Hans-Dieter
Marx
Cola mit Schuß
Es war ein seltsamer Zufall, der Frank Melrose die todsichere Chance zur Verwirklichung bürgerlich-moralisch höchst verwerflicher, seinem eigenen Wohlbefinden jedoch äußerst zuträglicher Pläne offenbarte. Wenn man zwölf Jahre seines Lebens im Knast verbracht hat, ergreift man die erstbeste Gelegenheit, um wenigstens noch etwas davon zu erhaschen, was einem das mißgünstige Schicksal so lange vorenthalten hat. Allerdings ist zu oft dann die erfaßte Gelegenheit so windig, daß man bald wieder dort sitzt, wo man hergekommen ist – hinter Schloß und Riegel.
Für Frank Melrose jedoch schien sich eine Möglichkeit zu offenbaren, die ihm in der Tat eine sorgenfreie Zukunft garantieren konnte.
Aber den Ereignissen soll hier nicht vorgegriffen werden.
Zunächst stellte sich auch für ihn, als er sein erstes Bier in der Kneipe gegenüber der Strafanstalt hinunterschüttete, die Welt ziemlich trostlos dar. Seine besten Freunde saßen alle noch, und Familie hatte er keine mehr.
Er würde natürlich versuchen, einige der alten Verbindungen wiederaufzunehmen. Aber er war sich nicht so sicher, ob man ihn überall mit offenen Armen empfangen würde. Noch waren längst nicht alle Rechnungen beglichen.
Frank hatte das vierzigste Lebensjahr gerade überschritten. Er war von mittelgroßer Statur, hatte schütteres, dunkelblondes Haar und eine blasse Gesichtsfarbe, die mit seiner augenblicklichen Herkunft zusammenhing. Er trug eine billige Trevirakombination, bestehend aus einer hellgrauen Hose und einem dunkelblauen Jackett. Neben seinem Stuhl hatte er einen kleinen braunen Koffer abgestellt, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt.
Es war zehn Uhr morgens, und er war der einzige Gast in dem dämmrigen Lokal. Der Wirt brachte ihm ein neues Bier und setzte sich neben ihn.
„Du kommst von drüben?“
Der Wirt nickte zur Anstalt hinüber. Frank zog an seiner Zigarette und schwieg.
„Hast du schon was, wo du hingehst? Ich hätt’ hier ’n paar Adressen. Sind Freunde von mir. Die würden so einem wie dir weiterhelfen. – Na ja, für die eine oder andere kleine Gefälligkeit.“
„Für Gefälligkeiten hab ich zwölf Jahre gesessen. Weil ich aus Gefälligkeit das Maul gehalten hab!“
Frank schüttelte ablehnend den Kopf.
„Bist schwer sauer, was?“ Der Wirt grinste. „Bist du übers Ohr gehauen worden? Bei meinen Freunden ist so was nicht drin, klar!?“
Er stand auf, trat hinter die Theke und zapfte sich selbst ein Glas.
„Ich bin dir ehrlich gerne behilflich. Wenn du kein’ hast, stehst du hier draußen doch echt aufm Schlauch. Und dann bist du so und so bald wieder drin.“
Frank ging hinüber zum Automaten, wo er sich eine weitere Schachtel Zigaretten zog. Dann kam er zum Tisch zurück und setzte sich wieder. Der Wirt bot ihm Feuer an.
Nach ein paar tiefen Zügen fragte er:
„Du weißt also was für mich?“
Der Wirt schlug ihm auf die Schultern.
„Ich wüßt’ schon was! Du kannst dich sogar erst mal erholen und an die Luft hier draußen gewöhnen. Es gibt Bedingungen. Aber die erfährst du. Und – auf meine Freunde kannst du dich verlassen!“
Eine Stunde später stand Frank vor einem alten fünfstöckigen Haus im Bahnhofsviertel und studierte die Namensschilder neben den Klingelknöpfen.
Bevor er läutete, versuchte er die Haustür. Sie war nur angelehnt.
Er stieg zum vierten Stock empor und blieb vor einer Tür mit Rauhglasscheiben stehen, durch die ein Lichtschein aus dem Innern der Wohnung in das düstere Treppenhaus fiel.
Er läutete. Aber zunächst tat sich nichts, so daß er seinen Versuch wiederholte. Dann hörte er, wie drinnen jemand umherging. Doch es dauerte noch mehrere Minuten, bevor die Tür geöffnet wurde. Eine verschlafene Brünette im Morgenrock starrte ihm mißmutig entgegen.
„Der Wirt von der ‚Letzten Zuflucht’ schickt mich her.“
„Komm rein!“
Sie öffnete die Tür weiter, ohne daß jedoch ihr Gesichtsausdruck freundlicher wurde.
Frank trat in eine üppig ausgestattete Diele. Ein dunkelroter Teppich, hellblaue Tapeten mit Goldmuster und riesige Spiegel erzeugten eine recht schwüle Atmosphäre. Mehrere geschlossene Türen verteilten sich links und rechts des Ganges. Im Hintergrund stand eine halb offen.
„Leo Schatz, da ist Besuch für dich“, rief die Brünette.
Aus dem offenstehenden Zimmer kam das Gebrummel einer männlichen Stimme.
„Komm mit!“ forderte das Mädchen Frank auf.
Er hatte seinen Koffer abgestellt und folgte ihr unsicher. Der Raum, den sie betraten, enthielt nichts weiter als ein riesiges rundes Bett, einen Fernsehapparat und eine Stereoanlage mit gewaltig dimensionierten Lautsprechern unter der Decke.
Zwischen Kissen und zerwühlten Laken entdeckte Frank eine nackte männliche Gestalt, die allerdings im Augenblick nicht bereit schien, sich mit ihm abzugeben. Das Mädchen warf den Bademantel von sich und verkroch sich unter die Bettdecke. Frank verspürte ein trockenes Kratzen im Hals.
Schließlich drehte der Mann sich auf den Rücken und starrte ihn an.
„Scheißkerl!“ war sein wenig freundlicher Gruß. Das Mädchen sagte nichts.
„Ich hau ab und komm später wieder.“ Eine Entschuldigung fiel Frank nicht ein.
Der Mann angelte sich ein Päckchen Zigaretten vom Boden.
„Jetzt scheiß dir nicht ins Hemd! Toni schickt dich her? Kommst du von drinnen?“
„Du würdest mir helfen!“
„Hat er dir die Bedingungen erklärt?“
„Ungefähr. Aber ich brauch erst mal ’n paar Tage Zeit.“
Der Mann gähnte unverhohlen.
„Okay! Jo, Baby, zeig ihm sein Zimmer! Aber bleib nicht so lange!“
Eine Stunde später – Frank hatte seine wenigen Habseligkeiten im Schrank verstaut und auf dem Bett liegend ein paar Zigaretten mehr geraucht – klopfte es kurz, und Leo trat ins Zimmer. Er war jetzt frisch rasiert und ausgesprochen elegant gekleidet. Eine Spur zu auffällig, fand Frank.
Leo lehnte sich an den Türrahmen.
„Weshalb warst du drin?“
Frank drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und setzte sich auf.
„Weil mich jemand hochgehen ließ.“
„Du weißt, wer’s war?“
„Klar!“
„Und?“
„Da ist nix mehr ‚und’. Den hat’s kurz darauf erwischt. Für immer!“
„Zwölf Jahre sind ein Haufen Zeug!?“
„Da war ’n Nachtwächter!“
„Du hast ihn …?“
„Ich hab’s erst hinterher erfahren. Umlegen wollt ich ihn nicht. Ehrlich!“
„Wie viele wart ihr?“
„Drei.“
Leo ging zum Fenster und ließ sich dort in einen der tiefen Plüschsessel fallen.
Das Zimmer wies eine recht komfortable Einrichtung auf. Der Breite des Bettes nach zu urteilen war es normalerweise nicht nur für eine Person als Nachtquartier gedacht.
„Wer war noch drin?“
Leo schien wirklich sehr interessiert.
„Nur ich! Ich hab keinen verpfiffen! Nicht mal, als die Säue mich haben hängen lassen.“
Frank zündete sich erneut eine Zigarette an. Er rauchte nicht aus Nervosität, sondern weil er es genoß, es sich zum ersten Mal wieder richtig leisten zu können.
Leo beobachtete ihn aufmerksam.
„Du hast von denen noch was zu kriegen?!“
„Klar!“ Frank inhalierte den Rauch tief. „Dreißig Mille mindestens.“
„Wann holst du dir’s?“
„Im Augenblick weiß ich noch nicht, wie ich drankommen kann. Der eine ist ja nicht mehr. Und der andere sitzt jetzt wegen ’ner Sache, die später gelaufen ist. Fünf Jahre hat er, glaube ich, noch.“
„Schöne Scheiße, was?!“
Leo brachte es fertig, richtig teilnahmsvoll auszusehen. Frank überging seinen Kommentar.
Das Mädchen, das Jo hieß, trat ins Zimmer. Sie trug noch immer den Morgenmantel, war jetzt aber frisch geschminkt und hatte ihr Haar frisiert. Sie brachte eine Flasche Whisky und drei Gläser mit.
„Du hast recht, Baby!“ stimmte Leo zu, „laß uns Frank helfen, seinen Schicksalsschlag zu verdauen!“
„Steigt er bei uns ein?“ fragte Jo.
„Ich hab mich noch nicht erkundigt. Aber so wie es aussieht, bleibt ihm wohl gar keine andere Wahl.“
Leo schenkte in jedes Glas zwei Finger breit Whisky ein.
„Ja, mein Junge, wir bieten dir die Chance deines Lebens. Dein Name ist immer noch gut, das weiß ich bereits. Deine Talente sollen nicht ungenutzt verkümmern.“
Damit hob er sein Glas und prostete den beiden anderen zu.
Zwei Stunden später war Frank in den vollständigen Plan eingeweiht. Der klang wirklich sehr vielversprechend. Und es sollte eine glatte Million dabei herausspringen, die durch fünf zu teilen war.
Der Form halber bat er sich Bedenkzeit aus. Im Grunde war er längst dazu entschlossen, sich an der Sache zu beteiligen. Und er hatte auch durchaus die Absicht, ein ehrliches Spiel zu spielen – wie man es in seinen Kreisen von ihm gewohnt war.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings ahnte er noch nicht, daß ihm noch am selben Tag eine Möglichkeit vor Augen geführt werden würde, die sehr schnell seine lauteren Absichten in Frage stellte.
Leo hatte ihm einen Wagen besorgt, mit dem er sich am späten Nachmittag im Feierabendverkehr aus der Stadt heraustreiben ließ. Vieles hatte sich verändert und war neu für ihn. Langweilige Hochhaussiedlungen waren in den Außenbezirken emporgewachsen, in die deren Bewohner jetzt zum Schlafen zurückkehrten.
Als der Verkehr dünner wurde, beschleunigte Frank den Wagen. Erst jetzt überkam ihn eigentlich so richtig das Gefühl, wieder in Freiheit zu sein.
Er hatte inzwischen mehrere Dörfer und kleine Städte durchfahren, und immer wieder waren ihm große Reklametafeln aufgefallen mit der Aufschrift:
„Besuchen Sie PLAYLAND – Dr. Biegers Miniwelt!“
Die grellbunten Tafeln waren ziemlich störend in die sie umgebende Natur gepflanzt. Die zwölf Jahre hinter Zuchthausmauern hatten ihn, Frank Melrose, zum Träumer werden lassen. Er, der bedenkenlos einen Menschen niedergeknallt hatte, träumte von einer heilen Welt, von einem Häuschen am Wald, allein und unbehelligt. Die bunten Schilder forderten ihn heraus, störten ihn, weil sie so aufdringlich an die Bäume genagelt waren, die zu dem Wald gehörten, der dem Flußufer folgte, an dem er gerade entlangfuhr.
Aber unbewußt ließ er sich von ihnen beeinflussen und folgte ihren Wegweisern, die ihn schließlich auf den Parkplatz vor jenem PLAYLAND einbiegen ließen.
Von einer riesigen Schilderbrücke strahlte eine monumentale Leuchtreklame in die hereinbrechende Dämmerung:
„PLAYLAND – MINIWELT“
Und darunter in kleineren Buchstaben:
„24 Stunden geöffnet.“
Frank steuerte zwischen den geparkten Wagen hindurch, bis er eine freie Lücke fand. Er war sich nicht darüber im klaren, weshalb er hier eigentlich anhielt.
Nahezu jede Parkbucht des riesigen Platzes war von einem Fahrzeug besetzt. In einem abgegrenzten Bereich standen mehrere Dutzend Reisebusse. Weißuniformierte Lotsen wiesen die ankommenden Wagen in freigewordene Lücken.
Als Frank ausstieg, eilte einer von ihnen auf ihn zu, heftete einen kleinen Zettel an die Windschutzscheibe und forderte Parkgebühr.
Jenseits des Platzes lag ein flaches, halbhohes Gebäude, das an einen gewaltig überdimensionierten Supermarkt erinnerte.
Auf dessen Glasfront, die den Eingang bildete, marschierte Frank zu und betrat dann eine Halle, die von regem Leben erfüllt war. In die Wände waren große Glasvitrinen eingelassen, vor denen sich jeweils Menschentrauben gebildet hatten, so daß zunächst nicht erkennbar war, was die Vitrinen enthielten.
Frank schlenderte auf eine der Gruppen zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas sehen zu können. Ihm fielen ein paar vorzüglich nachgebildete Modelle verschiedenartiger Kraftfahrzeuge auf, die die Gegenstände der allgemeinen Bewunderung zu sein schienen. Sie waren in einem Größenverhältnis von etwa 1:20 nachgebaut und wirkten verblüffend naturgetreu.
Als ein Vater die Fragen seiner beiden Sprößlinge zu beantworten versuchte, hörte Frank bereits interessiert zu.
„Die Autos könnt ihr nachher wirklich fahren sehen. Ja, und auch die Züge! Da laufen außerdem Figuren rum, die wie richtige kleine Menschen aussehen. Das sind alles kleine Roboter oder Computer, die wahrscheinlich irgendwie mit Funk gesteuert werden. Ich weiß das doch auch nicht so ganz genau!“
Frank ließ sich langsam weiterschieben. Er landete schließlich am Ende einer Menschenschlange, die vor einem Kassenschalter wartete. Der Eintrittspreis, den er zu entrichten hatte, erschien ihm recht hoch. Aber er erhielt zusammen mit seiner Karte ein buntbebildertes Informationsheft.
Bevor er durch die Sperre trat, die den eigentlichen Zugang zum PLAYLAND bildete, holte er sich an einem der zahlreichen Imbißstände eine Dose Bier und eine Bratwurst und ließ sich in der Mitte der Halle auf einer der Polsterbänke nieder.
Während er aß, blätterte er in dem bunten Prospekt. Aus ihm erfuhr er, daß PLAYLAND von einem Computerfachmann aufgebaut worden war, der sich mit ein paar Elektronikexperten zusammengetan hatte. Der Prospekt schilderte jenen Professor Bieger als ein wahrhaftes Genie.
Und was das Heft ihm weiter verhieß, erweckte schließlich endgültig Franks Interesse. Nicht nur sollte auf einem mehr als zehn Quadratkilometer großen Gelände eine vollkommene Miniaturwelt bewundert werden können, sondern in naturgetreu nachgebildeten Attrappen, die man besteigen konnte, sollte die Illusion einer tatsächlichen Fahrt durch diese Wunderwelt erzeugt werden.
„Sie setzen sich in einen Bus, in einen PKW, in einen Eisenbahnwagen. Der Bus, das Auto, der Zug scheint nun wirklich unterwegs zu sein. Sie sehen aus dem Fenster und entdecken Städte, Dörfer, Wald und Seen. Menschen gehen ihren Beschäftigungen nach.
Erzeugt wird diese Illusion durch winzige Kameras, die in dem Modell, das mit Ihrer Fahrzeugattrappe durch Funk gekoppelt ist, den Teil von PLAYLAND aufnehmen, den es gerade durchfährt. Eine komplizierte Technik erzeugt den Eindruck der tatsächlichen Bewegung.
Lösen Sie eine Zusatzkarte, und erleben Sie eine Fahrt durch PLAYLAND.“
Und unter dem Foto einer glücklich strahlenden Familie im PKW war zu lesen:
„Wenn Sie wollen, können Sie sogar Ihr Fahrzeug selbständig steuern. Erkundigen Sie sich an unseren Informationsständen.“
Anderthalb Stunden lang wanderte Frank über das Gelände der Miniaturanlage. Die exakte Gestaltung der Landschaft und die naturgetreuen Nachbildungen von Fahrzeugen und Gebäuden beeindruckten ihn sehr. Am meisten verblüfften ihn allerdings die kleinen Figuren, die die Rollen der Menschen in dieser Welt übernommen hatten. Sie schienen tatsächlich zu leben.
Das riesige Gelände war in diese Miniwelt vollkommen integriert. Der Besucher wanderte auf Wegen, die auf Stelzen die Anlage überspannten. Unter ihm brausten Züge durch den Abend. Auf Autobahnen bildeten sich Fahrzeugkolonnen an Baustellen. Und in den Städten strebte die Rush-hour ihrem Höhepunkt entgegen.
Schleppkähne trieben langsam einen Fluß hinunter. In Ufernähe tummelten sich Ruderboote. Und in der Luft zogen Flugzeuge ihre Kreise.
Nachdem Frank das große Hauptgebäude wieder betreten hatte, entdeckte er den Wegweiser mit der Aufschrift „Zu den Simulationsmodellen.“ Vorbei an der Anlage eines großen Kopfbahnhofes, auf dem hektische Betriebsamkeit herrschte, führten die Hinweise zu einer Halle, die mit Fahrzeugen aller Art vollgeparkt schien.
Ein stetiges Rauschen überdeckte alle anderen Geräusche. Frank stellte fest, daß es von den Rädern der Autos und Busse herrührte, die sich auf Rollen ständig drehten. Hinter den Scheiben der Fahrzeuge waren Menschen zu erkennen, die scheinbar interessiert nach draußen sahen.
Frank begab sich zu einem der Informationsschalter.
„Was geschieht, wenn ich mich in solch ein Simulationsmodell setze?“ erkundigte er sich.
„Sie haben den vollkommenen Eindruck, wirklich in einem Omnibus oder einem Automobil zu sitzen. Wenn Sie wollen, können Sie auch eine Bahnfahrt, eine Tour auf einem Ausflugsdampfer oder einen Flug über PLAYLAND erleben. Eines der Miniaturmodelle draußen auf der Anlage ist mit Ihrem Simulationsfahrzeug über Funk verbunden. Winzige Fernsehkameras lassen die Illusion zu, eine Fahrt ganz wirklich zu erleben.“
Das hatte Frank bereits aus dem Prospekt herausgelesen. Die Dame in der hellgrünen Uniform lächelte freundlich-unverbindlich.
„Sie können allerdings auch selbst solch ein Fahrzeug über die Anlage steuern. Das ist nicht anders, als wenn Sie richtig Auto fahren.“
Sie schob ihm eine Broschüre über den Tresen zu. Frank nahm sie an sich und blätterte unschlüssig darin herum.
„Die Preise finden Sie auf der letzten Seite!“
„Was kostet es, wenn ich ein Fahrzeug selbst steuern möchte?“
Er hatte sich entschlossen.
„Eine Stunde Fahrtzeit kostet einhundertfünfzig Mark. Das ist teuer!“ beeilte sie sich hinzuzufügen, als sie seinen bestürzten Blick sah.
„Sie können aber bis zu vier weitere Personen mitnehmen. Und bedenken Sie, was Ihnen dafür geboten wird! Sie können, wenn Sie wollen, gleich hier bei mir buchen!“
Was er dann erlebte, machte Frank vollends sprachlos. Er durchfuhr die Miniaturstädte und Dörfer, die er vorher auf seinem Rundgang gesehen hatte. Und er hatte den vollkommenen Eindruck, draußen statt einer nachgebildeten Welt richtige Menschen und Landschaften vorbeigleiten zu sehen.
Er steuerte auf den Marktplatz eines kleinen Städtchens und hielt an. Durch die Scheiben seines Wagens beobachtete er lebhaftes Treiben. Vor einem Kino hatte sich eine Menschenschlange aufgereiht, die langsam im Eingang verschwand. An einer Trinkbude fläzten sich ein paar abgerissene Männer herum, die offensichtlich schon reichlich dem Alkohol zugesprochen hatten. Ein junges Mädchen kaufte sich am Zeitungsstand gerade eine Zeitschrift und stieg dann in einen Wagen, hinter dessen Steuer ein Mann gewartet hatte. Die beiden fuhren gleich davon.
Um einen Brunnen herum saß eine Gruppe von Jugendlichen in ausgelassener Stimmung. Weitere junge Leute auf Mopeds und Motorrädern stießen dazu. Eine ältere Dame führte ihr Hündchen an den romantischen Fassaden der Häuserzellen gegenüber entlang.
Dann quietschte eine altertümliche Straßenbahn um die Ecke und hielt genau vor dem Kino. Die Fahrgäste, die ausgestiegen waren, verschwanden in den Seitenstraßen.
Zwischen den mächtigen Kastanienbäumen tollten Kinder umher, deren Eltern ihnen offensichtlich trotz vorgerückter Abendstunde noch Ausgang gewährten.
Ein Liebespaar überquerte langsam den Platz und kam dicht an Franks Wagen vorüber. Die beiden bemerkten ihn gar nicht und gingen eng umschlungen weiter.
Jenseits des Platzes lagen Menschen in den Fenstern der Häuser und sahen dem abendlichen Treiben zu. In den Glaszylindern verschnörkelter Gaslaternen flammten die Lichter auf.
Frank hatte auf einmal das Bedürfnis, auszusteigen und sich unter die Leute zu mischen; zur Trinkhalle hinüberzugehen und mit den Pennern ein Bier zu trinken.
Er öffnete den Wagenschlag – und stand auf dem Marktplatz.
Zuerst kam ihm gar nicht das Unwirkliche dieser Situation zu Bewußtsein. Er machte ein paar Schritte auf die Trinkbude zu – dann erschrak er.
Er stand hier in einer Miniaturwelt zwischen winzigen Robotern. Und er war nicht größer als diese.
In der Ferne entdeckte er den riesigen schwarzen Schatten eines der Besucherwege auf Stelzen. Voller Panik stürzte er zu seinem Wagen zurück, startete den sofort und versuchte, zu dem Ausgangspunkt seiner Fahrt zurückzufinden, was ihm jedoch in seiner Aufregung nicht gelang.
Nachdem die eine Stunde Fahrtzeit schließlich nahezu abgelaufen war, rollte das Fahrzeug selbständig, ohne daß Frank regulierend hätte eingreifen können, dorthin zurück, von wo aus es gestartet war, einem riesigen Parkhaus inmitten einer Großstadt. Dort hielt es an.
Frank stieg aus und fand sich in der ausgedehnten Halle mit den Simulationsfahrzeugen wieder. Ein Familienvater mit drei Kindern wartete bereits darauf, seinen Wagen besteigen zu dürfen.
Zuerst zündete Frank sich eine Zigarette an und machte benommen ein paar Züge. Hinter den Scheiben der Simulationsfahrzeuge sah er die Gesichter der Menschen, die staunend nach draußen blickten.
Einige Minuten später steuerte er auf den Informationsstand zu. Die Dame in Grün lächelte ihm freundlich entgegen.
„Hatten Sie eine angenehme Fahrt?“
„Was geschieht eigentlich, wenn man unterwegs aussteigt?“ fragte er ziemlich heftig dagegen. „Sie können selbstverständlich jederzeit aussteigen!“
Die Dame musterte ihn erstaunt.
„Ihre Fahrtzeit läuft allerdings weiter. Hatten Sie irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Türmechanismus?“
Frank schüttelte den Kopf.
„Ich möchte wissen, wo man sich befindet, wenn man während der Fahrt aussteigt.“
Jetzt lächelte die Dame sehr spöttisch.
„Sie steigen natürlich in der Simulationshalle aus.“
Sie kicherte belustigt.
„Soweit sind wir bisher mit unserer Wundertechnik noch nicht, daß wir Sie in unsere Miniwelt verpflanzen könnten.“
Frank sah sie verwirrt an.
„Ich …“ setzte er an; doch er brach ab und verließ eilig das Gebäude.
Ein paar Tage später löste er erneut eine Karte für eines der selbst zu steuernden Fahrzeuge. Das Wetter war regnerisch, und er hatte das Gefühl, das es schwierig sei, den Wagen auf der Straße zu halten.
Kaum hatte er die Stadt verlassen, hielt er an und stieg aus. Er stand in der Simulationshalle.
Sofort setzte er sich wieder hinter das Steuer und schloß den Schlag. Dann versuchte er die kleine Stadt wiederzufinden, in der er jenes seltsame Erlebnis seiner Miniaturwerdung gehabt hatte.
Er steuerte sofort den Marktplatz an. Dort hielt er in der Nähe des Imbißstandes und stieg von neuem aus. Wieder befand er sich in der Simulationshalle.
Der Parkplatz, auf dem er Tage zuvor gestanden hatte, war mit einem kleinen Kombiwagen besetzt. Frank wartete. Nach kurzer Zeit verließ ein Mann die Theke der Trinkhalle und stieg in den Lieferwagen ein.
Frank verlor keine Minute und versuchte, sein Fahrzeug möglichst genauso wie an jenem denkwürdigen Abend dort zu parken. Dann stieg er wiederum aus. Er befand sich in der Halle mit den Simulationsmodellen.
Doch er gab nicht auf. Er versuchte sich an die genaue Zeit zu erinnern, zu der er an jenem Abend auf dem Marktplatz angehalten hatte. Und als ihm die Zeit gekommen schien, stand er erneut mit einem Wagen der Trinkhalle gegenüber.
In der Simulationshalle wunderten sich einige der Besucher über jenen seltsamen Zeitgenossen, der ständig in sein Fahrzeugmodell ein- und ausstieg.
Schließlich mietete Frank sich noch einmal den Wagen, mit dem er am ersten Abend durch PLAYLAND gefahren war. Er wartete, bis Wochentag und Zeit stimmten, bevor er ein letztes Mal experimentierte.
Dann hielt er wieder auf dem Marktplatz jenes romantischen kleinen Städtchens an. Die Situation schien ihm seltsam vertraut. Menschen verschwanden im Kino, Penner belagerten die Trinkhalle, und Jugendliche alberten fröhlich am Brunnen herum.
Nachdem die Straßenbahn verschwunden war, kam das Liebespaar wieder auf seinen Wagen zu. Er ließ die beiden passieren. Dann stieg er aus – und stand auf dem Marktplatz.
Er setzte sich sofort zurück in den Wagen und wiederholte dann seinen Versuch. Wie vorher stand er zwischen den kleinen Robotern, die vorprogrammiert ihre Rollen spielten.
Dann parkte er an einer anderen Stelle. Als er dort ausstieg, blickte er in die erstaunten Gesichter der Besucher, die die Simulationsmodelle bewunderten.
Frank Melrose fand im Laufe der Zeit schließlich heraus, daß er nur mit diesem speziellen Wagen und lediglich auf jenem bestimmtem Platz auf dem Marktplatz des kleinen Städtchens den seltsamen Effekt wiederholen konnte. Allerdings war er dabei weder an einen besonderen Tag noch an eine festgelegte Zeit gebunden.
Bis er das mit letzter Sicherheit wußte, war sein Plan schon längst herangereift.
Er bereitete sich sorgfältig vor.
Schließlich war sein Geld, das er sich in zwölf Jahren Haftzeit zusammengespart hatte, nahezu aufgebraucht. Es wurde notwendig, daß der große Coup endgültig gestartet wurde.
Auf Franks Anregung hin war beschlossen worden, sich nach dem Überfall zunächst gleich zu trennen, um die Fahndung zu erschweren. Außerdem war es ihm gelungen, von den anderen dafür bestimmt zu werden, mit der Beute zu verschwinden und diese am vereinbarten Treffpunkt zu deponieren. In Umweltkreisen genoß Frank noch immer einen guten Ruf, und die anderen schienen ihm zu vertrauen.
„Wenn du auf eigene Faust einen Scheiß planst, dann schlag dir das besser gleich aus dem Kopf! Ich würde dann nämlich keinen Pfifferling mehr für dich geben!“
Das war Leos einzige, dafür aber unmißverständliche Warnung.
„Ich hab noch keinen reingelegt!“ beteuerte Frank und sah dabei unverdächtig aus.
Als er dann den Zaster im Kofferraum hatte und dem PLAYLAND entgegenraste, welches selbstverständlich nicht der Treffpunkt war, bemerkte er einen flotten Sportwagen im Rückspiegel. Frank sah auf seine Uhr. Er wußte, daß sein Zeitplan jetzt nicht durcheinandergeraten durfte.
Er hatte sich seinen Wagen vorbestellt. Für die pünktliche Reservierung hatte er zwar noch einen Hunderter mehr hinblättern müssen. Aber diesen Betrag war ihm die Sache selbstredend wert.
Mit quietschenden Reifen bog er auf den Parkplatz vor dem PLAYLAND-Gebäude ein. Er stoppte vor dem Portal und stürzte in die Eingangshalle, nachdem er die Tasche mit dem Geld aus dem Kofferraum gerissen hatte.
Frank hatte seinen Plan sorgfältig vorbereitet. Soweit es ging, hatte er Lebensmittel und Getränke mit ‚seinem’ Wagen in die Miniaturstadt transportiert. Dort hatte er sich ein Haus neben dem Kino ausgesucht.
Der Perfektionismus der Erbauer dieser Miniwelt ging so weit, daß sie die Häuser sogar im Inneren ausgebaut und mit Mobiliar versehen hatten.
Als ob es einem der Besucher von dem Stelzenweg aus möglich gewesen wäre, durch die winzigen Fenster in die Gebäude zu blicken.
Diesen Vorteil machte Frank sich zunutze. Nachdem er festgestellt hatte, daß die ‚Wohnung’ im zweiten Stock lediglich von zwei ‚Personen’ bewohnt war, hatte er sich dort häuslich eingerichtet.
Jetzt eilte er durch die Sperre hin zum Informationsschalter und zeigte seinen Reservierungsschein. Die Dame in Grün reichte ihm einen Schlüssel über den Tresen.
Frank sah sich um. Er entdeckte zwei Männer, die er vorher hinter den Scheiben des ihn verfolgenden Wagens gesehen zu haben glaubte. Sie standen vor der Sperre an einer der Kassen, beobachteten ihn aber dabei genau.
Er grinste vor sich hin und stieg in ‚seinen’ Wagen. Als er die Tür schloß, eilten die beiden gerade durch die Sperre.
Sie würden jetzt an dem Simulationsmodell Aufstellung nehmen und eine Stunde auf ihn warten; denn von außen konnte der Wagen nicht geöffnet werden, solange er besetzt war. Nach einer Stunde würden sie beginnen, sich Gedanken zu machen. Und wenn sie dann entdeckt hatten, daß er sich nicht mehr in dem Fahrzeug befand, würden sie in Panik geraten.
Frank steuerte den Wagen aus der Stadt heraus seinem Ziel entgegen, wo er für einige Zeit unterzutauchen gedachte. Auf einer Bank am Brunnen unter den mächtigen Kastanien wartete er dann, bis dieses rätselhafte Wunderwerk zu seinem Ausgangspunkt entschwand.
Das Leben in PLAYLAND stellte sich als gar nicht so unangenehm heraus. Zuerst mußte er sich allerdings an die unpersönlichen Gestalten gewöhnen, die, einmal programmiert, eine Rolle spielten, die sie Woche für Woche wiederholten. Wenigstens taten sie nicht Tag für Tag dasselbe. Wahrscheinlich wäre er dann doch recht bald ihrer Umgebung entflohen.
Den ersten Abend hatte Frank mit einer Flasche Bier vor dem Fernsehapparat verbracht, den es hier sogar gab und der das ganz normale Programm bot. Die Tasche mit dem Geld hatte er neben sich deponiert. In den nächsten Tagen würde er ein Versteck suchen – für alle Fälle.
Später war er eingenickt. Plötzlich hatte sich die Tür geöffnet. In panischem Schrecken fuhr er aus dem Schlaf. Ein Mädchen stand in der Tür. Es schien ihn aber gar nicht zu bemerken. Mit mechanischen Schritten ging es zu einem der Betten und legte sich darauf nieder – völlig angekleidet.
Zu weit ging der Perfektionismus nun doch nicht.
Nach einigen Tagen hatte Frank sich dann solch ein Wesen, als es ‚schlief, einmal genauer betrachtet. Unter einer Plastikhaut war ein mechanischer Körper zu spüren gewesen, der während seiner Ruhepause wohl wie ein Akkumulator aufgeladen wurde.
Dennoch war Frank erstaunt über die Menschenähnlichkeit dieser Roboter. Mehr als einmal ertappte er sich dabei, daß er versuchte, mit einem seiner Gegenüber ein Gespräch zu beginnen.
Nach etwa vierzehn Tagen gingen seine Vorräte zur Neige, und er mußte zusehen, an Nachschub zu kommen. Auf dem PLAYLAND-Gelände selbst erwies sich dies leider als unmöglich, so daß er es wagen mußte, seine Miniwelt zu verlassen.
Es war für Frank eine der angenehmsten Überraschungen gewesen, als er festgestellt hätte, daß er jedes geparkte Fahrzeug, in dem sich nicht gerade ein ‚Fahrer’ befand, besteigen und selbständig beliebig umhersteuern konnte. Er setzte sich also in einen Wagen und fuhr zu dem großen Parkhaus in der Modellhauptstadt, von dem aus er zur ersten eigenen Fahrt durch PLAYLAND gestartet war. Dort hielt er in der Nähe des Platzes an, an dem er jeweils seinen Wagen abgestellt hatte, der ihm den Zugang zu dieser Miniaturwelt eröffnet hatte.
Nach zehn Minuten sah Frank ihn in die Parkbox einbiegen und anhalten. Die Gesichter hinter den Scheiben verschwanden. Schnell ging er auf das Fahrzeug zu und stieg ein.
Nachdem er die Tür geschlossen hatte, bemerkte er, daß draußen jemand energisch rüttelte. Er öffnete den Schlag und stand in der Simulationshalle einem äußerst überraschten Ehepaar gegenüber. Er grüßte die beiden und tauchte in der Menschenmenge unter.
Am Informationsschalter ließ er sich den Wagen für zwei Stunden später reservieren. Er zahlte mit Scheinen aus der Beute.
Dann fuhr er mit einem Taxi zum Supermarkt in einer nahe gelegenen Ortschaft. Dort deckte er sich ausreichend mit Lebensmitteln und Spirituosen ein.
Später wunderte sich der Taxifahrer, als er von seinem Fahrgast gebeten wurde, ihm beim Transport seiner reichhaltigen Einkaufsutensilien in das PLAYLAND-Gebäude behilflich zu sein. Ein großzügiges Trinkgeld heiterte jedoch seine Miene beträchtlich auf. Schließlich war er allerdings doch sehr verblüfft, daß er Lebensmittel und Getränke im Kofferraum eines der Simulationsmodelle verstauen sollte.
Weitere drei Wochen später zog Frank um. Er wollte hinaus aufs ‚Land’. Er hatte inzwischen die Miniaturwelt sehr gut kennengelernt. Und eines Tages hatte er das Fleckchen Erde gefunden, an dem er seine weitere Zeit in PLAYLAND verbringen wollte.
Er hatte ein kleines Fachwerkhaus entdeckt, am Rande eines Tannenwäldchens, inmitten eines verwilderten Gartens. Es kam seiner Vorstellung vom Traumparadies schon sehr nahe.
Von Zeit zu Zeit wiederholte er seine Ausflüge in die ‚große Welt’, um seine Vorräte zu erneuern. Dabei blieb er gänzlich unbehelligt, wenn auch die Dame in Grün am Informationsschalter ihn manchmal etwas schief anlächelte.
Völlig unerwartet kam daher für Frank der große Schock. Er hatte gerade wieder auf seinem Weg in die normale Welt das Fahrzeugmodell bestiegen, das ihm die Tür zur Simulationshalle öffnen sollte, als ihm schlagartig bewußt wurde, daß er vergessen hatte, Geld einzustecken.
Er entriegelte den Wagenschlag und stand in der Welt der lebenden Menschen. Draußen, in einem kleinen Miniaturfachwerkhaus, lagen mehr als eine Million Mark. Aber er stand hier und hatte nicht einen Pfennig.
Erschlagen ließ Frank sich auf eine der Polsterbänke gegenüber dem Informationsschalter fallen. Er mußte so schnell wie möglich irgendeinen Weg finden, an Geld zu kommen, damit er in seine Miniaturwelt zurückkehren konnte.
Er sah sich um.
Auf einmal hatte er das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden. Er vermeinte eine ernsthafte Bedrohung von den Menschen um sich her zu spüren.
„Na, Sie sehen ja so unglücklich aus! Stimmt irgend etwas nicht?“
Es war die grüne Informationsdame, die sich neben ihm auf der Bank niedergelassen hatte und sich eine Zigarette anzündete.
„Nein, nein, es ist schon alles in Ordnung!“ Jetzt nur keine Panik zeigen und ruhig bleiben! „Also, ich hätte gewettet, daß Sie gerade den größten Schicksalsschlag Ihres Lebens erlitten haben.“
Sie kicherte vor sich hin. Frank sah sie alarmiert an. Was ahnte sie?
Aber sie zog harmlos an ihrer Zigarette.
„Werden Sie heute wieder ‚Ihren’ Wagen mieten?“
Er schüttelte mißmutig den Kopf.
„Klar, ich würde schon gerne. Diese Anlage fasziniert mich ungeheuer. Aber ich fürchte, es wird heute kaum möglich sein.“
Als er nicht sofort weitersprach, sah sie ihn fragend an.
Diese Dame hatte im wahrsten Sinne des Wortes den Schlüssel zu seinen Millionen. Welches war die richtige Taktik, an diesen Schlüssel zu gelangen? Falls es überhaupt so direkt eine Möglichkeit gab!
Frank entschied sich für die teilweise Wahrheit.
„Gerade habe ich festgestellt, daß ich meine Geldbörse zu Hause habe liegen lassen. Ich werde wohl wieder umkehren müssen.“
Die Dame reagierte nicht. Frank räusperte sich. „Dabei habe ich heute einen meiner seltenen freien Tage!“
Mit Betonung – aber wieder nichts.
Verteufelt gerne hätte er jetzt selbst eine Zigarette zwischen den Fingern haben mögen. Die Dame inhalierte genußvoll.
„Gerade heute ist es hier sehr ruhig“, sinnierte sie. „Ich hätte Ihnen ‚Ihren’ Wagen ohne weiteres überlassen können. Sogar ohne Vorbestellung!“
Frank ging aufs Ganze: „Sie können mir den Wagen nicht mal gegen ein Pfand zur Verfügung stellen?“
Die Dame in der grünen Uniform musterte ihn jetzt aufmerksam.
„Das Pfand müßte immerhin schon einen Wert von hundertfünfzig Mark haben. Was bieten Sie denn an?“
„Ich würde Ihnen selbstverständlich noch heute das Geld bringen, damit Sie abrechnen können!“ Vielleicht hatte sie der flehende Unterton in seiner Stimme beeindruckt, denn sie stand auf und ging zum Informationstisch hinüber.
„Geben Sie mir Ihren Personalausweis!“ rief sie ihm über die Schulter zurück zu. „Ich werde vermerken: persönlich bekannt. Aber denken Sie dran, ich muß für den Betrag geradestehen!“
Seine Hand fuhr in die Innentasche seines Jacketts. Erleichtert fühlte er das Dokument. Aber bei dem Gedanken, sich von diesem Ausweis trennen zu müssen, war ihm dann doch äußerst unwohl.
Schließlich reichte er ihn über den Tresen. Die Informationsdame schlug die Innenseite auf und verglich das Foto mit dem Original. Sehr schmeichelhaft mußte der Vergleich nicht gerade ausgefallen sein, denn sie lächelte etwas anzüglich. Dann notierte sie sich einige Angaben und reichte ihm anschließend die Schlüssel für seinen Wagen herüber.
Kaum eine halbe Stunde später stand Frank wieder am Informationsschalter, um seinen Paß einzulösen. Er gab vor, das Geld doch noch gefunden zu haben.
Das Mädchen sah ihn sehr eigenartig an. Und als er sich umdrehte, entdeckte er Leo, der lässig an einer Säule lehnte und ihn beobachtete.
Frank vergaß alle Vorsicht und spurtete zu seinem Simulationsfahrzeug zurück. Leo versuchte, ihm den Weg abzuschneiden. Aber es gelang ihm noch rechtzeitig, den Wagenschlag zu schließen.
Noch gut zwanzig Minuten blieben ihm. In dieser Zeit mußte er den Marktplatz in der kleinen Modellstadt erreicht und das Fahrzeug verlassen haben. Im Grunde blieb ihm sogar noch weniger Zeit, denn von einem bestimmten Augenblick an würde sich sein Wagen selbständig machen und zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren.
Gerade jetzt setzte auf der Anlage die Hauptverkehrszeit ein, und Frank blieb mitten in einem Stau stecken. Immer wieder sah er nervös auf seine Uhr.
Er wußte nicht, wann der Zeitpunkt eintreten würde, an dem der Wagen umkehren und das Parkhaus der großen Stadt ansteuern würde.
Es blieb eine Viertelstunde bis zum Ablauf der Fahrtzeit, als er endlich die freie Landstraße erreicht hatte.
Er bog gerade auf den verträumten Marktplatz ein, als ein Lämpchen rot am Armaturenbrett aufzublinken begann. Das war ihm früher nicht aufgefallen. Aber er ahnte, daß es das Zeichen war, wonach gleich die Fernsteuerung den Wagen übernehmen würde.
Und dann verließ ihn jegliche Hoffnung, als er sah, daß sein Parkplatz von einem anderen Fahrzeug besetzt war – die einzige Stelle, die es ihm ermöglichen konnte, wieder in die Miniaturwelt zurückzukehren.
In einem Akt der Verzweiflung steuerte er mit Höchstgeschwindigkeit auf den fremden Lieferwagen zu. Der Zusammenprall war fürchterlich. Frank wurde aus dem Wagen geschleudert und blieb blutend und besinnungslos auf dem Pflaster vor der Trinkhalle liegen.
Im gleichen Moment sprang in der Simulationshalle Leo in panischem Entsetzen von der Fahrzeugattrappe zurück, vor der er auf Frank Melrose gewartet hatte. Denn plötzlich verformte diese sich unter lautem Krachen vor seinen Augen, sprang aus den Rollen, schleuderte quer durch die Halle und zerschellte endgültig an der gegenüberliegenden Wand. Von dem Insassen fehlte jegliche Spur.
Als Frank erwachte, fand er sich in einem sauberen, weißbezogenen Bett wieder. Ein kurzer Blick in die Runde bestätigte ihm, daß er in einem Krankenhauszimmer lag. Links und rechts von seinem stand jeweils ein weiteres Bett. Die darin liegenden Patienten schienen gerade zu schlafen.
Er versuchte, seiner Erinnerung nachzuhelfen. Die letzten Sekunden vor dem Aufprall fielen ihm wieder ein. Was aber war dann geschehen?
Die nächsten Minuten bereits brachten ihm Aufklärung. Die Tür des Raumes wurde geöffnet, und eine adrette Schwester betrat das Zimmer. Sie kam an sein Bett und nahm seinen Arm, wohl, um den Puls zu fühlen. Ihre Hand war eiskalt und mit einer Plastikhaut überzogen.
Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, versuchte Frank aufzustehen. Er betastete seinen Körper, um herauszufinden, ob irgendwelche Knochen gebrochen waren. Das schien nicht der Fall zu sein. Dennoch fühlte er sich völlig erschlagen.
Als er in einen Spiegel sah, blickte ihm ein blutverschmiertes Gesicht entgegen.
Er trat hinaus auf den Gang, wo Schwestern und Ärzte geschäftig hin und her eilten. Gegenüber befand sich eine Tür mit der Aufschrift „Bad.“
Zwar kam nur kaltes Wasser aus den Leitungen; aber Frank duschte lange und ausgiebig, bis er langsam wieder einen klaren Kopf bekam.
Später legte er sich zurück auf sein Bett und überlegte, was jetzt wohl zu tun sei. Er durfte sich in nächster Zeit ‚draußen’ nicht sehen lassen. Diese Erkenntnis verdeutlichte ihm gleichzeitig sein Hauptproblem. Er mußte zusehen, hier auf dem Gelände eine Ernährungsgrundlage zu finden.
Wasser war reichlich vorhanden. Aber seine Lebensmittelvorräte waren nur noch für drei Tage berechnet. Das Angebot in den Supermärkten dieser Anlage hatte er bereits früher untersucht. Alle angebotenen Delikatessen hatten sich leider als Attrappen herausgestellt.
Wieder betrat die Schwester den Raum, und wieder fühlte sie seinen Puls. Sie war ja wirklich ein süßes Ding, aber leider eiskalt, im wahrsten Sinne des Wortes. Oder hatte sie da gerade geblinzelt?
Frank schüttelte den Kopf. Seine Ermattung erzeugte schon Halluzinationen bei ihm. Vielleicht war es aber auch seine Phantasie, die, durch lange Enthaltsamkeit gemartert, ihm da einen Streich spielen wollte.
Als die gute Fee das Zimmer wieder verlassen hatte, erhob er sich erneut. Er sah sich in dem Raum um. Seine Bettnachbarn ‚schliefen’ noch immer. Jetzt fiel ihm auch auf, daß seine barmherzige Samariterin die beiden gar nicht beachtet hatte.
Aber er wunderte sich nicht lange darüber, sondern versuchte, seine Kleider wiederzufinden. Man hatte ihn in ein lebensechtes Krankenhausnachthemd gesteckt. Und damit wollte er selbst in dieser Spielzeugwelt nicht umherwandeln.
Frank öffnete den in die Wand eingelassenen Kleiderschrank. Dort fand er zwar nicht seine eigene Garderobe, aber immerhin doch einen ganz passablen Anzug und ein Oberhemd. Was ihm fehlte, war Unterwäsche. Solche Utensilien benötigten die Besucher dieser Miniwelt ja offensichtlich nicht. Da würde er sich irgendwie behelfen müssen.
Als er dann das Krankenzimmer erneut verließ, begegnete ihm auf dem Gang wieder jene adrette Schwester. Sie sah noch immer zum Anbeißen aus: halblange blonde Haare unter einem weißen Häubchen, ein ausgesprochen hübsches Gesicht und eine phantastische Figur. Ihren Schöpfern war da ein perfektes Meisterwerk gelungen.
Frank fühlte in sich die Versuchung aufsteigen, sie in die Wange zu kneifen. Und er tat es. Gleich darauf fand er sich verdutzt am Boden wieder, denn die hübsche Person hatte ihm eine gewaltige Ohrfeige versetzt.
Hoch erhobenen Hauptes schritt sie von dannen. In diesem Falle, fand Frank, ging der Perfektionismus der Erschaffer der Miniaturwelt doch entschieden zu weit.
Er erhob sich und suchte den Ausgang.
Eine Stunde später saß er in dem kleinen Häuschen am Waldrand bei einer letzten Flasche Bier und dachte über seine Situation nach. Es mußte ganz einfach einen Weg geben, an Nahrungsmittel zu kommen, ohne PLAYLAND zu verlassen zu müssen.
Nach einer weiteren Stunde intensiven Nachdenkens war ihm schließlich eine vage Idee gekommen, und er machte sich sofort daran, die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung auszuforschen. Er stieg in den Wagen, den er sich zuvor organisiert hatte. Durch einen einfachen Knopfdruck im Inneren konnte man die Computerautomatik außer Kraft setzen und das Fahrzeug selbständig steuern.
Frank fuhr in die Randzone der riesigen Anlage. In einiger Entfernung konnte er die für ihn wolkenkratzerhohe Umzäunung erkennen. Je mehr er sich dem Hauptgebäude näherte, desto häufiger wurde der Zaun durch Lücken unterbrochen, in die Imbißstände eingefügt waren.
Er hielt an und stieg aus. Mit der Straße endete die Miniaturwelt. Links war noch die perfekt nachgebildete Landschaft, rechts fand sich normales Gras und Unkraut, das für Frank jetzt allerdings mehr als mannshoch war.
Nur selten fuhr ein Wagen vorbei, da dieser Teil der Anlage von den Besuchern kaum noch eingesehen werden konnte.
Frank setzte sich in Bewegung, und nach fünf Minuten stand er in einem kleinen Lagerhof hinter einem der Imbißstände. Natürlich waren für ihn jetzt die Ausmaße riesig. Er selbst hingegen mußte auf einen zufälligen Beobachter nicht größer als eine Ratte wirken.
Kurze Zeit später hatte er entdeckt, was er suchte. Er kletterte auf einen der dort lagernden Kartons. Zum Glück war der geöffnet. Was er sah, ließ seine Hoffnung steigen, nicht verhungern zu müssen. Eine Tüte Kartoffelchips lag neben der anderen. Wenn man von seiner augenblicklichen Größe ausging, dann mußte solch eine Tüte mehrere Tage für seine Ernährung reichen.
In anderen Kartons entdeckte Frank weitere nahrhafte Leckereien. Außerdem fand er Getränkedosen. Und in einem Eimer schwammen riesige Knackwürstchen.
Es stellte sich jetzt allerdings eine entscheidende Schwierigkeit heraus, als ihm klar wurde, daß es ihm unmöglich sein würde, die riesigen Tüten und Dosen zu transportieren.
Doch nach kurzer Überlegung fiel ihm auch eine Lösung für dieses Problem ein.
Er erinnerte sich, daß im Gegensatz zu jenen im Hauptgebäude die Imbißstände außerhalb nachts geschlossen wurden. Auf diese Tatsache gründete sich sein Plan, und er machte sich sofort an die Vorbereitungen zu dessen Ausführung.
Frank fuhr zurück in die Modellhauptstadt. Dort war ihm ein Platz bekannt, an dem nachts für gewöhnlich mehrere Tieflader abgestellt waren. Seinen eigenen Wagen bugsierte er auf die Ladefläche eines der Transporter und fuhr mit diesem dann zu dem ausgewählten Kiosk zurück. Dort lud er den PKW ab und steuerte ihn nochmals zurück in die Stadt, um schließlich mit einem Autokran wieder an der Straße bei dem Imbißstand aufzutauchen.
Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Kiosk inzwischen nicht mehr bewirtschaftet wurde, lenkte er zunächst vorsichtig den Tieflader in dessen Innenhof.
Das erwies sich als recht schwierig, weil die Gräser sich als kräftige Hindernisse herausstellten.
Nach mehrmaligem Vor- und Zurückstoßen stand der Transporter schließlich an der gewünschten Stelle.
Den Autokran ebenfalls dorthin zu bringen, war nur noch halb so schwierig, weil Frank jetzt lediglich nur noch der vorbereiteten Spur zu folgen brauchte. Auch das Beladen erwies sich nicht als Problem.
Und eine Stunde später schwenkte ein mit einer Packung Kartoffelchips, einer Bockwurst und einer Dose Bier beladener Tieflader vorsichtig von einer halbverwilderten Rasenfläche auf eine Seitenstraße der Miniaturwelt PLAYLAND ein.
Frank parkte den großen Lastwagen vor seinem Waldrefugium. Dann organisierte er sich einen weiteren PKW, um den Autokran abholen zu können. Später fuhr er die Strecke noch einmal, damit er den PKW aufladen und damit jegliche Spur seines nächtlichen Besuches beseitigen konnte.
Gegen Morgen sank er erschöpft in sein Bett und träumte von riesigen Kartoffelchips und einer Dose Bier, in der er ertrank.
Der Gedanke an die hübsche Krankenschwester verfolgte ihn ständig. Er spürte nun doch so etwas wie Einsamkeit, und er hatte Sehnsucht nach einem Wesen, das diese Einsamkeit mit ihm teilte. Dabei fiel ihm immer wieder jenes nette blonde Geschöpf ein, das sich im Krankenhaus als so ausgesprochen schlagfertig erwiesen hatte.
Und eines Tages fuhr er dann hin zum Hospital in der Stadt.
Er entdeckte sie sofort, als er den Gang zu seinem ehemaligen Zimmer hinab schlenderte. Sie schob einen Wagen mit medizinischen Gerätschaften an ihm vorbei.
Frank blickte ihr nach und kratzte sich am Kinn. Sie sah so verflixt gut aus.
Er ließ sich in einem der Sessel nieder, die in der Welt der Lebendigen den Besuchern und Patienten der Klinik vorbehalten geblieben wären. Nach kurzer Zeit kam sie zurück. Sie blieb an einem Schrank stehen und hantierte daran herum. So hatte er Gelegenheit, sie näher zu betrachten.
Unwillkürlich fiel ihm sein schütteres Haar ein, und er mußte daran denken, welche Schwierigkeiten er draußen in der Welt hatte, überhaupt mit einem Mädchen in Kontakt zu treten. Seitdem er aus dem Knast entlassen worden war, hatte ihm nur Geld über die Runden geholfen.
Die blonde Samariterin drehte sich um und schien ihn einen Augenblick lang anzusehen. Über ihrer rechten Brust prangte ein grünes Ansteckschildchen mit einem Namen. Trotz aller Bemühungen konnte Frank ihn jedoch von hier aus nicht entziffern. Deshalb stand er auf. Und als sie wieder den Gang herunterkam, vertrat er ihr kurzerhand den Weg, so daß sie ihm ausweichen mußte.
In diesem kurzen Augenblick las er, was ihn so sehr interessierte: Elke.
Frank blieb auf dem Gang stehen. Als sie wieder auf ihn zukam, stellte er sich mit ausgebreiteten Armen vor ihr auf, um ihr den Weg zu versperren. Irgendwelche Sensoren veranlaßten sie tatsächlich stehen zu bleiben.
Er sagte: „Elke!“
Sie hob ihren Kopf und sah ihm ins Gesicht. Frank nahm ihre Hand, und sie folgte ihm willig.
Eine Stunde später hatte er sie in einen Sessel in seinem Waldhaus bugsiert und überlegte, was er weiter mit einem außergewöhnlich hübschen Roboter unternehmen konnte.
Sehr bald schon erwies sich dieser weibliche Roboter als ausgesprochen anhänglich, denn er folgte Frank überallhin. Abends legte er sich sogar neben ihn ins Bett, blieb dabei aber eiskalt und behielt seine Schwesternkluft an.
Immerhin hatte Frank nicht mehr das Gefühl, völlig allein zu sein.
Sehr bald nach seinem Unfall hatte er versucht, herauszufinden, was mit ‚seinem’ Wagen geschehen war. Bot der doch nach seinen bisherigen Erfahrungen die einzige Möglichkeit, wieder in die normale Welt überzuwechseln.
An der Unfallstelle selbst war nichts mehr zu entdecken gewesen. Dort auf dem kleinen Marktplatz nahm das ‚Leben’ seinen gewohnten Gang.
Frank fuhr zu dem großen Parkhaus in der Modellhaupstadt. Der Parkplatz ‚seines’ Wagens war leer. Und er blieb es auch noch mehrere Wochen. Dann war er eines Tages aber plötzlich wieder besetzt – mit seinem Wagen!
Natürlich stieg Frank nicht sofort bedenkenlos ein. Erstens war er sich nicht sicher, ob der Wagen jetzt noch die gleichen Eigenschaften wie zuvor besitzen würde. Außerdem schien ihm der Zeitpunkt nach seiner unfreiwilligen Begegnung mit Leo noch etwas zu früh gewählt.
So beschränkte er sich darauf, das Fahrzeug immer wieder mal zu beobachten.
Schwester Elke hatte sich in der Zwischenzeit als nützlicher Hausgeist erwiesen. Es war Frank gelungen, ihr einige Dinge beizubringen, die ihm selbst fast das Gefühl menschlicher Nähe vermittelten. Aber das letzte Quentchen fehlte ihm noch zu seinem Glück. Denn sie blieb eiskalt und antiseptisch.
Tagsüber folgte sie ihm überall hin. Abends saß sie neben ihm vor dem Fernsehgerät. Sie servierte ihm das Essen und versorgte seinen Haushalt. Und sie war absolut treu.
Aber wenn er sie berührte, zeigte sie keinerlei Regung. Unter ihrer Plastikhaut waren ihre mechanischen Gelenke nicht für eine menschliche Begegnung programmiert.
Ein halbes Jahr nach seinem Unfall glaubte Frank, es wagen zu können, die Außenwelt aufzusuchen. Sicherheitshalber nahm er den Geldkoffer mit sich, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein.
Elke folgte ihm. Und als er im großen Parkhaus in seinen Wagen umstieg, saß sie plötzlich neben ihm. Wirklich verblüfft war er aber erst, als er den Wagenschlag erneut geöffnet hatte und sie auf einmal neben ihm in voller Lebensgröße in der Simulationshalle stand.
Verwirrt machte er zwei Schritte auf sie zu. Sie sah auf einmal gar nicht mehr wie ein unterkühltes Roboterwesen, sondern verflucht menschlich aus.
Der Blick ihrer Augen wirkte verliebt. Und als sie sagte: „Laß uns nach Hause gehen!“, löste Frank umgehend einen Berechtigungsschein für seinen Wagen.
Nachdem er dann Stunden später festgestellt hatte, daß sie ganz wirklich und lebendig war, erkannte er, daß erst jetzt sein Coup für ihn tatsächlich lohnend wurde. Elke war die Erfüllung aller seiner geheimsten Träume und Wünsche. Sie gab ihm Geborgenheit und Wärme. Und Frank spürte, daß er zum erstenmal in seinem Leben liebte.
Dieser Zustand hielt ein halbes Jahr an. Dann wollte er mehr.
Er schnappte sich einfach ein anderes hübsches Robotermädchen, verfrachtete es in ‚seinen’ Wagen und stieg mit ihm in der Simulationshalle aus.
Mit der Zeit wiederholte er diesen Vorgang noch ein paarmal. Und schließlich hatte er sich nach einem Jahr einen richtigen kleinen Harem zugelegt.
Dabei liebten ihn alle seine Mädchen. Es gab keine Eifersüchteleien zwischen ihnen. Keine fragte, wenn er eine andere bevorzugte.
So war es zu verstehen, daß Frank schließlich den Entschluß faßte, sich endgültig in dieser Welt zu etablieren. Inzwischen fühlte er sich auch wieder so sicher, daß er seine Einkäufe in den Supermärkten in der Umgebung von PLAYLAND erneut aufnahm.
Frank lebte jetzt bereits zwei Jahre in seiner kleinen Welt. Er kannte sie bis in den letzten Winkel. Wirkliche Menschen betraten die Anlage außerhalb der Besucherwege nur selten, um irgendwelche Reparaturarbeiten vorzunehmen. Meistens wurde das Notwendige vollautomatisch erledigt.
Die Besucher des PLAYLAND-Parks, die auf jenen Stelzenwegen, die das gesamte Gelände überspannten, flanierten, beunruhigten Frank nicht. Konnte doch niemand von ihnen ahnen, daß sich dort unten einer der ihren en miniature befand.
Wenn er in die Nähe dieser Wege kam, sah er schon manchmal zu denen auf, die dort wie die sagenhaften Riesen in den Himmel ragten und ihre langen Schatten warfen. Einige Male fühlte er sich versucht, ihnen zuzuwinken. Aber er unterließ es.
Eigenartigerweise schien auch der Zentralcomputer seine Anwesenheit auf der Anlage nicht zu bemerken. Selbst auf die Verwandlung der Mädchenroboter reagierte er nicht.
Als Frank eines Tages gerade wieder sein Simulationsfahrzeug nach einem ausgedehnten Einkaufsbummel bestieg, hatte er das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um, konnte aber keinen auffälligen Betrachter entdecken. So fühlte er sich zunächst nicht weiter beunruhigt.
Als sich aber einen Monat später dieses Gefühl des Beobachtetwerdens wiederholte, wurde er doch ein wenig unsicher.
Die völlige Gewißheit, daß man ihn erneut aufgespürt hatte, erhielt er dann ein paar Wochen später, als er auf dem Beifahrersitz seines Simulationsfahrzeuges einen weißen Briefumschlag vorfand. Er enthielt einen Papierbogen, auf dem lediglich die Worte standen:
„Leo sieht dich!“
Da beschloß Frank Melrose, seine Welt von nun an niemals mehr zu verlassen. Es hatte sich ja als möglich erwiesen, auch ohne die Annehmlichkeiten der Außenwelt zu überleben. Und seine Mädchen würden ihm das Leben so angenehm wie nur vorstellbar machen.
Nach einem halben Jahr hatte er die Drohung nahezu völlig vergessen.
Er war mit Veronika, seiner derzeitigen Favoritin, an den großen See gefahren. Sie hatten eine Ausflugsfahrt mit dem Dampfer unternommen und saßen jetzt in dem Strandcafé. Die vor ihnen vom Kellner aufgebauten Herrlichkeiten ließen sie unbeachtet, da sie ungenießbare Attrappen waren.
In geringer Entfernung zog sich ein Besuchersteg entlang, auf dem die Riesen aus der Menschenwelt dem bunten Treiben in der Zwergenwelt unter ihnen zusahen.
Frank und Veronika beobachteten ebenfalls die vielen Roboter, die menschliches Verhalten vorspielten. Er hielt ihre Hand, die sich ganz warm und fest anfühlte. Sie streichelte seine Schläfen und flüsterte ihm verliebte Worte ins Ohr.
Veronika benahm sich durch und durch menschlich, obwohl auch sie noch bis vor kurzem ein Roboter gewesen war.
Frank hatte immer wieder versucht herauszufinden, ob es bei seinen Mädchen so etwas wie eine Erinnerung an ihr vorheriges ‚Leben’ gab. Aber ihr Bewußtsein schien erst bei dem Moment einzusetzen, als er sie mit in die Simulationshalle genommen hatte.
Vielleicht lag darin auch die Begründung, daß sie keine der negativen menschlichen Eigenschaften besaßen – der für ihn negativen Eigenschaften.
Er war sehr zufrieden.
Plötzlich bemerkte Frank einen Schatten. Instinktiv sah er auf. Auf der Besucherbrücke erkannte er riesengroß Leo.
Ein paar Tropfen glitzerten in der Sonne auf, die aus der Coladose spritzten, die gerade Leos Hand verlassen hatte.
Frank hatte keine Zeit mehr, sich wegzuducken.
Manch einer der Besucher glaubte, einen winzigen Schrei zu vernehmen, als eine der Miniaturfiguren dort unten von einer Getränkedose erschlagen wurde.
In der Simulationshalle erwartete Leo Veronika, die mit dem Geldkoffer sowie Elke, Rosi, Silvia und Renate aus einer der Fahrzeugattrappen stieg.