9. Steffen Henssler und eine Sauce Carbonara für die Liebe
Ich versteh das einfach nicht. Als Pia und ich uns am Anfang auf die Zahl Zehn einigten, war ich mir sicher, dass ich spätestens nach der Nummer fünf glücklich verliebt sein und in den starken Armen eines Traummannes leise vor mich hin murmeln würde: »Ich wusste doch, dass ich nicht die volle Zahl ausschöpfen muss.«
»Was hast du gesagt, Schatz?«, fragt mein Traummann und streicht mir zärtlich über den Rücken.
»Ach nichts, Liebling.« Ich seufze glücklich. »Nicht so wichtig. Wir haben uns ja jetzt gefunden. Das ist die Hauptsache.« (Komisch, wenn ich vor meinem geistigen Auge Szenen mit mir und meinem Liebsten sehe, kommen immer Kosenamen drin vor. In Wirklichkeit hasse ich Kosenamen! Den Tiefpunkt meiner Kosenamen-Erfahrung hatte ich, als Jens und ich einmal in einem super teuren Möbelladen waren. Ich sah mir gerade ein Sofa für 5000 Euro an und ließ mir vom Verkäufer die Vorteile von Kalbsleder erklären, das aus einer kleinen Provinz in Bahrain stammte. Plötzlich rief Jens durch den ganzen Laden: »Guck mal hier, Schnurzelchen, dieser Tisch ist auch toll.« Zugegeben, er hätte mich nicht siezen müssen, aber »Schnurzelchen« und ein 5000 Euro teures Sofa passten leider überhaupt nicht zusammen.)
Wo war ich stehen geblieben? Richtig, beim nicht existierenden Arm, der sich sanft um meinen Körper schmiegt. Doch halt, ich fühle da etwas. Ach ja, es ist meine alte Wolldecke, die schon total nupsig ist und nur noch wenige Fransen hat (Elvis kaut liebend gern darauf herum, und da ich ihn antiautoritär erziehe, darf er das mehr oder weniger).
Ach komm, Hannah, sage ich mir. So eine alte Wolldecke ist doch genauso schön wie ein realer Traummann. Traummänner werden für gewöhnlich überbewertet. Wer braucht schon einen Mann, wenn er auch eine Wolldecke haben kann? Ich zwinge mich zu einem tapferen Lächeln, das innerhalb von Sekunden in ein jämmerliches Schluchzen mündet. (Man kennt ja so etwas bei Kleinkindern. Im ersten Moment lachen sie noch fröhlich, und dann verzerrt sich das Gesicht allmählich so, bis sie hysterisch schreien.)
Vor drei Wochen habe ich Patrick Winczewski getroffen. In den ersten Tagen danach war ich ziemlich gut gelaunt. Gut, dieser Herr Winczewski hatte zwar nicht den Anschein erweckt, dass er sich Hals über Kopf in mich verliebt hätte, aber immerhin hatte er mir bescheinigt, eine zauberhafte Stimme zu haben (so in etwa war ja der Wortlaut). Ich fand: Die Welt hatte ein Recht darauf, in den Genuss dieser Stimme zu kommen. Ich setzte also alles daran, dass diese Stimme möglichst oft zum Einsatz kam. Ich wünschte mir bei Radio Hamburg »on air« (!) ein Lied (vielleicht werden meine Stimme und ich ja doch noch entdeckt!), rief all meine Schulfreundinnen an, mit denen ich schon ewig keinen Kontakt mehr hatte, und sprach mir drei Mal selbst auf den Anrufbeantworter. Als ich die Nachricht abends abhörte, fragte ich mich im ersten Moment, warum mich ein Kind anruft (bis ich merkte, dass ich es war). Aber mein Gott, das ist eben der typische Anrufbeantworter-Effekt, redete ich mir ein. Da klingt bekanntlich jeder anders.
Ja, in den ersten Tagen nach dem Treffen mit Patrick Winczewski war ich ziemlich guter Dinge. Ich malte mir aus, mit meiner Stimme Geld verdienen zu können. Ich wollte selbst Synchronsprecherin werden, ich wollte doch noch beim Radio einsteigen und für einen kurzen Augenblick sah ich mich schon erotisch bei einer Telefonsex-Hotline in den Hörer hauchen. Kurz: Ich war ziemlich glücklich und wollte die Welt mit der Stimme einer reifen, weisen, weltgewandten Dreißigjährigen erobern.
Inzwischen bin ich wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Pia hat mir mehr oder weniger schonend beigebracht, dass Patrick Winczewski einfach nur sehr höflich war und ich in Wirklichkeit immer noch klinge wie Hannah Jensen und nicht Susanne Daubner. Und dann wurde mir plötzlich schlagartig klar, dass der nächste Mann die Nummer neun ist. Neun von zehn. Nur noch zwei Chancen auf das große Glück. Ich kuschle mich in meine Wolldecke und spüre, wie mir zwei Tränen wie in Zeitlupe über das Gesicht laufen. Ich brauche einen Mann. Einen Traummann. Und zwar schnell.
»Du brauchst jetzt erst einmal eine Ablenkung«, sagt Pia. Sie ist nach Feierabend sofort zu mir gekommen, nachdem ich ihr um fünf Uhr eine SMS mit den Worten »Liege noch immer im Bett, werde fett, weiß nicht weiter, bin nicht heiter und denke nur an Patrick« geschrieben hatte. Als ich ihr mit verweinten Augen und Schlafanzug und fettigen Haaren die Tür aufmache, schiebt sie mich sofort ins Schlafzimmer. »Anziehen und dann essen. Ich hab dir was mitgebracht.«
Als ich in die Küche komme, stehen vier Platten mit Sushi auf dem Tisch. Wäre heute ein normaler Tag, würde ich ihr in Anbetracht der vier Platten Sushi um den Hals fallen. Denn ich liebe Sushi!
Sushi macht a) nicht dick und ist b) furchtbar mondän. In Hamburg gibt es ein Restaurant, in dem man die Sushi nicht serviert bekommt, sondern selbst von einem Laufband herunternimmt. Alle sitzen quasi um die Theke herum, starren die vorbeifahrenden Teller an und besprechen nebenbei furchtbar wichtige Dinge. (An so einem Laufband kann man nur wichtige Dinge besprechen!) Ich stelle mir immer vor, wie meine siamesische Zwillingsschwester in New York auch immer an so einem Laufband sitzt. Herrlich, da kommt man sich gleich viel wichtiger vor.
Zurück zu Pias Sushi-Platten. Aber heute? Ich befürchte, ich bekomme keinen Bissen herunter. »Ach komm schon, das ist super lecker.« Pia rennt zu meinem Besteckkasten und kramt eilig Stäbchen heraus. Dann schiebt sie sich sofort die erste Rolle in den Mund. »Wow, das ist aber wirklich gut.« Sie verdreht die Augen und nimmt sich die nächste Rolle.
»Na schön. Eins kann ich mal probieren. Ich will von Patrick Winczewski ja auch nicht in die Magersucht getrieben werden«, sage ich ernst.
»Wirste schon nicht«, nuschelt Pia abwesend. »Mein Gott, ist das lecker.« Sie stöhnt auf. Da sag noch mal jemand, ich sei melodramatisch.
Widerwillig nehme ich ein Lachs-Nigiri. Mmh. Lecker. Ausgesprochen lecker. Ich probiere noch eins. Und noch eins. Pias Stöhnen war berechtigt, dieses Sushi ist mit Abstand das Beste, was ich je gegessen habe!
»Wo hast du das gekauft, Pia?«
»Henssler am Hafen«, nuschelt sie, während sie eine dicke Maki-Rolle im Mund hat.
Bei Henssler am Hafen? Bei dem Steffen Henssler? Das ist doch dieser gut aussehende Fernsehkoch, dessen Show ich mir immer ... äh ... manchmal, also ganz selten ansehe.
»Pia, warum bist du gerade dorthin gegangen?« (Ich klinge wie Maria Furtwängler in einem »Tatort«. Die hat auch immer so einen scharfen Ton an sich, wenn sie einen Zeugen befragt.)
Pia erkennt den Ernst der Lage nicht. Sie sieht gar nicht erst auf, sondern nuschelt irgendwas von »lag auf’m Weg« und stopft sich wieder eine Rolle in den Mund.
Das ist doch ein Zeichen! Normalerweise holen Pia und ich Sushi immer bei der dicken Chinesin am Hauptbahnhof. Das ist günstig und einigermaßen lecker. Warum ist sie heute ausgerechnet zu Steffen Henssler gegangen? »Lag auf dem Weg.« Papperlapapp. Ich sehe förmlich, wie ihr Unterbewusstsein sie dorthin geführt hat und Pia, wie auf Autopilot, schnurstracks zu Henssler gegangen ist. Und da sie es sich selbst auch nicht erklären kann, faselt sie jetzt etwas von »lag auf dem Weg«. So ein Blödsinn.
Ich starre die immer noch mampfende Pia mit großen Augen an. Natürlich, das ist es! Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ich suche Steffen Henssler!
Ich habe einen guten Männergeschmack, das muss man mir lassen. Es ist genau 14.15 Uhr und gerade hat Steffen Henssler mit der Moderation der »Küchenschlacht« im ZDF begonnen. Fünf Kandidaten kochen gegeneinander an, und am Ende entscheidet ein Profikoch, welches Essen am besten schmeckt. Die Aufgabe von Steffen Henssler: den Kandidaten beim Kochen helfen und gut aussehen (kann er beides!).
Zugegeben, ich sehe die Sendung ziemlich oft. Wenn man es genau nimmt, sehe ich sie jeden Tag. Ich finde, dass Pausen während der Arbeit sein müssen. Gerade Freiberufler haben ja keinen Chef, der ihnen sagt, wann sie mal eine Pause machen dürfen. Und da bei uns permanent die Gefahr besteht, dass wir uns über arbeiten (vielleicht nicht bei mir, aber das kann ja noch kommen), muss man sich eben selbst Grenzen setzen. Es wäre ja geradezu fahrlässig, wenn ich permanent arbeiten würde. Ich will doch mit vierzig keinen Burn-out haben. Nein, nein, das hat schon alles seine Richtigkeit so. Um zwei Uhr sehe ich die »Küchenschlacht« und um sechs die »Verbotene Liebe«. So einfach ist das.
Warum erkläre ich mich eigentlich? Ich muss mich auf die Sendung konzentrieren. Auf Steffen Henssler!
Er hat schwarze Haare (leicht gelockt, sexy!), dunkle Augen (ausdrucksstark, wahnsinnig sexy!) und ein Lächeln, das meine Mutter als »spitzbübisch« (und ich als extrem sexy) bezeichnen würde. Nun, vielleicht trifft es den Kern am besten, wenn ich Steffen Henssler im Ganzen als ausgesprochen, nun, sagen wir, sexy beschreibe.
Pia glaubt ja, dass ich ihn nicht so toll finden würde, wenn er einen anderen Beruf hätte. Nachdem ich ihr nach der letzten Sushi-Rolle gestern feierlich verkündet hatte, dass Steffen Henssler mein nächster (und sicher letzter) Traummann wird, sah sie mich lange an und sagte dann: »Deine Liebe ist nicht echt.«
Doch, ist sie. Denn ich bin mir sicher, dass ich Steffen Henssler auch zum Anbeißen finden würde, wenn er bei der Müllabfuhr wäre. Aber zugegeben, die Tatsache, dass er Koch ist, wirkt sich vielleicht doch ein klitzekleines bisschen auf meinen Hormonhaushalt aus.
1. Ein Koch ist einfach extrem männlich. Männlich und stark. Schließlich wiegt so eine Pfanne mal locker mehrere Kilo, und dann die Töpfe erst! (Deswegen haben Profiköche auch immer so wunderbar sehnige Unterarme!)
2. Ein Koch trägt eine Kochjacke. Ich weiß, das klingt profan. Aber ich kann mir kein Kleidungsstück vorstellen, das ich erotischer finde. Ich liebe dieses unschuldige Weiß, gepaart mit der Strenge der zweireihigen Knöpfe. (Ich gestehe, dass ich mir manchmal vorstelle, wie ich einem Koch diese Jacke vom Leib reiße.)
3. Ein Koch hat immer etwas Dominantes an sich. Nicht, dass ich grundsätzlich auf so etwas stehen würde. Aber ich mag es, wenn Männer wissen, was sie tun. Gerade hat Steffen Henssler zum Beispiel zu einer Kandidatin gesagt: »Warte noch eine halbe Minute, dann kannst du das Filet anbraten.« Er sagte das so bestimmend. So als ob er keinen Widerspruch dulden würde.
Steffen Henssler ist sicher einer der Männer, die einen beim Küssen an die Wand drücken, denke ich und starre beseelt auf den Fernseher. Gleich wird es spannend. Die Kandidaten haben nur noch fünf Minuten Zeit, um ihre Gerichte auf den Tellern anzurichten. Ich liebe diese Stelle. Steffen Henssler wird dann immer so herrlich hektisch. Er treibt die Kandidaten an, sich zu beeilen. Dabei geht er schnell auf und ab (sieht extrem dynamisch aus), salzt hier und da noch einmal fachmännisch nach, und neulich hat er zu einer Kandidatin gesagt: »So, Madame, Endspurt.« (Sollten wir tatsächlich zusammenkommen, werde ich immer bewusst trödeln, wenn wir das Haus verlassen wollen. Dann sagt er sicherlich auch »So, Madame, Endspurt« zu mir. Wäre das nicht herrlich?)
Himmel, gleich ist die Sendung vorbei, und ich habe immer noch nicht das herausgefunden, was ich eigentlich wollte: Trägt Steffen Henssler einen Ehering? Ich rücke näher an den Fernseher heran. Gerade dreht Henssler an einer Pfeffermühle (sogar das sieht bei ihm viel gekonnter aus als bei unsereins) und seine Hände werden in Großaufnahme gezeigt. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Kein Ehering! Und es kommt noch besser: Er trägt ein geflochtenes Lederarmband am rechten Arm. Ein Lederarmband! Ich kann mein Glück kaum fassen.
Männer mit Lederarmbändern sind unabhängig und ungebunden. Sie haben neben ihrem Bett ein Surfbrett stehen, geben als Hobby »Rafting« an und fühlen sich noch wie dreißig, auch wenn sie schon in Rente gehen. Und vor allem: Männer mit Lederarmbändern sind auf der Suche. Nach der einen, großen Liebe.
»Hier bin ich!«, rufe ich in den Fernseher und hoffe im gleichen Moment, dass mich meine Nachbarin vom Haus gegenüber nicht sieht und denkt: »Jetzt spricht sie schon mit ihrem Fernseher.«
Die Sendezeit ist inzwischen vorbei und Steffen Henssler bedankt sich bei den Zuschauern fürs Einschalten.
»Gern geschehen«, sage ich laut in Richtung Fernseher.
»Ich hoffe, dass Sie morgen wieder dabei sind und wir uns wiedersehen.« Er winkt in die Kamera.
»Natürlich«, flüstere ich, während der Abspann läuft. »Und wir werden uns bald sogar in Wirklichkeit sehen. Versprochen.«
Vielleicht hätte ich doch etwas essen sollen. Zumindest etwas Kleines. Oh Gott, ich kann nicht mehr. Alles dreht sich. Gleich kippe ich um.
Ich bin auf dem Weg zu Steffen Henssler. Ja, zu Steffen Henssler. Nachdem ich ihn zu Traummann Nummer neun erkoren hatte, schrieb ich sofort eine E-Mail an sein Management. Die Antwort kam prompt am nächsten Tag: Ein Interview sei kein Problem. Ich könnte doch einfach am kommenden Donnerstag um 14.30 Uhr in sein Restaurant kommen, dann könnten wir uns dort ein wenig unterhalten.
Donnerstag ist heute und 14.30 Uhr in einer halben Stunde. Eigentlich sollte ich jetzt glücklich sein. Eigentlich sollte ich jetzt daran denken, wie ich ihm gleich gegenübersitzen werde. Wie wir miteinander sprechen. Wie wir zusammen lachen werden. Wie wir uns immer näher kommen und uns vielleicht ein wenig ineinander verlieben. Aber nein. Der einzige Gedanke, den ich fassen kann, ist: »Ich habe einen Riesenkohldampf.« Und noch nicht einmal den kann ich klar formulieren, sodass eher ein »Ich haben Hunger« die ganze Zeit in meinem Kopf schwirrt.
Ich befürchte, ich habe einen großen Fehler begangen.
Als vor drei Tagen die Zusage von Hensslers Management kam, habe ich schlagartig aufgehört zu essen. Ich hatte gerade ein Schokocroissant im Mund, als ich die Mail abrief. Ich warf es in hohem Bogen in den Müll. Natürlich, schließlich sollte ich Steffen Henssler in seinem Restaurant treffen. Da lag es doch nahe, dass er mir auch etwas zu essen anbieten würde. Und da das Restaurant von Steffen Henssler keine abgeranzte Pommesbude ist, sondern eines der besten Restaurants in Hamburg, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich so pappsatt wäre, dass ich sagen müsste: »Ach nein, für mich nichts. Ich nehme nur ein stilles Mineralwasser.« Ich fand meinen Plan schlichtweg genial:
1. Ich würde zum Interviewtermin einen gesunden Appetit haben und könnte so beherzt kleine Köstlichkeiten futtern.
2. Ich würde unwahrscheinlich schlank aussehen, weil eine Dreitagesdiät schon wahnsinnig entschlackt.
Schön und bereit für jeglichen Genuss wollte ich also zu Henssler schreiten.
Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Gerade bin ich an der Haltestelle Landungsbrücken am Hafen ausgestiegen, um die letzten hundert Meter zu Hensslers Restaurant zu gehen. Machen wir es kurz: Von »gehen« kann eigentlich keine Rede sein. Ich bin dermaßen angeschlagen, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Mehr schlecht als recht setze ich zitternd einen Fuß vor den anderen. Vielleicht sollte man eher von »torkeln« sprechen. Drei Tage Hungerstreik für die Liebe waren einfach zu viel für mich. Ich bin ein körperliches Wrack. Und dann noch erst mein geistiger Zustand: Ich habe mal gelesen, dass sich bei Unterernährung irgendwann das Hirn ausschaltet, weil es zu viel Energie verbraucht. Ich befürchte, mein Hirn hat beschlossen, genau dies zu tun.
Ohne zu denken, torkle ich weiter. Bis ich plötzlich vor dem Restaurant stehe. Ich drücke mich mit aller Kraft gegen die Eingangstür und betrete den Raum. Ob ich mich wohl kurz hinlegen dürfte?
Im Sitzen geht’s. Das »Henssler Henssler« ist zum Glück ein Restaurant, in dem man am Eingang von einer Mitarbeiterin begrüßt und dann an einen Tisch geleitet wird. Ich war noch nie in so einem »Platzier-Restaurant«, aber obwohl ich der Dame vollkommen dumpf hinterhertrotte, spüre ich, dass ich mich an dieses Gefühl durchaus gewöhnen könnte. (Es hat irgendwas Erhabenes an sich.)
»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen, bevor Herr Henssler kommt?«
»Wasser«, stoße ich hervor. »Ich meine, ich hätte gerne ein Wasser, wenn es geht, danke.«
»Aber gerne doch.« Sie lächelt.
Wasser? Warum habe ich bloß Wasser bestellt? Ob ich auch eine heiße Schokolade bekommen könnte? Mit extra viel Sahne? Und ob es ihr wohl was ausmacht, schon einmal ein paar Schnittchen zu bringen? Nur ein paar. Ich brauche Kalorien, schreit es in meinem Kopf. Als sie gerade gehen will, rufe ich ihr hinterher: »Ich nehme doch lieber einen Orangensaft.« (Der ist zumindest etwas reichhaltiger als so ein blödes Wasser.)
»Natürlich.« Sie lächelt und geht. Zwei Minuten später steht ein Orangensaft vor mir. Weitere fünf Sekunden später ist er in meinem Magen verschwunden.
Das tut gut.
Ich merke, wie mein Körper sich etwas entspannt. Zum ersten Mal kann ich mich in Ruhe umsehen. Gegenüber der großen Fensterfront liegt die offene Küche, in der rund ein Dutzend gut aussehende Köche (in Kochjacken!) hektisch durcheinanderschwirrt. Die Tische und Stühle sind schwarz und bilden einen edlen Kontrast zu den weißen Tischdecken. Das Besteck ist auf Hochglanz poliert, die Männer tragen teure Anzüge und über den Stühlen der Frauen hängen Pelzmäntel. Wie schick hier alle aussehen. Zum Glück kann ich mithalten. Ich trage ein »kleines Schwarzes«, dazu hohe Schuhe, in denen ich einigermaßen gehen kann. Für meine Verhältnisse bin ich ziemlich stark geschminkt und kann ohne Übertreibung sagen, dass meine Augen noch nie so verrucht aussahen. (Ich hatte die Lichtverhältnisse im Restaurant etwas dunkler eingeschätzt, muss ich zugeben. Es ist doch ziemlich hell, wie ich jetzt bemerke.) Aber mein Gott, so ein Candle-Light-Dinner (so etwas in der Art ist es ja schließlich) mit einem Traummann hat man eben nicht jeden Tag. Da kann man ruhig etwas dicker auftragen. Außerdem wird Steffen Henssler ja sicher auch ziemlich schick aussehen. Ob er wie die anderen Männer hier einen Anzug trägt? Wir werden ein schönes Paar abgeben, denke ich und atme tief durch. Je länger ich in diesem Restaurant sitze, desto besser geht es mir. Ich fühle mich schon wieder ziemlich fit. Das muss an dieser inspirierenden Umgebung liegen. Ob Steffen und ich eigentlich immer hier essen werden? Ich meine, auch privat? Ich glaube ja nicht, dass sich ein Steffen Henssler abends ein paar Brote schmiert. Wahrscheinlich kann ich irgendwann kaum noch woanders essen, da ich mich dermaßen an Steffens Niveau gewöhnt habe. Wie bringe ich bloß meinen Eltern bei, dass ihre kleine Hannah ein Gourmet geworden ist?
Oh Gott. Ich glaube, jetzt gibt es wichtigere Dinge, über die ich nachdenken muss. Denn ich sehe plötzlich, wie Steffen Henssler in schnellen Schritten auf mich zukommt.
In Jeans und T-Shirt!
Vor einer halben Stunde noch konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, weil ich solchen Hunger hatte. Die Lage hat sich nicht verbessert. Ich habe immer noch Hunger und denke zudem permanent an ein Wort: »overdressed«.
Für die Außenstehenden müssen wir ein merkwürdiges Bild abgeben: eine Frau, die aussieht, als hätte sie ein Candle-Light-Dinner mit Brad Pitt, starrt einen Mann in alten, verwaschenen Jeans an, der ein grünes T-Shirt trägt, auf dem das Victory-Zeichen und der Schriftzug »Rocks« zu sehen ist.
Steffen Henssler lächelt und nickt mir zu. Hannah, konzentriere dich, fahre ich mich innerlich an. Stell dir einfach vor, du hättest deinen Jogginganzug an. Warum eigentlich nicht? Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen (er wird denken, ich muss mich vor dem Interview kurz sammeln) und versuche, mich in mein Jogginganzug-Dasein hineinzuversetzen. Funktioniert ziemlich schnell. (Natürlich, schließlich verbringe ich die meiste Zeit meines Lebens im Jogginganzug.) Als ich die Augen wieder öffne, ist unsere Klamottendifferenz, um das mal so zu bezeichnen, mehr oder weniger gelöst. Ich denke kaum noch dran. Nur ein Problem bleibt: mein Hunger.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
»Dann legen wir mal los«, sage ich möglichst fröhlich und schlage meinen Block auf.
»Kurze Frage«, sagt Steffen Henssler. »Möchten Sie etwas essen?«
»Ja«, bricht es ein wenig zu schnell und vor allem zu laut aus mir raus.
Steffen Henssler lacht. »Sie haben Hunger, oder?«
Oh Gott. Sieht man mir das an?
»Ach nein, aber wenn man schon mal hier, ich meine, wenn Sie drauf bestehen, aber, äh, ich esse nur etwas, wenn Sie auch etwas essen«, stottere ich und spüre förmlich, wie mir die Röte in den Kopf schießt. (Na prima, dazu habe ich also noch genug Energie in meinem Körper!)
Steffen Henssler ruft einem vorbeieilenden Kellner ein paar Worte einer anderen Sprache zu (das müssen wohl unsere Gerichte sein, wie aufregend) und wendet sich wieder mir zu. »Und nun zu Ihren Fragen.«
Ich habe mir vorgenommen, zu Beginn ein paar Fragen zu seinem Beruf zu stellen. Man soll schließlich den Interviewten gewissermaßen bei dem Thema abholen, bei dem er sich am wohlsten fühlt. Und dann, nach einer Weile harmloser Plauderei, kommen die alles entscheidenden Fragen: zur Liebe.
»Können Sie sich noch an das erste Gericht erinnern, das Sie gekocht haben?«
»Natürlich. Das war während meiner Lehrzeit. Da musste ich vor allem am Anfang immer einen kleinen gemischten Salat machen.« Er lacht.
»Der hat sicher gut geschmeckt, oder?«, frage ich. (Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ein kleiner gemischter Salat würde mir jetzt schon reichen. Man kennt ja die Regel, dass man nicht im Supermarkt einkaufen sollte, wenn man Hunger hat. Ich füge noch eine zweite Regel hinzu: »Unterhalte dich nie mit einem Koch, wenn du Hunger hast.«)
»Na ja, der ist oft zu sauer geworden.«
Steffen Henssler lacht. Ich lache.[1]
»Gibt es denn etwas, das Sie überhaupt nicht mögen?«, frage ich.
»Und ob. Leber und Rosenkohl kann ich nicht ausstehen. Leber hat eine furchtbare Konsistenz, und Rosenkohl musste ich als kleiner Junge immer essen, obwohl ich ihn schon damals nicht mochte. Das ist so eine Art Kindheitstrauma.«
Steffen Henssler lacht. Ich lache. Ach, kann das Leben schön sein.
Dritte und letzte Frage zum Thema Kochen, dann geht es ans Eingemachte.
»Man kennt es ja bei Profimusikern. Freunde weigern sich, mit ihnen Hausmusik zu machen, da sie sich schämen. Wie ist es denn bei Ihnen? Werden Sie von Freunden noch zum Essen eingeladen?«
»Natürlich, aber die entschuldigen sich schon vorher immer für das, was es gibt.«
Steffen Henssler lacht. Ich lache.
Okay. Es läuft hervorragend. Es geht los.
»Kleiner Gedankenschwenk«, flöte ich. »Gibt es Ihrer Meinung nach die große Liebe? Ich meine, Liebe geht ja durch den Magen und so.«
»Die große Liebe gibt es. Aber es gibt sie nur einmal, und es heißt nicht, dass so eine Beziehung hält.«
Aber unsere wird bestimmt halten, möchte ich am liebsten sagen.[2]
»Was muss denn eine Frau haben, damit Sie sie gut finden?«
»Humor finde ich sehr wichtig. Man muss zusammen lachen
können.«
Man muss zusammen lachen können. Man muss zusammen lachen können. Wir haben in der letzten Viertelstunde auch schon viel gelacht. Ich strahle ihn selbstsicher an. Das kann ja nur was werden!
»Früher dachte ich: Gegensätze ziehen sich an«, erzählt Steffen Henssler weiter. »Heute denk ich: Man sollte sich lieber ähnlich sein.«
»Seh ich genauso«, nuschle ich, während ich eine Sushi-Rolle im Mund habe.
Steffen Henssler lacht.
»Ich meine«, sage ich schnell, als ich aufgehört habe zu kauen, »das birgt wahrscheinlich weniger Konfliktpotenzial.« Gott sei Dank. Kurve bekommen. »Konfliktpotenzial« hört sich gut an. Journalistisch. Professionell. Schnell eine Frage hinterher.
»Können Sie beschreiben, was Ihrer Meinung nach typisch für eine Frau ist?«
»Na ja, alle Frauen haben einen Hang zum Glamour. Der Pretty-Woman-Charakter steckt in jeder, glaube ich.« Er lacht. »Sie warten die ganze Zeit auf einen Prinzen, der angeritten kommt.«
Jaaaaaa, denke ich schmachtend.
»Hört sich ja ziemlich romantisch an. Sind Sie denn auch romantisch?«
»Ja, ich spreche auch eher mit dem Herzen als mit dem Kopf. Manchmal hat das aber auch Nachteile. Wenn ich zum Beispiel Liebeskummer habe, bin ich ein richtiger Volldepp. Ich sehe mir Liebesschnulzen auf DVD an und gehe alleine an der Elbe spazieren. Das volle Programm.« Er lacht.
Das ist doch wunderbar, denke ich. Ein Mann, der Gefühle nicht nur hat, sondern auch zu ihnen steht.
»Würden Sie sich denn als zu emotional beschreiben?« Welch rhetorischer Kunstgriff. Gleich wird er sagen »Zu emotional kann man gar nicht sein« und mich dabei sinnlich anlächeln.
»Ich glaube schon. Ich weine auch viel. Erst neulich, als meine Tochter Windpocken hatte. Da habe ich mitgeheult.«
Moment. Tochter? Ein Mann mit Lederarmband ums Handgelenk hat eine Tochter? Ist er etwa auch vergeben? Ich muss aufs Ganze gehen. Ich bluffe.
»Kocht Ihre Frau eigentlich auch?« (Auf diese Frage kann er wunderbar in ein lautes Gelächter fallen und rufen: »Frau? Welche Frau?«)
»Ja, leider«, sagt Steffen Henssler und lacht. »Vollkommene Talentfreiheit gepaart mit wenig Willen.«
Ich lache schnell hektisch. Er hat eine Tochter. Er hat eine Frau.
»Das ist ja schade«, stottere ich.
»Ach was, dafür kann ich ja kochen« Steffen Henssler lacht.[3]
»Womit kann eine Frau Sie denn rumkriegen?« Letzter Versuch. Vielleicht ist er ja nicht mehr glücklich in der Beziehung und sagt jetzt so etwas wie: »Dazu gehört nicht viel. Wir sind sowieso gerade dabei, uns zu trennen.«
»Mit einer guten Sauce Carbonara. Damit kann man mich beeindrucken.«
»Sauce Carbonara???«
»Die ist extrem schwer zu kochen. Das Verhältnis Sahne zu Eigelb muss stimmen, der Speckanteil ist wichtig und der schwarze Pfeffer natürlich.« Er lacht.
Sauce Carbonara. Das schaffe ich nie.
Ich bedanke mich für das Gespräch und verlasse das Restaurant.
Aber zumindest bin ich pappsatt.
- [1]
- Zum Glück bringt der Kellner in diesem Moment den ersten Gang: eine ganze Platte gebeizter Lachs mit einer Sauce obendrauf, in die ich mich reinlegen könnte. Ich versuche, nicht zu schlingen.
- [2]
- Der Kellner bringt den zweiten Gang. Grundgütiger. Es ist die größte Platte mit Sushi-Rollen, die ich in meinem Leben je gesehen habe. Ich könnte weinen vor Glück. Lasse mir aber nichts anmerken, sondern nehme vornehm (und möglichst gelangweilt) eine erste Rolle. Oh. Mein. Gott. Ich versuche, nicht laut zu stöhnen.
- [3]
- Der Kellner bringt den dritten Gang. Irgendwas Frittiertes mit irgendeiner Sauce. Ich kann mich nicht konzentrieren. Eine Tochter. Eine Frau. Frust essen.