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„Das kann er nicht machen.“
Chamblen scharrte mit den Füßen und blickte zu Boden. „Er kann es. Es tut mir leid, Tom, aber er kann es.“
Bensmiller lehnte sich an das Gerüst, das die Statue der Mutter Gottes schützte, und blickte sich wütend in der Kirche um. Es gab noch keine Bänke, aber die Bänke sollten sowieso als letztes kommen. Alle Statuen standen an ihrem Ort und waren im Augenblick unverhüllt von den verborgenen Vorhängen, die die Kirche auf Knopfdruck in Einklang mit der lutheranischen Doktrin über Heiligenbilder bringen konnten. Es gab eine Kanzel, streng und schlicht. Nur die Bänke und das große Kreuz befanden sich noch in der Lagerkuppel und warteten darauf, bald ausgepackt und installiert zu werden.
Maria blickte auf den Priester und den Prediger herab, mit warmem, seltsamen Kartenhailächeln.
„Das hier gehört ihm nicht. Es ist von der Kirche bezahlt worden. Von Ihrer Kirche und meiner Kirche und einer Reihe anderer Kirchen. Was ist mit den anderen Geistlichen, die uns nachkommen sollten, wenn dies hier alles fertig ist? Was gibt ihm das Recht dazu?“
Der Reverend Arthur Chamblen zuckte mit den Augen und machte eine Geste, die Offensichtlichkeit andeuten sollte. „Klausel 70. Das ist alles, was er braucht.“
Thomas Bensmiller verspannte sich innerlich und blickte über Marias ausgebreitete Arme hinweg in die Unendlichkeit. Er saß in einem Gebiet fest, das eine drittel Million Kilometer tief war und so hoch wie der unendliche Himmel. In seiner Hand hielt er die Direktive.
AN: MONDMISSION ÖKUMENISCHER RAT, REVS. CHAMBLEN & BENSMILLER
VON: BÜRO DER KOMMANDANTUR
VERORDNUNG: AB NEUNZEHNTEN MAI 2029 TRITT KLAUSEL 70 IN KRAFT. GEWÄCHSHAUS VIER WIRD AUF UNBEGRENZTE ZEIT IN PARZELLE EW9D NEUERRICHTET. SÄMTLICHE NICHT ZUM GEBÄUDE GEHÖRIGEN GEGENSTÄNDE SIND SOFORT ZU BESEITIGEN.
„Nicht einmal mein eigenes ‚Rev’ hat er mir zugestanden. Nicht zu fassen!“
Chamblen nahm die Direktive wieder entgegen, faltete sie säuberlich zusammen und verstaute sie in aller Ruhe in einer Jackentasche. Bensmiller mochte ihm nicht in die Augen sehen. Wie immer waren sie zu blau, zu gefaßt, zu sehr im Einklang mit dem Unvermeidlichen.
Bensmiller wollte kämpfen. „Das war keine kleine Katastrophe. Es sind Menschen dabei umgekommen. Warum nimmt er sich nicht dieser Station so an, wie es das Beste wäre? Warum läßt er nicht eine neue Kuppel hierher transportieren?“
Chamblen grinste. „Das würde die Steuerzahler fünfzig Millionen Dollar kosten. Es müßte erst durch die Legislative abgesegnet werden. Das braucht Zeit, Monate.“
Bensmiller wand sich aus Chamblens immer-logischem Hammergriff und schritt mit gesenktem Blick zur Kanzel. Auf halber Strecke blickte er sich um. „Dann warten wir eben. Müssen wir deswegen etwa sterben? Die beiden anderen haben sie doch repariert. Bedeutet eine zerstörte Kuppel gleich den Untergang? Ich hätte gedacht, daß sie dieses Projekt ein wenig besser durchdacht hätten.“
Chamblen nickte. „Das haben sie auch. Sterben werden wir nicht.“
„Warum kann ich dann nicht meine Kirche behalten?“ Bensmiller versuchte, so fest und entschieden zu klingen, wie es Chamblen, Kreski und all die anderen immer taten. Aber ein Gespenst in den Augen des hochgewachsenen Predigers kehrte immer wieder zurück, um ihm den Boden unter den Füßen fortzureißen, seine schwächlichen Einwände zunichte zu machen. Chamblen hatte immer eine Antwort. Kreski hatte immer eine Antwort. Jeder hatte immer eine Antwort. Alle außer Thomas Bensmiller, der nur ein Priester war.
Chamblen lehnte sich an das Gerüst zurück und legte einen Finger an die Wange, als wollte er einen Juckreiz abfangen, sofern ein solcher auftreten sollte. „Ich bin sicher, daß Sie mehr oder weniger wissen, was in diesen Kuppeln vorgeht. Sie bauen dort eine gewisse Pflanze an, in intensiver Lichtbestrahlung auf einem Nährboden. Diese Pflanze ist sozusagen maßgeschneidert, ich würde sie als hyperthyroid bezeichnen. Sie wächst wie wild, saugt Nährstoffe auf wie wild und photosynthetisiert wie wild. Ihre CO2/O2-Umwandlungsrate ist unglaublich. Außerdem schmeckt sie einigermaßen gut.“ Chamblen grinste. „Sie wissen schon, diese armeegrünen ‚Panzerplatten-Kekse’. Es ist das gleiche Zeug.“
Der Juckreiz kam, und Chamblen kratzte sich. Er legte die Hand wieder an das Gerüst. Bensmiller ließ den Vorgang träge in seinem Geist ablaufen und versuchte, sich an die Dynamik eines Systems zu erinnern, das zu verstehen er kaum die notwendigen Voraussetzungen besaß. „Es gibt zehn Kuppeln. Jetzt sind es neun. Machen zehn Prozent soviel aus?“
„Kommt drauf an, Tom, kommt drauf an. Wir könnten die Sache jetzt auf sich beruhen lassen und weitermachen wie bisher, mit neun Kuppeln. Es würde ein bißchen stickiger werden, und wir hätten vielleicht ein bißchen weniger zu essen. Aber wenn dann noch eine Kuppel ausfallen sollte, dann wären wir in ganz ganz bösen Schwierigkeiten.“
„Es ist noch nie passiert.“ Bensmiller blieb eisern und hoffte, daß man es ihm auch ansah. „Ich glaube nicht, daß es noch mal vorkommt.“
Der Prediger schüttelte den Kopf. „Man muß immer mit dem Unvorhergesehenen rechnen. Es kann einen umbringen. Verstehen Sie, Tom, ich gebe nicht einfach nur auf. Es ist ein Schlag, ich weiß. Aber wir sind nicht schlechter dran als vorher. Ehrlich, wissen Sie, warum sie diese Kirche hier gebaut haben und Sie hergeschickt haben?“
Die Worte waren leicht zu finden. „Um es dem Evangelium zu ermöglichen, dem Menschen zu folgen, während er das Weltall erobert.“
Chamblen lachte glucksend. „Direkt aus einem der Pamphlete von Monsignore Garif. Ich kenne Garif. Er ist ein gerissener Taktiker. Er war es, der wie wahnsinnig Druck ausgeübt hat, damit hier oben eine Kirche errichtet werden konnte, und er hat Sie als katholischen Kaplan durchgeboxt. Sie sind ein alter Freund von ihm.“
„Ja, aber …“
„Und das ist alles reinste PR-Arbeit. Die Wahrheit ist doch, daß die katholische Kirche auf der Erde eine verlorene Schlacht kämpft und daß Garif hier einen Brückenkopf der Orthodoxie errichten will, als Ausgangsbasis für eine weitere Ausbreitung der Kirche, sobald wir über das Erde-Mond-System hinausgelangen. Sie sind so orthodox wie nur irgendwer, und Sie halten große Stücke auf Garif. Was hätte er Ihrer Meinung nach denn sonst tun sollen?“
Bensmiller gestattete sich ausnahmsweise einmal ein Lächeln. „Für einen Prediger des Herrn sind Sie doch ein wenig zynisch.“
„Nein. Ich passe mich nur meiner Umwelt an. Dies hier ist ein Ort der klaren Vernunft, von vernünftig denkenden Leuten bevölkert. Für das Überflüssige gibt es hier keinen Platz. Nachdem ich einige Zeit darüber nachgedacht habe, bin ich immer noch nicht der Ansicht, daß wir hier oben überhaupt eine Kirche brauchen.“
„Es erstaunt mich, daß Sie sich nicht selbst für überflüssig erklärt haben und aus der Luftschleuse springen. Ich hoffe doch sehr, daß Sie immerhin an Gott glauben.“
„Das tue ich.“ Chamblen nickte. „Gott ist für mich ein liebender Vater, der sich einmal sehr um seine neugeborenen Söhne gekümmert hat, aber jetzt, nachdem sie der Wiege entwachsen sind, von ihnen erwartet, daß sie mehr auf sich selbst gestellt zurechtkommen.“
Bensmiller weigerte sich, den Prediger anzusehen. „Es tut mir leid, daß wir Gott nicht auf dieselbe Weise sehen.“
Chamblen stand auf und schritt zur Tür. Er hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als er im Sternenlicht stehenblieb und an den Manschetten seines schwarzen Hemds zupfte, dessen Kragen geöffnet war und das an den Achseln von der Feuchtigkeit noch schwärzer gefärbt war. „Tom, sehen Sie es doch einmal so: Sie würden doch niemals ihren letzten Cent für ihre Herumtreiber ausgeben, oder?“
Bensmiller ignorierte ihn.
„Nun, Sie verlangen aber von Kreski, daß er hier oben unseren letzten Cent verschleudert. Es tut mir leid, es tut mir schrecklich leid, aber diesmal bin ich auf seiner Seite.“ Er schritt den Rest des Weges in den Schatten hinein und packte den Türgriff. „Ich werde unsere beweglichen Gegenstände entfernen. Treten Sie mal eine Weile etwas kürzer. Sie müssen damit klarkommen, Tom.“
Mit feierlicher Langsamkeit ging die Tür hinter ihm zu. Bensmiller und die Mutter Gottes waren allein in der Beinahe-Kirche. Er blickte weiterhin zornig die Wände an und wollte nicht wieder ihrem Lächeln begegnen und den Schmerz empfinden, daß er nicht wußte, was er eigentlich nicht wußte.
Was ist dein As, Mutter? Spiel es aus, bitte!