4. Martin Lacey Junior und der Löwe im Käfig

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Zwischenbilanz. Der erste Mann war ein Traummann, aber er war schwul. Der zweite Mann war ein Traummann, aber er war nicht treu. Der dritte Mann war ein Traummann, aber es gab ihn nicht.

Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich die Kombination von »Traummann« und »aber« nicht ausstehen kann?

Vor einer Woche bin ich aus Köln zurückgekommen und noch immer habe ich mich von den ersten drei Treffen nicht erholt. Bis gerade eben hat Pia pietätvoll zum Thema Traummannsuche geschwiegen. Ich fand das sehr rücksichtsvoll. Doch nun hat sie es getan. Sie hat wieder das verbotene »T-Wort« in den Mund genommen.

»Wer soll eigentlich der nächste Traummann werden?«

In den letzten Tagen hatte ich mir eigentlich überlegt, ob ich das Ganze nicht abbrechen sollte. Noch eine Enttäuschung würde hart werden. Doch irgendwie entdecke ich plötzlich meinen Kämpferinstinkt. Pah, warum soll ich klein beigeben? Nein, nein, gerade jetzt muss ich dranbleiben. Was wissen schon Kevin, Rocko und Joscha?

Pia sieht mich mit großen Augen an, und plötzlich ist mir klar, dass ich mich auf das besinnen muss, was einen wahren Mann ausmacht.

Es ist Zeit für den knackigsten Hintern in Westeuropa: Martin Lacey Junior.

 

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Ich hatte ihn – kennengelernt wäre vielleicht etwas übertrieben – zum ersten Mal vor genau einem Jahr gesehen. Damals schleppte ich Pia an einem trüben Nachmittag im Februar in den Zirkus Krone.

Kleine Vorbemerkung, damit man versteht, warum es für eine fast Dreißigjährige nichts Schöneres geben kann, als einen Zirkus zu besuchen.

Ich habe eine große Gemeinsamkeit mit Stéphanie von Monaco: Bei Zirkusartisten werden wir schwach. Immer wenn ich Bilder von ihr in der Bunten sehe, wie sie mit zerzausten Haaren aus einem Zirkuswagen torkelt, schreie ich innerlich: »Das will ich auch!« Habe ich mich irgendwann in meinem Leben mal nach einer Doppelhaus-hälfte mit Vorgarten, einem geregelten Einkommen und einem sicheren Kitaplatz für eventuelle Nachkommen gesehnt? Ja vielleicht, aber tief im Innern will ich etwas ganz anderes. Ich will Abenteuer, ich will Freiheit, ich will einen Hauch von Woodstock in meinem Leben. Und genau das würde ich bekommen, wenn ich auf den matschigen Zirkusplätzen dieser Welt wohnen würde. Mit Fredo. Oder Antonio. Oder Vladimir.

Morgens würden wir gemeinsam aus der kleinen gemütlichen Schlafkoje krabbeln und dann einen ganz reellen Pulverkaffee trinken. Später würde ich ihm beim Training in der Manege zusehen, nebenbei Popcorn für die Vorstellung vorbereiten und abends würde ich meinem Helden den gestählten und beanspruchten Körper mit Franzbranntwein einreiben. Ich hörte schon damals, wie er ein zufriedenes »mmh« in mein Ohr seufzt und wie ein Kater schnurrt, ein wilder natürlich. Herrlich.

All diese Bilder liefen vor meinem inneren Auge ab, als ich mit Pia an jenem verregneten Nachmittag den Zirkus Krone besuchte.

»Das ist also mein neues Zuhause«, dachte ich, als ich mich auf Sperrsitz 103 begab. Interessant. Ich wusste zwar noch nicht, mit welchem Artisten ich bald durchbrennen würde, aber dieses marginale Randproblem klärte sich nach knapp zwei Stunden von allein.

Denn dann kamen die Löwen. Und mit ihnen ein Dompteur, der hautenge Glitzerhosen trug, einen unglaublichen Hintern hatte und genauso fauchte wie die Löwen vor ihm. Kurz: Er war der Inbegriff meiner kühnsten Träume.

Mit ihm konnte ich Prinzessin Stéphanie von Monaco die Zweite werden.

Während ich heftig applaudierte, sah ich mich schon auf der Treppe zu seinem Wohnwagen sitzen. Kurz vor Beginn der Vorstellung würde ich ihm hinterherrufen: »Ich habe Angst um dich.« Er würde sich umdrehen, mich in seine starken Arme nehmen und flüstern: »Baby, ich bin gleich wieder da. Ich muss nur kurz die Löwen zähmen.«

 

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Grundgütiger. Ich glaube, Martin Lacey Junior wird wirklich bald diese Worte zu mir sagen. Denn: Ich treffe ihn! Und zwar: übermorgen!

 

Nachdem ich Martin Lacey Junior zu Traummann Nummer vier gekürt hatte, recherchierte Pia die Nummer der Zirkus-Krone-Pressesprecherin. (Sie hat anscheinend gemerkt, dass ich wegen Joscha Kiefer immer noch so fertig bin, und sich deshalb voll reingehängt.)

Ich rief sofort an und sagte meinen »Ich bin Journalistin und würde gern ein Interview führen«-Spruch auf. Leider war die Sprecherin von meinem Vorhaben alles andere als begeistert.

»Der ist ziemlich beschäftigt«, sagte sie. Aber das ist doch wunderbar, dachte ich. Ich liebe schließlich aktive Männer. »Ich glaube wirklich nicht, dass er dafür Zeit hat«, sagte sie und wollte schon auflegen.

»Bitte, bitte, bitte, bitte«, schrie ich verzweifelt (oh mein Gott, ob Anne Will auch immer so jammert, wenn Angela Merkel einen Interviewtermin absagt?) und fügte möglichst professionell hinzu: »Ich meine, es wäre wirklich schön, wenn es klappen könnte. Schließlich erfährt man sonst nicht so viel über Dompteure in der Presse.«

Eins von beidem (ich denke ja, dass es mein flehendes »Bitte« war) schien sie überzeugt zu haben. Denn: Gerade hat sie zurückgerufen. Das Gespräch könne stattfinden. In München. Übermorgen.

Ich legte auf und schrie.

Ob ich Stéphanie von Monaco benachrichtigen soll? Ich meine, ich trete ja bald in ihre Fußstapfen. Und sie hat schließlich ein Recht darauf, zu wissen, wenn Leute aus dem Volk ihr nacheifern. Vielleicht lernen wir uns ja auch bald kennen, wenn Martin nach Monte Carlo zum Zirkusfestival eingeladen wird. Wahrscheinlich gibt es eine After-Show-Party, auf der dann noch etwas gefeiert wird. Oh mein Gott. Ich werde mit Stéphanie von Monaco feiern. Ich schreie wieder und rufe hektisch Pia an.

»Ich gehöre bald zum fahrenden Volk«, rufe ich in den Hörer.

»Ach herrje, triffst du ihn etwa?«, sagt sie gelangweilt.

»Pia, sei mal etwas begeisterter, bitte. Und ja: Ich treffe ihn.«

»Ich bin mir ja immer noch nicht sicher, ob du so gut in diese Zirkuswelt passt.«

Ich muss schon bitten. Schließlich waren es Pia und ich, die nach dem Abitur sechs Wochen durch Spanien gereist sind. Mit dem Rucksack! Wir schliefen auf Campingplätzen, sangen am Lagerfeuer zu den Gitarrenklängen eines gewissen Jorge aus Sevilla (mit dem ich dann auch noch stilecht am letzten Abend knutschte) und bastelten uns aus gesammelten Muscheln am Strand Halsketten.

»Das war vor zehn Jahren«, sagt Pia. »Seitdem hast du keinen Zeltplatz mehr aus der Nähe gesehen, soweit ich mich erinnern kann.«

Pia hat recht. Schon einen Monat nach unserem Spanien-Urlaub lag ich mit Pia in einer Wellness-Lounge, und während zwei Massage-Götter uns durchkneteten, beschlossen wir, dass funktionierende Toiletten, fließend Wasser und ein wenig Luxus irgendwie besser zu uns passen als Plumpsklos und »Geht mal rüber zum Wohnmobil vom Matze, der hat noch ein paar Brote übrig«. Letztens habe ich sogar mal in meinem Internetprofil eines Netzwerks »Zeltmuffel« in der Kategorie »Über mich« geschrieben. Könnte ein fataler Fehler gewesen sein. Denn neulich hat der Moderator in so einer ZDF-Ratgebersendung nach einem Beitrag bedrohlich ernst in die Kamera gesehen und gesagt: »Bedenken Sie also, welche Informationen Sie im Internet von sich preisgeben. Denn machen Sie sich eins bewusst: Das Internet vergisst nichts.«

Herzlichen Glückwunsch. Das kann ja heiter werden.

Aber wer weiß, vielleicht hatte ich in genau diesen sechs Wochen in Spanien den einzig lichten Moment in meinem Leben und spürte damals tief im Innern, für was ich eigentlich gemacht war. Und genau dieses »Ich« bricht nun zehn Jahre danach aus mir heraus.

Ich würde sagen: Ja, ich bin bereit. Für ein Leben mit Martin. In seinem Wohnwagen.

»Das ist er«, rufe ich in den Hörer. »Ich habe ein richtig gutes Gefühl. Leider kann ich dir meine neue Festnetznummer nicht geben. Denn wir haben im Wohnwagen nur ein Handy.« Kichernd lege ich auf.

 

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In München ist es warm. Viel wärmer als in Hamburg. Und es ist windstill. Viel windstiller als in Hamburg. Ich glaube, mir gefällt München, denke ich, als ich vor dem Hauptbahnhof stehe. Mir ist nämlich grundsätzlich immer kalt. Und das, obwohl ich laut Herkunftsland (herrje, das klingt, als wäre ich ein Ei und müsste mich zwischen Boden, Freiland und Bio entscheiden) nie frieren dürfte. Auch wenn meine Hautfarbe nicht heller sein könnte, würde es mich nicht wundern, wenn irgendwann ein schwarzer Rastamann vor meiner Haustür steht und in gebrochenem Deutsch sagt: »Ich sein dein Vater.«

Meine Mutter bestreitet diese Theorie vehement, doch für meine klimatischen Beschaffenheiten hat auch sie keine Erklärung. Ich liebe es, mich im Sommer in ein schwarzes Auto zu setzen, das den ganzen Tag in der prallen Sonne stand und in dem noch nicht gelüftet wurde. Und im Winter, oh Gott, das ist jetzt wirklich eine Offenbarung, trage ich nachts eine Mütze. Die Wärme wird schließlich zu 80 Prozent über den Kopf abgegeben, wie ich irgendwann in der Apotheken-Rundschau gelesen habe. Zumindest die Wissenschaft ist auf meiner Seite.

Wenn ich in einer Beziehung bin, versuche ich tapfer, in den ersten Wochen auf die Mütze ganz zu verzichten. Wenn die Temperatur aber niedriger und die Beziehung fester wird, geht es in die zweite Mützenphase. Heißt: den Freund zunächst in Sicherheit wiegen und – scheinbar! – gemeinsam einschlafen. Nach einer halben Stunde (schnarchende Freunde sind für diese Methode Gold wert!) schnell die Mütze aufsetzen und selbst einschlafen. Am Morgen muss man es dann irgendwie schaffen, eine halbe Stunde früher aufzuwachen und die Mütze wieder unter dem Bett zu verstauen. Funktioniert eigentlich hervorragend. Nur Jens hat einmal den Schock seines Lebens bekommen, als er nachts aufwachte und mich mit Mütze neben sich liegen sah.

»Für den Anblick brauche ich sicher eine Therapie«, sagte er am nächsten Morgen. Einen Monat später verkündete er, dass er noch an Franziska hing. Dummes Stück. Aber: nicht in der Vergangenheit hängen. Die Zukunft gehört Martin.

 

Mein Hotel liegt direkt neben dem Viktualienmarkt. Es ist klein, es ist verputzt (nirgends sehe ich norddeutsche Backsteine), und als ich die Empfangslobby betrete, begrüßt mich die Frau an der Rezeption (im Dirndl! Die hat wirklich ein Dirndl an!) mit einem deftigen »Grüß Gott«. Wahrscheinlich bietet sie mir gleich Weißwürste an. Kinder, ist das schön. »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Und auf Urlaub«, summe ich, während ich den Schlüssel nehme. Ich will gerade auf mein Zimmer gehen, als mir auffällt, dass ich bis zum Interview noch zwei Stunden Zeit habe. Eigentlich könnte ich mir doch gut noch ein wenig München ansehen. Schließlich war ich noch nie hier.

Ich gebe der Frau an der Rezeption den Schlüssel zurück.

»Ich gehe erst später aufs Zimmer. Ich werde noch etwas durch München bummeln. Ich bin zum ersten Mal hier.« Und natürlich kann ich es mir nicht verkneifen, »Aber vielleicht bin ich bald öfter hier« hinterherzuschieben und ihr zu zuzwinkern. Und, ich weiß nicht, warum plötzlich diese Worte aus meinem Mund kommen: »Ich bin sozusagen Stéphanie von Monaco.«

Nein. Was habe ich gesagt? Sie muss mich für verrückt halten. Ich lache nervös und frage mich, wie ich das Ganze retten kann. Doch die Frau nickt nur milde und verständnisvoll und sagt: »Ich verstehe.«

Hah, daran erkennt man gute Hotels. Auch wenn der Angestellte keine Ahnung hat, um was es geht: auch dem noch so irre scheinenden Gast immer das Gefühl geben, verstanden zu werden. Ich bin gerade dabei, die Lobby zu verlassen, da ruft sie mir hinterher: »Ich gebe Ihnen noch einmal eine Karte von unserem Haus mit.« Nun bin ich diejenige, die nichts versteht. »Ich habe Ihnen Ihre Zimmernummer aufgeschrieben, manchmal, wenn es spät wird, nun ja, und manchmal trinkt man ja auch, und, na, Sie wissen schon.« Sie kichert. »Vielleicht freuen Sie sich auf jeden Fall morgen früh, wenn Sie die Karte dabeihaben und wissen, wo Sie hinmüssen.«

Moment mal. Da lobe ich diese Frau gerade für ihr vorbildliches Verhalten, und im nächsten Moment drückt sie mir eine Karte in die Hand, damit ich im Suff heute Nacht noch die Orientierung behalte? Was denkt sie eigentlich von mir? Habe ich etwa ein Schild um den Hals: »Ich verbringe heute wahrscheinlich eine aufregende Nacht in einem Wohnwagen, und morgen früh habe ich vor lauter Liebestaumel keinen Schimmer mehr, in welchem Hotel ich gestern eingecheckt habe. Ich bin nämlich auch nicht so helle.«

Aber ich reiße mich zusammen und will ein guter Gast sein: auch dem noch so irren Hotelangestellten das Gefühl geben, ihn zu verstehen.

»Ja, danke. Bis später«, sage ich ziemlich nüchtern und verlasse mit festen Schritten die Lobby. Jedenfalls von hinten soll es so aussehen, als hätte ich alles unter Kontrolle.

 

Der Viktualienmarkt macht alles wieder gut. Er sieht aus wie Postkarten, die meine Eltern regelmäßig aus dem Urlaub verschicken. Gut angezogene Kinder gehen brav neben ihren Eltern her, Frauen tragen Strohkörbe, aus denen weiße Lilien und grüne Lauchblätter wie eine Komposition von van Gogh herausragen, und die Marktfrauen schnattern mit ihren tiefen Stimmen freundlich durcheinander. Schön ist es ja, denke ich. Aber auch ein wenig spießig. Doch wahrscheinlich bin ich später froh, wenn ich zwischen dem ganzen Rumreisen und den Abenteuern in der weiten Welt eine verlässliche Heimatbasis habe. Die darf dann ruhig etwas konservativ sein.

Noch eine Stunde bis zum Interview; ich muss mich auf den Weg machen. Es geht in den Kampf. Oder sollte ich besser sagen: in die Manege?

 

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Willkommen im neuen Leben. Ich bin auf dem Gelände des Zirkus Krone angekommen. Es liegt am Rande von München, und es ist der Ort, an dem Träume wahr werden. Vor allem meine Träume. Aus den Lautsprechern tönt Marschmusik, Kinder mit Popcorn in den Händen strahlen ihre Omas an und es riecht nach Zuckerwatte. Zuckerwatte! Das habe ich ja schon ewig nicht mehr gerochen. Geschweige denn gegessen. Das letzte Mal auf dem Jahrmarkt in Husum, 1993. Pia und ich, beide dreizehn, fuhren jeden Nachmittag nach der Schule mit dem Bus zum Jahrmarkt, da wir uns schon am ersten Tag in Maik und Marcel von der Autoscooter-Familie verliebt hatten. Die Zukunft war gesichert. Marcel hatte mit seinem Onkel Lutz vom Dosenwerfen besprochen, dass wir da mithelfen könnten, und Wohnen sei auch kein Problem. Maik und Marcel hatten jeder eine 90-mal-200-Matratze. Als der Jahrmarkt nach fünf Tagen weiter nach Flensburg ziehen musste, fragten wir unsere Eltern, ob wir die Schule abbrechen dürften, um uns mit Maik und Marcel eine neue Existenz aufzubauen.

Es ist jetzt gleich halb drei. Jeden Moment müsste mich die Pressesprecherin abholen. Aufgeregt gehe ich vor dem Eingang auf und ab. Ich atme den Duft von Zuckerwatte ein und fühle mich wie dreizehn. Wie herrlich leicht das Leben doch sein kann! Herrlich leicht und unkompliziert: Und genauso sehe ich aus. Mit Pia habe ich gestern Abend die alles entscheidende Klamottenfrage geklärt. Wir konnten uns zunächst nicht zwischen Gummistiefeln (Signal: Ich kann mit anpacken) und einem Tutu aus alten Ballett-Tagen (Signal: Ich kann in der Vorstellung mitwirken) entscheiden. Schließlich kramte ich eine Jeanshose (unverfänglicher Bootcut, eine Röhre wäre zu stylish, entschied Pia) aus dem Schrank und eine Sweatshirtjacke aus 100 Prozent Baumwolle, für 90-Grad-Maschinenwäsche geeignet. Signal: Ich bin unkompliziert. Mit mir kann man Pferde stehlen (und durch die Welt reisen).

Ich denke gerade darüber nach, ob wir wohl auch mal ins Ausland fahren würden, da sehe ich eine Frau, die direkt auf mich zukommt.

»Frau Jensen?« Sie gibt mir die Hand.

Die Pressesprecherin ist eine kleine, runde Frau und lächelt so nett, dass ich mich sofort bestätigt fühle. Ich wusste es doch: Hier bin ich richtig.

»Kommen Sie erst einmal in mein Büro, Martin hat gerade noch mit dem Baby zu tun«, sagt sie.

Mit dem Baby, denke ich schmachtend, während wir den Eingang passieren und sie mich durch ein paar Gänge in ihr Büro leitet. Wie süß, jetzt gibt er gerade einem kleinen Löwenbaby die Flasche. Wahrscheinlich sitzt er dabei auf einer kleinen, wackeligen Holztreppe, die zu seinem Wohnwagen führt, und sieht sehnsüchtig in die Ferne. Wenn doch nur jemand neben mir sitzen würde, wird er denken. Ach Martin, wenn du wüsstest. Ich bin ja bald da.

»Haben Sie gehört? Martin verspätet sich, er hat eben angerufen. Vielleicht kann ich Ihnen ja schon einmal vorab ein paar Informationen geben.«

Vorab ein paar Informationen. Wenn ich das schon höre. Typisches Pressedeutsch. Jetzt drückt sie mir sicher gleich eine Mappe mit Statistiken und neusten Studien über die Arbeit mit Wildtieren in die Hand. Wie mache ich ihr nur klar, dass es hier um etwas ganz anderes geht? Um die Liebe!

»Hat Herr Lacey eigentlich viele weibliche Fans?«, frage ich vorsichtig und möglichst beiläufig.

Die Sprecherin sieht mich ein wenig erstaunt an. Wahrscheinlich hat sie geglaubt, ich würde mich erst einmal nach den gesetzlich festgeschriebenen Kriterien für eine artgerechte Aufzucht erkundigen.

»Ich muss ja auch den Menschen Martin Lacey ein wenig kennenlernen«, erkläre ich schnell.

»Ja, natürlich, kein Problem. Und um auf Ihre Frage zu antworten: Er ist ein richtiger Frauenschwarm. Jeden Tag kommt ein Stapel Fanpost bei mir an. Den Ansturm kann man gar nicht bewältigen.« Sie lacht. »Auch unser ganzes Ballett ist ihn verliebt.«

Na, das kann ja heiter werden. Ich sehe eine Armada gertenschlanker Tänzerinnen vor mir, die mit ihren kleinen, festen Popos tagtäglich um seine Gunst buhlen. Egal, Konkurrenz belebt das Geschäft. Früher waren alle aus meiner Klasse in Karsten Hinrichs aus der 7 b verliebt, das machte ihn nur noch interessanter. Mit diesen blöden Tänzerinnen werde ich schon fertig, denke ich tapfer. Und außerdem, wenn er mit einer von ihnen zusammen wäre, hätte sie doch sicher gesagt: »Das ganze Ballett ist ihn verliebt. Und tatsächlich hat sich Martin in der letzten Spielzeit in die 45 Kilo schwere und 1,76 Meter große Monique verliebt. Sie hat vorher im Pariser Lido als gefeierte Solistin getanzt. Als sie das Engagement bei uns bekam, hat es zwischen ihr und Martin auf Anhieb gefunkt.« Und sicher hätte sie dann noch seufzend »Ein schönes Paar« hinzugefügt.

Aber nein, nix da, sie schweigt. Der ist mit keiner von denen zusammen. Wusste ich es doch.

»So, ich muss leider los«, sagt sie. »Gleich kommt jemand vom Kinderkanal, der ein Interview mit unserem Clown führen will. Das muss ich mal kurz organisieren.«

Herrlich, sie muss ein Interview mit einem Clown organisieren. Das klingt so selbstverständlich, als wenn unsereins »Ich geh noch mal einkaufen« sagt. Sicher ist dieser Clown bald einer von meinen engsten Freunden. Und plötzlich sehe ich mich schon in Martins kleiner Kochnische vor einem großen Bottich mit Erbsensuppe stehen und schreien: »Essen ist fertig.« Der Clown würde wenig später auf unserer Eckbank sitzen (Zirkuswagen haben doch sicher alle Eckbänke, auf denen man so schön eng zusammenrücken muss), unser Freund, der Hochseilartist, wäre auch da, und während ich so verliebt und glücklich in der Erbsensuppe rühre, würde Martin sich von hinten anschleichen, mich um die Taille fassen und die anderen fragen: »Hat sie das nicht gut gekocht, meine kleine Maus?«

Oh Gott, wenn die Pressesprecherin von meinen Fantasien wüsste – mir wird ganz anders.

»Bleiben Sie hier einfach sitzen«, sagt sie und geht zur Tür. Sie will mich also allen Ernstes alleine lassen. »Martin kommt gleich. Wenn also ein schöner Mann die Tür aufmacht, dann wissen Sie: Er ist es.« Sie zwinkert mir zu und überlässt mir das Feld. Himmel, ein schöner Mann. In was habe ich mich eigentlich hier reinmanövriert?

In meiner Not rufe ich schnell Pia an. Zum Glück geht sie sofort ran.

»Pia«, flüstere ich. »Ich sitz im Büro von der Sprecherin und gleich kommt Martin und ich gesteh ihm meine Liebe und mir ist so schlecht.«

»Ich versteh kein Wort. Kannst du bitte lauter sprechen? Wo bist du?«

»Pia, er kommt gleich«, flüstere ich.

»Ich versteh dich nicht«, sagt Pia, »was ist los?«

Pia kann einen wahnsinnig machen.

»Ich warte auf Martin Lacey«, schreie ich schließlich in den Hörer. »Ich gestehe ihm gleich meine Liebe.«

Natürlich musste es so kommen. Bei der zweiten Silbe von »Liebe« geht die Tür auf. Ein schöner Mann kommt rein.

Ich drücke fahrig Pia am Handy weg, habe eine Gesichtsfarbe, auf die holländische Treibhaustomaten neidisch werden könnten, und stottere: »Hello, Mister Lacey. Nice to meet you.«

»So, what do you want to know?«, fragt Martin Lacey und lächelt.

Jetzt kommt es. Bei Kevin Tarte war ich mir ja ziemlich sicher, dass er auch deutsch spricht, schließlich sang er auf jeden Fall auf Deutsch. Bei Martin Lacey allerdings habe ich keinen Schimmer, was das betrifft. Als ich ihn damals in der Manege sah, war ich auf meinem blöden Platz leider so weit von ihm entfernt, dass ich nicht hören konnte, in welcher Sprache er die Befehle gab. Also: Der nächste Satz entscheidet darüber, ob ich in der nächsten halben Stunde ich selbst sein kann, ob ich wortgewandt sein darf, ob ich vor lauter Charme und Witz nur so sprühe. Oder: ob ich gleich mein Langenscheidt-Wörterbuch aus meiner Handtasche herauskrame und »Dann fangen wir mal an« nachschlagen muss. Kurz: Der nächste Satz entscheidet über Glück und Unglück.

»My English is not the best. Would it be okay for you if we speak German?« Meine Stimme zittert.

»Kein Problem«, sagt Martin Lacey. »Mein Deutsch ist zwar nicht perfekt, aber es wird schon gehen.«

Ganze Felsbrocken fallen von meinem Herzen, und ich höre, wie das Langenscheidt-Lexikon aufatmet und es sich in den Untiefen meiner Tasche gemütlich macht. Das ist ja ein wahrer Traumstart. Und dann noch dieser Akzent. Wenn ein Engländer deutsch spricht, klingt das fast noch wundervoller als bei einem Amerikaner. Es klingt so nett, so aufmerksam, so gebildet, so charmant. Und es klingt, als hätte er ein kleines Landhaus in Cornwall, in dem er auf der Terrasse sitzend (von der man einen atemberaubenden Blick über die Klippen am Strand hat) Deutsch gelernt hat.

»Gut, dann legen wir mal los.«

Ich schlage wichtig meinen Block auf. »Immer dran denken«, hatte Pia mir eingeschärft. »Du bist dort, weil du angeblich einen Artikel über ihn und seine Löwen schreiben willst.« Kein Problem, ich beherrsche meine Rolle in Perfektion. Außerdem kann es ja nicht schaden, wenn ich ein wenig mitschreibe, was er so sagt. Es wird dann sozusagen ein Dokument der Liebe. Herrlich.

»Vielleicht können Sie mir zunächst ein wenig von Ihrer Arbeit erzählen?«, frage ich. Langsam rantasten ist die Devise. Nicht gleich mit »Haben Sie noch Platz in Ihrem Wohnwagen? Hihi. Für mich? Hihi« mit der Tür ins Haus fallen. Ich lege den Kopf ein wenig schief (das weckt ja bekanntlich den Beschützerinstinkt) und lausche den Abenteuern von Martin Lacey Junior. Vorhang auf.

Martin Lacey erzählt (mit Akzent! Hinreißend! Hinreißend!), dass seine ganze Familie schon seit zehn Generationen mit Löwen arbeitet. Der brüllende Löwe bei MGM-Filmen stammt auch aus der Züchtung der Familie. »Kennen Sie den?«

Ich nicke aufgeregt.

Es sei ihm schon immer klar gewesen, dass er auch mit Tieren arbeiten wollte, erzählt er. Obwohl es natürlich auch gefährlich ist. Er zeigt auf eine kleine Narbe an seiner Wange. Letztes Jahr sei er in der Vorstellung von einem Podest gestürzt und genau in das Maul eines Löwen gefallen. Ich bin mal von einem kleinen Hocker in meiner Küche gestürzt und kam mir wahnsinnig aufregend vor, als ich dem Arzt in der Notfallaufnahme sagen konnte: »Ich wollte doch nur das Fonduegerät aus der obersten Etage holen.« Aber in das Maul eines Löwen fallen? Kann es etwas Aufregenderes geben? Sicher muss die Narbe immer noch ab und zu gepflegt werden. Ich sehe Martin schon auf dem Rand der Badewanne sitzen und ich tupfe ihm mit einem in Alkohol getränkten Wattepad vorsichtig die Narbe ab. »Autsch«, wird er rufen und sein Gesicht schmerzerfüllt zur Seite drehen. »Das muss sein, du hast es ja gleich geschafft«, werde ich dann (gespielt streng) sagen und ihm zulächeln. Das wird ja traumhaft.

Während ich ein wenig wegdämmere, erzählt Martin Lacey weiter. Die Arbeit gehe ihm über alles. Aber eigentlich könnte man gar nicht von Arbeit sprechen, da die Arbeit sein Leben sei. Des wegen mache er auch nie Urlaub. Denn vom Leben müsse man sich bekanntlich keine Auszeit nehmen. Er lacht. Nun gut, manchmal fliegt er für ein Wochenende nach Südafrika zu Freunden. Aber ansonsten? Martin Lacey schüttelt den Kopf. »Klar, als ich letztens in Monte Carlo beim Festival war oder als ich den Papst besucht habe – klar, das war schon ein wenig Urlaub. Arbeitsurlaub sozusagen.«

Himmel. Ich sehe mich schon, wie ich ihn demnächst auf seinen Reisen begleite. »Schatz«, werde ich ihm hinterherrufen, während er unsere Koffer im Wagen verstaut. »Hast du auch deinen Smoking eingepackt? Denk dran, morgen Abend sind wir beim Papst.« Ich würde das so selbstverständlich sagen, wie andere Frauen ihre Männer an die Einladung zum Raclette-Essen bei den Schmidts erinnern.

Ich lächle in seliger Gewissheit vor mich hin, das wird einfach fantastisch. Jetzt noch schnell eine pseudointeressierte Frage zu seinen Löwen stellen, dann geht es in den zwischenmenschlichen Nahkampf. Hihi.

»Können Sie Ihre Löwen denn auch immer gut einschätzen?«, frage ich. »Ich meine, Vertrauen zu den Tieren ist sicher die Grundvoraussetzung, oder?« Ich lege den Kopf schief und reiße die Augen auf (nicht angsterfüllt, sondern interessiert!).

»Ja, natürlich. Sie haben recht«, sagt Martin Lacey. »Aber wissen Sie: Ich kenne meine Löwen so gut. Ich weiß sogar, wann die Kopfschmerzen haben.« Er lacht.

Okay, jetzt müsste es wohl auch dem letzten Idioten unter der Sonne klar sein: Er ist es! Er weiß, wann seine Löwen Kopfschmerzen haben! Das muss man sich mal vorstellen. Ich kann mein Glück kaum fassen und sehe mich bereits in einer Talkshow sitzen.

»Und wann wussten Sie, dass er der Richtige sein könnte?«, wird die Moderatorin fragen. Kameraschwenk auf mich und Martin.

»Nun, als er sagte, dass er sogar spürt, wann seine Löwen Kopfschmerzen haben«, werde ich sagen und ein wenig erröten. Martin wird in dem Moment zärtlich meine Hand nehmen (Kameratotale auf unsere Hände) und die Moderatorin wird »Ist das nicht romantisch?« seufzen.

Ja, er ist es. Die Zeit für die zweitwichtigste Frage – nach »can we speak German?« – ist also gekommen.

»Wäre es für Sie wichtig, dass Ihre Lebensgefährtin auch aus dem Zirkus kommt?«, frage ich. Natürlich hatten Pia und ich diese Frage der Fragen in verschiedenen Betonungen und mit verschiedenen Mimiken geübt. Wir hatten uns dann dafür entschieden, dass ich etwas nuscheln (kommt beiläufig rüber, so unsere Analyse) und den Blick flüchtig durch den Raum schweifen lassen sollte (unterstützt die Wirkung des Nuschelns).

»Was sagten Sie?«, fragt Martin Lacey. Ich glaube, zu nuscheln und währenddessen orientierungslos durch die Gegend zu glotzen war doch keine gute Idee. Ich wiederhole die Frage Silbe für Silbe und hänge gebannt an seinen Lippen.

Mist, der Tisch ist so breit. Wenn er jetzt sagt »Eigentlich ist mir das schon sehr wichtig, da man gleiche Interessen hat. Aber Sie scheinen mir auch sehr interessiert zu sein« und mir dann frivol zuzwinkern würde, könnte ich ihn gar nicht spontan umarmen, da meine Arme zu kurz für diesen doofen, alten Holztisch sind. Egal, dafür wird sich eine Lösung finden.

»Na ja«, sagt er. »Eigentlich ist mir das nicht so wichtig. Aber meine Frau kommt eben auch vom Zirkus. Das hat sich aber mehr aus Zufall ergeben.«

»Ihre Frau?«, frage ich und höre mich schreien: »Das ist ja furchtbar!«

Ich versuche, schnell wieder die Fassung zu bekommen.

»Und was macht sie im Zirkus?«, frage ich scheinbar interessiert und zwinge meine Mundwinkel, das in dieser Situation schier Unmögliche zu vollbringen: nach oben zu gehen.

»Sie dressiert die Pferde«, sagt Martin Lacey.

Aha. Die Pferdedressur. Da sieh einer an. Das könnte ich auch. Schließlich hatte ich zwischen zwölf und dreizehneinhalb eine innige Pferdephase, »Wendy«-Abo und Urlaub auf dem Ponyhof inklusive. Das ist machbar. Ich bin erleichtert.

»Ach so«, sagt Martin Lacey plötzlich. »Hab ich ganz vergessen: Sie dressiert natürlich auch unsere Elefanten.« Meine Mundwinkel, so tapfer nach oben gehievt, geben endgültig der Schwerkraft nach. Das glaub ich jetzt nicht. So etwas kann man doch nicht vergessen!

Ich bin geschafft. Die Ponys hätte ich mir ja noch zugetraut, aber die Elefanten?

Ich kapituliere.

»Dann vielen Dank für das Gespräch«, stottere ich.

»Gern geschehen. Wir sehen uns gleich in der Vorstellung?«, fragt Martin Lacey und lächelt mir zu, während er hinausgeht.

»Klar«, stammle ich in einem Dämmerzustand wie nach einem türkischen Dampfbad. »Wir sehen uns gleich in der Vorstellung.«

Da fällt mir plötzlich das Löwenbaby ein, von dem die Pressesprecherin zu Beginn des Gesprächs erzählt hat.

Mir schwant Böses.

»Herr Lacey, wie läuft eigentlich die Aufzucht Ihres kleinen Löwenbabys?«, frage ich.

»Löwenbaby?« Er runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf. »Ach, Sie meinen vielleicht unser kleines Menschenbaby.« Er lacht. »Mein Ein und Alles«, sagt er, strahlt und winkt mir zum Abschied zu.

 

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Guten Morgen, Wirklichkeit. Manchmal weiß ich in fremden Hotelbetten morgens nicht, wo ich bin. Doch heute laufen die Ereignisse der letzten zwölf Stunden wie in Zeitlupe vor meinem inneren Auge ab. Hotel, München, Zirkus Krone, Traummann, Traumfrau, die nicht Hannah Jensen heißt, heute nach Hause fahren.

Ich fühle mich, als hätte ich an einer Gewinnshow teilgenommen und, nachdem ich mich schweren Herzens für Tor drei entschieden hatte, den Zonk mit nach Hause genommen.

Nachdem Martin Lacey mir von seinem kleinen »Menschenbaby« erzählt und mich alleine gelassen hatte, saß ich noch eine Weile im Büro der Pressesprecherin und starrte wie in Trance auf den breiten Holztisch. Um dessen Breite ich mir ernsthaft Gedanken gemacht hatte, weil er mich an einer innigen Umarmung hätte hindern können. Was wäre das Leben schön, wenn die größten Probleme zu breite Holztische wären.

Plötzlich ging die Tür auf und die gut gelaunte Pressesprecherin wirbelte herein.

»Und? Wie war das Gespräch?«, fragte sie.

Mein erster Instinkt war, ihr um den Hals zu fallen und »Er ist vergeben« zu schluchzen. Doch erstens: Sie wusste ja bereits, dass er vergeben war. (Sie hatte schließlich schon zu Anfang vom »Baby« gesprochen und mich sehenden Auges ins offene Messer rennen lassen, das werde ich ihr nie verzeihen.) Und zweitens: Die Pressesprecherin war nicht Pia und schon gar nicht Elvis. Deswegen straffte ich die Schultern und sagte mit fester Stimme: »Danke, es war sehr aufschlussreich.« Das entsprach ja auch irgendwie den Tatsachen.

»Na, dann kommen Sie mal mit. Sie sollen jetzt unseren Traummann ja auch noch in Aktion sehen«, sagte die Sprecherin und lachte. Herrje, das hatte ich ganz vergessen. Jetzt musste ich mir ja auch noch die Vorstellung ansehen. Ich wollte gerade »Muss das wirklich sein?« stammeln, als die Sprecherin mich sanft, aber bestimmt Richtung Zirkuszelt schob.

»Die Vorstellung hat schon begonnen«, sagte sie. »Aber wir schleichen uns einfach leise rein.« Kein Problem, dachte ich. Doch im nächsten Moment starrten fünfhundert Augenpaare auf mich. Die Sprecherin hatte nicht den Hintereingang genommen, sondern den Eingang direkt neben der Manege. Und nun dachten die Zuschauer, dass ich die angekündigte Verrenkungskünstlerin aus China war. Mit hochrotem Kopf folgte ich der Sprecherin, die mich direkt zur Loge führte. Sie klopfte mir fürsorglich auf die Schulter. »Viel Spaß«, sagte sie und machte kehrt. Ich fühlte mich wie ein Kind, das im Preisausschreiben eine Karte für den Zirkus gewonnen hat, »Betreuung durch einen Zirkus-Mitarbeiter inklusive«. Gott sei Dank drückte sie mir nicht noch eine Tüte Popcorn in die Hand oder setzte mir eine Zirkus-Krone-Mütze auf.

»Oma, ich seh gar nichts mehr. Die Frau ist so groß«, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah einen kleinen, rothaarigen Jungen mit Popcorn in der Hand und Zirkus-Krone-Mütze auf dem Kopf, dessen Gesichtszüge sich gerade von »Hurrah, ich bin im Zirkus« zu »Das macht hier alles keinen Spaß« wandelten.

Oma und Opa schauten mich panisch und gleichzeitig flehend an. »Wir tauschen schnell die Plätze, ist doch kein Problem«, sagte ich schnell. Oma und Opa waren wahrscheinlich seit der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten nicht mehr so erleichtert wie in diesem Moment. Und der vierjährige Georg (wie ich kurze Zeit später erfuhr) strahlte wieder. Ich tauschte also mit den dreien die Plätze. Und das in der Loge! Die Zuschauer dachten spätestens jetzt, dass ich doch Teil des Zirkus war. Wenn schon nicht die chinesische Verrenkungskünstlerin, dann eben Mitglied einer Clown-Gruppe.

Die Vorstellung war, ich muss es zugeben, phänomenal. Eine Gruppe aus Russland riskierte auf dem Drahtseil ihr Leben, drei Frauen, die alle aussahen wie Heidi Klum, liefen wie die Wahnsinnigen Rollschuh und chinesische Turnerinnen balancierten auf dem Einrad und hatten dabei Töpfe auf dem Kopf.

Je weiter die Vorstellung voranschritt, desto klarer wurde: Das hier ist irgendwie eine andere Welt. Eine, die Galaxien von mir entfernt ist. Während eine Frau sich in der Manege verrenkte, versuchte ich auch, das Möglichste aus meinem Körper herauszuholen. Ich schlug mein linkes Bein über das rechte und wickelte dann den Unterschenkel des linken Beins noch einmal um den Unterschenkel des rechten Beins. Das war der Zenit meines akrobatischen Könnens. Ich stellte mir vor, wie der Zirkusdirektor mich ansagen würde: »Und nun, meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte Hannah Jensen, die ihre Beine übereinanderschlagen kann.«

Ich dachte gerade noch darüber nach, ob man meinen »Trick« irgendwie noch weiterentwickeln könnte, als die Elefantennummer angesagt wurde. Elefanten, schrillte es in meinem Kopf. Das machte doch die Auserwählte von meinem Auserwählten. Und tatsächlich: Elfengleich schwebte plötzlich eine schlanke, zarte Frau herein, schwang die Peitsche und die Elefanten drehten sich wie auf Knopfdruck im Kreis. Die Frau hatte lange, glatte, glänzende, schwarze Haare wie aus der Werbung, bei denen man immer sicher ist, dass die Fotos retouchiert sind. Noch dazu stolzierte sie einwandfrei auf atemberaubenden High Heels. Ich habe schon Schwierigkeiten, auf zwei Zentimeter hohen Absätzen einigermaßen zu gehen. Kurz: Die einzige Gemeinsamkeit zwischen dieser Frau in der Manege und mir war unser Geschlecht. Wäre ich an Martin Laceys Stelle gewesen, hätte ich auch die genommen und nicht mich. Das musste ich wohl akzeptieren.

Nach der Pause kam dann noch der Meister selbst. Er trug eine hautenge Lederhose, bewegte sich im Käfig so elegant und schnell wie seine Tiere und lobte die Löwen, wenn sie etwas gut gemacht hatten, mit »good girl«. Das hätte er doch auch so schön einmal zu mir sagen können. Aber, nein, nicht träumen. Ich kann nur meine Beine übereinanderschlagen, ich kann nicht auf hohen Schuhen gehen und wahrscheinlich bin ich immer noch der Zeltmuffel, als der ich mich bei dieser Internetplattform einmal geoutet habe. Ich gehörte nicht hierhin. Kurz. Schluss. Aus. Akzeptieren und weitersuchen.

 

Ich krabble aus dem Bett und packe schnell meine Koffer zusammen. Natürlich habe ich für zwei Tage München so viel dabei, wie Großfamilien auf RTL II hinter sich herschleppen, wenn sie nach Brasilien auswandern und dabei von drei Kamerateams begleitet werden.

»Und? War Ihr Besuch erfolgreich?«, fragt die Rezeptionistin.

»Ja, sehr«, sage ich. »Ich weiß jetzt zumindest, dass ich doch nicht Stéphanie von Monaco bin.«

 

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