich einfach vorbildlich. Sie ließ meinen Hintern in ungeahnte Höhen schweben und ihr 15-prozentiger Elasthan-Anteil schaffte die perfekte Illusion eines flachen Bauches. Bevor ich, Jennifer Lopez die Zweite, die Wohnung verlassen wollte, gönnte ich mir noch eine Tasse heiße Schokolade von Lindt, 80-prozentiger Kakaoanteil, 100-prozentige Glücksgarantie. Gott, was fühlte ich mich gut. Heiße Schokolade trinken in meiner Lieblingsjeans. Besser konnte ein Wohlfühltag einfach nicht beginnen.

Als ich den zweiten Schluck nahm, merkte ich, dass heiße Schokolade und Lieblingsjeans eine unwahrscheinlich ungünstige Konstellation ist. Ich hatte den Mund so gierig an den Becher geführt, dass dieser plötzlich Schlagseite bekam und sich der gesamte Inhalt innerhalb Sekunden auf meinen Oberschenkel entleerte. Die Hose konnte ich vergessen.

Aber, ganz ruhig bleiben. Ganz ruhig bleiben. Ich wollte mich ja nicht unterkriegen lassen. Ich beschloss, die Hose einfach in die teure Reinigung in Eppendorf zu bringen. Kein Problem. Alles kein Problem!

Doch nachdem ich mir meine Lieblingsjeans versaut hatte, überschlugen sich die Ereignisse. Anders kann man es einfach nicht ausdrücken.

Ich zog die Hose so ungeschickt aus, dass ich mir am Reißverschluss den Nagel meines Ringfingers einriss, bis ins Nagelbett.

Kein Problem, redete ich mir ein. Alles gar kein Problem. Nägel werden für gewöhnlich überbewertet.

Ich wollte gerade mit klarem Kopf im Nagelstudio anrufen, da fiel mir das Handy runter. Obwohl ich es mit beiden Händen umschlossen hatte, fiel es runter. Einfach so, als sei es mir von einer höheren Macht entrissen worden. Mir ist noch nie das Handy runtergefallen. Ich hob es hektisch auf. Zum Glück sah es noch ganz funktionstüchtig aus. Auf den ersten Blick zumindest. Auf den zweiten Blick stellte ich fest, dass die Tasten »4« und »5« nicht mehr reagierten.

Okay, der Start in den Tag hätte besser sein können, stellte ich nüchtern fest. Ich zwang mich zu einem aufgesetzten Lächeln (wenn man das nur lange genug macht, lächelt man irgendwann tatsächlich, hatte ich mal gelesen) und setzte mich vor den Fernseher. Bei »Punkt 12« mussten gerade die VIP-News laufen, das heiterte mich eigentlich immer auf. Neulich haben sie in einem Bericht die erfolglosesten Diäten von deutschen Schauspielerinnen gezeigt. Herrlich, ich war eine Woche danach immer noch gut gelaunt.

Ich schaltete den Fernseher ein und freute mich auf fiese Zellulitis-Bilder von C-Promis, da hörte ich plötzlich ein dumpfes Knallen. Es kam eindeutig aus der Richtung meines Fernsehers. Nein! Bitte nicht. Konnte es nicht sein, dass die Tapete an der Stelle ... nun, vielleicht explodiert ist? Ich startete noch einmal einen unbekümmerten Anlauf, den Fernseher anzuschalten. Nichts. Es tat sich nichts. Die Mattscheibe blieb schwarz. Und es qualmte sogar ein wenig.

Ich fühlte mich wie die Protagonistin eines Kinofilms, über die grausame Drehbuchschreiber erbarmungslos gerichtet hatten.

Drehbuchautor 1: »Was könnte der denn noch passieren, damit klar wird, dass sie so einen richtigen Scheißtag hat?«

Drehbuchautor 2: »Und wenn ihr Fernseher noch kaputtgeht? Mit so einem richtigen Knall?«

Drehbuchautor 1: »Ist das nicht übertrieben? Denk mal, dass wir der schon die Lieblingsjeans, das Handy und den Nagel versaut haben. Das glaubt uns doch keiner.«

Drehbuchautor 2: »Doch, so machen wir das. Überleg mal, es soll ja auch ein richtiger Scheißtag sein.«

Leider ist mein Leben kein Drehbuch. Es ist jetzt noch nicht einmal Viertel vor eins, und dieser kleine, unschuldige Vormittag hat es geschafft, dass ich keinen knackigen Hintern mehr habe, dass es Wochen dauert, bis mein Fingernagel wieder vorzeigbar ist, dass ich nie wieder eine Nummer anrufen kann, die eine »4« oder »5« beinhaltet, und dass ich bald eine Menge Geld im MediaMarkt lassen werde.

Was zu viel ist, ist zu viel. Ich vergrabe meinen Kopf unter den Armen. Wahrscheinlich sagt Katja Burkard von »Punkt 12« gerade, dass Lorielle London sich wieder die Brüste vergrößert hat. Das hätte ich doch so gerne gesehen.

Ich rufe Pia an. Wenn mir eins den Tag noch retten kann, dann ist es »Vier Hochzeiten und ein Todesfall«. Eindeutig.

»Vier Hochzeiten und ein Todesfall« war der erste Film, den Pia und ich alleine (!) in der Abendvorstellung (!), im Großraumkino (50 (!) Plätze) der 40 (!) Kilometer entfernten Großstadt (!) Husum sehen durften. Kurz: Es war mein absolutes Highlight im Jahr 1993. (Seitdem sehe ich den Film immer, wenn es mir schlechtgeht, und denke daran, wie gut es mir 1993 ging. Und da das hin und wieder vorkommt, habe ich den Film nun schon ... nun, ich habe ihn oft gesehen. Diese Info muss reichen.)

 

Pias und meine Fahrt ins große Glück begann damals um 19 Uhr an der Bushaltestelle in der alten Dorfstraße. Mit den Worten »Dann hoffentlich bis bald« setzte uns meine Mutter besorgt in den Bus der Linie 5 und winkte uns nach, bis wir nicht mehr in Sichtweite waren. Wir saßen auf der Rückbank und winkten auch. Und waren unglaublich aufgeregt. Ich weiß, heutzutage haben Dreizehnjährige Geschlechtsverkehr oder gewöhnen sich das Rauchen ab. Doch damals war die Fahrt nach Husum ins Kino mit Abstand das Gewagteste und Spektakulärste, was man mit 13 Jahren tun konnte.

Den Film fanden wir einfach nur großartig. Nach neunzig Minuten verließen wir mit hochroten Wangen den Kinosaal und waren uns sicher, dass wir im Leben keinen besseren Film mehr sehen würden. Vielleicht lag es an unserer aufgekratzten Stimmung, und vielleicht hätten wir uns auch bei einem Bud-Spencer-Film geschworen, gerade einen Meilenstein der Kinogeschichte gesehen zu haben. Doch Tatsache ist, dass Hugh Grant einen bleibenden Eindruck auf mich gemacht hatte.

Weil kein Bus mehr zurück nach Klixbüll fuhr, wurden wir nach dem Film von meiner Mutter an der nächsten Straßenecke abgeholt. Auf die Frage »Wie war’s?« sagte ich: »Mama, ich bin verliebt.« Als wir zu Hause waren, brachte sie mir schonend bei, dass Hugh Grant bestimmt eine Frau hätte und ich außerdem erst 13 sei. Mir war klar: Die Chancen konnten nicht schlechter stehen.

Doch inzwischen bin ich nicht mehr 13, sondern 29. Eigentlich muss man an dieser Stelle nur eins und eins zusammenzählen. Ich bin bereit für Hugh Grant. Und Hugh Grant für mich.

 

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»Schon wieder?« Pia klingt alles andere als begeistert. »Du hast doch auch einen DVD-Recorder, warum musst du den unbedingt bei mir sehen?« Sie gähnt.

»Mein Fernseher geht nicht«, grummle ich in den Hörer. »Und frag nicht: Ich möchte nicht darüber reden.«

Pia soll sich mal nicht so anstellen. Sie hat heute ihren ersten Urlaubstag und demnach: frei. Gut, ich erinnere mich daran, dass sie heute zu ihren Eltern fahren wollte. Aber ich finde, wenn die beste Freundin niedergeschlagen anruft und verzweifelt darum bittet, »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« zu sehen, kann man seine Pläne ruhig ändern. Flexibel und spontan sein – das sind die Gebote der Stunde. Außerdem geht’s ja nicht um »Pu, der Bär« oder »Arielle, die Meerjungfrau«. Und »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« ist schließlich auch Pias Highlight 1993 und nicht nur meins.

»Bitte«, flüstere ich. »Es geht mir echt nicht gut. Du musst auch nicht dabei sein. Ich wollte eigentlich auch nur fragen, ob ich den Film bei dir sehen kann und nicht mit dir. Geht das?«

Ich höre ein brummiges »Na gut« und springe auf. Mit der DVD in der Hand geht’s zu Pia.

Na also, der Tag bekommt eine ganz neue Wendung. Das spüre ich.

 

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Mir geht es schon sehr viel besser. Hugh Grant und Andie MacDowell haben sich bereits kennengelernt. Sie hatten auch schon Sex in einem Pub und haben sich ganz lange in die Augen gesehen. Gleich kommt die Stelle, an der Hugh Grant zu Andie MacDowell sagt: »Ich bin überwältigt, dich zu sehen. Geh nicht wieder nach Amerika.«

»Weißt du was«, sagt Pia und wirkt zum ersten Mal an diesem Nachmittag begeistert. Sicher will sie vorschlagen, dass wir den Film als Standbild anhalten und die Szene noch einmal nachspielen. Ach, ich liebe es, wenn wir Szenen nachspielen. Die großen Liebeserklärungen der Filmwelt haben wir inzwischen alle in verteilten Rollen nachgesprochen. Und die Tanzszene aus »Dirty Dancing« im Wasser ist nur daran gescheitert, dass Pia mich nicht hochheben konnte. Und jetzt also wieder »Vier Hochzeiten und ein Todesfall«. Tolle Idee. Pia hat einfach immer tolle Ideen, das kann man nicht anders sagen. Ich will aber Andie MacDowell sein. Das könnte der einzige Streitpunkt werden.

»Wollen wir den Rest des Films auf Englisch gucken? Dann lernst du das mal ein wenig. Und mir würde es auch nicht schaden. Wir können doch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.«

»Bitte?« Was redet Pia da?

»Na ja, Martin Lacey und die Aussicht, englisch sprechen zu müssen, haben dich in eine ganz schöne Krise gestürzt.« Pia kichert und imitiert mich. »Du, Pia, ich kann wirklich kein Englisch. Wirklich nicht. Was mach ich nur?« Sie lacht.

»Das ist doch Schnee von gestern, Pia. Ich finde, ich hab mich damals prima geschlagen ...«

»... Ja, weil du kein Englisch sprechen musstest.« Sie sieht plötzlich aus wie meine frühere Englischlehrerin Frau Reinhardt. Immer wenn ich beim Vokabeltest versagte, gab sie mir den korrigierten Bogen mit den Worten »So geht das nicht« zurück, um dann auf dem Weg zum Lehrerpult zu murmeln: »Aber bitte, es ist dein Leben. Du musst wissen, was du tust.«

»Komm schon«, sagt Pia. »Die letzte Szene können wir ja auch wieder auf Deutsch sehen. Angebot zur Güte?« Sie lacht.

Ich hasse es, wenn Pia mich erziehen will. Nachdem ich aus München vom Zirkus Krone wiedergekommen war, wollte sie auch schon ihr ganzes pädagogisches Potential an mir ausleben. »Es ist leichter, Englisch erst einmal zu lesen, als zu hören«, hatte sie gesagt und mich gezwungen, einen tibetischen Dokumentarfilm über ein Kamel in Originalton mit englischen Untertiteln zu sehen. (Da mein Fernseher sehr klein ist, mussten wir beide zehn Zentimeter davor sitzen, um die Untertitel überhaupt entziffern zu können. Ein unvergesslicher Fernsehabend, wirklich.)

Ich befürchte, dass Pia auch in diesem Fall nicht lockerlassen wird.

»Na gut, dann mach eben.«

Sie strahlt und klickt sich glücklich im Hauptmenü zu »Sprachauswahl« durch. Wie kann man nur so zufrieden aussehen, wenn man auf den Button »Englisch« drückt.

Mürrisch starre ich auf den Fernseher. Na ja, wird schon nicht so schlimm werden. Obwohl alles jetzt auf Englisch ist, bleiben es ja dieselben Schauspieler. Und dieselbe Handlung. Streng genommen könnte man wahrscheinlich sogar sagen, dass es derselbe Film ist. Außerdem kann ich ja jeden Dialog mitsprechen, ich bin also gar nicht darauf angewiesen, dass ich etwas verstehe.

Die Szene läuft weiter. Ich verstehe tatsächlich nicht viel von dem, was Hugh Grant sagt. Aber etwas ganz anderes irritiert mich. Wie spricht er denn? Ist das überhaupt Hugh Grant? Ich kneife die Augen zusammen und betrachte ungläubig dieses Wesen im Fernseher, das dreist vorgibt, Hugh Grant zu sein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass auch Pia beunruhigt auf ihrem Sessel hin und her rutscht.

Skeptisch starren wir auf die Mattscheibe. Doch nach ein paar Minuten halte ich es nicht mehr aus.

»Wer ist das???«

»Mmh, ich bin auch etwas sprachlos. Der klingt auf Englisch irgendwie anders.«

Pia klickt sich innerhalb Sekunden wieder ins Sprachmenü durch und drückt auf »Deutsch«. Endlich wieder richtig. Noch ein paar Mal wechseln wir in derselben Szene von Englisch zu Deutsch.

Nach einer ausführlichen Sprachanalyse steht fest: Unser Hugh Grant, der Hugh Grant, den wir jahrelang liebten und verehrten, hat eine weiche Stimme. Eine Stimme so zart wie Seidenpapier. Manchmal klingt sie unsicher und manchmal sogar verletzbar. Sie ist sensibel, feinfühlig, fragil und gleichzeitig männlich. Es ist eine liebenswürdige Stimme. Eine Stimme, die sich den Gehörgängen anschmiegt und die feinen Härchen am ganzen Körper zum Beben bringt. Es ist eine Stimme, bei der man Gänsehaut bekommt und über die man lachen und weinen kann. Von der man in den Arm genommen werden und die man selbst beschützen möchte. Unser Hugh Grant hat eine Stimme, von der man geliebt werden will.

Der Hugh Grant auf Englisch dagegen hat eine ... nun, eine gewöhnliche Stimme. Eine stinknormale Stimme.

Pia und ich sehen uns fassungslos an. Zwei Erkenntnisse auf einmal.

1. Hugh Grant schmückt sich mit fremden Federn.

2. Wir haben jahrelang für den Falschen geschwärmt. Und wahrscheinlich geht es nicht nur uns so, sondern allen Frauen in Deutschland. Ein halbes Volk wird nach Strich und Faden belogen und betrogen, sobald es sich einen Film mit Hugh Grant ansieht. Man wird verarscht, komplett verarscht. Sorry für diese harten Worte. Aber grausame Wahrheiten müssen nun einmal beim Namen genannt werden.

Klar, der echte Hugh Grant hat sicher kein Problem damit. Der profitiert ja nur davon. Und in den meisten Fällen fliegt die Lüge ja auch nicht auf, denn für gewöhnlich kommt man nicht auf die Idee, sich den Film auf Englisch anzusehen, wenn es ihn auch synchronisiert gibt. Wir wären diesem Betrug ja auch nicht auf die Schliche gekommen, wenn ich vor fünfzehn Jahren in der Schule besser aufgepasst hätte und Pia mich heute nicht gezwungen hätte, Englisch zu lernen.

Gott, wir haben gerade einen großen Schwindel aufgedeckt. Mir zittern die Knie.

Und was machen wir jetzt mit unserem Wissen? Einige Leute würden es sicher gezielt einsetzen und damit Hugh Grant oder die Produktionsfirma oder gleich alle beide erpressen und ein Vermögen machen. Was haben die bloß für ein Glück, dass dieses brisante Material in unsere Hände gelangt ist. Unsere verantwortungsbewussten Hände. Wir würden natürlich nie Schindluder damit treiben. Das löst aber immer noch nicht die Frage, was wir nun damit anstellen.

Die Stimme. Natürlich! Manchmal stehe ich aber auch wirklich auf dem Schlauch. Da regen wir uns die ganze Zeit darüber auf, dass der echte Hugh Grant gar nicht wie unser Hugh Grant spricht, und vergessen darüber ganz die Tatsache, dass irgendjemand da draußen ja im Besitz dieser wundervollen Stimme ist.

»Pia«, sage ich leise. »Guckst du mal bitte im Abspann, von wem Hugh Grant synchronisiert wird?«

Ich sehe angespannt auf den Boden und beobachte aus den Augenwinkeln, wie Pia sich durchs DVD-Menü klickt.

»Da, ich hab’s«, sagt sie. Himmel, was bin ich aufgeregt. »Patrick Winczewski.«

»Patrick Winczewski??«

Ich muss unwillkürlich an Julia Maczewski denken. Sie kam in der achten Klasse auf unsere Schule und hatte ein eher trauriges Schicksal, glaube ich.

Unsere Jungs gaben ihr schon nach kürzester Zeit den Spitznamen »Matschi«, den sie wahrscheinlich für immer behalten wird. In der Abizeitung war sie die Einzige, die unter ihrem Spitznamen porträtiert wurde, und als sie ihr erstes Kind bekam, schaltete unser Jahrgang eine Zeitungsanzeige mit dem Text »Wir gratulieren Matschi zur Geburt ihrer Tochter«.

Ich rutsche näher an den Fernseher ran. Der schreibt sich ja auch mit »cz«. Ob er auch unter seinem Namen leidet? Ob er auch einen Spitznamen hat? Winni vielleicht? Na, halleluja.

»Meinst du, der würde meinen Namen annehmen?«, frage ich gedankenverloren. Oh Gott. Halt, zurück. Ich habe es schon wieder getan. Ich habe den zehnten Schritt vor dem ersten gemacht. Aber als Pia »Patrick Winczewski« sagte, sah ich plötzlich Bilder vor meinem inneren Auge. Ich habe gesehen, wie ich im Restaurant einen Tisch auf »Winczewski« reserviere, und ich hörte regelrecht, wie ich mich auf einer Party mit »Hannah Winczewski« vorstelle.

Pia sieht mich an, als wäre ich endgültig verrückt geworden.

»Noch mal zum Mitschreiben. Warum genau soll er deinen Namen annehmen?«

»Scherz«, sage ich und versuche zu lachen. »Hallo? Verstehst du etwa keinen Spaß mehr?«

»Dir trau ich inzwischen alles zu.« Sie schüttelt entrüstet den Kopf.

»Ach Pia, sei doch nicht so naiv«, flöte ich. »Er kann meinen Namen gar nicht annehmen, weil er mich ja noch gar nicht kennt. Doch genau das werde ich ändern. Patrick Winczewski wird Traummann Nummer acht. Was sagst du?«

Pia zögert. Begeistert sein sieht irgendwie anders aus.

»Willst du nicht erst einmal herausfinden, wie dieser Herr Winczewski eigentlich aussieht? Ehrlich gesagt würde ich bei Synchronsprechern nicht zu viel erwarten. Ich meine, es hat ja einen Grund, warum der sich in einem dunklen Kabuff hinter einem Mikro verstecken muss und nicht zum Beispiel selbst Schauspieler geworden ist.«

Also wirklich, Pia hat Ideen. Ich kläre sie auf, dass im Fall von Patrick Winczewski das Aussehen natürlich zweitrangig ist. Nein, ich will nichts über ihn wissen. Ich interessiere mich nur für Patricks Stimme. Ausschließlich. Der Mensch an sich ist viel zu oberflächlich, das war mir tief im Innern schon immer bewusst. Es ist einfach zu kurz gedacht, nur auf Äußerlichkeiten zu achten. Schönheit vergeht, Stimmen bleiben, sag ich immer. Nein, Patrick (ich würde gerne schon zum Du übergehen) würde ich auch nehmen, wenn er drei Nasen hätte. Ist das nicht furchtbar romantisch?

Irgendwie wusste ich schon heute Morgen, als ich mir die heiße Schokolade mit einem beherzten Schwung auf meine Lieblingsjeans kippte, dass das noch ein ganz besonderer Tag werden würde. Ich kann es kaum erwarten. Bald werde ich mit der wunderbarsten Stimme unter der Sonne sprechen. Ich bin ein richtiges Glückskind.

 

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Am nächsten Tag verschwindet Pia zu ihren Eltern und ich gehe auf Stimmenfang.

Als sie weg ist, schalte ich sofort den Computer an, um meine Mails abzurufen. Ich habe gestern per Mail eine InterviewAnfrage an die Managerin von Patrick Winczewski geschickt. Wer weiß, vielleicht hat sie ja schon geantwortet. Oh Gott, und wenn sie nun vorschlägt, dass das Gespräch heute stattfinden kann? Wie sehe ich eigentlich aus? Meine Lieblingsjeans ist in der Reinigung, ob ich das Modell noch irgendwo bekomme?

Pia würde an dieser Stelle antworten: »Darum kümmern wir uns später. Sieh doch erst einmal nach, ob du überhaupt eine Antwort hast.«

Ja, wie recht du hast, liebe imaginäre Pia.

Möglichst gelangweilt öffne ich das E-Mail-Programm. Ich werd verrückt. Drei E-Mails!

Zwischen zwei E-Mails, in denen man mir eine Penisverlängerung anbietet und mich eine »geileBraut_USA« unmissverständlich auffordert »länger ficken!jetzt!«, sehe ich:

 

Betreff: RE: Interviewanfrage Patrick Winczewski

 

Zusammenfassung der wunderbaren sechs Zeilen:

Ja, ein Interview sei kein Problem. Patrick Winczewski sei sowieso gerade – ich zitiere – »für eine Produktion« in Hamburg und hätte übermorgen Zeit, sich mit mir zu treffen. Für Ort und Uhrzeit sollten wir noch einmal telefonieren. Sie hätte ihm meine Handynummer gegeben, er werde sich dann melden. Und zur Sicherheit schrieb sie mir auch seine Nummer in die Mail. Mit freundlichen Grüßen!

 

Ich speichere seine Nummer sofort in mein Handy ein.

Name: Hugh Grant. Gewissermaßen ist Patrick Winczewski ja Hugh Grant.

Oh Gott. Ich öffne wieder und wieder das Telefonbuch. Ich kann es nicht glauben. Zwischen »Hausverwaltung Kühne« und »Iris mobil« stehts: Hugh Grant. Dahinter: seine Handynummer. Seine ganz persönliche Handynummer, die seine Familie kennt und die er guten Freunden gibt. Kein Sekretariat dazwischen. Keine Agentin, die einen verbinden will und es dann doch nicht tut. Ich bin baff.

Wie gerne würde ich es jemandem zeigen. Zumindest Pia. So ein Mist. Ich kann mich wirklich schwarzärgern, dass sie gerade heute zu ihren Eltern fahren musste. Ist doch wahr, da hat man Hugh Grants Handynummer im Handy und niemand weiß es.

Ich hab eine Idee. Ich werde gleich in ein gut besuchtes Café gehen und mein Handy (das Telefonbuch geöffnet) auf den Tisch legen. Irgendwie muss es dann doch möglich sein, dass meine Tischnachbarn davon erfahren.

»Huch«, könnte ich sagen. »Ich muss kurz auf die Toilette. Würden Sie kurz auf mein Handy aufpassen? Bitte nehmen Sie es an sich, es ist sehr wichtig.«

Meine Tischnachbarn würden das Handy nehmen und einen Blick auf das Display werfen. Ich kenn das doch. Man guckt unwillkürlich auf ein Handy, wenn man es in der Hand hält. Ob man will oder nicht. Das ist so eine Art Reflex. Sie würden also draufgucken und was lesen sie? Na bitte!

Wenn ich dann von der Toilette wiederkomme, werden sie mich ehrfürchtig ansehen. Ach was, anstarren ja wohl eher. Ich werde unbekümmert »Danke« sagen und (scheinbar nichts ahnend) noch einen Milchkaffee bestellen. Hinterher werden sie sich zuflüstern: »Hast du gesehen? Die Frau, die Hugh Grant kennt, hat sich ganz normal einen Milchkaffee bestellt. Hier bei uns in Hamburg.«

Vollkommen beglückt, dass mir so ein genialer Plan eingefallen ist, breche ich auf. Ins Café Paris am Rathausmarkt. Café Paris ist in Hamburg der Treffpunkt der Reichen und Schönen. Und ich finde, wenn jemand einen Blick auf Hugh Grants Handynummer in MEINEM Handy werden darf, dann ist es die Oberschicht. Wenn schon, denn schon.

 

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Ich habe das Café Paris noch nie so leer gesehen. Ich stehe in der Eingangstür und blicke ungläubig in den – man könnte schon fast sagen – ausgestorbenen Raum vor mir. Eine Kellnerin geht gelangweilt an mir vorbei. »Suchen Sie sich einfach einen Platz aus. Freie Auswahl sozusagen.« Sie lacht und schlurft weiter zur Bar.

Ich fasse es nicht. Normalerweise ist es im Café Paris immer so brechend voll, dass sich im Eingangsbereich eine Traube von Menschen bildet, die darauf warten, einen Platz zu ergattern. Normalerweise hetzen die gestressten Kellner an einem vorbei, als wären sie auf der Flucht. Und normalerweise wird man irgendwann irgendwo dazwischengequetscht.

Wem soll ich denn hier bitte mein Handy in die Hand drücken? Ich hatte mich schon darauf gefreut, irgendwo dazwischengequetscht zu werden. Dann würden schließlich so viele Leute von meinem Telefonbuch Wind bekommen, dass sich die Nachricht, eine Frau hier im Café habe die Handynummer von Hugh Grant, wie ein Lauffeuer verbreiten würde.

Aber so???

An der linken Seite sehe ich ein verliebtes Pärchen, das sich wie in einem Trancezustand in die Augen blickt. Sie sind so auf sich konzentriert, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht wahrnehmen würden, geschweige denn mein Handy.

In der Mitte stehen gerade drei Frauen, Ende dreißig, von einem Tisch auf und ziehen sich ihre Jacken an. Die wären perfekt gewesen. Ob ich sie aufhalten soll? Sie gehen an mir vorbei, und ich überlege für einen Moment, ihnen noch schnell »IchhabedieNummervonHughGrant« zuzuzischen. Doch raus sind sie.

Der letzte mögliche Komplize, meinen Plan umzusetzen, sitzt rechts neben dem Eingang zur Toilette. Es ist ein alter Opa, Mitte achtzig, der gedankenverloren in seinem Kaffee rührt. Besser als nichts! Und vielleicht hat er ja eine Enkelin, der er morgen davon erzählen kann und die dann die Nachricht hinaus in die Welt trägt.

Ich setze mich an den Tisch neben ihn und versuche schon mal rüberzulächeln. Keine Reaktion. Er rührt weiter in seinem Kaffee.

»Dürfte ich die Karte einmal haben?«, frage ich und zeige auf die Karte, die vor ihm liegt.

»Ja, natürlich«, sagt er. »Nehmen Sie sie einfach. Ich sehe leider nichts.« Oh Gott. Dieser Mann ist blind! Jetzt sehe ich auch seinen Blindenstock, der unter dem Tisch an seinem Stuhlbein lehnt.

»Das ... das tut mir leid«, stammle ich.

»Macht doch nichts, junge Dame. Das Alter, wissen Sie.« Er lacht. »Womit kann ich Ihnen helfen? Ach ja, die Karte wollten Sie haben.« Er tastet den Tisch ab und gibt sie mir.

»Danke«, sage ich kleinlaut.

Ich sehe mir lustlos die Karte an. Auf ganzer Linie gescheitert, würde ich sagen. Soll ich mich vielleicht doch noch zum Liebespaar setzen? Die sehen jedenfalls was. Oh Gott, ich bin so gemein. Aber ich hatte mir das alles doch so schön überlegt.

Das Handy klingelt. Pia, jetzt nicht, denke ich. Es gibt nichts zu erzählen. Wirklich gar nichts. Wir haben uns jetzt genau fünf Stunden nicht gesehen, da muss man doch nicht schon wieder telefonieren. (Zugegeben, manchmal rufe ich sie alle zehn Minuten an, aber dann gibt es auch elementare Dinge zu besprechen wie »Was ziehe ich an?« oder »Ich habe kein Backpapier mehr, meinst du, ich kann Alufolie verwenden?«.)

Ich krame genervt das Handy aus der Tasche, starre auf das Display und sehe einen blinkenden Schriftzug.