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Pater Bensmiller stand links von der weitgeöffneten Tür und schaute zu. Er sah den Männern zu, die die pastellblauen Kacheln vom Boden rissen, deren Mörtel gerade getrocknet war. Er sah ihnen zu, wie sie schartige Krater in den neuen Beton schlugen und aus den Ruinen schlängelnde Kabel und Krümmungsrohre zogen, die Elektrizität und Wasser zu all den seltsamen Zaubereien trugen, die zu studieren er nie für nötig befunden hatte. Er sah zu, wie sie seine Kanzel aus dem Boden rissen und an ihre Stelle ein glitzerndes Mehrfachcomputerterminal einbauten, das den gleichen Strom verwendete, der bei einer zukünftigen Feier das Evangelium hätte beleuchten sollen.
Er nickte vor sich hin. Sie waren tüchtig, effizient. Wie Verrückte arbeiteten sie pausenlos rund um die Uhr. Sie nutzten jedes bißchen Platz in der Kirche aus. Jeder Quadratzoll unter der Kuppel wurde skizziert und einem sinnvollen und notwendigen Zweck zugeordnet.
Jedesmal wenn er zur Tür neben sich blickte, schien ein neuer Gabelstapler hereinzupoltern, voller Kisten und Kupferrohrrollen und Drahtspulen. Augenblicklich wurde der Gabelstapler entladen und verschwand, um nach einer Handvoll von Minuten wieder aufzutauchen und noch mehr Gerumpel herbeizuschleppen, das zu Füßen der Mutter Gottes abgelegt wurde.
Wer ist ihr Gott, Maria? Weiche Kraft treibt sie so sehr an?
Sogar Kreski war dabei, bis über beide Ellenbogen mit den Armen im Chaos. Er unterbrach sich oft, um Befehle zu geben, doch wenn er das nicht tat, kniete er wieder nieder und verlötete Kupfermuffen an einer Rohrleitung, die entlang der Stelle verlief, wo einmal der Mittelgang der Kirche hätte sein sollen. Die Flamme zischte sanft, sauber. Geschmolzene Bleitropfen fielen zu Boden und erkalteten. In diesem harten Gesicht war eine Angespanntheit, ein Drang, der geradezu beängstigend wirkte. Kreski lief vor etwas fort, das größer war als er selbst, obwohl doch jeder Eindruck, den er Bensmiller jemals vermittelt hatte, mit steifer Sicherheit behauptet hatte, daß es nichts auf dem Mond gab, das größer war als er.
Andere Männer waren damit beschäftigt, Skelettische aus perforiertem Magnesium zu verbolzen, auf die sie die Geräte für die hydroponischen Gartenkulturen stellten. Als der Gabelstapler mit den langen, schmalen, sargähnlichen Behältern ankam, aus denen winzige grüne Sprößlinge emporlugten, wurde die Arbeit unterbrochen. Vier Männer stellten sich neben der Einheit auf, legten ihre Hände sorgfältig unter den Behälter und hoben ihn mit maschinengleicher Präzision auf. Sie trugen ihn waagerecht, langsam, und als sie sich näherten, traten die anderen Arbeiter zurück. Erst als die Kultur auf ihrem Gerüst stand und fest verschraubt worden war, nahmen die Schweißer wieder ihre Brenner auf, und die Elektriker griffen wieder zu ihren Zangen. Reihe um Reihe wurde die Kirche von vorn bis hinten mit den Kultureinheiten gefüllt, die voneinander durch den von der Leitung durchzogenen Mittelgang getrennt wurden.
Wie Tiere krochen Männer unter dem Rattennest von Magnesiumträgern herum, zogen Plastikrohre und vielfarbige Kabel hinter sich her. Das Klinken und Kratzen und Kreischen und Pochen der Kabel und Rohre verlor sich in einem hastigen und unruhigen Flüstern, das die Kuppel ausfüllte und an Bensmillers Ohren vorbeihallte, bis er dagegen anschreien wollte. Der Gestank von Schweiß und Ammoniak machte die Blasphemie greifbar, die sonst nur halb wahrzunehmen gewesen wäre. Er hätte um Trost aus der Kuppel hinaus in die ruhige, sterile Öde geblickt, doch dort waren kriechende Kräne und hüpfende Teufel in Metallanzügen dabei, neue Stromleitungen zu legen und ein neues Fusionskraftwerk in seinem erst gestern gegossenen Fundament zu verankern. Die Blasphemie war überall. Sie zwangen ihn dazu, sich in ihr zu suhlen, und er war dabei zu ertrinken.
Entlang der Wand hingen die schmalen Aluminiumleitungen, durch die bald die Luft von Pumpen, die unter dem Boden installiert waren, befördert werden würde. Alles paßte so schnell zusammen, so logisch. Es schien beinahe so, als ob die Männer in der Kuppel die Träger und Leitungen einfach nur zusammenwerfen würden. Alles paßte auf Anhieb ganz genau, schon beim ersten Versuch. Es schien überhaupt keine Mühe zu bereiten. Und doch sah Bensmiller den schmierigen Schweiß, der von ihren Gesichtern strömte, und roch ihn. Er sah die angestrengten Grimassen, die angespannten Kiefer.
Diese Arbeit … ist ihnen wichtig. Segne ihr Tun, Maria.
Schließlich blieb nur noch ein einziger Ort übrig, wo noch eine Garteneinheit eingebaut werden konnte und sich Rohre und Kabel überall in der Nähe befanden. Hastig eilte Bensmiller davon; er wollte es nicht mitansehen, wie der Altar Gottes in die gluckernden Maschinen eingestöpselt wurde.
Das Begräbnis von Odner und Beckwith fand in Schleuse Eins statt, der größten Schleuse und dem einzigen Raum, der groß genug war, um es der gesamten Stationsbesatzung zu gestatten, sich vollzählig zu versammeln. Monahan war anwesend, auf einem Chirurgiewagen, der an die medizinischen Monitoren angeschlossen war. Kurz danach brachte eine Rakete Odner zurück in die Arme der Erde, während Beckwith auf Wunsch seiner Frau auf dem Mond beerdigt wurde. Bensmiller sah zu, wie der Sarg durch eine Luke im Staub verschwand, dann flüchtete er durch die eisernen Hallengänge der Station Grissom, vorbei an Anschlagbrettern und Graffiti, um die allgegenwärtigen Maschinen herum an den einzigen Ort, wo er Geborgenheit finden konnte.
Die Plakette war abgenommen worden. Im Inneren gab es nichts als das beständige, mechanische Surren vollautomatischer Tätigkeit; die H-Kulturmannschaft hielt sich noch in der Schleuse auf. Bensmiller schreckte zunächst zurück, als er das vollendete Gewächshaus erblickte, doch dann schlüpfte er geschmeidig zwischen den schwarzen Särgen voll keimenden Lebens hindurch zu den nun merkwürdig einladenden Armen der Mutter Gottes. Menschen leben, und Menschen sterben. Der Priester vermittelt zwischen dem Leben und dem Tod. Leben kommt von Gott und kehrt zu Gott zurück. Etwas in ihm brannte bei dem Gedanken, daß dieser Weg umgebogen wurde, daß das Leben mit dem Tod, das Wachstum mit dem Zerfall, das Atmen mit dem Ersticken ernährt wurde. Wo paßte Gott in einen solchen geschlossenen Regelkreis hinein? Er berührte eines der leuchtenden grünen Blätter. Er verstand das nicht. Wenn Gott nicht hineinpaßte, dann galt dies auch für einen Priester, wenn er sich nicht selbst an die Maschinen verkaufte und sich um ihre Bedürfnisse kümmerte, während das Leben seinen eigenen Schwanz vertilgte.
„Gebenedeite Mutter, von einem Radieschenbeet verdrängt! Gott helfe uns!“ Er wollte zu der Jungfrau hinaufblicken, Kraft von ihr erhalten, aber er konnte es nicht.
Bensmiller beugte sich hinab und schnüffelte an dem Teppich dicht gepflanzter Blätter. Die Luft dort schien frischer zu sein. Oder war das nur eine Erinnerung?
Er schritt von den Garteneinheiten fort und begab sich an die Stelle, wo die Kanzel gestanden hatte. Das Computerterminal gab ein sanftes, summendes Geräusch von sich, während es die Funktionen all der Maschinen regulierte. Bensmiller lachte bitter in sich hinein. Sie haben mich entwurzelt und an meiner Stelle eine Maschine eingepflanzt, dachte er. An diesem Ort, mit einer solchen Gemeinde war es wohl auch das Beste. Er legte die Hände an beide Seiten des Terminalkontrollpults. Tränen, die er zu bekämpfen sich weigerte, schossen hervor und befingerten die liebesmüden Seiten seiner Erinnerung.
„Das Evangelium nach dem Heiligen Lukas“, sagte er und blickte auf die schweigenden grünen Reihen. „Hört das Wort Gottes, ihr verdammten Radieschen!“
Zwei Tage lang mied Pater Bensmiller Chamblen und blieb mit seinen Gedanken allein. Immer und immer wieder ging ihm das Dilemma durch den Kopf, während er die endlosen Reihen der Rattenkäfige säuberte und zu den Hunden mit den traurigen Augen sprach, die ihn hinter ihren feinmaschigen Netzgittern anwedelten. Er wollte kämpfen und seine Fahne auf die Seite des Lebens stellen, doch so sehr er sich auch umschaute, war es ihm doch unmöglich, die Gefechtslinien auszumachen. Die Menschen liefen durch die leeren Öden mit Körperfunktionsmonitoren, die ständig mit den Maschinen schwatzten, und fühlten sich dadurch sicherer. Es war schwer für ihn, das zu glauben. Die armen Hunde waren zu dumm, um die Elektroden zu verstehen, die an ihren Schädeln und Flanken mit Klebeband befestigt waren. Sie wedelten, wann immer er ihnen seine Hand entbot. Das Glück bestand lediglich aus einer weiteren Schüssel Panzerplatten-Kekse. Er beobachtete Männer dabei, wie sie damit prahlten, wie empfindlich ihre Monitoren seien und wie vollkommen die Maschinen ihr Wohlergehen bewachten. Ohne zu beten fragte er sich, ob die Menschen jemals wieder ohne sie leben könnten. Nichts in seinen Büchern gab ihm darauf auch nur die Spur einer Antwort, nein, ließ nicht einmal die Frage zu.
Kurz nach dem Abendessensignal für die B-Schicht weckte der Summer Pater Bensmiller aus einem unruhigen Schlaf. Er richtete seine Pritsche und drückte die Türklinke hinunter. Vor dem luftdichten Türrahmen befand sich ein lächelnder Mann in einem Rollstuhl.
„Tut mir leid, daß ich nicht hineinkommen kann, Pater“, sagte Monahan. „Aber meine Räder schaffen es nicht durch Ihre Tür. Aber ich wollte trotzdem vorbeikommen und Ihnen danken.“
Bensmiller lächelte. Seine Augen brannten ein wenig.
„Sind Sie sicher, daß Sie jetzt schon aufsein und herumfahren sollten?“
Monahan lachte und klopfte leicht auf den bedeckten Stumpen, der genau über seinem linken Knie endete. „Dazu gehört mehr als ein fehlendes Bein, um mich festzuhalten. Bei einem Sechstel g heilen Leute ziemlich schnell. Wenn ich Glück habe, dann kann ich nächste Woche schon auf Krücken gehen.“
Das lächelnde Gesicht, das ihn durch eine weitgeöffnete, luftdichte Tür anblickte, bewegte ihn einen langen Augenblick entsetzlich. „Ich wüßte nicht, warum Sie mir danken sollten.“
„Kreski hat mir gesagt, daß Sie versucht haben, mir die Sterbesakramente zu spenden.“
„Ich verstehe.“
„Gehört Mut dazu, sich mit diesem alten Schraubenschlüssel anzulegen.“
„Er wollte nur Ihr Bestes.“
„Klar.“ Monahan grinste säuerlich. „Ist zwar die Hölle, mit ihm klarkommen zu müssen, aber er versteht sein Fach. Wie ich schon sagte, danke. Auch weil ich glaube, daß Sie Glück bringen.“
„Wie?“ Bensmiller war verblüfft.
„Klar. Ich und ein paar andere Typen aus der H-Kultur haben es entdeckt. Reverend Chamblen war sechs Monate lang vor ihnen da, und keiner hat viel von einer Kirche geredet. Aber als Sie dann gekommen sind, wurde sie sofort gebaut, und als sie fertig ist – wenn auch noch nicht soweit fertig, daß sie schon geweiht worden wäre und so –, da fliegt mein Gewächshaus in die Luft. Die Kirche war fertig und wartete darauf, daß wir dort einziehen sollten.“
„Aber …“ Bensmiller war erstaunt. Der Mann redete so, als sei die Zerstörung einer Kirche ein Gottessegen.
„Sechzig Stunden, von der völligen Zerstörung bis zur vollständigen Inbetriebnahme, in einer Kuppel, die nie für lebenswichtige Funktionen konstruiert worden war. Das nenne ich doch ein ziemliches Wunder. Das kann ich noch meinen Kindern erzählen.“
„Aber ich verstehe nicht, weshalb …“
„Es war nicht leicht“, sagte Monahan in ernsthafterem Ton. „Glauben Sie mir, es war eine verdammte Plackerei.“
Amen.
„Nein, ernsthaft, Pater, ich und die anderen Jungs, wir haben darüber nachgedacht und festgestellt, daß Sie uns ziemlich viel Glück gebracht haben. Wenn sie nicht noch eine Kuppel besessen hätten, dann wäre überhaupt kein Spielraum für Notfälle mehr geblieben. Das hätte Houston gar nicht gefallen. Sie hätten eine Anordnung Nummer Fünf herausgeben können.“
Anordnung Nummer Fünf. Sofort evakuieren. Das Ende von Station Grissom. Bensmiller schüttelte verwundert den Kopf. „Ich wußte nie, daß es so ernst war.“
Monahan pfiff durch die Zähne. „Jetzt nicht mehr, aber eine Weile lang stand alles auf des Messers Schneide. Und wenn das Projekt abgeblasen worden wäre, dann wäre mir das Herz gebrochen. Die Reise nach Hause wäre für mich eine Reise ohne Wiederkehr gewesen. Einbeinige Männer sind nicht besonders gefragt als Flug- oder Stationspersonal. Es hat also gar nicht ein so schlechtes Ende gefunden. Außer für Sie, nehme ich an.“
„Na ja, ich …“
„Sie fühlen sich wahrscheinlich wie ein Hund, den man aus seiner Hütte verjagt hat, um sie als Hühnerstall benutzen zu können. Das muß natürlich ein bißchen weh tun, aber ich schätze, daß Gott leichter verzeiht als die Natur. Na ja, jedenfalls war es nicht fair, daß man Sie einfach so hinausgeworfen hat, ohne eine Ausweichmöglichkeit, also habe ich Kreski ein bißchen bekniet und den Platz in der Lagerkuppel verlangt, wo all die Ersatzteile für das neue Gewächshaus aufbewahrt wurden. Da ist jetzt ein ziemliches Loch. Na, und dann haben die anderen Kumpels von der H-Kultur eine Sonderschicht gefahren, haben das Kruzifix und ein paar Kirchenbänke ausgepackt und Ihnen eine Kirche gemacht.“
„Kreski hat Ihnen das gestattet.“ Es war eine Feststellung voller Ungläubigkeit.
„Wir haben gedroht, die Panzerplatten-Kekse purpurn zu färben. Es ist sein Lieblingsessen, und Purpur ist die Farbe, die er am wenigsten ausstehen kann. Da haben wir bekommen, was wir wollten.“
„Dann muß ich mich bedanken. Ich meine …“
„Nein. Halten Sie nur eine Messe für uns ab. Wir möchten ein bißchen unseren Dank abstatten. Wann?“
„Morgen früh. 09.00.“
„Danke, Pater. Sie sind ganz schön zäh, wissen Sie das?“
„Nein. Aber wenn Sie das sagen, glaube ich Ihnen. Passen Sie auf sich auf.“ Die Tür schwang zu, als der Mann fortrollte.