George
Guthridge
Das Stille
THE QUIET
Kuara, mein Sohn, die Weißen haben den Mond gestohlen.
Der Himmel vor dem Fenster ist schwarz. Zwischen den Sternen hängt eine blauweiße Scheibe. Das ist die Erde, sagt Doktor Stefanko. Ich klage und trommle mit den Fäusten. Ich bin mit Riemen an ein Bett gefesselt. Doktor Stefanko drückt mir die Schultern herunter und betupft meinen Arm. „Da du keine Ruhe halten willst, werde ich dir noch eine Spritze geben müssen“, sagt sie lächelnd. Ich liege still.
Das ist nicht die Erde. Die Erde ist braun. Die Erde ist die Kalahari.
„Du bist auf dem Mond“, sagt Doktor Stefanko. Das erzählt sie mir schon zum zweiten oder dritten Mal; ich habe geschlafen und gewacht, geschlafen und gewacht, bis ich nicht mehr wußte, welche Stimmen Träume waren und welche, wenn überhaupt, Wirklichkeit. Ich spüre einen Stich. „Ruh dich jetzt aus. Du hast einen langen Schlaf hinter dir.“
Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal aufgewacht bin. Das weiße Zimmer, weißes Zeug über mir. Draußen Schwärze und die blauweiße Scheibe.
„Auf dem Mond“, sage ich. Meine Glieder fühlen sich schwer an. Mir ist schwindlig. Der Schlaf zerrt an meinem Fleisch. „Der Mond.“
„Ist es nicht wunderbar?“
„Und Tuka, mein Mann, sagen Sie – tot.“
Sie preßt die Lippen zusammen und sieht mich ernst an. „Er hat den Schlaf nicht überstanden.“
„Der Mond ist hohl“, erkläre ich ihr. „Das weiß doch jeder. Die Toten schlafen dort.“ Ich starre die Decke an. „Ich bin am Leben und auf dem Mond. Tuka ist tot, aber er ist nicht hier.“ Die Worte scheinen aus meinem Mund zu schweben. An der Decke sind kleine Flecken.
„Schlaf jetzt, sei ein braves Mädchen. Später unterhalten wir uns weiter.“
„Und Kuara. Mein Sohn. Er lebt.“ Die Flecken drehen sich. Ich schließe die Augen. Die Flecken drehen sich noch immer.
„Ja, aber …“
„Vor etwa hundert Jahren wurde ein Gesetz zum Schütze gefährdeter Arten erlassen – also von Tieren, die aussterben könnten, wenn der Mensch nicht sehr aufpaßte“, erzählt Doktor Stefanko. Ihr Gesicht ist nicht mehr verschwommen. Sie hat graues Haar und hagere Wangen. Irgendwo habe ich sie schon gesehen – lange bevor ich an diesen Ort gebracht wurde. Aber mir fällt nicht ein, wo das war. Die Erinnerung gleitet immer weiter weg.
Gai steht grinsend am Fenster. Er trägt einen Lendenschurz. Das, was Doktor Stefanko die Erde nennt, umgibt als leuchtende Scheibe seinen Kopf. Durch die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen schaut seine riesige, narbige Zunge hervor. Seine Schultern fallen ab wie die eines Hartebeest. Auf seiner lederigen, runzligen Brust wachsen ergrauende Haarbüschel. Nach seinem Verrat bin ich nicht erstaunt, ihn hier zu sehen. Er bringt das Num in meiner Magengrube zum Pulsieren. Ich schaue weg.
„Dann wurde das Gesetz dahingehend erweitert, daß es gefährdete Völker einbezog. Völker wie die Gwi.“ Doktor Stefanko setzt ein mütterliches Lächeln auf und stupst mir mit dem Zeigefinger auf die Nase. Ich werfe den Kopf zurück. Sie runzelt die Stirn. „Natürlich war es nicht möglich, ganze Stämme zu retten. Also taten die Urheber des Gesetzes, was sie für das Beste hielten. Sie retteten bestimmte Exemplare. Dich. Deine Familie. Ein paar andere wie Gai. Diese Vertreter wurden eingefroren.“
„Eingefroren?“
„Kalt gemacht.“
„So wie in der Gum-Zeil, wenn sich in den Straußenei-Kanistern Eis bildet?“
„Noch viel kälter.“
Das war also kein Traum. Ich erinnere mich, daß ich durch etwas Blaues, Glänzendes, Zerknittertes gestarrt habe. Wie Licht, das man durch eine Schlangenhaut sieht. Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl ich im Inneren die ganze Zeit zitterte. Das ist also der Tod, hatte ich gedacht.
„In der Zwischenzeit wurdet ihr hierher auf den Mond gebracht. Nach Carnival. Es ist ein schöner Ort. Eine wirklich internationale Einrichtung, erbaut als Wahrzeichen für die Harmonie der Völker. Hier haben wir uns bemüht, von dem, was war, das Beste neu zu schaffen.“ Sie hält inne, und ihr Blick wird scharf. „Hier wird jetzt deine Heimat sein, U“, sagt sie.
„Und Kuara?“
„Er wird hier mit dir leben, wenn es soweit ist.“ Etwas in ihrer Stimme ruft Furcht in mir wach. Dann sagt sie: „Möchtest du ihn sehen?“ Ein Teil der Furcht verschwindet.
„Ist das ratsam, Doktor?“ fragt Gai. „Der hier ist nicht zu trauen.“ Seine Augen grinsen auf mich herunter. Er starrt auf meinen Unterleib.
„Ach, das wird schon gutgehen. Du wirst doch ein braves Mädchen sein, U, nicht wahr?“
Mein Kopf nickt. Mein Herz sagt weder ja noch nein.
Die Riemen springen mit lautem Klicken auf. Doktor Stefanko und Gai helfen mir auf die Füße. Die Welt schwankt. Die Erdscheibe stellt sich schräg und schwingt hin und her. Der Fußboden neigt sich in eine, dann in die andere Richtung. In meinen Händen und Füßen kribbelt es. Mir wird in einen Stuhl geholfen. Es klickt wieder. Die Tür öffnet sich mit Zischen, und der Stuhl schwebt hinaus. Doktor Stefanko geht voran, Gai tapst hinterher. Wir bewegen uns durch einen Korridor nach dem anderen. Lauter rechte Winkel. Nichts ist krumm, bis auf die Münder von Weißen, die uns im Vorbeigehen zulächeln. Und die sind zu krumm.
Wieder zischt eine Tür. Wir kommen in einen kalten Raum. Blaues Glas, von innen bereift, erstreckt sich an beiden Wänden vom Boden bis zur Decke. Hinter dem Glas stehen eingefrorene Gestalten. Ich erinnere mich an diesen Ort. Ich erinnere mich, wie träge sich der Haß in meinem Herzen anfühlte.
„Kuara ist dort hinten“, sagt Doktor Stefanko. Ihr Atem ist weiß.
Der Stuhl schwebt näher. Meine Beine stoßen an das Glas; Kälte durchzuckt meine Knie. Der Stuhl weicht zurück. Ich lehne mich nach vorn. Durch das Glas kann ich die geschlossenen Augen meines Sohnes sehen. Seine Wimpern und Brauen sind bereift. Der Kopf lehnt zur Seite. Seine Ärmchen hängen herunter. Trotz der Kälte berühre ich das Glas. Gai zieht scharf den Atem ein und drückt meine Schultern zurück, aber Doktor Stefanko legt die Hand auf Gais Handgelenk, und er läßt mich frei. Dieses Glas gibt nach, anders als das an den Lastwagen auf dem Tsamafeld. Num steigt in mir auf. Mein Herz schlägt schneller. Num dringt in meine Arme, flutet in meine Finger. „Kuara“, flüstere ich. Wärme breitet sich auf dem Glas aus. Sie bildet einen kleinen, unregelmäßigen Kreis.
„Sobald du dich in deiner neuen Heimat eingelebt hast, kommt er hier heraus“, sagt Doktor Stefanko.
Kuara. Wenn ich nur tanzen könnte. Das Num würde in mir sieden. Ich könnte Kia machen. Ich würde die Geister der Kälte verscheuchen. Du würdest erwachen, durch das Glas treten und in meine Arme kommen.
Wenn es uns auch oft an Wasser fehlte, so waren wir doch nicht unglücklich. Die Tsama-Melonen erhielten uns am Leben. Es war ein großes Feld, und wenn wir sparsam waren, konnten wir lange Zeit auskommen, ohne zu den Wasserlöchern wandern zu müssen. Die Pfannen Garn und Gautscha waren von Weißen und zahmen Buschleuten besetzt, und ihre Bewohner, die Kung, waren zum Teil geflohen, zum Teil um des Wassers willen geblieben und arbeiteten jetzt auf den Farmen der Weißen und aßen ihre Nahrung.
Wir waren elf, manchmal auch ein oder zwei mehr. Der unverheiratete Gai war einer von denen, die kamen und gingen. Tuka pflegte zu sagen: „Man kann uns immer an drei Händen abzählen, aber nie an zwei oder vier Händen.“ Dann lachte er. Er lachte eigentlich immer. Ich glaube, er lachte, weil es in der Nähe unserer Heimat, der Akam-Pfanne, so wenig Wild gab. Die wenigen Duiker und Springböcke, die früher über die Ebene gezogen waren, hatten das Vordringen der Weißen und die Flucht der Kung gerochen und waren weggelaufen. Tuka lachte, um die Leere auszufüllen.
Wenn er nicht gerade Fallen für Springhasen und Stachelschweine stellte, half er mir manchmal, Holz und Knollenfrüchte zu sammeln. Wir gruben nach Xwa-Wurzeln und nach Koa, der tief in der Erde verborgenen Wasserwurzel, bis uns die Arme weh taten. Manchmal schlugen wir auch mit Stöcken auf den Na-Baum ein, daß die süßen Beeren abfielen, und dann jagte mich Tuka immer rundherum und lachte und kreischte wie ein Irrer. Zu solchen Zeiten fragte ich mich manchmal, warum ich ihn früher so gehaßt hatte.
Dasselbe fragte ich mich während der heißen Jahreszeit Kuma, als wir nahe am Verhungern waren. Tagsüber zog ich meinen Kaross aus, grub eine flache Grube im spärlichen Schatten eines Orogu-Busches, urinierte in den Sand, deckte mich mit Sand zu und legte mir ein Blatt über den Kopf. Wir drei – Tuka, Kuara und ich – lagen wie Tote Seite an Seite. „Mein Herz ist traurig vor Hunger“, sang ich den ganzen Tag vor mich hin. „Krank und langsam wie ein Greis.“ Dann dachte ich an alles Schlechte. Wie meine Eltern mich vor meiner Zeit mit Tuka verheiratet hatten, weil er meiner Mutter als Brautpreis einen neuen Kaross gebracht hatte. Wie Tuka vor meiner Zeit mit mir das gemacht hatte, was Verheiratete tun. Immer vor meiner Zeit! Manchmal wünschte ich mir, ein Paouw würde herabstoßen und seinen Penis für eine fette Raupe halten.
Dann fing Tuka eines Nachts einen Honigdachs in der Schlinge. Ein Dachs zur Kuma-Zeit! Alles war aufgeregt. Tuka sagte: „Gestern, als wir schliefen, da habe ich dem Land erzählt, daß meine U Hunger leidet und ich für sie und Kuara Fleisch haben muß.“ Der Dachs war sehr zart. Gai aß seinen Anteil und bettelte um mehr, obwohl er noch nie Fleisch ins Lager gebracht hatte. Als das Fleisch aufgegessen war, rösteten wir Ga-Wurzeln und sangen und tanzten, während Tuka auf der Guaschi spielte. Ich tanzte voll Stolz. Nicht für Tuka, sondern für mich selbst. Num löste sich aus meiner Magengrube und kroch siedendheiß mein Rückgrat hoch. Ich hatte Angst, denn wenn das Num meinen Schädel erreicht, muß ich Kia machen. Dann sehe ich Gespenster, die Menschen umbringen, und ich rieche verwesende Leichen.
Tuka nahm meinen Kopf zwischen seine Hände. „Du darfst nicht Kia machen“, sagte er. „Nicht jetzt. Die Visionen würden deinen Körper überanstrengen.“ Bei anderen Leuten bringt Kia Heilung, für sie selbst, für andere; mir bringt es nur Schmerzen.
Tuka hielt mich neben dem Feuer fest und streichelte mich, und das Num legte sich. „Wenn ich tagsüber im Sand liege, träume ich, daß ich auf einen großen Baobab geklettert bin“, sagte er. „Ich schaue vom Wipfel herunter, und überall im Land grasen die Tiere. Giraffen und Gnus und Kudus. ‚Du mußt diese Tiere erjagen und sie zu U und Kuara heimbringen, bevor die Weißen sie töten’, sagt mein Traum.“ Dann fragte er: „Woran denkst du, wenn du dort liegst, U?“
Ich antwortete nicht. Ich hatte Angst, es ihm zu sagen; er sollte nicht zornig oder traurig werden, nachdem er sich so über seinen Honigdachs gefreut hatte. Er lächelte. In seinen feuchten Augen glänzte der Feuerschein. Vielleicht glaubte er, das Num fessele meine Zunge.
Am nächsten Tag kam das Stille. Ich lag im Sand und spürte das Num in meinem Bauch pulsieren. Ich kämpfte gegen die Angst an, die es immer mit sich brachte. Ich rief nicht nach Tuka. Das Pulsieren wurde stärker. Ich begann zu zittern. Schweiß lief mir über das Gesicht. Das Num siedete in mir. Es kroch mein Rückgrat hoch und auf meine Kehle zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich die Adern des Blattes an, sah aber nur Grauen. Ich spürte, wie ich gleichzeitig erstarrte und bebte. In meinem Kopf hämmerte es; es war so groß wie eine Ga-Wurzel. Ich hörte, wie mein Mund schmatzende Geräusche von sich gab, wie Kuara sie früher an meiner Brust gemacht hatte. In mir wurde der Druck immer stärker und stärker.
Und war dann plötzlich verschwunden. Er wühlte sich in die Erde und nahm meine Tagträume mit. Ich sank tiefer und tiefer in den Sand. Ich kam vorbei an Ubbee-Wurzeln und den ausgebleichten, vergessenen Gebeinen längst toter Tiere. Ich erreichte ein Wasserloch tief unter dem Erdboden. Tuka war im Wasser. Kuara auch. Er sah jünger aus, gerade im Krabbelalter. Tuka lächelte und sah gut aus. Er ist kein schlechter Mensch, sagte ich zu mir; er ist nur zu eigensinnig. Aber er hat unseren Leuten Fleisch gebracht, das kann ich nicht vergessen. Und eines Tages wird er mir vielleicht einen neuen Kaross bringen. Vielleicht wird er viele Dinge bringen. Wichtige Dinge.
Ich zog meinen Kaross aus, und wir drei faßten uns bei den Händen, tanzten nackt und plantschten. Kein Num wollte von mir Besitz ergreifen. Kein Drang zu dem, was Verheiratete tun, überkam Tuka. Nichts als Stille und Lachen.
„Dies wird deine neue Heimat, U“, erklärt mir Doktor Stefanko, als sie eine Tür öffnet. Sie hat mir einen neuen Kaross gegeben; Echt-Oryx nennt sie ihn, wenn ich auch nicht weiß, warum sie sich so ausdrückt. Als sie ihre Hand auf meinen Rücken legt und mich voranschiebt, fühlt sich der Kaross weich und glatt auf meiner Haut an. „Wir glauben, es wird dir gefallen, und wenn du irgend etwas brauchst …“
Ich halte mich am Türrahmen fest und wende mein Gesicht ab. Ich will an diesem Ort nicht leben, ihn nicht einmal anschauen. Aber sie schiebt stärker, und ich stolpere hinein. Ich bedecke mein Gesicht mit den Händen.
„Aber, aber“, sagte Doktor Stefanko. Ich spähe durch die Finger. Wir sind in der Kalahari.
Ich drehe mich langsam um, denn plötzlich strahlt und singt mein Herz. Keine Tür. Keine Wände. Keine Winkel. Das sandige Feld dehnt sich unter wolkenlosem Himmel. Blaßgoldenes Gras mit ein paar verstreuten Weißdornakazien und Tsi-Bäumen, soweit man sehen kann; in der Ferne erheben sich einige Schirmakazien und sogar ein Mongongo-Baum. Ein Webervogel schießt aus einem Steinwall und wieder hinein.
„Hier wäre ein guter Platz für dein Tshushi – deine Schutzhütte“, sagte Doktor Stefanko und zieht mich vorwärts. Sie dringt in das hohe Gras vor, bückt sich und taucht lächelnd auf, mit Zweigen in einer Hand, Gui-Fasern in der anderen. „Siehst du? Wir haben sogar schon etwas von dem Material geschnitten, das du brauchst.“
„Aber wie …“
„Der Mond ist doch gar kein so schrecklicher Ort, oder?“ Sie kommt mit langen Schritten durch das Gras zurück. „Und wir hier in Carnival setzen alles daran, um deinen Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten. Schau einmal.“ Sie hebt einen Stein. Eine Knopfreihe glänzt. „Wenn du diesen Knopf drehst, kannst du das Wetter regulieren; du brauchst nicht mehr unter diesen schrecklich heißen und kalten Jahreszeiten zu leiden. Es sei denn natürlich, du möchtest das“, fügt sie rasch hinzu. „Und hin und wieder werden ein paar nette Leute auf dich – bei dir vorbeischauen. Von dort oben. Vom Himmel.“ Sie machte eine ausholende Armbewegung. „Sie möchten sehen, wie du lebst; du – und andere wie du – ihr seid eine ziemliche Sensation, weißt du.“ Ich starre sie verständnislos an. „Wenn du sie sehen willst, brauchst du jedenfalls nur diesen Knopf zu drehen. Und wenn du hören möchtest, was der Monitor über dich sagt, dreh diesen hier.“ Sie blickt auf, sieht meine Verwirrung. „Oh, keine Sorge; der Monitor übersetzt alles. Eine wunderbare Erfindung.“
Sie stellt sich auf und nimmt mich beim Arm. Ihre Augen sehen fast warm aus. „Siehst du, U, auf der Erde gibt es keine Kalahari mehr – jedenfalls nicht so, wie du sie kanntest –, also haben wir eine neue geschaffen. In mancher Hinsicht wird sie nicht so gut sein wie das, was du gewöhnt bist, aber in vieler Hinsicht wird sie besser sein.“ Ihr Lächeln ist wieder da. „Wir glauben, du wirst dich hier wohl fühlen.“
„Und Kuara?“
„Er erwacht gerade. Er wird bald bei dir sein.“ Sie ergreift meine Hände. „Bald.“ Dann geht sie zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Ihre Gestalt verschwimmt rasch in der Entfernung. Plötzlich ist sie verschwunden. Über dem Gras flimmert ein Hitzeschleier, wo scheinbar die Tür war. Einen Augenblick überlege ich, ob ich ihr nachgehen soll. Schließlich zucke ich die Achseln. Ich arbeite an meinem Tshushi. Ich arbeite langsam und methodisch, während mein Kopf voller Gedanken ist. Ich denke an Kuara, und etwas nagt an mir. Ich lasse die Faser fallen, die ich in der Hand habe, und gehe auf den gegenüberliegenden Horizont zu, wo eine Giraffe an dem Mongongo-Baum äst.
Grashüpfer, Kxon-Ameisen, Mistkäfer hüpfen und krabbeln zwischen den Gräsern. Leguane hasten davon. Eine Maulwurfsschlange gleitet in ihr Loch unter einem Uri-Busch. Ich gehe schnell, der Sand unter meinen Füßen ist warm, aber nicht heiß. Die Ebene ist sonnendurchglüht, die wenigen kleinen Omirimbi-Wasserläufe ausgetrocknet, trotzdem spüre ich kaum Durst. Ein Springbock flüchtet hinter eine Weißdornakazie. Hier ist ein guter Ort, entscheidet ein Teil von mir. Hier wird Kuara ein Jäger werden, wie Tuka es nicht sein konnte. Kuara wird niemals lachen, um die Traurigkeit auszuschließen.
Der Horizont kommt nicht näher.
Ich messe die Giraffe mit dem Daumen ab, gehe tausend Schritte, messe wieder, gehe noch einmal tausend Schritte, messe aufs neue.
Die Giraffe wird nicht größer.
Ich werde noch einmal tausend Schritte gehen. Dann werde ich umkehren und mein Tshushi fertig bauen.
Nach hundert Schritten laufe ich gegen etwas Hartes.
Eine Wand.
Auf der anderen Seite äst die Giraffe immer noch.
Die Weißen mit den Landrovern kamen zu Ga, der heißesten Jahreszeit. Die Lastwagen schaukelten und dröhnten auf dem Sand. Tuka nahm Kuara und eilte ihnen entgegen. Auch ich kam, aber ich ging mit den anderen Frauen hinterher. Es waren einige Weiße und ein paar Bantus. Im vordersten Wagen stand Gai, winkte und grinste.
Eine blondhaarige weiße Frau stieg aus. Sie hatte weiße Shorts und ein hellbraunes Hemd mit aufgerollten Ärmeln an. Ich erkannte sie sofort. Doktor Morse, die uns wieder studieren wollte. Tuka hatte gesagt, die Weißen fänden an ihrer eigenen Kultur nichts Interessantes, darum studierten sie so gerne unsere.
Sie unterhielt sich lange mit uns Frauen und fragte uns nach unseren Familien und was wir von der Volksarmee SWAPO hielten. Alle redeten auf einmal. Sie gestikulierte, wir sollten ruhig sein. „Was denkst du, U?“ fragte sie dann. „Was ist deine Meinung?“ Ich sagte, sie solle Tuka fragen; er sei ein Mann und verstünde solche Dinge. Sie schien unzufrieden zu sein, darum sagte ich, SWAPO sollte keine Menschen umbringen. SWAPO sollte die Leute in Frieden lassen. Doktor Morse schrieb alles in ihr Notizbuch. Ich war mit mir zufrieden. Die anderen Frauen waren sehr eifersüchtig.
Doktor Morse erzählte uns, der Krieg in Südafrika nehme einen schlechten Verlauf; bald würde er auch hierher kommen. Als Tuka sich lange genug die Motoren angesehen hatte, fragte ich ihn, was Doktor Morse mit „schlecht“ meinte. Schlecht für die Schwarzen oder für die Weißen. Schlecht für die im Süden oder für uns in der Kalahari. Er wußte es nicht. Niemand von uns fragte Doktor Morse.
Dann sagte sie: „Wir haben euch Wasser gebracht. Viel Wasser. Wir haben gehört, daß ihr keines hattet.“ Ihr Haar glänzte im Sonnenschein. Für eine weiße Frau war sie sehr schön.
Wir lächelten, wiesen aber das Angebot zurück. Sie runzelte die Stirn, schien aber nicht eigentlich ärgerlich zu sein. Vielleicht glaubte sie, wir täten das, weil sie weiß war. Dann irrte sie sich; wenn wir Geschenke annehmen, könnten wir die vergessen, die die Kalahari uns gibt. „Fahrt aber wenigstens ein Stück auf den Lastwagen mit“, bat sie mit strahlendem Gesicht. Tuka lachte und rannte mit Kuara an der Hand auf die beiden Landrover zu. Ich schüttelte den Kopf. „Du solltest wirklich mitfahren“, sagte Doktor Morse. „Das wird dir Spaß machen.“
„Das ist etwas, was Männer tun“, erklärte ich ihr. „Frauen verstehen davon nichts.“
„Sie werden doch nur hintendrauf mitfahren!“
„Lastwagen. Jagd. Feuer. Das sind Männerangelegenheiten“, sagte ich.
Nur einer der Lastwagen kam zurück. Alle bis auf Tuka, Kuara und einige der Bantus waren dabei. „Der Wagen ist im Sand steckengeblieben; die Weißen wollen bis zum Morgen warten, um ihn herauszuziehen“, sagte Gai. „Tuka will daneben schlafen. Du weißt, wie verrückt er nach Lastwagen ist!“ Alles lachte. Außer mir. Ich fühlte eine pochende Leere in meinem Herzen; ich ärgerte mich, daß ich mich nach ihm sehnte.
Dann kam der Regen. Es war Ga Go – männlicher Regen. Ein starker, plötzlicher Guß, nicht gleichmäßig und sanft wie der weibliche Regen, der das Land mit Wasser erfüllt. Regen in der Ga-Zeit! Alle jauchzten und tanzten vor Freude. Sogar die Weißen tanzten. Ein Wunder, sagten die Leute. Ich dachte an den Honigdachs in der Kuma-Zeit und hatte Angst. Ich fühlte mich einsam. Trotz meiner Angst oder vielleicht wegen ihr tat ich etwas Törichtes. Ich schlief ein Stück von den anderen abseits.
In der Nacht kam das Stille wieder über mich. Num löste sich aus meinem Bauch. Ich hatte es nicht gerufen, ganz bestimmt nicht. Ich hatte nicht einmal daran gedacht. Ich spürte im Schlaf, wie mein Körper sich verkrampfte. Im Traum konnte ich mein flaches, hastiges Atmen hören. Die Angst packte mich und schüttelte mich wie den Zweig eines Ni Ni-Busches. Ich sank in die Erde. Tuka und Kuara standen mit hängenden Schultern im dampfenden, knöcheltiefen Wasser des Wasserlochs, wo wir getanzt hatten. Kuara hatte den Kopf eines Gnus auf; an Stelle der Augen hatte er glühende Kohlen. Alles, was er immer wieder sagte, war: „Lauf weg, Mutter.“
Ich erwachte im Schatten. Etwas Dunkles glitt über mich, bevor ich mich rühren konnte. Ich sah noch, wie Gai unter dem Mond grinste. Dann hielt mir eine Hand den Mund zu.
Doktor Stefanko kommt wieder, als ich mit der Hütte fertig bin. Sie und Gai bringen Häute von Warzenschwein und Kudu, Stacheln vom Stachelschwein, Schildkrötenpanzer, Straußeneier, einen Wetzstein, eine Ahle, zwei Assegaiklingen, Töpfe aus Bantu-Ton. Gai grinst, während er die Sachen hinstellt. Doktor Stefanko beobachtet ihn. „Er hätte auf der Erde nicht unverheiratet bleiben müssen, wenn deine Leute ihn nicht auf diese Rolle festgelegt hätten“, sagt sie zu mir, als er weggeht. Dann geht auch sie.
Später bringt sie Kuara.
Er rennt unbeholfen durch das Gras, das ihm fast bis ans Kinn reicht. „Mama“, schreit er, „Mama, Mama“, und ich fange ihn in meinen Armen auf, schwenke ihn herum und lache. Ich lege meine Hände auf seine Wangen; seine Arme sind um meine Taille geschlungen. Er ist wirklich. Tatsächlich. Ganz wirklich, mein Kuara! Die Tränen strömen mir übers Gesicht. Er wirkt hohläugig, und sein Haar ist geschoren. Aber ich lasse keine Sorge an mein Herz. Ich weine vor Freude, nicht vor Kummer.
Doktor Stefanko geht, und Kuara und ich reden miteinander. Er schwätzt von einem seltsamen Schlaf und Doktor Stefanko und Gai, während ich ihm das Lager zeige. Wir spielen mit den Knöpfen, die Doktor Stefanko mir gezeigt hat; einer von ihnen läßt in dem kleinen Winkel zwischen dem Himmel an der Wand und dem Himmel an der Decke eine Reihe von Fensterchen erscheinen. Die Fenster sehen aus wie eine Schnur von eckigen Perlen. Von dort spähen Gesichter herunter. Kinder. Alte Männer. Frauen mit Gesichtern wie Springhasen. Menschen vieler Rassen. Ich sage ihm, er solle niemanden anlächeln oder zu bemerken scheinen. Nicht einmal die Kinder. Die Kinder am allerwenigsten. Es sind bestimmt Gesichter von Geistern, warne ich ihn. Geister, die gerne Gwi werden möchten.
Wir hören der Stimme zu, die Doktor Stefanko den Monitor nennt. Es ist ein einschläfernder Singsang. Eine Frauenstimme, wie ich glaube. „U und Kuara, die letzten Neuzugänge in Carnival, Angehörige der letzten Stammesgruppe der Gwi, werden sich in unseren erstklassigen Einrichtungen bald eingewöhnen“, sagt die Stimme. Sie begleitet uns, wenn wir Wurzeln und Holz sammeln gehen.
Ein Leguan steckt seinen Kopf aus dem Steinwall und lauscht. Geräuschlos lege ich meine Holzlast hin. Dann bewegt sich meine Hand ganz langsam. So langsam, daß es fast keine Bewegung mehr ist. Ich greife zu. Gefangen! Kuara jubelt und klatscht in die Hände. „Beachten Sie die Hautfalten auf Wangen und Oberschenkeln“, sagt die Stimme. „Ebensolche befinden sich auf dem Hinterteil, jedoch wird U wie jede Gwi mit Selbstachtung ihren Kaross nicht in Gegenwart anderer ablegen, es sei denn beim Elentanz.“ Ich trage den zappelnden Leguan zur Hütte. „Wenn sie sich entkleidete, würden Ihnen die mächtigen Fettablagerungen am Steiß auffallen. Diese anatomische Besonderheit, ein Phänomen namens Steatopygie, kommt nur bei Buschmännern oder vielmehr Buschfrauen vor und dient zur Nahrungsspeicherung. Früher glaubte man …“
Nachdem ich dem Leguan das Genick gebrochen habe, ziehe ich den Kaross aus Echt-Oryx aus und binde ihn mit Gui-Fasern vor meine Hütte. Er gibt eine prima Tür ab. Ich habe noch nie eine Tür gehabt. Tuka und ich haben im Freien geschlafen und das Tshushi als Lagerraum benutzt. Kuara wird eine Tür haben. Eine Tür zwischen ihm und den Zuschauern.
Er wird auch Feuer haben. Ein Feuer, das Wärme und Nahrung gibt und an dem U singt. Ich sammle Stöcke von Kane und Ore und schneide sie männlich und weiblich zurecht, dann nehme ich Galligras als Zunder. Wie Tuka es immer gemacht hat. „Die Kennzeichen der Gwi sind ein niedriger, flacher Schädel, sehr kleine Brustwarzen, gewölbte oder senkrechte Stirn, büscheliges, sogenanntes Pfefferkorn-Haar, ein kaum vorspringender Unterkiefer …“ Ich drehe die Stöcke zwischen den Handflächen. Es scheint ewig zu dauern. Mir schmerzen die Arme. Ich will schon aufgeben, da raucht es auf einmal. Kuara hüpft schnatternd im Lager umher. Ich schaue auf das Feuer und lächle vor Freude. Aber es ist Furcht in der Freude. Ich werde Feuer zum Wärmen und Feuer zum Kochen machen, beschließe ich, während ich den Rauch zur Flamme entfache. Kein Festfeuer. Nicht ohne Tuka.
Ich röste den Leguan mit Eru-Beeren und Tsha-Gurken, die hier reichlich vorzukommen scheinen. Aber ich bin nicht Tuka, der mit Feuer und Lachen schnell bei der Hand war; das Feuermachen hat zu lange gedauert. Als die Echse erst halb gar ist, schnappt Kuara sie und reißt sie auseinander, indem er sie wie heißen Teig von einer Hand in die andere wirft. „Kuara!“ schelte ich und tue, als ob ich ärgerlich wäre. Er kichert und hebt die Echse mit baumelnden Eingeweiden an den Mund, um davon zu essen. Ich lächle wehmütig. Kuaras lachende Augen und Straußenbeine – genau wie Tuka!
„Die Gwi singen keine Schlachtgesänge oder Heldenlieder“, leiert die Stimme. „In ihrer Geschichte kommen keine Kriege vor. Doch besiegelte ironischerweise der südafrikanische Krieg im letzten Jahrhundert, an dem die Gwi unbeteiligt waren, ihren Untergang. Zwar sind kleinere Streitigkeiten durchaus an der Tagesordnung – selbst in einer Gesellschaft, die Gewalt ablehnt, zanken sich Eheleute –, aber Kämpfen wird als etwas Ehrenrühriges betrachtet. Wer kämpft, dem ist es mißlungen …“ Als ich aufschaue, sind an den Fenstern keine Gesichter zu sehen.
Schließlich färbt die Dämmerung das Gras grau. Kuara findet eine Perlhuhnfeder und ein Rohr; er lehnt sich gegen meine Beine und macht sich ein Zani. Es wird kühler. Ich entscheide, daß die Tür besser um unsere Schultern paßt als vor den Eingang des Tshushi.
Aus der untergehenden Sonne kommt eine Gestalt. Ich beschirme meine Augen mit dem Arm. Doktor Stefanko. Sie lächelt, nickt Kuara zu, der eine Nuß als Gewicht an seinem Spielzeug befestigt, und setzt sich auf einen Holzklotz. Sie lächelt immer noch, aber ohne Freude. Sie sieht mich streng an.
„Ich hoffe doch sehr, daß du dich um Kuaras willen nicht noch einmal so aufführen wirst wie heute nachmittag“, legt sie los. „Du bist dir doch wohl darüber im klaren, daß er … daß er sozusagen auf Probe bei dir ist. Wenn du Ärger machst, müssen wir den Jungen zurück in die Vorbereitungsräume schicken, bis du … bis du dich besser eingewöhnt hast.“ Sie tippt mit dem Zeigefinger gegen ihre Handfläche. „Du mußt deine Impulsivität im Zaum halten.“ Sie tippt noch einmal. „Und das gleich.“
Mit schräg geneigtem Kopf starre ich sie verständnislos an.
„Wie du deinen Kaross ausgezogen hast, bloß weil der Monitor sagte, du tätest das nie.“ Sie nickt wissend. „O ja, wir wissen es ganz genau, wann du zuhörst und wann nicht. Und diese scheußliche Szene mit der Echse!“ Sie verzieht das Gesicht und schüttelt sich. „Und dann die Sache mit dem Feuer.“ Sie deutet auf die Glut. „Man erwartet von dir, daß du hier lebst wie damals auf der Erde. Wenigstens tagsüber. Es war immer Männerarbeit, das Feuer zu entzünden.“
„Es waren immer Männer da.“ Ich zucke die Achseln.
„Das stimmt. Na ja, wir sind dabei, etwas zu arrangieren. In der Zwischenzeit halte dich an Nahrungsmittel, die du nicht zu kochen brauchst. Und stell die Heizung an.“ Sie geht zu dem Stein, läßt sich auf Hände und Knie nieder und dreht an einem der Knöpfe. Etwas beginnt zu summen. Sie setzt sich wieder auf den Holzklotz, lächelt und reibt ihre Hände über dem Feuer. Dann zieht sie eine Fotografie aus ihrer Hüfttasche und reicht sie mir. Ich drehe das Bild richtig herum. Da steht Doktor Morse mit dem Arm über Gais Schultern. Sein linker Arm umfaßt ihre Taille. Im Hintergrund sieht man die Landrover.
„Impulsiv“, sagt Doktor Stefanko, lehnt sich hinüber und schnipst mit dem Finger gegen die Fotografie. „Genauso hat Doktor Morse dich in ihren Notizen genannt. Sie betrachtete das als eine Tugend.“ Wieder hebt sich ihre Augenbraue. „Wir sind da anderer Meinung.“ Dann fügt sie stolz hinzu: „Sie war meine Großmutter, mußt du wissen. Du kannst dir vorstellen, daß ich ein mehr als professionelles Interesse an unserer südwestafrikanischen Abteilung hier in Carnival habe.“
Ich will ihr die Fotografie zurückgeben. Sie hält mich mit erhobener Hand zurück. „Behalte sie nur“, sagt sie. „Betrachte sie als ein Hochzeitsgeschenk. Das erste von vielen.“
In dieser Nacht schlafen Kuara und ich aneinandergeschmiegt im Tshushi, in den Kaross eingemummt. Er hält immer noch das Zani fest, obwohl er es nicht ein einziges Mal in die Luft geworfen hat, um es herabsegeln zu sehen. Vielleicht wird er es morgen tun. Morgen. Ein häßliches Wort. Ich starre die dunkle Erde an und spüre Sand zwischen meinen geballten Fäusten, während ich daliege. Ich frage mich, ob die Geister in den Himmelsfenstern mir mit irgendwelchen Erfindungen, durch die man bei Nacht sehen kann, beim Schlafen zuschauen. Ob sie in der Nacht zuschauen werden, wenn Gai auf meinen Rücken klettert und grunzt, während er mit mir macht, was Verheiratete tun.
Der Schlaf kommt schließlich. Ein unruhiger Schlaf. Ich merke, wie ich Kuara an mich drücke. Er sträubt sich etwas gegen die enge Umarmung, aber er wacht nicht auf. Im Traum gleite ich aus mir heraus, schüre das Feuer und tanze den Elentanz. Mein Körper glänzt vor Elenfett. Meine Augen starren geradeaus ins Dunkel, und ich halte den Kopf hoch und steif. Ich singe und hebe und senke dabei meine Füße, tanze immer ums Feuer herum. Andere Frauen klatschen und singen die Kia-Lieder der Heilung. Männer spielen auf der Guaschi und dem Saitenbogen. Die Musik schwingt und trillert und schwirrt. Der Rhythmus widerhallt in mir. Jeder Muskel kennt die Melodie. Aus meinen Augen quellen Tränen. Meine Beine sind bleischwer vor Schmerz. Und immer noch tanze ich weiter.
Dann endlich steigt das Num auf. Es löst sich aus meinem Bauch und bläst mit Feueratem mein Rückgrat empor. Ich bekämpfe die Furcht. Ich tanze gegen das Grauen an. Ich erzittere im Brand. Meine Augen verengen sich vor Qual. Ich sehe nicht, wie die Frauen klatschen und singen. Mein Atem geht flach, heiß und keuchend. Meine Brüste hüpfen. Ich tanze. Das Num steigt weiter. Es berührt den Eingang meines Gehirns. Es erfüllt meinen Kopf. Mein ganzer Körper ist wach und brennt. Mein Fleisch steckt ganz voller Dornen. Meine Brüste sind glühende Kohlen. Ich fühle, wie Geister, heiße Geister, Geister der Vergangenheit, sich in meinen Schädel drängen. Ich taumele zur Hütte; Kuara und U, mein altes Ich, erwarten mich. Ich schlüpfe in ihr Fleisch wie jemand, der in die kühlen, schlammigen Wasser einer ganzjährig feuchten Pfanne gleitet. Ich schlüpfe zwischen ihre Angst und Trauer und ihre schmerzliche Freude an Kuara, der neben ihr liegt.
Sie bewegt sich. Ihr Kopf rührt sich im Schlaf. Ein leises Stöhnen; Ablehnung. Ich gleite tiefer hinein. Ich werde wieder zu ihr. Mein Kopf glüht vor Num und Geistern. „U“, flüstere ich, „ich bringe dir alle Geister deines früheren Ichs und die deines Volkes.“ Noch einmal stöhnt sie, aber schwächer, das lustvolle Stöhnen einer Frau beim Liebesakt. Ihr Körper streckt sich und erstarrt. Ihre Nägel schrammen über Kuaras Rücken. Dann nimmt sie mich, nimmt sich selbst auf. Ich erfülle ihr Fleisch.
Und bringe ihr das Stille, zum dritten Mal in ihrem Leben. Tiefer und tiefer sickert sie in den Sand und läßt nichts von sich selbst zurück; ihre Hände halten Kuaras Handgelenke fest, und sie zieht ihn mit, die Perlhuhnfeder des Zani weht hinter ihm her wie im Wind. Sie kommt durch den Sand, durch die Betonfundamente von Carnival, durch das Mondgestein, wühlt sich immer tiefer wie ein Dachs. Sie bricht durch in eine Dunkelheit mit silbernen Lichtstreifen: den Kern des Mondes, wo die verstorbenen Ahnen hausen, die Geister des Kia. Unter Schreien von Entsetzen und Freude fällt sie mit flatterndem Kaross zu Boden. Im Mittelpunkt der Höhle, wo Wasser wie kaltes Silber glänzt, wartet Tuka mit ausgestreckten Armen. Er lacht – ein schrilles, gequältes Kichern. Nur so kann ein Geist lachen, der in seinem Schlaf gestört wurde. Heute nacht werden die drei tanzen: U, Tuka, Kuara.
Dann wird er ihr das Geheimnis des Oa-Giftes beibringen, das aus der weiblichen Larve des Mistkäfers gepreßt wird. Er wird sie lehren, Pfeilgift herzustellen. Ein Gift, gegen das die Buschmänner kein Gegengift kennen.
Wenn sie wieder zu Gai und Doktor Stefanko zurückkehrt, wird sie auf der Jagd sein.
Sie wird keine Tiere jagen.