Hans-Die­ter Marx
Cola mit Schuß

Es war ein selt­sa­mer Zu­fall, der Frank Mel­ro­se die tod­si­che­re Chan­ce zur Ver­wirk­li­chung bür­ger­lich-mo­ra­lisch höchst ver­werf­li­cher, sei­nem ei­ge­nen Wohl­be­fin­den je­doch äu­ßerst zu­träg­li­cher Plä­ne of­fen­bar­te. Wenn man zwölf Jah­re sei­nes Le­bens im Knast ver­bracht hat, er­greift man die erst­bes­te Ge­le­gen­heit, um we­nigs­tens noch et­was da­von zu er­ha­schen, was ei­nem das miß­güns­ti­ge Schick­sal so lan­ge vor­ent­hal­ten hat. Al­ler­dings ist zu oft dann die er­faß­te Ge­le­gen­heit so win­dig, daß man bald wie­der dort sitzt, wo man her­ge­kom­men ist – hin­ter Schloß und Rie­gel.

Für Frank Mel­ro­se je­doch schi­en sich ei­ne Mög­lich­keit zu of­fen­ba­ren, die ihm in der Tat ei­ne sor­gen­freie Zu­kunft ga­ran­tie­ren konn­te.

Aber den Er­eig­nis­sen soll hier nicht vor­ge­grif­fen wer­den.

Zu­nächst stell­te sich auch für ihn, als er sein ers­tes Bier in der Knei­pe ge­gen­über der Straf­an­stalt hin­un­ter­schüt­te­te, die Welt ziem­lich trost­los dar. Sei­ne bes­ten Freun­de sa­ßen al­le noch, und Fa­mi­lie hat­te er kei­ne mehr.

Er wür­de na­tür­lich ver­su­chen, ei­ni­ge der al­ten Ver­bin­dun­gen wie­der­auf­zu­neh­men. Aber er war sich nicht so si­cher, ob man ihn über­all mit of­fe­nen Ar­men emp­fan­gen wür­de. Noch wa­ren längst nicht al­le Rech­nun­gen be­gli­chen.

Frank hat­te das vier­zigs­te Le­bens­jahr ge­ra­de über­schrit­ten. Er war von mit­tel­großer Sta­tur, hat­te schüt­teres, dun­kel­blon­des Haar und ei­ne blas­se Ge­sichts­far­be, die mit sei­ner au­gen­blick­li­chen Her­kunft zu­sam­men­hing. Er trug ei­ne bil­li­ge Tre­vi­ra­kom­bi­na­ti­on, be­ste­hend aus ei­ner hell­grau­en Ho­se und ei­nem dun­kelblau­en Jackett. Ne­ben sei­nem Stuhl hat­te er einen klei­nen brau­nen Kof­fer ab­ge­stellt, der sei­ne we­ni­gen Hab­se­lig­kei­ten ent­hielt.

Es war zehn Uhr mor­gens, und er war der ein­zi­ge Gast in dem dämm­ri­gen Lo­kal. Der Wirt brach­te ihm ein neu­es Bier und setz­te sich ne­ben ihn.

„Du kommst von drü­ben?“

Der Wirt nick­te zur An­stalt hin­über. Frank zog an sei­ner Zi­ga­ret­te und schwieg.

„Hast du schon was, wo du hin­gehst? Ich hätt’ hier ’n paar Adres­sen. Sind Freun­de von mir. Die wür­den so ei­nem wie dir wei­ter­hel­fen. – Na ja, für die ei­ne oder an­de­re klei­ne Ge­fäl­lig­keit.“

„Für Ge­fäl­lig­kei­ten hab ich zwölf Jah­re ge­ses­sen. Weil ich aus Ge­fäl­lig­keit das Maul ge­hal­ten hab!“

Frank schüt­tel­te ab­leh­nend den Kopf.

„Bist schwer sau­er, was?“ Der Wirt grins­te. „Bist du übers Ohr ge­hau­en wor­den? Bei mei­nen Freun­den ist so was nicht drin, klar!?“

Er stand auf, trat hin­ter die The­ke und zapf­te sich selbst ein Glas.

„Ich bin dir ehr­lich ger­ne be­hilf­lich. Wenn du kein’ hast, stehst du hier drau­ßen doch echt aufm Schlauch. Und dann bist du so und so bald wie­der drin.“

Frank ging hin­über zum Au­to­ma­ten, wo er sich ei­ne wei­te­re Schach­tel Zi­ga­ret­ten zog. Dann kam er zum Tisch zu­rück und setz­te sich wie­der. Der Wirt bot ihm Feu­er an.

Nach ein paar tie­fen Zü­gen frag­te er:

„Du weißt al­so was für mich?“

Der Wirt schlug ihm auf die Schul­tern.

„Ich wüßt’ schon was! Du kannst dich so­gar erst mal er­ho­len und an die Luft hier drau­ßen ge­wöh­nen. Es gibt Be­din­gun­gen. Aber die er­fährst du. Und – auf mei­ne Freun­de kannst du dich ver­las­sen!“

Ei­ne Stun­de spä­ter stand Frank vor ei­nem al­ten fünf­stö­cki­gen Haus im Bahn­hofs­vier­tel und stu­dier­te die Na­mens­schil­der ne­ben den Klin­gel­knöp­fen.

Be­vor er läu­te­te, ver­such­te er die Haus­tür. Sie war nur an­ge­lehnt.

Er stieg zum vier­ten Stock em­por und blieb vor ei­ner Tür mit Rauhglas­schei­ben ste­hen, durch die ein Licht­schein aus dem In­nern der Woh­nung in das düs­te­re Trep­pen­haus fiel.

Er läu­te­te. Aber zu­nächst tat sich nichts, so daß er sei­nen Ver­such wie­der­hol­te. Dann hör­te er, wie drin­nen je­mand um­her­ging. Doch es dau­er­te noch meh­re­re Mi­nu­ten, be­vor die Tür ge­öff­net wur­de. Ei­ne ver­schla­fe­ne Brü­net­te im Mor­gen­rock starr­te ihm miß­mu­tig ent­ge­gen.

„Der Wirt von der ‚Letz­ten Zu­flucht’ schickt mich her.“

„Komm rein!“

Sie öff­ne­te die Tür wei­ter, oh­ne daß je­doch ihr Ge­sichts­aus­druck freund­li­cher wur­de.

Frank trat in ei­ne üp­pig aus­ge­stat­te­te Die­le. Ein dun­kel­ro­ter Tep­pich, hell­blaue Ta­pe­ten mit Gold­mus­ter und rie­si­ge Spie­gel er­zeug­ten ei­ne recht schwü­le At­mo­sphä­re. Meh­re­re ge­schlos­se­ne Tü­ren ver­teil­ten sich links und rechts des Gan­ges. Im Hin­ter­grund stand ei­ne halb of­fen.

„Leo Schatz, da ist Be­such für dich“, rief die Brü­net­te.

Aus dem of­fen­ste­hen­den Zim­mer kam das Ge­brum­mel ei­ner männ­li­chen Stim­me.

„Komm mit!“ for­der­te das Mäd­chen Frank auf.

Er hat­te sei­nen Kof­fer ab­ge­stellt und folg­te ihr un­si­cher. Der Raum, den sie be­tra­ten, ent­hielt nichts wei­ter als ein rie­si­ges run­des Bett, einen Fern­seh­ap­pa­rat und ei­ne Ste­reo­an­la­ge mit ge­wal­tig di­men­sio­nier­ten Laut­spre­chern un­ter der De­cke.

Zwi­schen Kis­sen und zer­wühl­ten La­ken ent­deck­te Frank ei­ne nack­te männ­li­che Ge­stalt, die al­ler­dings im Au­gen­blick nicht be­reit schi­en, sich mit ihm ab­zu­ge­ben. Das Mäd­chen warf den Ba­de­man­tel von sich und ver­kroch sich un­ter die Bett­de­cke. Frank ver­spür­te ein tro­ckenes Krat­zen im Hals.

Schließ­lich dreh­te der Mann sich auf den Rücken und starr­te ihn an.

„Scheiß­kerl!“ war sein we­nig freund­li­cher Gruß. Das Mäd­chen sag­te nichts.

„Ich hau ab und komm spä­ter wie­der.“ Ei­ne Ent­schul­di­gung fiel Frank nicht ein.

Der Mann an­gel­te sich ein Päck­chen Zi­ga­ret­ten vom Bo­den.

„Jetzt scheiß dir nicht ins Hemd! To­ni schickt dich her? Kommst du von drin­nen?“

„Du wür­dest mir hel­fen!“

„Hat er dir die Be­din­gun­gen er­klärt?“

„Un­ge­fähr. Aber ich brauch erst mal ’n paar Ta­ge Zeit.“

Der Mann gähn­te un­ver­hoh­len.

„Okay! Jo, Ba­by, zeig ihm sein Zim­mer! Aber bleib nicht so lan­ge!“

Ei­ne Stun­de spä­ter – Frank hat­te sei­ne we­ni­gen Hab­se­lig­kei­ten im Schrank ver­staut und auf dem Bett lie­gend ein paar Zi­ga­ret­ten mehr ge­raucht – klopf­te es kurz, und Leo trat ins Zim­mer. Er war jetzt frisch ra­siert und aus­ge­spro­chen ele­gant ge­klei­det. Ei­ne Spur zu auf­fäl­lig, fand Frank.

Leo lehn­te sich an den Tür­rah­men.

„Wes­halb warst du drin?“

Frank drück­te sei­ne Zi­ga­ret­te im Aschen­be­cher aus und setz­te sich auf.

„Weil mich je­mand hoch­ge­hen ließ.“

„Du weißt, wer’s war?“

„Klar!“

„Und?“

„Da ist nix mehr ‚und’. Den hat’s kurz dar­auf er­wi­scht. Für im­mer!“

„Zwölf Jah­re sind ein Hau­fen Zeug!?“

„Da war ’n Nacht­wäch­ter!“

„Du hast ihn …?“

„Ich hab’s erst hin­ter­her er­fah­ren. Um­le­gen wollt ich ihn nicht. Ehr­lich!“

„Wie vie­le wart ihr?“

„Drei.“

Leo ging zum Fens­ter und ließ sich dort in einen der tie­fen Plüsch­ses­sel fal­len.

Das Zim­mer wies ei­ne recht kom­for­ta­ble Ein­rich­tung auf. Der Brei­te des Bet­tes nach zu ur­tei­len war es nor­ma­ler­wei­se nicht nur für ei­ne Per­son als Nacht­quar­tier ge­dacht.

„Wer war noch drin?“

Leo schi­en wirk­lich sehr in­ter­es­siert.

„Nur ich! Ich hab kei­nen ver­pfif­fen! Nicht mal, als die Säue mich ha­ben hän­gen las­sen.“

Frank zün­de­te sich er­neut ei­ne Zi­ga­ret­te an. Er rauch­te nicht aus Ner­vo­si­tät, son­dern weil er es ge­noß, es sich zum ers­ten Mal wie­der rich­tig leis­ten zu kön­nen.

Leo be­ob­ach­te­te ihn auf­merk­sam.

„Du hast von de­nen noch was zu krie­gen?!“

„Klar!“ Frank in­ha­lier­te den Rauch tief. „Drei­ßig Mil­le min­des­tens.“

„Wann holst du dir’s?“

„Im Au­gen­blick weiß ich noch nicht, wie ich dran­kom­men kann. Der ei­ne ist ja nicht mehr. Und der an­de­re sitzt jetzt we­gen ’ner Sa­che, die spä­ter ge­lau­fen ist. Fünf Jah­re hat er, glau­be ich, noch.“

„Schö­ne Schei­ße, was?!“

Leo brach­te es fer­tig, rich­tig teil­nahms­voll aus­zu­se­hen. Frank über­ging sei­nen Kom­men­tar.

Das Mäd­chen, das Jo hieß, trat ins Zim­mer. Sie trug noch im­mer den Mor­gen­man­tel, war jetzt aber frisch ge­schminkt und hat­te ihr Haar fri­siert. Sie brach­te ei­ne Fla­sche Whis­ky und drei Glä­ser mit.

„Du hast recht, Ba­by!“ stimm­te Leo zu, „laß uns Frank hel­fen, sei­nen Schick­sals­schlag zu ver­dau­en!“

„Steigt er bei uns ein?“ frag­te Jo.

„Ich hab mich noch nicht er­kun­digt. Aber so wie es aus­sieht, bleibt ihm wohl gar kei­ne an­de­re Wahl.“

Leo schenk­te in je­des Glas zwei Fin­ger breit Whis­ky ein.

„Ja, mein Jun­ge, wir bie­ten dir die Chan­ce dei­nes Le­bens. Dein Na­me ist im­mer noch gut, das weiß ich be­reits. Dei­ne Ta­len­te sol­len nicht un­ge­nutzt ver­küm­mern.“

Da­mit hob er sein Glas und pros­te­te den bei­den an­de­ren zu.

Zwei Stun­den spä­ter war Frank in den voll­stän­di­gen Plan ein­ge­weiht. Der klang wirk­lich sehr viel­ver­spre­chend. Und es soll­te ei­ne glat­te Mil­li­on da­bei her­aus­sprin­gen, die durch fünf zu tei­len war.

Der Form hal­ber bat er sich Be­denk­zeit aus. Im Grun­de war er längst da­zu ent­schlos­sen, sich an der Sa­che zu be­tei­li­gen. Und er hat­te auch durch­aus die Ab­sicht, ein ehr­li­ches Spiel zu spie­len – wie man es in sei­nen Krei­sen von ihm ge­wohnt war.

Zu die­sem Zeit­punkt al­ler­dings ahn­te er noch nicht, daß ihm noch am sel­ben Tag ei­ne Mög­lich­keit vor Au­gen ge­führt wer­den wür­de, die sehr schnell sei­ne lau­te­ren Ab­sich­ten in Fra­ge stell­te.

Leo hat­te ihm einen Wa­gen be­sorgt, mit dem er sich am spä­ten Nach­mit­tag im Fei­er­abend­ver­kehr aus der Stadt her­aus­trei­ben ließ. Vie­les hat­te sich ver­än­dert und war neu für ihn. Lang­wei­li­ge Hoch­haus­sied­lun­gen wa­ren in den Au­ßen­be­zir­ken em­por­ge­wach­sen, in die de­ren Be­woh­ner jetzt zum Schla­fen zu­rück­kehr­ten.

Als der Ver­kehr dün­ner wur­de, be­schleu­nig­te Frank den Wa­gen. Erst jetzt über­kam ihn ei­gent­lich so rich­tig das Ge­fühl, wie­der in Frei­heit zu sein.

Er hat­te in­zwi­schen meh­re­re Dör­fer und klei­ne Städ­te durch­fah­ren, und im­mer wie­der wa­ren ihm große Re­kla­me­ta­feln auf­ge­fal­len mit der Auf­schrift:

„Be­su­chen Sie PLAY­LAND – Dr. Bie­gers Mi­ni­welt!“

Die grell­bun­ten Ta­feln wa­ren ziem­lich stö­rend in die sie um­ge­ben­de Na­tur ge­pflanzt. Die zwölf Jah­re hin­ter Zucht­haus­mau­ern hat­ten ihn, Frank Mel­ro­se, zum Träu­mer wer­den las­sen. Er, der be­den­ken­los einen Men­schen nie­der­ge­knallt hat­te, träum­te von ei­ner hei­len Welt, von ei­nem Häus­chen am Wald, al­lein und un­be­hel­ligt. Die bun­ten Schil­der for­der­ten ihn her­aus, stör­ten ihn, weil sie so auf­dring­lich an die Bäu­me ge­na­gelt wa­ren, die zu dem Wald ge­hör­ten, der dem Fluß­ufer folg­te, an dem er ge­ra­de ent­lang­fuhr.

Aber un­be­wußt ließ er sich von ih­nen be­ein­flus­sen und folg­te ih­ren Weg­wei­sern, die ihn schließ­lich auf den Park­platz vor je­nem PLAY­LAND ein­bie­gen lie­ßen.

Von ei­ner rie­si­gen Schil­der­brücke strahl­te ei­ne mo­nu­men­ta­le Leucht­re­kla­me in die her­ein­bre­chen­de Däm­me­rung:

„PLAY­LAND – MI­NI­WELT“

Und dar­un­ter in klei­ne­ren Buch­sta­ben:

„24 Stun­den ge­öff­net.“

Frank steu­er­te zwi­schen den ge­park­ten Wa­gen hin­durch, bis er ei­ne freie Lücke fand. Er war sich nicht dar­über im kla­ren, wes­halb er hier ei­gent­lich an­hielt.

Na­he­zu je­de Park­bucht des rie­si­gen Plat­zes war von ei­nem Fahr­zeug be­setzt. In ei­nem ab­ge­grenz­ten Be­reich stan­den meh­re­re Dut­zend Rei­se­bus­se. Wei­ß­uni­for­mier­te Lot­sen wie­sen die an­kom­men­den Wa­gen in frei­ge­wor­de­ne Lücken.

Als Frank aus­stieg, eil­te ei­ner von ih­nen auf ihn zu, hef­te­te einen klei­nen Zet­tel an die Wind­schutz­schei­be und for­der­te Park­ge­bühr.

Jen­seits des Plat­zes lag ein fla­ches, halb­ho­hes Ge­bäu­de, das an einen ge­wal­tig über­di­men­sio­nier­ten Su­per­markt er­in­ner­te.

Auf des­sen Glas­front, die den Ein­gang bil­de­te, mar­schier­te Frank zu und be­trat dann ei­ne Hal­le, die von re­gem Le­ben er­füllt war. In die Wän­de wa­ren große Glas­vi­tri­nen ein­ge­las­sen, vor de­nen sich je­weils Men­schen­trau­ben ge­bil­det hat­ten, so daß zu­nächst nicht er­kenn­bar war, was die Vi­tri­nen ent­hiel­ten.

Frank schlen­der­te auf ei­ne der Grup­pen zu und stell­te sich auf die Ze­hen­spit­zen, um et­was se­hen zu kön­nen. Ihm fie­len ein paar vor­züg­lich nach­ge­bil­de­te Mo­del­le ver­schie­den­ar­ti­ger Kraft­fahr­zeu­ge auf, die die Ge­gen­stän­de der all­ge­mei­nen Be­wun­de­rung zu sein schie­nen. Sie wa­ren in ei­nem Grö­ßen­ver­hält­nis von et­wa 1:20 nach­ge­baut und wirk­ten ver­blüf­fend na­tur­ge­treu.

Als ein Va­ter die Fra­gen sei­ner bei­den Spröß­lin­ge zu be­ant­wor­ten ver­such­te, hör­te Frank be­reits in­ter­es­siert zu.

„Die Au­tos könnt ihr nach­her wirk­lich fah­ren se­hen. Ja, und auch die Zü­ge! Da lau­fen au­ßer­dem Fi­gu­ren rum, die wie rich­ti­ge klei­ne Men­schen aus­se­hen. Das sind al­les klei­ne Ro­bo­ter oder Com­pu­ter, die wahr­schein­lich ir­gend­wie mit Funk ge­steu­ert wer­den. Ich weiß das doch auch nicht so ganz ge­nau!“

Frank ließ sich lang­sam weiter­schie­ben. Er lan­de­te schließ­lich am En­de ei­ner Men­schen­schlan­ge, die vor ei­nem Kas­sen­schal­ter war­te­te. Der Ein­tritts­preis, den er zu ent­rich­ten hat­te, er­schi­en ihm recht hoch. Aber er er­hielt zu­sam­men mit sei­ner Kar­te ein bunt­be­bil­der­tes In­for­ma­ti­ons­heft.

Be­vor er durch die Sper­re trat, die den ei­gent­li­chen Zu­gang zum PLAY­LAND bil­de­te, hol­te er sich an ei­nem der zahl­rei­chen Im­biß­stän­de ei­ne Do­se Bier und ei­ne Brat­wurst und ließ sich in der Mit­te der Hal­le auf ei­ner der Pols­ter­bän­ke nie­der.

Wäh­rend er aß, blät­ter­te er in dem bun­ten Pro­spekt. Aus ihm er­fuhr er, daß PLAY­LAND von ei­nem Com­puter­fach­mann auf­ge­baut wor­den war, der sich mit ein paar Elek­tro­ni­k­ex­per­ten zu­sam­men­ge­tan hat­te. Der Pro­spekt schil­der­te je­nen Pro­fes­sor Bie­ger als ein wahr­haf­tes Ge­nie.

Und was das Heft ihm wei­ter ver­hieß, er­weck­te schließ­lich end­gül­tig Franks In­ter­es­se. Nicht nur soll­te auf ei­nem mehr als zehn Qua­drat­ki­lo­me­ter großen Ge­län­de ei­ne voll­kom­me­ne Mi­nia­tur­welt be­wun­dert wer­den kön­nen, son­dern in na­tur­ge­treu nach­ge­bil­de­ten At­trap­pen, die man be­stei­gen konn­te, soll­te die Il­lu­si­on ei­ner tat­säch­li­chen Fahrt durch die­se Wun­der­welt er­zeugt wer­den.

„Sie set­zen sich in einen Bus, in einen PKW, in einen Ei­sen­bahn­wa­gen. Der Bus, das Au­to, der Zug scheint nun wirk­lich un­ter­wegs zu sein. Sie se­hen aus dem Fens­ter und ent­de­cken Städ­te, Dör­fer, Wald und Seen. Men­schen ge­hen ih­ren Be­schäf­ti­gun­gen nach.

Er­zeugt wird die­se Il­lu­si­on durch win­zi­ge Ka­me­ras, die in dem Mo­dell, das mit Ih­rer Fahr­zeu­gat­trap­pe durch Funk ge­kop­pelt ist, den Teil von PLAY­LAND auf­neh­men, den es ge­ra­de durch­fährt. Ei­ne kom­pli­zier­te Tech­nik er­zeugt den Ein­druck der tat­säch­li­chen Be­we­gung.

Lö­sen Sie ei­ne Zu­satz­kar­te, und er­le­ben Sie ei­ne Fahrt durch PLAY­LAND.“

Und un­ter dem Fo­to ei­ner glück­lich strah­len­den Fa­mi­lie im PKW war zu le­sen:

„Wenn Sie wol­len, kön­nen Sie so­gar Ihr Fahr­zeug selb­stän­dig steu­ern. Er­kun­di­gen Sie sich an un­se­ren In­for­ma­ti­ons­stän­den.“

An­dert­halb Stun­den lang wan­der­te Frank über das Ge­län­de der Mi­nia­tu­r­an­la­ge. Die ex­ak­te Ge­stal­tung der Land­schaft und die na­tur­ge­treu­en Nach­bil­dun­gen von Fahr­zeu­gen und Ge­bäu­den be­ein­druck­ten ihn sehr. Am meis­ten ver­blüff­ten ihn al­ler­dings die klei­nen Fi­gu­ren, die die Rol­len der Men­schen in die­ser Welt über­nom­men hat­ten. Sie schie­nen tat­säch­lich zu le­ben.

Das rie­si­ge Ge­län­de war in die­se Mi­ni­welt voll­kom­men in­te­griert. Der Be­su­cher wan­der­te auf We­gen, die auf Stel­zen die An­la­ge über­spann­ten. Un­ter ihm braus­ten Zü­ge durch den Abend. Auf Au­to­bah­nen bil­de­ten sich Fahr­zeug­ko­lon­nen an Bau­stel­len. Und in den Städ­ten streb­te die Rush-hour ih­rem Hö­he­punkt ent­ge­gen.

Schlepp­käh­ne trie­ben lang­sam einen Fluß hin­un­ter. In Ufer­nä­he tum­mel­ten sich Ru­der­boo­te. Und in der Luft zo­gen Flug­zeu­ge ih­re Krei­se.

Nach­dem Frank das große Haupt­ge­bäu­de wie­der be­tre­ten hat­te, ent­deck­te er den Weg­wei­ser mit der Auf­schrift „Zu den Si­mu­la­ti­ons­mo­del­len.“ Vor­bei an der An­la­ge ei­nes großen Kopf­bahn­ho­fes, auf dem hek­ti­sche Be­trieb­sam­keit herrsch­te, führ­ten die Hin­wei­se zu ei­ner Hal­le, die mit Fahr­zeu­gen al­ler Art voll­ge­parkt schi­en.

Ein ste­ti­ges Rau­schen über­deck­te al­le an­de­ren Ge­räusche. Frank stell­te fest, daß es von den Rä­dern der Au­tos und Bus­se her­rühr­te, die sich auf Rol­len stän­dig dreh­ten. Hin­ter den Schei­ben der Fahr­zeu­ge wa­ren Men­schen zu er­ken­nen, die schein­bar in­ter­es­siert nach drau­ßen sa­hen.

Frank be­gab sich zu ei­nem der In­for­ma­ti­ons­schal­ter.

„Was ge­schieht, wenn ich mich in solch ein Si­mu­la­ti­ons­mo­dell set­ze?“ er­kun­dig­te er sich.

„Sie ha­ben den voll­kom­me­nen Ein­druck, wirk­lich in ei­nem Om­ni­bus oder ei­nem Au­to­mo­bil zu sit­zen. Wenn Sie wol­len, kön­nen Sie auch ei­ne Bahn­fahrt, ei­ne Tour auf ei­nem Aus­flugs­damp­fer oder einen Flug über PLAY­LAND er­le­ben. Ei­nes der Mi­nia­tur­mo­del­le drau­ßen auf der An­la­ge ist mit Ih­rem Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeug über Funk ver­bun­den. Win­zi­ge Fern­seh­ka­me­ras las­sen die Il­lu­si­on zu, ei­ne Fahrt ganz wirk­lich zu er­le­ben.“

Das hat­te Frank be­reits aus dem Pro­spekt her­aus­ge­le­sen. Die Da­me in der hell­grü­nen Uni­form lä­chel­te freund­lich-un­ver­bind­lich.

„Sie kön­nen al­ler­dings auch selbst solch ein Fahr­zeug über die An­la­ge steu­ern. Das ist nicht an­ders, als wenn Sie rich­tig Au­to fah­ren.“

Sie schob ihm ei­ne Bro­schü­re über den Tre­sen zu. Frank nahm sie an sich und blät­ter­te un­schlüs­sig dar­in her­um.

„Die Prei­se fin­den Sie auf der letz­ten Sei­te!“

„Was kos­tet es, wenn ich ein Fahr­zeug selbst steu­ern möch­te?“

Er hat­te sich ent­schlos­sen.

„Ei­ne Stun­de Fahrt­zeit kos­tet ein­hun­dert­fünf­zig Mark. Das ist teu­er!“ be­eil­te sie sich hin­zu­zu­fü­gen, als sie sei­nen be­stürz­ten Blick sah.

„Sie kön­nen aber bis zu vier wei­te­re Per­so­nen mit­neh­men. Und be­den­ken Sie, was Ih­nen da­für ge­bo­ten wird! Sie kön­nen, wenn Sie wol­len, gleich hier bei mir bu­chen!“

Was er dann er­leb­te, mach­te Frank vollends sprach­los. Er durch­fuhr die Mi­nia­tur­städ­te und Dör­fer, die er vor­her auf sei­nem Rund­gang ge­se­hen hat­te. Und er hat­te den voll­kom­me­nen Ein­druck, drau­ßen statt ei­ner nach­ge­bil­de­ten Welt rich­ti­ge Men­schen und Land­schaf­ten vor­beiglei­ten zu se­hen.

Er steu­er­te auf den Markt­platz ei­nes klei­nen Städt­chens und hielt an. Durch die Schei­ben sei­nes Wa­gens be­ob­ach­te­te er leb­haf­tes Trei­ben. Vor ei­nem Ki­no hat­te sich ei­ne Men­schen­schlan­ge auf­ge­reiht, die lang­sam im Ein­gang ver­schwand. An ei­ner Trink­bu­de fläz­ten sich ein paar ab­ge­ris­se­ne Män­ner her­um, die of­fen­sicht­lich schon reich­lich dem Al­ko­hol zu­ge­spro­chen hat­ten. Ein jun­ges Mäd­chen kauf­te sich am Zei­tungs­stand ge­ra­de ei­ne Zeit­schrift und stieg dann in einen Wa­gen, hin­ter des­sen Steu­er ein Mann ge­war­tet hat­te. Die bei­den fuh­ren gleich da­von.

Um einen Brun­nen her­um saß ei­ne Grup­pe von Ju­gend­li­chen in aus­ge­las­se­ner Stim­mung. Wei­te­re jun­ge Leu­te auf Mo­peds und Mo­tor­rä­dern stie­ßen da­zu. Ei­ne äl­te­re Da­me führ­te ihr Hünd­chen an den ro­man­ti­schen Fassa­den der Häu­ser­zel­len ge­gen­über ent­lang.

Dann quietsch­te ei­ne al­ter­tüm­li­che Stra­ßen­bahn um die Ecke und hielt ge­nau vor dem Ki­no. Die Fahr­gäs­te, die aus­ge­stie­gen wa­ren, ver­schwan­den in den Sei­ten­stra­ßen.

Zwi­schen den mäch­ti­gen Kas­ta­ni­en­bäu­men toll­ten Kin­der um­her, de­ren El­tern ih­nen of­fen­sicht­lich trotz vor­ge­rück­ter Abend­stun­de noch Aus­gang ge­währ­ten.

Ein Lie­bes­paar über­quer­te lang­sam den Platz und kam dicht an Franks Wa­gen vor­über. Die bei­den be­merk­ten ihn gar nicht und gin­gen eng um­schlun­gen wei­ter.

Jen­seits des Plat­zes la­gen Men­schen in den Fens­tern der Häu­ser und sa­hen dem abend­li­chen Trei­ben zu. In den Glas­zy­lin­dern ver­schnör­kel­ter Gas­la­ter­nen flamm­ten die Lich­ter auf.

Frank hat­te auf ein­mal das Be­dürf­nis, aus­zu­stei­gen und sich un­ter die Leu­te zu mi­schen; zur Trink­hal­le hin­über­zu­ge­hen und mit den Pen­nern ein Bier zu trin­ken.

Er öff­ne­te den Wa­gen­schlag – und stand auf dem Markt­platz.

Zu­erst kam ihm gar nicht das Un­wirk­li­che die­ser Si­tua­ti­on zu Be­wußt­sein. Er mach­te ein paar Schrit­te auf die Trink­bu­de zu – dann er­schrak er.

Er stand hier in ei­ner Mi­nia­tur­welt zwi­schen win­zi­gen Ro­bo­tern. Und er war nicht grö­ßer als die­se.

In der Fer­ne ent­deck­te er den rie­si­gen schwar­zen Schat­ten ei­nes der Be­su­cher­we­ge auf Stel­zen. Vol­ler Pa­nik stürz­te er zu sei­nem Wa­gen zu­rück, star­te­te den so­fort und ver­such­te, zu dem Aus­gangs­punkt sei­ner Fahrt zu­rück­zu­fin­den, was ihm je­doch in sei­ner Auf­re­gung nicht ge­lang.

Nach­dem die ei­ne Stun­de Fahrt­zeit schließ­lich na­he­zu ab­ge­lau­fen war, roll­te das Fahr­zeug selb­stän­dig, oh­ne daß Frank re­gu­lie­rend hät­te ein­grei­fen kön­nen, dort­hin zu­rück, von wo aus es ge­st­ar­tet war, ei­nem rie­si­gen Park­haus in­mit­ten ei­ner Groß­stadt. Dort hielt es an.

Frank stieg aus und fand sich in der aus­ge­dehn­ten Hal­le mit den Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeu­gen wie­der. Ein Fa­mi­li­en­va­ter mit drei Kin­dern war­te­te be­reits dar­auf, sei­nen Wa­gen be­stei­gen zu dür­fen.

Zu­erst zün­de­te Frank sich ei­ne Zi­ga­ret­te an und mach­te be­nom­men ein paar Zü­ge. Hin­ter den Schei­ben der Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeu­ge sah er die Ge­sich­ter der Men­schen, die stau­nend nach drau­ßen blick­ten.

Ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter steu­er­te er auf den In­for­ma­ti­ons­stand zu. Die Da­me in Grün lä­chel­te ihm freund­lich ent­ge­gen.

„Hat­ten Sie ei­ne an­ge­neh­me Fahrt?“

„Was ge­schieht ei­gent­lich, wenn man un­ter­wegs aus­steigt?“ frag­te er ziem­lich hef­tig da­ge­gen. „Sie kön­nen selbst­ver­ständ­lich je­der­zeit aus­stei­gen!“

Die Da­me mus­ter­te ihn er­staunt.

„Ih­re Fahrt­zeit läuft al­ler­dings wei­ter. Hat­ten Sie ir­gend­wel­che Schwie­rig­kei­ten mit dem Tür­me­cha­nis­mus?“

Frank schüt­tel­te den Kopf.

„Ich möch­te wis­sen, wo man sich be­fin­det, wenn man wäh­rend der Fahrt aus­steigt.“

Jetzt lä­chel­te die Da­me sehr spöt­tisch.

„Sie stei­gen na­tür­lich in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le aus.“

Sie ki­cher­te be­lus­tigt.

„So­weit sind wir bis­her mit un­se­rer Wun­der­tech­nik noch nicht, daß wir Sie in un­se­re Mi­ni­welt ver­pflan­zen könn­ten.“

Frank sah sie ver­wirrt an.

„Ich …“ setz­te er an; doch er brach ab und ver­ließ ei­lig das Ge­bäu­de.

Ein paar Ta­ge spä­ter lös­te er er­neut ei­ne Kar­te für ei­nes der selbst zu steu­ern­den Fahr­zeu­ge. Das Wet­ter war reg­ne­risch, und er hat­te das Ge­fühl, das es schwie­rig sei, den Wa­gen auf der Stra­ße zu hal­ten.

Kaum hat­te er die Stadt ver­las­sen, hielt er an und stieg aus. Er stand in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le.

So­fort setz­te er sich wie­der hin­ter das Steu­er und schloß den Schlag. Dann ver­such­te er die klei­ne Stadt wie­der­zu­fin­den, in der er je­nes selt­sa­me Er­leb­nis sei­ner Mi­nia­tur­wer­dung ge­habt hat­te.

Er steu­er­te so­fort den Markt­platz an. Dort hielt er in der Nä­he des Im­biß­stan­des und stieg von neu­em aus. Wie­der be­fand er sich in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le.

Der Park­platz, auf dem er Ta­ge zu­vor ge­stan­den hat­te, war mit ei­nem klei­nen Kom­bi­wa­gen be­setzt. Frank war­te­te. Nach kur­z­er Zeit ver­ließ ein Mann die The­ke der Trink­hal­le und stieg in den Lie­fer­wa­gen ein.

Frank ver­lor kei­ne Mi­nu­te und ver­such­te, sein Fahr­zeug mög­lichst ge­nau­so wie an je­nem denk­wür­di­gen Abend dort zu par­ken. Dann stieg er wie­der­um aus. Er be­fand sich in der Hal­le mit den Si­mu­la­ti­ons­mo­del­len.

Doch er gab nicht auf. Er ver­such­te sich an die ge­naue Zeit zu er­in­nern, zu der er an je­nem Abend auf dem Markt­platz an­ge­hal­ten hat­te. Und als ihm die Zeit ge­kom­men schi­en, stand er er­neut mit ei­nem Wa­gen der Trink­hal­le ge­gen­über.

In der Si­mu­la­ti­ons­hal­le wun­der­ten sich ei­ni­ge der Be­su­cher über je­nen selt­sa­men Zeit­ge­nos­sen, der stän­dig in sein Fahr­zeug­mo­dell ein- und aus­stieg.

Schließ­lich mie­te­te Frank sich noch ein­mal den Wa­gen, mit dem er am ers­ten Abend durch PLAY­LAND ge­fah­ren war. Er war­te­te, bis Wo­chen­tag und Zeit stimm­ten, be­vor er ein letz­tes Mal ex­pe­ri­men­tier­te.

Dann hielt er wie­der auf dem Markt­platz je­nes ro­man­ti­schen klei­nen Städt­chens an. Die Si­tua­ti­on schi­en ihm selt­sam ver­traut. Men­schen ver­schwan­den im Ki­no, Pen­ner be­la­ger­ten die Trink­hal­le, und Ju­gend­li­che al­ber­ten fröh­lich am Brun­nen her­um.

Nach­dem die Stra­ßen­bahn ver­schwun­den war, kam das Lie­bes­paar wie­der auf sei­nen Wa­gen zu. Er ließ die bei­den pas­sie­ren. Dann stieg er aus – und stand auf dem Markt­platz.

Er setz­te sich so­fort zu­rück in den Wa­gen und wie­der­hol­te dann sei­nen Ver­such. Wie vor­her stand er zwi­schen den klei­nen Ro­bo­tern, die vor­pro­gram­miert ih­re Rol­len spiel­ten.

Dann park­te er an ei­ner an­de­ren Stel­le. Als er dort aus­stieg, blick­te er in die er­staun­ten Ge­sich­ter der Be­su­cher, die die Si­mu­la­ti­ons­mo­del­le be­wun­der­ten.

Frank Mel­ro­se fand im Lau­fe der Zeit schließ­lich her­aus, daß er nur mit die­sem spe­zi­el­len Wa­gen und le­dig­lich auf je­nem be­stimm­tem Platz auf dem Markt­platz des klei­nen Städt­chens den selt­sa­men Ef­fekt wie­der­ho­len konn­te. Al­ler­dings war er da­bei we­der an einen be­son­de­ren Tag noch an ei­ne fest­ge­leg­te Zeit ge­bun­den.

Bis er das mit letz­ter Si­cher­heit wuß­te, war sein Plan schon längst her­an­ge­reift.

Er be­rei­te­te sich sorg­fäl­tig vor.

Schließ­lich war sein Geld, das er sich in zwölf Jah­ren Haft­zeit zu­sam­men­ge­spart hat­te, na­he­zu auf­ge­braucht. Es wur­de not­wen­dig, daß der große Coup end­gül­tig ge­st­ar­tet wur­de.

Auf Franks An­re­gung hin war be­schlos­sen wor­den, sich nach dem Über­fall zu­nächst gleich zu tren­nen, um die Fahn­dung zu er­schwe­ren. Au­ßer­dem war es ihm ge­lun­gen, von den an­de­ren da­für be­stimmt zu wer­den, mit der Beu­te zu ver­schwin­den und die­se am ver­ein­bar­ten Treff­punkt zu de­po­nie­ren. In Um­welt­krei­sen ge­noß Frank noch im­mer einen gu­ten Ruf, und die an­de­ren schie­nen ihm zu ver­trau­en.

„Wenn du auf ei­ge­ne Faust einen Scheiß planst, dann schlag dir das bes­ser gleich aus dem Kopf! Ich wür­de dann näm­lich kei­nen Pfif­fer­ling mehr für dich ge­ben!“

Das war Leos ein­zi­ge, da­für aber un­miß­ver­ständ­li­che War­nung.

„Ich hab noch kei­nen rein­ge­legt!“ be­teu­er­te Frank und sah da­bei un­ver­däch­tig aus.

Als er dann den Zas­ter im Kof­fer­raum hat­te und dem PLAY­LAND ent­ge­gen­ras­te, wel­ches selbst­ver­ständ­lich nicht der Treff­punkt war, be­merk­te er einen flot­ten Sport­wa­gen im Rück­spie­gel. Frank sah auf sei­ne Uhr. Er wuß­te, daß sein Zeit­plan jetzt nicht durch­ein­an­der­ge­ra­ten durf­te.

Er hat­te sich sei­nen Wa­gen vor­be­stellt. Für die pünkt­li­che Re­ser­vie­rung hat­te er zwar noch einen Hun­der­ter mehr hin­blät­tern müs­sen. Aber die­sen Be­trag war ihm die Sa­che selbst­re­dend wert.

Mit quiet­schen­den Rei­fen bog er auf den Park­platz vor dem PLAY­LAND-Ge­bäu­de ein. Er stopp­te vor dem Por­tal und stürz­te in die Ein­gangs­hal­le, nach­dem er die Ta­sche mit dem Geld aus dem Kof­fer­raum ge­ris­sen hat­te.

Frank hat­te sei­nen Plan sorg­fäl­tig vor­be­rei­tet. So­weit es ging, hat­te er Le­bens­mit­tel und Ge­trän­ke mit ‚sei­nem’ Wa­gen in die Mi­nia­tur­stadt trans­por­tiert. Dort hat­te er sich ein Haus ne­ben dem Ki­no aus­ge­sucht.

Der Per­fek­tio­nis­mus der Er­bau­er die­ser Mi­ni­welt ging so weit, daß sie die Häu­ser so­gar im In­ne­ren aus­ge­baut und mit Mo­bi­li­ar ver­se­hen hat­ten.

Als ob es ei­nem der Be­su­cher von dem Stel­zen­weg aus mög­lich ge­we­sen wä­re, durch die win­zi­gen Fens­ter in die Ge­bäu­de zu bli­cken.

Die­sen Vor­teil mach­te Frank sich zu­nut­ze. Nach­dem er fest­ge­stellt hat­te, daß die ‚Woh­nung’ im zwei­ten Stock le­dig­lich von zwei ‚Per­so­nen’ be­wohnt war, hat­te er sich dort häus­lich ein­ge­rich­tet.

Jetzt eil­te er durch die Sper­re hin zum In­for­ma­ti­ons­schal­ter und zeig­te sei­nen Re­ser­vie­rungs­schein. Die Da­me in Grün reich­te ihm einen Schlüs­sel über den Tre­sen.

Frank sah sich um. Er ent­deck­te zwei Män­ner, die er vor­her hin­ter den Schei­ben des ihn ver­fol­gen­den Wa­gens ge­se­hen zu ha­ben glaub­te. Sie stan­den vor der Sper­re an ei­ner der Kas­sen, be­ob­ach­te­ten ihn aber da­bei ge­nau.

Er grins­te vor sich hin und stieg in ‚sei­nen’ Wa­gen. Als er die Tür schloß, eil­ten die bei­den ge­ra­de durch die Sper­re.

Sie wür­den jetzt an dem Si­mu­la­ti­ons­mo­dell Auf­stel­lung neh­men und ei­ne Stun­de auf ihn war­ten; denn von au­ßen konn­te der Wa­gen nicht ge­öff­net wer­den, so­lan­ge er be­setzt war. Nach ei­ner Stun­de wür­den sie be­gin­nen, sich Ge­dan­ken zu ma­chen. Und wenn sie dann ent­deckt hat­ten, daß er sich nicht mehr in dem Fahr­zeug be­fand, wür­den sie in Pa­nik ge­ra­ten.

Frank steu­er­te den Wa­gen aus der Stadt her­aus sei­nem Ziel ent­ge­gen, wo er für ei­ni­ge Zeit un­ter­zut­au­chen ge­dach­te. Auf ei­ner Bank am Brun­nen un­ter den mäch­ti­gen Kas­ta­ni­en war­te­te er dann, bis die­ses rät­sel­haf­te Wun­der­werk zu sei­nem Aus­gangs­punkt ent­schwand.

Das Le­ben in PLAY­LAND stell­te sich als gar nicht so un­an­ge­nehm her­aus. Zu­erst muß­te er sich al­ler­dings an die un­per­sön­li­chen Ge­stal­ten ge­wöh­nen, die, ein­mal pro­gram­miert, ei­ne Rol­le spiel­ten, die sie Wo­che für Wo­che wie­der­hol­ten. We­nigs­tens ta­ten sie nicht Tag für Tag das­sel­be. Wahr­schein­lich wä­re er dann doch recht bald ih­rer Um­ge­bung ent­flo­hen.

Den ers­ten Abend hat­te Frank mit ei­ner Fla­sche Bier vor dem Fern­seh­ap­pa­rat ver­bracht, den es hier so­gar gab und der das ganz nor­ma­le Pro­gramm bot. Die Ta­sche mit dem Geld hat­te er ne­ben sich de­po­niert. In den nächs­ten Ta­gen wür­de er ein Ver­steck su­chen – für al­le Fäl­le.

Spä­ter war er ein­ge­nickt. Plötz­lich hat­te sich die Tür ge­öff­net. In pa­ni­schem Schre­cken fuhr er aus dem Schlaf. Ein Mäd­chen stand in der Tür. Es schi­en ihn aber gar nicht zu be­mer­ken. Mit me­cha­ni­schen Schrit­ten ging es zu ei­nem der Bet­ten und leg­te sich dar­auf nie­der – völ­lig an­ge­klei­det.

Zu weit ging der Per­fek­tio­nis­mus nun doch nicht.

Nach ei­ni­gen Ta­gen hat­te Frank sich dann solch ein We­sen, als es ‚schlief, ein­mal ge­nau­er be­trach­tet. Un­ter ei­ner Plas­tik­haut war ein me­cha­ni­scher Kör­per zu spü­ren ge­we­sen, der wäh­rend sei­ner Ru­he­pau­se wohl wie ein Ak­ku­mu­la­tor auf­ge­la­den wur­de.

Den­noch war Frank er­staunt über die Men­schen­ähn­lich­keit die­ser Ro­bo­ter. Mehr als ein­mal er­tapp­te er sich da­bei, daß er ver­such­te, mit ei­nem sei­ner Ge­gen­über ein Ge­spräch zu be­gin­nen.

Nach et­wa vier­zehn Ta­gen gin­gen sei­ne Vor­rä­te zur Nei­ge, und er muß­te zu­se­hen, an Nach­schub zu kom­men. Auf dem PLAY­LAND-Ge­län­de selbst er­wies sich dies lei­der als un­mög­lich, so daß er es wa­gen muß­te, sei­ne Mi­ni­welt zu ver­las­sen.

Es war für Frank ei­ne der an­ge­nehms­ten Über­ra­schun­gen ge­we­sen, als er fest­ge­stellt hät­te, daß er je­des ge­park­te Fahr­zeug, in dem sich nicht ge­ra­de ein ‚Fah­rer’ be­fand, be­stei­gen und selb­stän­dig be­lie­big um­her­steu­ern konn­te. Er setz­te sich al­so in einen Wa­gen und fuhr zu dem großen Park­haus in der Mo­dell­haupt­stadt, von dem aus er zur ers­ten ei­ge­nen Fahrt durch PLAY­LAND ge­st­ar­tet war. Dort hielt er in der Nä­he des Plat­zes an, an dem er je­weils sei­nen Wa­gen ab­ge­stellt hat­te, der ihm den Zu­gang zu die­ser Mi­nia­tur­welt er­öff­net hat­te.

Nach zehn Mi­nu­ten sah Frank ihn in die Park­box ein­bie­gen und an­hal­ten. Die Ge­sich­ter hin­ter den Schei­ben ver­schwan­den. Schnell ging er auf das Fahr­zeug zu und stieg ein.

Nach­dem er die Tür ge­schlos­sen hat­te, be­merk­te er, daß drau­ßen je­mand ener­gisch rüt­tel­te. Er öff­ne­te den Schlag und stand in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le ei­nem äu­ßerst über­rasch­ten Ehe­paar ge­gen­über. Er grüß­te die bei­den und tauch­te in der Men­schen­men­ge un­ter.

Am In­for­ma­ti­ons­schal­ter ließ er sich den Wa­gen für zwei Stun­den spä­ter re­ser­vie­ren. Er zahl­te mit Schei­nen aus der Beu­te.

Dann fuhr er mit ei­nem Ta­xi zum Su­per­markt in ei­ner na­he ge­le­ge­nen Ort­schaft. Dort deck­te er sich aus­rei­chend mit Le­bens­mit­teln und Spi­ri­tuo­sen ein.

Spä­ter wun­der­te sich der Ta­xi­fah­rer, als er von sei­nem Fahr­gast ge­be­ten wur­de, ihm beim Trans­port sei­ner reich­hal­ti­gen Ein­kaufsu­ten­si­li­en in das PLAY­LAND-Ge­bäu­de be­hilf­lich zu sein. Ein groß­zü­gi­ges Trink­geld hei­ter­te je­doch sei­ne Mie­ne be­trächt­lich auf. Schließ­lich war er al­ler­dings doch sehr ver­blüfft, daß er Le­bens­mit­tel und Ge­trän­ke im Kof­fer­raum ei­nes der Si­mu­la­ti­ons­mo­del­le ver­stau­en soll­te.

Wei­te­re drei Wo­chen spä­ter zog Frank um. Er woll­te hin­aus aufs ‚Land’. Er hat­te in­zwi­schen die Mi­nia­tur­welt sehr gut ken­nen­ge­lernt. Und ei­nes Ta­ges hat­te er das Fleck­chen Er­de ge­fun­den, an dem er sei­ne wei­te­re Zeit in PLAY­LAND ver­brin­gen woll­te.

Er hat­te ein klei­nes Fach­werk­haus ent­deckt, am Ran­de ei­nes Tan­nen­wäld­chens, in­mit­ten ei­nes ver­wil­der­ten Gar­tens. Es kam sei­ner Vor­stel­lung vom Traum­pa­ra­dies schon sehr na­he.

Von Zeit zu Zeit wie­der­hol­te er sei­ne Aus­flü­ge in die ‚große Welt’, um sei­ne Vor­rä­te zu er­neu­ern. Da­bei blieb er gänz­lich un­be­hel­ligt, wenn auch die Da­me in Grün am In­for­ma­ti­ons­schal­ter ihn manch­mal et­was schief an­lä­chel­te.

Völ­lig un­er­war­tet kam da­her für Frank der große Schock. Er hat­te ge­ra­de wie­der auf sei­nem Weg in die nor­ma­le Welt das Fahr­zeug­mo­dell be­stie­gen, das ihm die Tür zur Si­mu­la­ti­ons­hal­le öff­nen soll­te, als ihm schlag­ar­tig be­wußt wur­de, daß er ver­ges­sen hat­te, Geld ein­zu­ste­cken.

Er ent­rie­gel­te den Wa­gen­schlag und stand in der Welt der le­ben­den Men­schen. Drau­ßen, in ei­nem klei­nen Mi­nia­tur­fach­werk­haus, la­gen mehr als ei­ne Mil­li­on Mark. Aber er stand hier und hat­te nicht einen Pfen­nig.

Er­schla­gen ließ Frank sich auf ei­ne der Pols­ter­bän­ke ge­gen­über dem In­for­ma­ti­ons­schal­ter fal­len. Er muß­te so schnell wie mög­lich ir­gend­ei­nen Weg fin­den, an Geld zu kom­men, da­mit er in sei­ne Mi­nia­tur­welt zu­rück­keh­ren konn­te.

Er sah sich um.

Auf ein­mal hat­te er das Ge­fühl, von al­len Sei­ten be­ob­ach­tet zu wer­den. Er ver­mein­te ei­ne ernst­haf­te Be­dro­hung von den Men­schen um sich her zu spü­ren.

„Na, Sie se­hen ja so un­glück­lich aus! Stimmt ir­gend et­was nicht?“

Es war die grü­ne In­for­ma­ti­ons­da­me, die sich ne­ben ihm auf der Bank nie­der­ge­las­sen hat­te und sich ei­ne Zi­ga­ret­te an­zün­de­te.

„Nein, nein, es ist schon al­les in Ord­nung!“ Jetzt nur kei­ne Pa­nik zei­gen und ru­hig blei­ben! „Al­so, ich hät­te ge­wet­tet, daß Sie ge­ra­de den größ­ten Schick­sals­schlag Ih­res Le­bens er­lit­ten ha­ben.“

Sie ki­cher­te vor sich hin. Frank sah sie alar­miert an. Was ahn­te sie?

Aber sie zog harm­los an ih­rer Zi­ga­ret­te.

„Wer­den Sie heu­te wie­der ‚Ih­ren’ Wa­gen mie­ten?“

Er schüt­tel­te miß­mu­tig den Kopf.

„Klar, ich wür­de schon ger­ne. Die­se An­la­ge fas­zi­niert mich un­ge­heu­er. Aber ich fürch­te, es wird heu­te kaum mög­lich sein.“

Als er nicht so­fort wei­ter­sprach, sah sie ihn fra­gend an.

Die­se Da­me hat­te im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes den Schlüs­sel zu sei­nen Mil­lio­nen. Wel­ches war die rich­ti­ge Tak­tik, an die­sen Schlüs­sel zu ge­lan­gen? Falls es über­haupt so di­rekt ei­ne Mög­lich­keit gab!

Frank ent­schied sich für die teil­wei­se Wahr­heit.

„Ge­ra­de ha­be ich fest­ge­stellt, daß ich mei­ne Geld­bör­se zu Hau­se ha­be lie­gen las­sen. Ich wer­de wohl wie­der um­keh­ren müs­sen.“

Die Da­me rea­gier­te nicht. Frank räus­per­te sich. „Da­bei ha­be ich heu­te einen mei­ner sel­te­nen frei­en Ta­ge!“

Mit Be­to­nung – aber wie­der nichts.

Ver­teu­felt ger­ne hät­te er jetzt selbst ei­ne Zi­ga­ret­te zwi­schen den Fin­gern ha­ben mö­gen. Die Da­me in­ha­lier­te ge­nuß­voll.

„Ge­ra­de heu­te ist es hier sehr ru­hig“, sin­nier­te sie. „Ich hät­te Ih­nen ‚Ih­ren’ Wa­gen oh­ne wei­te­res über­las­sen kön­nen. So­gar oh­ne Vor­be­stel­lung!“

Frank ging aufs Gan­ze: „Sie kön­nen mir den Wa­gen nicht mal ge­gen ein Pfand zur Ver­fü­gung stel­len?“

Die Da­me in der grü­nen Uni­form mus­ter­te ihn jetzt auf­merk­sam.

„Das Pfand müß­te im­mer­hin schon einen Wert von hun­dert­fünf­zig Mark ha­ben. Was bie­ten Sie denn an?“

„Ich wür­de Ih­nen selbst­ver­ständ­lich noch heu­te das Geld brin­gen, da­mit Sie ab­rech­nen kön­nen!“ Viel­leicht hat­te sie der fle­hen­de Un­ter­ton in sei­ner Stim­me be­ein­druckt, denn sie stand auf und ging zum In­for­ma­ti­ons­tisch hin­über.

„Ge­ben Sie mir Ih­ren Per­so­nal­aus­weis!“ rief sie ihm über die Schul­ter zu­rück zu. „Ich wer­de ver­mer­ken: per­sön­lich be­kannt. Aber den­ken Sie dran, ich muß für den Be­trag ge­ra­de­ste­hen!“

Sei­ne Hand fuhr in die In­nen­ta­sche sei­nes Jacketts. Er­leich­tert fühl­te er das Do­ku­ment. Aber bei dem Ge­dan­ken, sich von die­sem Aus­weis tren­nen zu müs­sen, war ihm dann doch äu­ßerst un­wohl.

Schließ­lich reich­te er ihn über den Tre­sen. Die In­for­ma­ti­ons­da­me schlug die In­nen­sei­te auf und ver­glich das Fo­to mit dem Ori­gi­nal. Sehr schmei­chel­haft muß­te der Ver­gleich nicht ge­ra­de aus­ge­fal­len sein, denn sie lä­chel­te et­was an­züg­lich. Dann no­tier­te sie sich ei­ni­ge An­ga­ben und reich­te ihm an­schlie­ßend die Schlüs­sel für sei­nen Wa­gen her­über.

Kaum ei­ne hal­be Stun­de spä­ter stand Frank wie­der am In­for­ma­ti­ons­schal­ter, um sei­nen Paß ein­zu­lö­sen. Er gab vor, das Geld doch noch ge­fun­den zu ha­ben.

Das Mäd­chen sah ihn sehr ei­gen­ar­tig an. Und als er sich um­dreh­te, ent­deck­te er Leo, der läs­sig an ei­ner Säu­le lehn­te und ihn be­ob­ach­te­te.

Frank ver­gaß al­le Vor­sicht und spur­te­te zu sei­nem Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeug zu­rück. Leo ver­such­te, ihm den Weg ab­zu­schnei­den. Aber es ge­lang ihm noch recht­zei­tig, den Wa­gen­schlag zu schlie­ßen.

Noch gut zwan­zig Mi­nu­ten blie­ben ihm. In die­ser Zeit muß­te er den Markt­platz in der klei­nen Mo­dell­stadt er­reicht und das Fahr­zeug ver­las­sen ha­ben. Im Grun­de blieb ihm so­gar noch we­ni­ger Zeit, denn von ei­nem be­stimm­ten Au­gen­blick an wür­de sich sein Wa­gen selb­stän­dig ma­chen und zu sei­nem Aus­gangs­punkt zu­rück­keh­ren.

Ge­ra­de jetzt setz­te auf der An­la­ge die Haupt­ver­kehrs­zeit ein, und Frank blieb mit­ten in ei­nem Stau ste­cken. Im­mer wie­der sah er ner­vös auf sei­ne Uhr.

Er wuß­te nicht, wann der Zeit­punkt ein­tre­ten wür­de, an dem der Wa­gen um­keh­ren und das Park­haus der großen Stadt an­steu­ern wür­de.

Es blieb ei­ne Vier­tel­stun­de bis zum Ab­lauf der Fahrt­zeit, als er end­lich die freie Land­stra­ße er­reicht hat­te.

Er bog ge­ra­de auf den ver­träum­ten Markt­platz ein, als ein Lämp­chen rot am Ar­ma­tu­ren­brett auf­zu­blin­ken be­gann. Das war ihm frü­her nicht auf­ge­fal­len. Aber er ahn­te, daß es das Zei­chen war, wo­nach gleich die Fern­steue­rung den Wa­gen über­neh­men wür­de.

Und dann ver­ließ ihn jeg­li­che Hoff­nung, als er sah, daß sein Park­platz von ei­nem an­de­ren Fahr­zeug be­setzt war – die ein­zi­ge Stel­le, die es ihm er­mög­li­chen konn­te, wie­der in die Mi­nia­tur­welt zu­rück­zu­keh­ren.

In ei­nem Akt der Ver­zweif­lung steu­er­te er mit Höchst­ge­schwin­dig­keit auf den frem­den Lie­fer­wa­gen zu. Der Zu­sam­men­prall war fürch­ter­lich. Frank wur­de aus dem Wa­gen ge­schleu­dert und blieb blu­tend und be­sin­nungs­los auf dem Pflas­ter vor der Trink­hal­le lie­gen.

Im glei­chen Mo­ment sprang in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le Leo in pa­ni­schem Ent­set­zen von der Fahr­zeu­gat­trap­pe zu­rück, vor der er auf Frank Mel­ro­se ge­war­tet hat­te. Denn plötz­lich ver­form­te die­se sich un­ter lau­tem Kra­chen vor sei­nen Au­gen, sprang aus den Rol­len, schleu­der­te quer durch die Hal­le und zer­schell­te end­gül­tig an der ge­gen­über­lie­gen­den Wand. Von dem In­sas­sen fehl­te jeg­li­che Spur.

Als Frank er­wach­te, fand er sich in ei­nem sau­be­ren, weiß­be­zo­ge­nen Bett wie­der. Ein kur­z­er Blick in die Run­de be­stä­tig­te ihm, daß er in ei­nem Kran­ken­h­aus­zim­mer lag. Links und rechts von sei­nem stand je­weils ein wei­te­res Bett. Die dar­in lie­gen­den Pa­ti­en­ten schie­nen ge­ra­de zu schla­fen.

Er ver­such­te, sei­ner Er­in­ne­rung nach­zu­hel­fen. Die letz­ten Se­kun­den vor dem Auf­prall fie­len ihm wie­der ein. Was aber war dann ge­sche­hen?

Die nächs­ten Mi­nu­ten be­reits brach­ten ihm Auf­klä­rung. Die Tür des Raum­es wur­de ge­öff­net, und ei­ne adret­te Schwes­ter be­trat das Zim­mer. Sie kam an sein Bett und nahm sei­nen Arm, wohl, um den Puls zu füh­len. Ih­re Hand war eis­kalt und mit ei­ner Plas­tik­haut über­zo­gen.

Als sie das Zim­mer wie­der ver­las­sen hat­te, ver­such­te Frank auf­zu­ste­hen. Er be­tas­te­te sei­nen Kör­per, um her­aus­zu­fin­den, ob ir­gend­wel­che Kno­chen ge­bro­chen wa­ren. Das schi­en nicht der Fall zu sein. Den­noch fühl­te er sich völ­lig er­schla­gen.

Als er in einen Spie­gel sah, blick­te ihm ein blut­ver­schmier­tes Ge­sicht ent­ge­gen.

Er trat hin­aus auf den Gang, wo Schwes­tern und Ärz­te ge­schäf­tig hin und her eil­ten. Ge­gen­über be­fand sich ei­ne Tür mit der Auf­schrift „Bad.“

Zwar kam nur kal­tes Was­ser aus den Lei­tun­gen; aber Frank dusch­te lan­ge und aus­gie­big, bis er lang­sam wie­der einen kla­ren Kopf be­kam.

Spä­ter leg­te er sich zu­rück auf sein Bett und über­leg­te, was jetzt wohl zu tun sei. Er durf­te sich in nächs­ter Zeit ‚drau­ßen’ nicht se­hen las­sen. Die­se Er­kennt­nis ver­deut­lich­te ihm gleich­zei­tig sein Haupt­pro­blem. Er muß­te zu­se­hen, hier auf dem Ge­län­de ei­ne Er­näh­rungs­grund­la­ge zu fin­den.

Was­ser war reich­lich vor­han­den. Aber sei­ne Le­bens­mit­tel­vor­rä­te wa­ren nur noch für drei Ta­ge be­rech­net. Das An­ge­bot in den Su­per­märk­ten die­ser An­la­ge hat­te er be­reits frü­her un­ter­sucht. Al­le an­ge­bo­te­nen De­li­ka­tes­sen hat­ten sich lei­der als At­trap­pen her­aus­ge­stellt.

Wie­der be­trat die Schwes­ter den Raum, und wie­der fühl­te sie sei­nen Puls. Sie war ja wirk­lich ein sü­ßes Ding, aber lei­der eis­kalt, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Oder hat­te sie da ge­ra­de ge­b­lin­zelt?

Frank schüt­tel­te den Kopf. Sei­ne Er­mat­tung er­zeug­te schon Hal­lu­zi­na­tio­nen bei ihm. Viel­leicht war es aber auch sei­ne Phan­ta­sie, die, durch lan­ge Ent­halt­sam­keit ge­mar­tert, ihm da einen Streich spie­len woll­te.

Als die gu­te Fee das Zim­mer wie­der ver­las­sen hat­te, er­hob er sich er­neut. Er sah sich in dem Raum um. Sei­ne Bett­nach­barn ‚schlie­fen’ noch im­mer. Jetzt fiel ihm auch auf, daß sei­ne barm­her­zi­ge Sa­ma­ri­te­rin die bei­den gar nicht be­ach­tet hat­te.

Aber er wun­der­te sich nicht lan­ge dar­über, son­dern ver­such­te, sei­ne Klei­der wie­der­zu­fin­den. Man hat­te ihn in ein le­bens­ech­tes Kran­ken­haus­nacht­hemd ge­steckt. Und da­mit woll­te er selbst in die­ser Spiel­zeug­welt nicht um­her­wan­deln.

Frank öff­ne­te den in die Wand ein­ge­las­se­nen Klei­der­schrank. Dort fand er zwar nicht sei­ne ei­ge­ne Gar­de­ro­be, aber im­mer­hin doch einen ganz passablen An­zug und ein Ober­hemd. Was ihm fehl­te, war Un­ter­wä­sche. Sol­che Uten­si­li­en be­nö­tig­ten die Be­su­cher die­ser Mi­ni­welt ja of­fen­sicht­lich nicht. Da wür­de er sich ir­gend­wie be­hel­fen müs­sen.

Als er dann das Kran­ken­zim­mer er­neut ver­ließ, be­geg­ne­te ihm auf dem Gang wie­der je­ne adret­te Schwes­ter. Sie sah noch im­mer zum An­bei­ßen aus: halb­lan­ge blon­de Haa­re un­ter ei­nem wei­ßen Häub­chen, ein aus­ge­spro­chen hüb­sches Ge­sicht und ei­ne phan­tas­ti­sche Fi­gur. Ih­ren Schöp­fern war da ein per­fek­tes Meis­ter­werk ge­lun­gen.

Frank fühl­te in sich die Ver­su­chung auf­stei­gen, sie in die Wan­ge zu knei­fen. Und er tat es. Gleich dar­auf fand er sich ver­dutzt am Bo­den wie­der, denn die hüb­sche Per­son hat­te ihm ei­ne ge­wal­ti­ge Ohr­fei­ge ver­setzt.

Hoch er­ho­be­nen Hauptes schritt sie von dan­nen. In die­sem Fal­le, fand Frank, ging der Per­fek­tio­nis­mus der Er­schaf­fer der Mi­nia­tur­welt doch ent­schie­den zu weit.

Er er­hob sich und such­te den Aus­gang.

Ei­ne Stun­de spä­ter saß er in dem klei­nen Häus­chen am Wald­rand bei ei­ner letz­ten Fla­sche Bier und dach­te über sei­ne Si­tua­ti­on nach. Es muß­te ganz ein­fach einen Weg ge­ben, an Nah­rungs­mit­tel zu kom­men, oh­ne PLAY­LAND zu ver­las­sen zu müs­sen.

Nach ei­ner wei­te­ren Stun­de in­ten­si­ven Nach­den­kens war ihm schließ­lich ei­ne va­ge Idee ge­kom­men, und er mach­te sich so­fort dar­an, die Mög­lich­kei­ten ih­rer Ver­wirk­li­chung aus­zu­for­schen. Er stieg in den Wa­gen, den er sich zu­vor or­ga­ni­siert hat­te. Durch einen ein­fa­chen Knopf­druck im In­ne­ren konn­te man die Com­pu­ter­au­to­ma­tik au­ßer Kraft set­zen und das Fahr­zeug selb­stän­dig steu­ern.

Frank fuhr in die Rand­zo­ne der rie­si­gen An­la­ge. In ei­ni­ger Ent­fer­nung konn­te er die für ihn wol­ken­krat­zer­ho­he Um­zäu­nung er­ken­nen. Je mehr er sich dem Haupt­ge­bäu­de nä­her­te, de­sto häu­fi­ger wur­de der Zaun durch Lücken un­ter­bro­chen, in die Im­biß­stän­de ein­ge­fügt wa­ren.

Er hielt an und stieg aus. Mit der Stra­ße en­de­te die Mi­nia­tur­welt. Links war noch die per­fekt nach­ge­bil­de­te Land­schaft, rechts fand sich nor­ma­les Gras und Un­kraut, das für Frank jetzt al­ler­dings mehr als manns­hoch war.

Nur sel­ten fuhr ein Wa­gen vor­bei, da die­ser Teil der An­la­ge von den Be­su­chern kaum noch ein­ge­se­hen wer­den konn­te.

Frank setz­te sich in Be­we­gung, und nach fünf Mi­nu­ten stand er in ei­nem klei­nen La­ger­hof hin­ter ei­nem der Im­biß­stän­de. Na­tür­lich wa­ren für ihn jetzt die Aus­ma­ße rie­sig. Er selbst hin­ge­gen muß­te auf einen zu­fäl­li­gen Be­ob­ach­ter nicht grö­ßer als ei­ne Rat­te wir­ken.

Kur­ze Zeit spä­ter hat­te er ent­deckt, was er such­te. Er klet­ter­te auf einen der dort la­gern­den Kar­tons. Zum Glück war der ge­öff­net. Was er sah, ließ sei­ne Hoff­nung stei­gen, nicht ver­hun­gern zu müs­sen. Ei­ne Tü­te Kar­tof­fel­chips lag ne­ben der an­de­ren. Wenn man von sei­ner au­gen­blick­li­chen Grö­ße aus­ging, dann muß­te solch ei­ne Tü­te meh­re­re Ta­ge für sei­ne Er­näh­rung rei­chen.

In an­de­ren Kar­tons ent­deck­te Frank wei­te­re nahr­haf­te Le­cke­rei­en. Au­ßer­dem fand er Ge­trän­ke­do­sen. Und in ei­nem Ei­mer schwam­men rie­si­ge Knack­würst­chen.

Es stell­te sich jetzt al­ler­dings ei­ne ent­schei­den­de Schwie­rig­keit her­aus, als ihm klar wur­de, daß es ihm un­mög­lich sein wür­de, die rie­si­gen Tü­ten und Do­sen zu trans­por­tie­ren.

Doch nach kur­z­er Über­le­gung fiel ihm auch ei­ne Lö­sung für die­ses Pro­blem ein.

Er er­in­ner­te sich, daß im Ge­gen­satz zu je­nen im Haupt­ge­bäu­de die Im­biß­stän­de au­ßer­halb nachts ge­schlos­sen wur­den. Auf die­se Tat­sa­che grün­de­te sich sein Plan, und er mach­te sich so­fort an die Vor­be­rei­tun­gen zu des­sen Aus­füh­rung.

Frank fuhr zu­rück in die Mo­dell­haupt­stadt. Dort war ihm ein Platz be­kannt, an dem nachts für ge­wöhn­lich meh­re­re Tief­la­der ab­ge­stellt wa­ren. Sei­nen ei­ge­nen Wa­gen bug­sier­te er auf die La­de­flä­che ei­nes der Trans­por­ter und fuhr mit die­sem dann zu dem aus­ge­wähl­ten Ki­osk zu­rück. Dort lud er den PKW ab und steu­er­te ihn noch­mals zu­rück in die Stadt, um schließ­lich mit ei­nem Au­to­kran wie­der an der Stra­ße bei dem Im­biß­stand auf­zut­au­chen.

Nach­dem er sich ver­ge­wis­sert hat­te, daß der Ki­osk in­zwi­schen nicht mehr be­wirt­schaf­tet wur­de, lenk­te er zu­nächst vor­sich­tig den Tief­la­der in des­sen In­nen­hof.

Das er­wies sich als recht schwie­rig, weil die Grä­ser sich als kräf­ti­ge Hin­der­nis­se her­aus­stell­ten.

Nach mehr­ma­li­gem Vor- und Zu­rück­sto­ßen stand der Trans­por­ter schließ­lich an der ge­wünsch­ten Stel­le.

Den Au­to­kran eben­falls dort­hin zu brin­gen, war nur noch halb so schwie­rig, weil Frank jetzt le­dig­lich nur noch der vor­be­rei­te­ten Spur zu fol­gen brauch­te. Auch das Be­la­den er­wies sich nicht als Pro­blem.

Und ei­ne Stun­de spä­ter schwenk­te ein mit ei­ner Pa­ckung Kar­tof­fel­chips, ei­ner Bock­wurst und ei­ner Do­se Bier be­la­de­ner Tief­la­der vor­sich­tig von ei­ner halb­ver­wil­der­ten Ra­sen­flä­che auf ei­ne Sei­ten­stra­ße der Mi­nia­tur­welt PLAY­LAND ein.

Frank park­te den großen Last­wa­gen vor sei­nem Wald­re­fu­gi­um. Dann or­ga­ni­sier­te er sich einen wei­te­ren PKW, um den Au­to­kran ab­ho­len zu kön­nen. Spä­ter fuhr er die Stre­cke noch ein­mal, da­mit er den PKW auf­la­den und da­mit jeg­li­che Spur sei­nes nächt­li­chen Be­su­ches be­sei­ti­gen konn­te.

Ge­gen Mor­gen sank er er­schöpft in sein Bett und träum­te von rie­si­gen Kar­tof­fel­chips und ei­ner Do­se Bier, in der er er­trank.

Der Ge­dan­ke an die hüb­sche Kran­ken­schwes­ter ver­folg­te ihn stän­dig. Er spür­te nun doch so et­was wie Ein­sam­keit, und er hat­te Sehn­sucht nach ei­nem We­sen, das die­se Ein­sam­keit mit ihm teil­te. Da­bei fiel ihm im­mer wie­der je­nes net­te blon­de Ge­schöpf ein, das sich im Kran­ken­haus als so aus­ge­spro­chen schlag­fer­tig er­wie­sen hat­te.

Und ei­nes Ta­ges fuhr er dann hin zum Hos­pi­tal in der Stadt.

Er ent­deck­te sie so­fort, als er den Gang zu sei­nem ehe­ma­li­gen Zim­mer hin­ab schlen­der­te. Sie schob einen Wa­gen mit me­di­zi­ni­schen Ge­rät­schaf­ten an ihm vor­bei.

Frank blick­te ihr nach und kratz­te sich am Kinn. Sie sah so ver­flixt gut aus.

Er ließ sich in ei­nem der Ses­sel nie­der, die in der Welt der Le­ben­di­gen den Be­su­chern und Pa­ti­en­ten der Kli­nik vor­be­hal­ten ge­blie­ben wä­ren. Nach kur­z­er Zeit kam sie zu­rück. Sie blieb an ei­nem Schrank ste­hen und han­tier­te dar­an her­um. So hat­te er Ge­le­gen­heit, sie nä­her zu be­trach­ten.

Un­will­kür­lich fiel ihm sein schüt­teres Haar ein, und er muß­te dar­an den­ken, wel­che Schwie­rig­kei­ten er drau­ßen in der Welt hat­te, über­haupt mit ei­nem Mäd­chen in Kon­takt zu tre­ten. Seit­dem er aus dem Knast ent­las­sen wor­den war, hat­te ihm nur Geld über die Run­den ge­hol­fen.

Die blon­de Sa­ma­ri­te­rin dreh­te sich um und schi­en ihn einen Au­gen­blick lang an­zu­se­hen. Über ih­rer rech­ten Brust prang­te ein grü­nes An­steck­schild­chen mit ei­nem Na­men. Trotz al­ler Be­mü­hun­gen konn­te Frank ihn je­doch von hier aus nicht ent­zif­fern. Des­halb stand er auf. Und als sie wie­der den Gang her­un­ter­kam, ver­trat er ihr kur­zer­hand den Weg, so daß sie ihm aus­wei­chen muß­te.

In die­sem kur­z­en Au­gen­blick las er, was ihn so sehr in­ter­es­sier­te: El­ke.

Frank blieb auf dem Gang ste­hen. Als sie wie­der auf ihn zu­kam, stell­te er sich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men vor ihr auf, um ihr den Weg zu ver­sper­ren. Ir­gend­wel­che Sen­so­ren ver­an­laß­ten sie tat­säch­lich ste­hen zu blei­ben.

Er sag­te: „El­ke!“

Sie hob ih­ren Kopf und sah ihm ins Ge­sicht. Frank nahm ih­re Hand, und sie folg­te ihm wil­lig.

Ei­ne Stun­de spä­ter hat­te er sie in einen Ses­sel in sei­nem Wald­haus bug­siert und über­leg­te, was er wei­ter mit ei­nem au­ßer­ge­wöhn­lich hüb­schen Ro­bo­ter un­ter­neh­men konn­te.

Sehr bald schon er­wies sich die­ser weib­li­che Ro­bo­ter als aus­ge­spro­chen an­häng­lich, denn er folg­te Frank über­all­hin. Abends leg­te er sich so­gar ne­ben ihn ins Bett, blieb da­bei aber eis­kalt und be­hielt sei­ne Schwes­tern­kluft an.

Im­mer­hin hat­te Frank nicht mehr das Ge­fühl, völ­lig al­lein zu sein.

Sehr bald nach sei­nem Un­fall hat­te er ver­sucht, her­aus­zu­fin­den, was mit ‚sei­nem’ Wa­gen ge­sche­hen war. Bot der doch nach sei­nen bis­he­ri­gen Er­fah­run­gen die ein­zi­ge Mög­lich­keit, wie­der in die nor­ma­le Welt über­zu­wech­seln.

An der Un­fall­stel­le selbst war nichts mehr zu ent­de­cken ge­we­sen. Dort auf dem klei­nen Markt­platz nahm das ‚Le­ben’ sei­nen ge­wohn­ten Gang.

Frank fuhr zu dem großen Park­haus in der Mo­dell­haups­tadt. Der Park­platz ‚sei­nes’ Wa­gens war leer. Und er blieb es auch noch meh­re­re Wo­chen. Dann war er ei­nes Ta­ges aber plötz­lich wie­der be­setzt – mit sei­nem Wa­gen!

Na­tür­lich stieg Frank nicht so­fort be­den­ken­los ein. Ers­tens war er sich nicht si­cher, ob der Wa­gen jetzt noch die glei­chen Ei­gen­schaf­ten wie zu­vor be­sit­zen wür­de. Au­ßer­dem schi­en ihm der Zeit­punkt nach sei­ner un­frei­wil­li­gen Be­geg­nung mit Leo noch et­was zu früh ge­wählt.

So be­schränk­te er sich dar­auf, das Fahr­zeug im­mer wie­der mal zu be­ob­ach­ten.

Schwes­ter El­ke hat­te sich in der Zwi­schen­zeit als nütz­li­cher Haus­geist er­wie­sen. Es war Frank ge­lun­gen, ihr ei­ni­ge Din­ge bei­zu­brin­gen, die ihm selbst fast das Ge­fühl mensch­li­cher Nä­he ver­mit­tel­ten. Aber das letz­te Quent­chen fehl­te ihm noch zu sei­nem Glück. Denn sie blieb eis­kalt und an­ti­sep­tisch.

Tags­über folg­te sie ihm über­all hin. Abends saß sie ne­ben ihm vor dem Fern­seh­ge­rät. Sie ser­vier­te ihm das Es­sen und ver­sorg­te sei­nen Haus­halt. Und sie war ab­so­lut treu.

Aber wenn er sie be­rühr­te, zeig­te sie kei­ner­lei Re­gung. Un­ter ih­rer Plas­tik­haut wa­ren ih­re me­cha­ni­schen Ge­len­ke nicht für ei­ne mensch­li­che Be­geg­nung pro­gram­miert.

Ein hal­b­es Jahr nach sei­nem Un­fall glaub­te Frank, es wa­gen zu kön­nen, die Au­ßen­welt auf­zu­su­chen. Si­cher­heits­hal­ber nahm er den Geld­kof­fer mit sich, um für al­le Even­tua­li­tä­ten ge­wapp­net zu sein.

El­ke folg­te ihm. Und als er im großen Park­haus in sei­nen Wa­gen um­stieg, saß sie plötz­lich ne­ben ihm. Wirk­lich ver­blüfft war er aber erst, als er den Wa­gen­schlag er­neut ge­öff­net hat­te und sie auf ein­mal ne­ben ihm in vol­ler Le­bens­grö­ße in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le stand.

Ver­wirrt mach­te er zwei Schrit­te auf sie zu. Sie sah auf ein­mal gar nicht mehr wie ein un­ter­kühl­tes Ro­boter­we­sen, son­dern ver­flucht mensch­lich aus.

Der Blick ih­rer Au­gen wirk­te ver­liebt. Und als sie sag­te: „Laß uns nach Hau­se ge­hen!“, lös­te Frank um­ge­hend einen Be­rech­ti­gungs­schein für sei­nen Wa­gen.

Nach­dem er dann Stun­den spä­ter fest­ge­stellt hat­te, daß sie ganz wirk­lich und le­ben­dig war, er­kann­te er, daß erst jetzt sein Coup für ihn tat­säch­lich loh­nend wur­de. El­ke war die Er­fül­lung al­ler sei­ner ge­heims­ten Träu­me und Wün­sche. Sie gab ihm Ge­bor­gen­heit und Wär­me. Und Frank spür­te, daß er zum ers­ten­mal in sei­nem Le­ben lieb­te.

Die­ser Zu­stand hielt ein hal­b­es Jahr an. Dann woll­te er mehr.

Er schnapp­te sich ein­fach ein an­de­res hüb­sches Ro­bo­ter­mäd­chen, ver­frach­te­te es in ‚sei­nen’ Wa­gen und stieg mit ihm in der Si­mu­la­ti­ons­hal­le aus.

Mit der Zeit wie­der­hol­te er die­sen Vor­gang noch ein paar­mal. Und schließ­lich hat­te er sich nach ei­nem Jahr einen rich­ti­gen klei­nen Ha­rem zu­ge­legt.

Da­bei lieb­ten ihn al­le sei­ne Mäd­chen. Es gab kei­ne Ei­fer­süch­te­lei­en zwi­schen ih­nen. Kei­ne frag­te, wenn er ei­ne an­de­re be­vor­zug­te.

So war es zu ver­ste­hen, daß Frank schließ­lich den Ent­schluß faß­te, sich end­gül­tig in die­ser Welt zu eta­blie­ren. In­zwi­schen fühl­te er sich auch wie­der so si­cher, daß er sei­ne Ein­käu­fe in den Su­per­märk­ten in der Um­ge­bung von PLAY­LAND er­neut auf­nahm.

Frank leb­te jetzt be­reits zwei Jah­re in sei­ner klei­nen Welt. Er kann­te sie bis in den letz­ten Win­kel. Wirk­li­che Men­schen be­tra­ten die An­la­ge au­ßer­halb der Be­su­cher­we­ge nur sel­ten, um ir­gend­wel­che Re­pa­ra­tu­r­ar­bei­ten vor­zu­neh­men. Meis­tens wur­de das Not­wen­di­ge voll­au­to­ma­tisch er­le­digt.

Die Be­su­cher des PLAY­LAND-Parks, die auf je­nen Stel­zen­we­gen, die das ge­sam­te Ge­län­de über­spann­ten, fla­nier­ten, be­un­ru­hig­ten Frank nicht. Konn­te doch nie­mand von ih­nen ah­nen, daß sich dort un­ten ei­ner der ih­ren en mi­nia­ture be­fand.

Wenn er in die Nä­he die­ser We­ge kam, sah er schon manch­mal zu de­nen auf, die dort wie die sa­gen­haf­ten Rie­sen in den Him­mel rag­ten und ih­re lan­gen Schat­ten war­fen. Ei­ni­ge Ma­le fühl­te er sich ver­sucht, ih­nen zu­zu­win­ken. Aber er un­ter­ließ es.

Ei­gen­ar­ti­ger­wei­se schi­en auch der Zen­tral­com­pu­ter sei­ne An­we­sen­heit auf der An­la­ge nicht zu be­mer­ken. Selbst auf die Ver­wand­lung der Mäd­chen­ro­bo­ter rea­gier­te er nicht.

Als Frank ei­nes Ta­ges ge­ra­de wie­der sein Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeug nach ei­nem aus­ge­dehn­ten Ein­kaufs­bum­mel be­stieg, hat­te er das un­be­stimm­te Ge­fühl, be­ob­ach­tet zu wer­den. Er sah sich um, konn­te aber kei­nen auf­fäl­li­gen Be­trach­ter ent­de­cken. So fühl­te er sich zu­nächst nicht wei­ter be­un­ru­higt.

Als sich aber einen Mo­nat spä­ter die­ses Ge­fühl des Be­ob­ach­tet­wer­dens wie­der­hol­te, wur­de er doch ein we­nig un­si­cher.

Die völ­li­ge Ge­wiß­heit, daß man ihn er­neut auf­ge­spürt hat­te, er­hielt er dann ein paar Wo­chen spä­ter, als er auf dem Bei­fah­rer­sitz sei­nes Si­mu­la­ti­ons­fahr­zeu­ges einen wei­ßen Brief­um­schlag vor­fand. Er ent­hielt einen Pa­pier­bo­gen, auf dem le­dig­lich die Wor­te stan­den:

„Leo sieht dich!“

Da be­schloß Frank Mel­ro­se, sei­ne Welt von nun an nie­mals mehr zu ver­las­sen. Es hat­te sich ja als mög­lich er­wie­sen, auch oh­ne die An­nehm­lich­kei­ten der Au­ßen­welt zu über­le­ben. Und sei­ne Mäd­chen wür­den ihm das Le­ben so an­ge­nehm wie nur vor­stell­bar ma­chen.

Nach ei­nem hal­b­en Jahr hat­te er die Dro­hung na­he­zu völ­lig ver­ges­sen.

Er war mit Ve­ro­ni­ka, sei­ner der­zei­ti­gen Fa­vo­ri­tin, an den großen See ge­fah­ren. Sie hat­ten ei­ne Aus­flugs­fahrt mit dem Damp­fer un­ter­nom­men und sa­ßen jetzt in dem Strand­café. Die vor ih­nen vom Kell­ner auf­ge­bau­ten Herr­lich­kei­ten lie­ßen sie un­be­ach­tet, da sie un­ge­nieß­ba­re At­trap­pen wa­ren.

In ge­rin­ger Ent­fer­nung zog sich ein Be­su­cher­steg ent­lang, auf dem die Rie­sen aus der Men­schen­welt dem bun­ten Trei­ben in der Zwer­gen­welt un­ter ih­nen zu­sa­hen.

Frank und Ve­ro­ni­ka be­ob­ach­te­ten eben­falls die vie­len Ro­bo­ter, die mensch­li­ches Ver­hal­ten vor­spiel­ten. Er hielt ih­re Hand, die sich ganz warm und fest an­fühl­te. Sie strei­chel­te sei­ne Schlä­fen und flüs­ter­te ihm ver­lieb­te Wor­te ins Ohr.

Ve­ro­ni­ka be­nahm sich durch und durch mensch­lich, ob­wohl auch sie noch bis vor kur­z­em ein Ro­bo­ter ge­we­sen war.

Frank hat­te im­mer wie­der ver­sucht her­aus­zu­fin­den, ob es bei sei­nen Mäd­chen so et­was wie ei­ne Er­in­ne­rung an ihr vor­he­ri­ges ‚Le­ben’ gab. Aber ihr Be­wußt­sein schi­en erst bei dem Mo­ment ein­zu­set­zen, als er sie mit in die Si­mu­la­ti­ons­hal­le ge­nom­men hat­te.

Viel­leicht lag dar­in auch die Be­grün­dung, daß sie kei­ne der ne­ga­ti­ven mensch­li­chen Ei­gen­schaf­ten be­sa­ßen – der für ihn ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaf­ten.

Er war sehr zu­frie­den.

Plötz­lich be­merk­te Frank einen Schat­ten. In­stink­tiv sah er auf. Auf der Be­su­cher­brücke er­kann­te er rie­sen­groß Leo.

Ein paar Trop­fen glit­zer­ten in der Son­ne auf, die aus der Co­la­do­se spritz­ten, die ge­ra­de Leos Hand ver­las­sen hat­te.

Frank hat­te kei­ne Zeit mehr, sich weg­zu­du­cken.

Manch ei­ner der Be­su­cher glaub­te, einen win­zi­gen Schrei zu ver­neh­men, als ei­ne der Mi­nia­tur­fi­gu­ren dort un­ten von ei­ner Ge­trän­ke­do­se er­schla­gen wur­de.

In der Si­mu­la­ti­ons­hal­le er­war­te­te Leo Ve­ro­ni­ka, die mit dem Geld­kof­fer so­wie El­ke, Ro­si, Sil­via und Re­na­te aus ei­ner der Fahr­zeu­gat­trap­pen stieg.