Michael
Weisser
ego alter ego
Am Morgen eines, irgendeines, nahen, fernen Tages, an einer, irgendeiner Stelle, nahe bei oder fern ab, festgehalten im Koordinatenkreuz, gefangen im Raumgitter zwischen horizontal und vertikal, hat er die feine Reflexion seines Spiegelbildes wahrgenommen.
Die Details stimmen, und doch sind die Details beliebig. Die Umstände sind definiert, aber es hätten durchaus auch andere Umstände sein können.
Allein das Prinzip ist von Bedeutung.
Ein-eindeutig, selbst bei allen Transformationen von Zeit und Raum, bleibt jener Reflex im Bruchteil einer Sekunde, der den Kreis schließt, ihn zu einer Fläche verspiegelt, in der die Betroffenen begreifen, daß sie einen gemeinsamen Moment haben.
Aus ihrer Zweisamkeit heraus finden sie sich vor als letztlich ein und derselbe.
Die Situation.
Unaufhaltsam kriecht eine zähflüssige Feuchtigkeit aus den dichten Graspolstern, sickert über die geschlossene Pflanzendecke, sucht vergeblich nach Spalten und Lücken, taumelt gegen abgeknickte Blattlappen, umschlingt seine schweren, schwarzen Stiefel und bindet ihn ein in die Natur, als wäre er ein fester Bestandteil dieser Welt.
Er ist allein.
Lautlos ziehen vereinzelte Wassertropfen ihre zärtlichen Bahnen; es ist das Kondensat einer schläfrigen Stille, es ist der Schweiß erschöpfter Träume, der aus den Falten der Nacht perlt und über die glatte Ebene des frühen Morgens rollt. Die hohen Lanzetthalme krümmen sich im leichten Wind. Mit ihren elastischen Bewegungen wecken sie die aufgehauchte Feuchtigkeit, entzaubern den glimmernden Pelz, wandeln ihn um in einen feinen Niederschlag, in einfache Feuchtigkeit, die sich über die tiefgrüne Länge der Halme verteilt.
Er hat Zeit.
Unter der Schwingung erwachen die klebrigen Tropfen, entfalten ihre eigenen Bewegungen, räkeln sich in den ersten auf treffenden Strahlenbündeln der Sonne und reflektieren das einfallende Licht auf der Krümmung ihrer Oberfläche. Im Bruchteil von Sekunden wird jeder Tropfen zur Supernova. Ein gleißendes Licht rast ihm entgegen. Automatisch zucken die Augenlider zusammen.
Sein Schatten schiebt sich dicht über den Boden, schmiegt sich eng an den Pflanzenteppich, verschwimmt in den Mulden, die den Morgennebel zu milchigen Pfützen sammeln, und verliert sich schließlich im Gewirr anderer Schatten.
Er wartet.
Er ist umgeben von einer schläfrig-schweigsamen Pflanzenwelt, die sich langsam von den Fingern der Sonne wachstreicheln läßt. Vor seinen Augen schwingen feingeschuppte Rispen, neigen sich zur Seite, biegen den Halm, spannen die Fasern, als wollten sie sich bis zum maximalen Punkt verbeugen; dann läßt der Luftzug nach, und das elastische Rohr schnellt zurück und wirft die Rispenkronen in die entgegengesetzte Richtung.
Aus der Bewegung der Halme fallen Samenplättchen in die Luft.
Die kaum sichtbaren Lebenskeime torkeln herab und suchen Schutz zwischen gerollten Blättern, betten sich auf weiche Moospolster, bleiben an den feuchten Köpfen giftgrüner Pilzkolonien kleben und fallen zwischen scharfkantige Steine.
Er versucht, die Bewegung der silbrig aufblitzenden Scheiben nachzuvollziehen; versucht, ihren Weg zu verfolgen, doch immer wieder entschaukeln sie seinem geschulten, wachsamen Blick. Schließlich reißt er sich gewaltsam los von der vergeblichen Bemühung und konzentriert sich wieder auf sein Ziel.
Er hat ein Ziel.
Die gebündelte Wärme der einfallenden Sonne schiebt den Tau von den Halmen, wischt die Feuchtigkeit von den Gräsern, leckt die Tropfen von den Zweigen und schlürft die Seen in den Blattschulpen leer.
Die weißen Inseln des Bodennebels werden zerrissen. Die Schwaden dünnen aus, schieben lautlos ihre Finger in die dichten Glasstengel gefiederter Halme und entfliehen dem wachsamen Blick des Eindringlings.
Die spitz zulaufenden Lanzetthalme sind endgültig trocken, und ein feiner Duft steigt aus den kugelförmigen Grasigeln, die ihn umgeben. Es ist eine Komposition aus zusammengeballter Hoffnung, Erwartung und Gewißheit, denn die Pflanzen kennen die Variationen der Zustände während der Nacht und während des Tages.
Zögernd und unaufhaltsam zugleich dringt die Wärme der aufgehenden Sonne durch seine schwere Acrylfaserjacke. Ein wohliges Gefühl breitet sich auf dem breiten Rücken aus, der unverändert gekrümmt in Position gebracht ist. Die Strahlung folgt den Rundungen der festen Haut, streicht über die Schultern und erreicht die ausgeprägten Muskelpakete der Oberarme.
Die Sehnenstränge sind angespannt, sie genießen die gelbe Wärme, die auf der Kunststofffolie der Jacke auftrifft, im changierenden Acryl ihren Glanz verliert und farblos schön wird, die sich zwischen den Muskelfasern einlagert, sie massiert und ein Gefühl von Kraft und Ausdauer verbreitet.
Er ist trainiert.
Ohne seine Stellung zu verändern, ohne sich äußerlich zu bewegen, spielt er seine Muskelfunktionen durch, prüft den Grad der Verspannung und sinkt zurück in die lauernde Aufmerksamkeit.
Er behält die Grundposition bei, die er vor Stunden eingenommen hat; kaum merkbare Variationen der Armhaltung gesteht er sich zu. Er scheint verwoben zu sein mit seiner Umgebung, scheint ein Teil der stillen Pflanzenwelt geworden zu sein, die nur der ruhigen Bewegung des Morgenwindes folgt und sich wohlig im Projektionsstrahl der Sonne badet.
Die Pilzkolonie dicht vor ihm hat ihren Feuchtigkeitsglanz verloren, der glatte Schimmer ist verdampft, die Lamellen beginnen sich zu spreizen, die Hüte entfalten sich, recken ihren Kreis dem Licht und damit zugleich dem Ende ihrer Form entgegen. In wenigen Minuten werden die zarten Feuchtgewebe verdörrt sein.
Seinem Auge entgeht nicht die geringste Veränderung, er sieht jede Bewegung, sei es ein herabsinkendes Blatt oder der flüchtige Schatten eines schwingenden Astes.
Sein Blick ist geschärft wie der eines lauernden, hungrigen Raubtieres, das nicht nur sieht, sondern mit jeder Faser seines Körpers beteiligt ist, das alle seine Sinne zusammenballt und auf die Erwartung konzentriert.
Das Dickicht hat ihn aufgenommen. Die Oberfläche der Acrylfaserjacke saugt die stärker werdende Strahlung auf und beginnt sich braun zu verfärben, beginnt die Farbe anzunehmen, die den mächtigen Stamm an seiner rechten Seite überzieht. Der Baum und der geduckte Körper verschmelzen langsam zu einer einzigen Form.
Er liegt im Anschlag.
Der schwere Kolben seiner Präzisions-Automatic preßt sich an die Schulter, doch er ignoriert den Druck und läßt seinen Blick über die Waffe gleiten, die ihm die Richtung anzeigt. Das korrosionsbeständige Metall ist eingebettet in eine rauhe Kunststoffschicht, die das auftreffende Licht absorbiert. Selbst die grellen Strahlenspitzen der aufsteigenden Sonne können nicht reflektiert werden und seinen Standort verraten. Der olivfarbene Lauf ragt zwischen den Halmfontänen hindurch. Diese glatte Form gehört von Natur aus nicht in diese Landschaft. Sie ist ein Fremdkörper, und doch wird sie widerspruchslos geduldet, weil die Blätter, die Äste, das Moos, das Gras, der Boden, weil sie sich allesamt nicht wehren können gegen das Fremde, das sich glatt und konsequent dazwischen geschoben hat.
Aus dem Verschluß seiner Waffe dringt der feine, kaum wahrnehmbare Geruch von Maschinenöl. Es ist der erfolggewohnte Duft von Genauigkeit, Bereitschaft, von äußerster Konzentration auf das Ziel.
Er denkt an das Ziel und an seinen Auftrag, denn beide sind unlösbar miteinander verbunden. Er weiß nicht, der wievielte Auftrag dieser Art es ist, den er heute, gleich, jetzt, in diesem Moment erfüllen wird. Er hat sie nicht gezählt, die vielen Male, in denen sie Kontakt aufgenommen haben zu ihm.
Sie wechselten die Erscheinungsformen und Stimmen, schickten jedes Mal einen neuen Vertreter ihrer Interessen zu ihm, wählten jeweils andere Worte. Seine Auftraggeber haben sich nie wiederholt. Nur der Inhalt ihrer Botschaft war der gleiche. Wortlos wurde ihm der jeweilige Auftrag erteilt. Es bedurfte keiner mündlichen Details, denn die notwendigen Daten spiegelten sich in sein Gedächtnis ein.
Sie wechselten die Erscheinungsformen und die Stimmen, obwohl er sie weder gesehen noch gehört hat. Die wortlosen Stimmen, die unsichtbaren Gesten entstehen und vergehen in seinem Bewußtsein, während er die Augen geschlossen hält.
Jeder einzelne der zahlreichen Aufträge erreichte ihn auf die gleiche Weise. Er hat diese Form des Kontaktes widerspruchslos akzeptiert, denn er begreift sich nur als Teil eines größeren Zusammenhangs und sein Handeln nur als den Versuch, sich sinnvoll in das Geschehen einzubinden. Er ist letztlich ein Suchender, der sich von der Hoffnung ernährt, ein Ziel zu finden und es als sein eigenes Ziel zu erkennen.
Er ist Jäger.
Der Spannungsbogen, der sich in seinem Körper aufbaut, überwindet die räumlichen Grenzen, schlägt über in den Umraum und bindet ihn ein in die Landschaft, in die er sich duckt, die ihn deckt.
Seine Gedanken sind ebenso ruhig wie sein Körper. Er hat seine Grenzen verschoben, macht den Umraum zum Teil seines Körpers, indem er den Zustand annimmt. Jede kleinste Bewegung wird registriert. Er prüft die Bewegungen, die Geräusche, die Gerüche.
Es ist ein normaler Auftrag, der vor ihm liegt. Es ist ein reiner Routine-Job, der sich durch nichts von den anderen erfolgreichen Jobs unterscheiden wird. Er bläht seine Nasenflügel und schlürft bedächtig den klaren Geruch auf, in dessen voller Erdigkeit er die charakteristische Mischung aus Elasticöl und verbranntem Pulver wahrnimmt. Es ist der individuelle Geruch seiner Waffe.
Die S 69 liegt sicher in seinen Händen. Der Lauf weist in die Richtung, aus der er sein Ziel erwartet, während die fleischigen Blattbüschel an den Zweigen, den Ästen, den Bäumen über ihm desinteressiert in der ihnen eigenen, konzentrisch schlingernden Bewegung die Zeit überbrücken.
Die Automatic in seinen Händen ist in diesem besonderen Augenblick zu einem Teil seines Körpers geworden, und ihre tödliche Kraft ist ein Teil seiner eigenen Kraft. Die Haut hat die Präzision absorbiert, mit der das Projektil in die exakt zugewiesene Richtung geschleudert wird, um das Ziel zu treffen, um das Leben zu vernichten.
Seine pulsierende Haut fängt die Kälte des Metalls auf; es entsteht eine gemeinsame mittlere Temperatur in diesem Augenblick höchster Konzentration. Metall, Plastik, Fleisch und Blut sind miteinander verschmolzen zu einer einzigen Funktion, sind festgelegt, erfüllen den gemeinsamen Auftrag und werden ihrer Bestimmung gerecht, nämlich zu suchen, zu finden, zu fixieren und zu treffen.
Sein Blick gleitet weich durch die Blattfächer, die sich vor ihm verschränken, er streift über die stille Lichtung und tastet den Rand ab, der den niedrig bewachsenen Streifen säumt. Er ist weder erstaunt noch erregt, als er endlich den Schatten wahrnimmt, der sich vorsichtig aus dem Schutz des Dunkels löst. Er hat diese fremde Gestalt erwartet, die zögernd hervortritt, die unsicher ist, oder vorsichtig, oder mißtrauisch.
Der dichte, dunkelgrüne Pflanzenteppich, der die Lichtung dicht am Boden überzieht, verharrt träge und bewegungslos unter dem gelben Schräglicht der Sonne. Alles hält den Atem an.
Er erwartet sein Opfer.
Die Helligkeit streift über seinen geduckten Körper hinweg, er sieht mit dem Licht, der andere sieht gegen das Licht, das ist der besondere Vorteil seines Standortes, den er wohl überlegt hat.
Die S 69 ist auf ihr Ziel ausgerichtet. Er hält sie wie eine Geliebte in den Armen, und sie erwartet den Moment ihrer Bestimmung. Sein Finger krümmt sich um den Abzug, sein Auge sucht die Verbindung zwischen Kimme, Korn und Ziel. Die Gestalt erscheint als ein dunkler Fleck zwischen den Koordinaten, das Opfer wird zum Punkt im Fadenkreuz, sein Finger liegt am Druckpunkt.
Sein Atem stockt.
Er hat den entscheidenden Augenblick erreicht.
Als er den Abzug durchzieht, streckt sich die Z.E..I … T …
… irgend etwas ist anders …
… als der Zielpunkt aufblitzt …
… glaubt er sein Gesicht gesehen zu haben …
… im Spiegel der fernen Reflexion …
… spürt er den Schlag der Automatic …
… von vorn – gegen die Brust …
… und zugleich …
… von hinten – gegen den Rücken …
… als wäre das Projektil …
… der Krümmung der Erde gefolgt …
… hätte sie umrundet …
… und das Ziel …
… seiner rastlosen Suche …
… endlich …
… in seinen eigenen, ungestillten Erwartungen …
… gefunden …
… endlich …