Ge­or­ge Gu­thridge
Das Stille

THE QUIET

Kua­ra, mein Sohn, die Wei­ßen ha­ben den Mond ge­stoh­len.

Der Him­mel vor dem Fens­ter ist schwarz. Zwi­schen den Ster­nen hängt ei­ne blau­wei­ße Schei­be. Das ist die Er­de, sagt Dok­tor Ste­fan­ko. Ich kla­ge und tromm­le mit den Fäus­ten. Ich bin mit Rie­men an ein Bett ge­fes­selt. Dok­tor Ste­fan­ko drückt mir die Schul­tern her­un­ter und be­tupft mei­nen Arm. „Da du kei­ne Ru­he hal­ten willst, wer­de ich dir noch ei­ne Sprit­ze ge­ben müs­sen“, sagt sie lä­chelnd. Ich lie­ge still.

Das ist nicht die Er­de. Die Er­de ist braun. Die Er­de ist die Ka­la­ha­ri.

„Du bist auf dem Mond“, sagt Dok­tor Ste­fan­ko. Das er­zählt sie mir schon zum zwei­ten oder drit­ten Mal; ich ha­be ge­schla­fen und ge­wacht, ge­schla­fen und ge­wacht, bis ich nicht mehr wuß­te, wel­che Stim­men Träu­me wa­ren und wel­che, wenn über­haupt, Wirk­lich­keit. Ich spü­re einen Stich. „Ruh dich jetzt aus. Du hast einen lan­gen Schlaf hin­ter dir.“

Ich er­in­ne­re mich dar­an, wie ich zum ers­ten Mal auf­ge­wacht bin. Das wei­ße Zim­mer, wei­ßes Zeug über mir. Drau­ßen Schwär­ze und die blau­wei­ße Schei­be.

„Auf dem Mond“, sa­ge ich. Mei­ne Glie­der füh­len sich schwer an. Mir ist schwind­lig. Der Schlaf zerrt an mei­nem Fleisch. „Der Mond.“

„Ist es nicht wun­der­bar?“

„Und Tu­ka, mein Mann, sa­gen Sie – tot.“

Sie preßt die Lip­pen zu­sam­men und sieht mich ernst an. „Er hat den Schlaf nicht über­stan­den.“

„Der Mond ist hohl“, er­klä­re ich ihr. „Das weiß doch je­der. Die To­ten schla­fen dort.“ Ich star­re die De­cke an. „Ich bin am Le­ben und auf dem Mond. Tu­ka ist tot, aber er ist nicht hier.“ Die Wor­te schei­nen aus mei­nem Mund zu schwe­ben. An der De­cke sind klei­ne Fle­cken.

„Schlaf jetzt, sei ein bra­ves Mäd­chen. Spä­ter un­ter­hal­ten wir uns wei­ter.“

„Und Kua­ra. Mein Sohn. Er lebt.“ Die Fle­cken dre­hen sich. Ich schlie­ße die Au­gen. Die Fle­cken dre­hen sich noch im­mer.

„Ja, aber …“

„Vor et­wa hun­dert Jah­ren wur­de ein Ge­setz zum Schüt­ze ge­fähr­de­ter Ar­ten er­las­sen – al­so von Tie­ren, die aus­ster­ben könn­ten, wenn der Mensch nicht sehr auf­paß­te“, er­zählt Dok­tor Ste­fan­ko. Ihr Ge­sicht ist nicht mehr ver­schwom­men. Sie hat grau­es Haar und ha­ge­re Wan­gen. Ir­gend­wo ha­be ich sie schon ge­se­hen – lan­ge be­vor ich an die­sen Ort ge­bracht wur­de. Aber mir fällt nicht ein, wo das war. Die Er­in­ne­rung glei­tet im­mer wei­ter weg.

Gai steht grin­send am Fens­ter. Er trägt einen Len­den­schurz. Das, was Dok­tor Ste­fan­ko die Er­de nennt, um­gibt als leuch­ten­de Schei­be sei­nen Kopf. Durch die Lücke zwi­schen sei­nen Vor­der­zäh­nen schaut sei­ne rie­si­ge, nar­bi­ge Zun­ge her­vor. Sei­ne Schul­tern fal­len ab wie die ei­nes Har­te­beest. Auf sei­ner le­de­ri­gen, runz­li­gen Brust wach­sen er­grau­en­de Haar­bü­schel. Nach sei­nem Ver­rat bin ich nicht er­staunt, ihn hier zu se­hen. Er bringt das Num in mei­ner Ma­gen­gru­be zum Pul­sie­ren. Ich schaue weg.

„Dann wur­de das Ge­setz da­hin­ge­hend er­wei­tert, daß es ge­fähr­de­te Völ­ker ein­be­zog. Völ­ker wie die Gwi.“ Dok­tor Ste­fan­ko setzt ein müt­ter­li­ches Lä­cheln auf und stupst mir mit dem Zei­ge­fin­ger auf die Na­se. Ich wer­fe den Kopf zu­rück. Sie run­zelt die Stirn. „Na­tür­lich war es nicht mög­lich, gan­ze Stäm­me zu ret­ten. Al­so ta­ten die Ur­he­ber des Ge­set­zes, was sie für das Bes­te hiel­ten. Sie ret­te­ten be­stimm­te Ex­em­pla­re. Dich. Dei­ne Fa­mi­lie. Ein paar an­de­re wie Gai. Die­se Ver­tre­ter wur­den ein­ge­fro­ren.“

„Ein­ge­fro­ren?“

„Kalt ge­macht.“

„So wie in der Gum-Zeil, wenn sich in den Strau­ßen­ei-Ka­nis­tern Eis bil­det?“

„Noch viel käl­ter.“

Das war al­so kein Traum. Ich er­in­ne­re mich, daß ich durch et­was Blau­es, Glän­zen­des, Zer­knit­ter­tes ge­st­arrt ha­be. Wie Licht, das man durch ei­ne Schlan­gen­haut sieht. Ich konn­te mich nicht be­we­gen, ob­wohl ich im In­ne­ren die gan­ze Zeit zit­ter­te. Das ist al­so der Tod, hat­te ich ge­dacht.

In der Zwi­schen­zeit wur­det ihr hier­her auf den Mond ge­bracht. Nach Car­ni­val. Es ist ein schö­ner Ort. Ei­ne wirk­lich in­ter­na­tio­na­le Ein­rich­tung, er­baut als Wahr­zei­chen für die Har­mo­nie der Völ­ker. Hier ha­ben wir uns be­müht, von dem, was war, das Bes­te neu zu schaf­fen.“ Sie hält in­ne, und ihr Blick wird scharf. „Hier wird jetzt dei­ne Hei­mat sein, U“, sagt sie.

„Und Kua­ra?“

„Er wird hier mit dir le­ben, wenn es so­weit ist.“ Et­was in ih­rer Stim­me ruft Furcht in mir wach. Dann sagt sie: „Möch­test du ihn se­hen?“ Ein Teil der Furcht ver­schwin­det.

„Ist das rat­sam, Dok­tor?“ fragt Gai. „Der hier ist nicht zu trau­en.“ Sei­ne Au­gen grin­sen auf mich her­un­ter. Er starrt auf mei­nen Un­ter­leib.

„Ach, das wird schon gut­ge­hen. Du wirst doch ein bra­ves Mäd­chen sein, U, nicht wahr?“

Mein Kopf nickt. Mein Herz sagt we­der ja noch nein.

Die Rie­men sprin­gen mit lau­tem Kli­cken auf. Dok­tor Ste­fan­ko und Gai hel­fen mir auf die Fü­ße. Die Welt schwankt. Die Erd­schei­be stellt sich schräg und schwingt hin und her. Der Fuß­bo­den neigt sich in ei­ne, dann in die an­de­re Rich­tung. In mei­nen Hän­den und Fü­ßen krib­belt es. Mir wird in einen Stuhl ge­hol­fen. Es klickt wie­der. Die Tür öff­net sich mit Zi­schen, und der Stuhl schwebt hin­aus. Dok­tor Ste­fan­ko geht vor­an, Gai tapst hin­ter­her. Wir be­we­gen uns durch einen Kor­ri­dor nach dem an­de­ren. Lau­ter rech­te Win­kel. Nichts ist krumm, bis auf die Mün­der von Wei­ßen, die uns im Vor­bei­ge­hen zu­lä­cheln. Und die sind zu krumm.

Wie­der zischt ei­ne Tür. Wir kom­men in einen kal­ten Raum. Blau­es Glas, von in­nen be­reift, er­streckt sich an bei­den Wän­den vom Bo­den bis zur De­cke. Hin­ter dem Glas ste­hen ein­ge­fro­re­ne Ge­stal­ten. Ich er­in­ne­re mich an die­sen Ort. Ich er­in­ne­re mich, wie trä­ge sich der Haß in mei­nem Her­zen an­fühl­te.

„Kua­ra ist dort hin­ten“, sagt Dok­tor Ste­fan­ko. Ihr Atem ist weiß.

Der Stuhl schwebt nä­her. Mei­ne Bei­ne sto­ßen an das Glas; Käl­te durch­zuckt mei­ne Knie. Der Stuhl weicht zu­rück. Ich leh­ne mich nach vorn. Durch das Glas kann ich die ge­schlos­se­nen Au­gen mei­nes Soh­nes se­hen. Sei­ne Wim­pern und Brau­en sind be­reift. Der Kopf lehnt zur Sei­te. Sei­ne Ärm­chen hän­gen her­un­ter. Trotz der Käl­te be­rüh­re ich das Glas. Gai zieht scharf den Atem ein und drückt mei­ne Schul­tern zu­rück, aber Dok­tor Ste­fan­ko legt die Hand auf Gais Hand­ge­lenk, und er läßt mich frei. Die­ses Glas gibt nach, an­ders als das an den Last­wa­gen auf dem Tsa­ma­feld. Num steigt in mir auf. Mein Herz schlägt schnel­ler. Num dringt in mei­ne Ar­me, flu­tet in mei­ne Fin­ger. „Kua­ra“, flüs­te­re ich. Wär­me brei­tet sich auf dem Glas aus. Sie bil­det einen klei­nen, un­re­gel­mä­ßi­gen Kreis.

„So­bald du dich in dei­ner neu­en Hei­mat ein­ge­lebt hast, kommt er hier her­aus“, sagt Dok­tor Ste­fan­ko.

Kua­ra. Wenn ich nur tan­zen könn­te. Das Num wür­de in mir sie­den. Ich könn­te Kia ma­chen. Ich wür­de die Geis­ter der Käl­te ver­scheu­chen. Du wür­dest er­wa­chen, durch das Glas tre­ten und in mei­ne Ar­me kom­men.

Wenn es uns auch oft an Was­ser fehl­te, so wa­ren wir doch nicht un­glück­lich. Die Tsa­ma-Me­lo­nen er­hiel­ten uns am Le­ben. Es war ein großes Feld, und wenn wir spar­sam wa­ren, konn­ten wir lan­ge Zeit aus­kom­men, oh­ne zu den Was­ser­lö­chern wan­dern zu müs­sen. Die Pfan­nen Garn und Gaut­scha wa­ren von Wei­ßen und zah­men Buschleu­ten be­setzt, und ih­re Be­woh­ner, die Kung, wa­ren zum Teil ge­flo­hen, zum Teil um des Was­sers wil­len ge­blie­ben und ar­bei­te­ten jetzt auf den Far­men der Wei­ßen und aßen ih­re Nah­rung.

Wir wa­ren elf, manch­mal auch ein oder zwei mehr. Der un­ver­hei­ra­te­te Gai war ei­ner von de­nen, die ka­men und gin­gen. Tu­ka pfleg­te zu sa­gen: „Man kann uns im­mer an drei Hän­den ab­zäh­len, aber nie an zwei oder vier Hän­den.“ Dann lach­te er. Er lach­te ei­gent­lich im­mer. Ich glau­be, er lach­te, weil es in der Nä­he un­se­rer Hei­mat, der Akam-Pfan­ne, so we­nig Wild gab. Die we­ni­gen Dui­ker und Spring­bö­cke, die frü­her über die Ebe­ne ge­zo­gen wa­ren, hat­ten das Vor­drin­gen der Wei­ßen und die Flucht der Kung ge­ro­chen und wa­ren weg­ge­lau­fen. Tu­ka lach­te, um die Lee­re aus­zu­fül­len.

Wenn er nicht ge­ra­de Fal­len für Spring­ha­sen und Sta­chel­schwei­ne stell­te, half er mir manch­mal, Holz und Knol­len­früch­te zu sam­meln. Wir gru­ben nach Xwa-Wur­zeln und nach Koa, der tief in der Er­de ver­bor­ge­nen Was­ser­wur­zel, bis uns die Ar­me weh ta­ten. Manch­mal schlu­gen wir auch mit Stö­cken auf den Na-Baum ein, daß die sü­ßen Bee­ren ab­fie­len, und dann jag­te mich Tu­ka im­mer rund­her­um und lach­te und kreisch­te wie ein Ir­rer. Zu sol­chen Zei­ten frag­te ich mich manch­mal, warum ich ihn frü­her so ge­haßt hat­te.

Das­sel­be frag­te ich mich wäh­rend der hei­ßen Jah­res­zeit Ku­ma, als wir na­he am Ver­hun­gern wa­ren. Tags­über zog ich mei­nen Ka­ross aus, grub ei­ne fla­che Gru­be im spär­li­chen Schat­ten ei­nes Oro­gu-Bu­sches, uri­nier­te in den Sand, deck­te mich mit Sand zu und leg­te mir ein Blatt über den Kopf. Wir drei – Tu­ka, Kua­ra und ich – la­gen wie To­te Sei­te an Sei­te. „Mein Herz ist trau­rig vor Hun­ger“, sang ich den gan­zen Tag vor mich hin. „Krank und lang­sam wie ein Greis.“ Dann dach­te ich an al­les Schlech­te. Wie mei­ne El­tern mich vor mei­ner Zeit mit Tu­ka ver­hei­ra­tet hat­ten, weil er mei­ner Mut­ter als Braut­preis einen neu­en Ka­ross ge­bracht hat­te. Wie Tu­ka vor mei­ner Zeit mit mir das ge­macht hat­te, was Ver­hei­ra­te­te tun. Im­mer vor mei­ner Zeit! Manch­mal wünsch­te ich mir, ein Paouw wür­de her­ab­sto­ßen und sei­nen Pe­nis für ei­ne fet­te Rau­pe hal­ten.

Dann fing Tu­ka ei­nes Nachts einen Ho­nig­dachs in der Schlin­ge. Ein Dachs zur Ku­ma-Zeit! Al­les war auf­ge­regt. Tu­ka sag­te: „Ges­tern, als wir schlie­fen, da ha­be ich dem Land er­zählt, daß mei­ne U Hun­ger lei­det und ich für sie und Kua­ra Fleisch ha­ben muß.“ Der Dachs war sehr zart. Gai aß sei­nen An­teil und bet­tel­te um mehr, ob­wohl er noch nie Fleisch ins La­ger ge­bracht hat­te. Als das Fleisch auf­ge­ges­sen war, rös­te­ten wir Ga-Wur­zeln und san­gen und tanz­ten, wäh­rend Tu­ka auf der Gu­a­schi spiel­te. Ich tanz­te voll Stolz. Nicht für Tu­ka, son­dern für mich selbst. Num lös­te sich aus mei­ner Ma­gen­gru­be und kroch sie­dend­heiß mein Rück­grat hoch. Ich hat­te Angst, denn wenn das Num mei­nen Schä­del er­reicht, muß ich Kia ma­chen. Dann se­he ich Ge­spens­ter, die Men­schen um­brin­gen, und ich rie­che ver­we­sen­de Lei­chen.

Tu­ka nahm mei­nen Kopf zwi­schen sei­ne Hän­de. „Du darfst nicht Kia ma­chen“, sag­te er. „Nicht jetzt. Die Vi­sio­nen wür­den dei­nen Kör­per über­an­stren­gen.“ Bei an­de­ren Leu­ten bringt Kia Hei­lung, für sie selbst, für an­de­re; mir bringt es nur Schmer­zen.

Tu­ka hielt mich ne­ben dem Feu­er fest und strei­chel­te mich, und das Num leg­te sich. „Wenn ich tags­über im Sand lie­ge, träu­me ich, daß ich auf einen großen Bao­bab ge­klet­tert bin“, sag­te er. „Ich schaue vom Wip­fel her­un­ter, und über­all im Land gra­sen die Tie­re. Gi­raf­fen und Gnus und Ku­dus. ‚Du mußt die­se Tie­re er­ja­gen und sie zu U und Kua­ra heim­brin­gen, be­vor die Wei­ßen sie tö­ten’, sagt mein Traum.“ Dann frag­te er: „Wor­an denkst du, wenn du dort liegst, U?“

Ich ant­wor­te­te nicht. Ich hat­te Angst, es ihm zu sa­gen; er soll­te nicht zor­nig oder trau­rig wer­den, nach­dem er sich so über sei­nen Ho­nig­dachs ge­freut hat­te. Er lä­chel­te. In sei­nen feuch­ten Au­gen glänz­te der Feu­er­schein. Viel­leicht glaub­te er, das Num fes­se­le mei­ne Zun­ge.

Am nächs­ten Tag kam das Stil­le. Ich lag im Sand und spür­te das Num in mei­nem Bauch pul­sie­ren. Ich kämpf­te ge­gen die Angst an, die es im­mer mit sich brach­te. Ich rief nicht nach Tu­ka. Das Pul­sie­ren wur­de stär­ker. Ich be­gann zu zit­tern. Schweiß lief mir über das Ge­sicht. Das Num sie­de­te in mir. Es kroch mein Rück­grat hoch und auf mei­ne Keh­le zu. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te ich die Adern des Blat­tes an, sah aber nur Grau­en. Ich spür­te, wie ich gleich­zei­tig er­starr­te und beb­te. In mei­nem Kopf häm­mer­te es; es war so groß wie ei­ne Ga-Wur­zel. Ich hör­te, wie mein Mund schmat­zen­de Ge­räusche von sich gab, wie Kua­ra sie frü­her an mei­ner Brust ge­macht hat­te. In mir wur­de der Druck im­mer stär­ker und stär­ker.

Und war dann plötz­lich ver­schwun­den. Er wühl­te sich in die Er­de und nahm mei­ne Tag­träu­me mit. Ich sank tiefer und tiefer in den Sand. Ich kam vor­bei an Ub­bee-Wur­zeln und den aus­ge­bleich­ten, ver­ges­se­nen Ge­bei­nen längst to­ter Tie­re. Ich er­reich­te ein Was­ser­loch tief un­ter dem Erd­bo­den. Tu­ka war im Was­ser. Kua­ra auch. Er sah jün­ger aus, ge­ra­de im Krab­bel­al­ter. Tu­ka lä­chel­te und sah gut aus. Er ist kein schlech­ter Mensch, sag­te ich zu mir; er ist nur zu ei­gen­sin­nig. Aber er hat un­se­ren Leu­ten Fleisch ge­bracht, das kann ich nicht ver­ges­sen. Und ei­nes Ta­ges wird er mir viel­leicht einen neu­en Ka­ross brin­gen. Viel­leicht wird er vie­le Din­ge brin­gen. Wich­ti­ge Din­ge.

Ich zog mei­nen Ka­ross aus, und wir drei faß­ten uns bei den Hän­den, tanz­ten nackt und plantsch­ten. Kein Num woll­te von mir Be­sitz er­grei­fen. Kein Drang zu dem, was Ver­hei­ra­te­te tun, über­kam Tu­ka. Nichts als Stil­le und La­chen.

„Dies wird dei­ne neue Hei­mat, U“, er­klärt mir Dok­tor Ste­fan­ko, als sie ei­ne Tür öff­net. Sie hat mir einen neu­en Ka­ross ge­ge­ben; Echt-Oryx nennt sie ihn, wenn ich auch nicht weiß, warum sie sich so aus­drückt. Als sie ih­re Hand auf mei­nen Rücken legt und mich vor­an­schiebt, fühlt sich der Ka­ross weich und glatt auf mei­ner Haut an. „Wir glau­ben, es wird dir ge­fal­len, und wenn du ir­gend et­was brauchst …“

Ich hal­te mich am Tür­rah­men fest und wen­de mein Ge­sicht ab. Ich will an die­sem Ort nicht le­ben, ihn nicht ein­mal an­schau­en. Aber sie schiebt stär­ker, und ich stol­pe­re hin­ein. Ich be­de­cke mein Ge­sicht mit den Hän­den.

„Aber, aber“, sag­te Dok­tor Ste­fan­ko. Ich spä­he durch die Fin­ger. Wir sind in der Ka­la­ha­ri.

Ich dre­he mich lang­sam um, denn plötz­lich strahlt und singt mein Herz. Kei­ne Tür. Kei­ne Wän­de. Kei­ne Win­kel. Das san­di­ge Feld dehnt sich un­ter wol­ken­lo­sem Him­mel. Blaß­gol­de­nes Gras mit ein paar ver­streu­ten Weiß­dor­na­ka­zi­en und Tsi-Bäu­men, so­weit man se­hen kann; in der Fer­ne er­he­ben sich ei­ni­ge Schir­ma­ka­zi­en und so­gar ein Mon­gon­go-Baum. Ein We­ber­vo­gel schießt aus ei­nem Stein­wall und wie­der hin­ein.

„Hier wä­re ein gu­ter Platz für dein Ts­hus­hi – dei­ne Schutz­hüt­te“, sag­te Dok­tor Ste­fan­ko und zieht mich vor­wärts. Sie dringt in das ho­he Gras vor, bückt sich und taucht lä­chelnd auf, mit Zwei­gen in ei­ner Hand, Gui-Fa­sern in der an­de­ren. „Siehst du? Wir ha­ben so­gar schon et­was von dem Ma­te­ri­al ge­schnit­ten, das du brauchst.“

„Aber wie …“

„Der Mond ist doch gar kein so schreck­li­cher Ort, oder?“ Sie kommt mit lan­gen Schrit­ten durch das Gras zu­rück. „Und wir hier in Car­ni­val set­zen al­les dar­an, um dei­nen Auf­ent­halt hier so an­ge­nehm wie mög­lich zu ge­stal­ten. Schau ein­mal.“ Sie hebt einen Stein. Ei­ne Knopf­rei­he glänzt. „Wenn du die­sen Knopf drehst, kannst du das Wet­ter re­gu­lie­ren; du brauchst nicht mehr un­ter die­sen schreck­lich hei­ßen und kal­ten Jah­res­zei­ten zu lei­den. Es sei denn na­tür­lich, du möch­test das“, fügt sie rasch hin­zu. „Und hin und wie­der wer­den ein paar net­te Leu­te auf dich – bei dir vor­bei­schau­en. Von dort oben. Vom Him­mel.“ Sie mach­te ei­ne aus­ho­len­de Arm­be­we­gung. „Sie möch­ten se­hen, wie du lebst; du – und an­de­re wie du – ihr seid ei­ne ziem­li­che Sen­sa­ti­on, weißt du.“ Ich star­re sie ver­ständ­nis­los an. „Wenn du sie se­hen willst, brauchst du je­den­falls nur die­sen Knopf zu dre­hen. Und wenn du hö­ren möch­test, was der Mo­ni­tor über dich sagt, dreh die­sen hier.“ Sie blickt auf, sieht mei­ne Ver­wir­rung. „Oh, kei­ne Sor­ge; der Mo­ni­tor über­setzt al­les. Ei­ne wun­der­ba­re Er­fin­dung.“

Sie stellt sich auf und nimmt mich beim Arm. Ih­re Au­gen se­hen fast warm aus. „Siehst du, U, auf der Er­de gibt es kei­ne Ka­la­ha­ri mehr – je­den­falls nicht so, wie du sie kann­test –, al­so ha­ben wir ei­ne neue ge­schaf­fen. In man­cher Hin­sicht wird sie nicht so gut sein wie das, was du ge­wöhnt bist, aber in vie­ler Hin­sicht wird sie bes­ser sein.“ Ihr Lä­cheln ist wie­der da. „Wir glau­ben, du wirst dich hier wohl füh­len.“

„Und Kua­ra?“

„Er er­wacht ge­ra­de. Er wird bald bei dir sein.“ Sie er­greift mei­ne Hän­de. „Bald.“ Dann geht sie zu­rück in die Rich­tung, aus der wir ge­kom­men sind. Ih­re Ge­stalt ver­schwimmt rasch in der Ent­fer­nung. Plötz­lich ist sie ver­schwun­den. Über dem Gras flim­mert ein Hit­ze­schlei­er, wo schein­bar die Tür war. Einen Au­gen­blick über­le­ge ich, ob ich ihr nach­ge­hen soll. Schließ­lich zu­cke ich die Ach­seln. Ich ar­bei­te an mei­nem Ts­hus­hi. Ich ar­bei­te lang­sam und me­tho­disch, wäh­rend mein Kopf vol­ler Ge­dan­ken ist. Ich den­ke an Kua­ra, und et­was nagt an mir. Ich las­se die Fa­ser fal­len, die ich in der Hand ha­be, und ge­he auf den ge­gen­über­lie­gen­den Ho­ri­zont zu, wo ei­ne Gi­raf­fe an dem Mon­gon­go-Baum äst.

Gras­hüp­fer, Kxon-Amei­sen, Mist­kä­fer hüp­fen und krab­beln zwi­schen den Grä­sern. Le­gua­ne has­ten da­von. Ei­ne Maul­wurfs­schlan­ge glei­tet in ihr Loch un­ter ei­nem Uri-Busch. Ich ge­he schnell, der Sand un­ter mei­nen Fü­ßen ist warm, aber nicht heiß. Die Ebe­ne ist son­nen­durch­glüht, die we­ni­gen klei­nen Omi­rim­bi-Was­ser­läu­fe aus­ge­trock­net, trotz­dem spü­re ich kaum Durst. Ein Spring­bock flüch­tet hin­ter ei­ne Weiß­dor­na­ka­zie. Hier ist ein gu­ter Ort, ent­schei­det ein Teil von mir. Hier wird Kua­ra ein Jä­ger wer­den, wie Tu­ka es nicht sein konn­te. Kua­ra wird nie­mals la­chen, um die Trau­rig­keit aus­zu­schlie­ßen.

Der Ho­ri­zont kommt nicht nä­her.

Ich mes­se die Gi­raf­fe mit dem Dau­men ab, ge­he tau­send Schrit­te, mes­se wie­der, ge­he noch ein­mal tau­send Schrit­te, mes­se aufs neue.

Die Gi­raf­fe wird nicht grö­ßer.

Ich wer­de noch ein­mal tau­send Schrit­te ge­hen. Dann wer­de ich um­keh­ren und mein Ts­hus­hi fer­tig bau­en.

Nach hun­dert Schrit­ten lau­fe ich ge­gen et­was Har­tes.

Ei­ne Wand.

Auf der an­de­ren Sei­te äst die Gi­raf­fe im­mer noch.

Die Wei­ßen mit den Land­ro­vern ka­men zu Ga, der hei­ßes­ten Jah­res­zeit. Die Last­wa­gen schau­kel­ten und dröhn­ten auf dem Sand. Tu­ka nahm Kua­ra und eil­te ih­nen ent­ge­gen. Auch ich kam, aber ich ging mit den an­de­ren Frau­en hin­ter­her. Es wa­ren ei­ni­ge Wei­ße und ein paar Ban­tus. Im vor­ders­ten Wa­gen stand Gai, wink­te und grins­te.

Ei­ne blond­haa­ri­ge wei­ße Frau stieg aus. Sie hat­te wei­ße Shorts und ein hell­brau­nes Hemd mit auf­ge­roll­ten Är­meln an. Ich er­kann­te sie so­fort. Dok­tor Mor­se, die uns wie­der stu­die­ren woll­te. Tu­ka hat­te ge­sagt, die Wei­ßen fän­den an ih­rer ei­ge­nen Kul­tur nichts In­ter­essan­tes, dar­um stu­dier­ten sie so ger­ne un­se­re.

Sie un­ter­hielt sich lan­ge mit uns Frau­en und frag­te uns nach un­se­ren Fa­mi­li­en und was wir von der Volks­ar­mee SWA­PO hiel­ten. Al­le re­de­ten auf ein­mal. Sie ges­ti­ku­lier­te, wir soll­ten ru­hig sein. „Was denkst du, U?“ frag­te sie dann. „Was ist dei­ne Mei­nung?“ Ich sag­te, sie sol­le Tu­ka fra­gen; er sei ein Mann und ver­stün­de sol­che Din­ge. Sie schi­en un­zu­frie­den zu sein, dar­um sag­te ich, SWA­PO soll­te kei­ne Men­schen um­brin­gen. SWA­PO soll­te die Leu­te in Frie­den las­sen. Dok­tor Mor­se schrieb al­les in ihr No­tiz­buch. Ich war mit mir zu­frie­den. Die an­de­ren Frau­en wa­ren sehr ei­fer­süch­tig.

Dok­tor Mor­se er­zähl­te uns, der Krieg in Süd­afri­ka neh­me einen schlech­ten Ver­lauf; bald wür­de er auch hier­her kom­men. Als Tu­ka sich lan­ge ge­nug die Mo­to­ren an­ge­se­hen hat­te, frag­te ich ihn, was Dok­tor Mor­se mit „schlecht“ mein­te. Schlecht für die Schwar­zen oder für die Wei­ßen. Schlecht für die im Sü­den oder für uns in der Ka­la­ha­ri. Er wuß­te es nicht. Nie­mand von uns frag­te Dok­tor Mor­se.

Dann sag­te sie: „Wir ha­ben euch Was­ser ge­bracht. Viel Was­ser. Wir ha­ben ge­hört, daß ihr kei­nes hat­tet.“ Ihr Haar glänz­te im Son­nen­schein. Für ei­ne wei­ße Frau war sie sehr schön.

Wir lä­chel­ten, wie­sen aber das An­ge­bot zu­rück. Sie run­zel­te die Stirn, schi­en aber nicht ei­gent­lich är­ger­lich zu sein. Viel­leicht glaub­te sie, wir tä­ten das, weil sie weiß war. Dann irr­te sie sich; wenn wir Ge­schen­ke an­neh­men, könn­ten wir die ver­ges­sen, die die Ka­la­ha­ri uns gibt. „Fahrt aber we­nigs­tens ein Stück auf den Last­wa­gen mit“, bat sie mit strah­len­dem Ge­sicht. Tu­ka lach­te und rann­te mit Kua­ra an der Hand auf die bei­den Land­ro­ver zu. Ich schüt­tel­te den Kopf. „Du soll­test wirk­lich mit­fah­ren“, sag­te Dok­tor Mor­se. „Das wird dir Spaß ma­chen.“

„Das ist et­was, was Män­ner tun“, er­klär­te ich ihr. „Frau­en ver­ste­hen da­von nichts.“

„Sie wer­den doch nur hin­ten­drauf mit­fah­ren!“

„Last­wa­gen. Jagd. Feu­er. Das sind Män­ne­ran­ge­le­gen­hei­ten“, sag­te ich.

Nur ei­ner der Last­wa­gen kam zu­rück. Al­le bis auf Tu­ka, Kua­ra und ei­ni­ge der Ban­tus wa­ren da­bei. „Der Wa­gen ist im Sand ste­cken­ge­blie­ben; die Wei­ßen wol­len bis zum Mor­gen war­ten, um ihn her­aus­zu­zie­hen“, sag­te Gai. „Tu­ka will da­ne­ben schla­fen. Du weißt, wie ver­rückt er nach Last­wa­gen ist!“ Al­les lach­te. Au­ßer mir. Ich fühl­te ei­ne po­chen­de Lee­re in mei­nem Her­zen; ich är­ger­te mich, daß ich mich nach ihm sehn­te.

Dann kam der Re­gen. Es war Ga Go – männ­li­cher Re­gen. Ein star­ker, plötz­li­cher Guß, nicht gleich­mä­ßig und sanft wie der weib­li­che Re­gen, der das Land mit Was­ser er­füllt. Re­gen in der Ga-Zeit! Al­le jauchz­ten und tanz­ten vor Freu­de. So­gar die Wei­ßen tanz­ten. Ein Wun­der, sag­ten die Leu­te. Ich dach­te an den Ho­nig­dachs in der Ku­ma-Zeit und hat­te Angst. Ich fühl­te mich ein­sam. Trotz mei­ner Angst oder viel­leicht we­gen ihr tat ich et­was Tö­rich­tes. Ich schlief ein Stück von den an­de­ren ab­seits.

In der Nacht kam das Stil­le wie­der über mich. Num lös­te sich aus mei­nem Bauch. Ich hat­te es nicht ge­ru­fen, ganz be­stimmt nicht. Ich hat­te nicht ein­mal dar­an ge­dacht. Ich spür­te im Schlaf, wie mein Kör­per sich ver­krampf­te. Im Traum konn­te ich mein fla­ches, has­ti­ges At­men hö­ren. Die Angst pack­te mich und schüt­tel­te mich wie den Zweig ei­nes Ni Ni-Bu­sches. Ich sank in die Er­de. Tu­ka und Kua­ra stan­den mit hän­gen­den Schul­tern im damp­fen­den, knö­chel­tie­fen Was­ser des Was­ser­lochs, wo wir ge­tanzt hat­ten. Kua­ra hat­te den Kopf ei­nes Gnus auf; an Stel­le der Au­gen hat­te er glü­hen­de Koh­len. Al­les, was er im­mer wie­der sag­te, war: „Lauf weg, Mut­ter.“

Ich er­wach­te im Schat­ten. Et­was Dunkles glitt über mich, be­vor ich mich rüh­ren konn­te. Ich sah noch, wie Gai un­ter dem Mond grins­te. Dann hielt mir ei­ne Hand den Mund zu.

Dok­tor Ste­fan­ko kommt wie­der, als ich mit der Hüt­te fer­tig bin. Sie und Gai brin­gen Häu­te von War­zen­schwein und Ku­du, Sta­cheln vom Sta­chel­schwein, Schild­krö­ten­pan­zer, Strau­ßen­ei­er, einen Wetz­stein, ei­ne Ah­le, zwei As­se­gai­klin­gen, Töp­fe aus Ban­tu-Ton. Gai grinst, wäh­rend er die Sa­chen hin­stellt. Dok­tor Ste­fan­ko be­ob­ach­tet ihn. „Er hät­te auf der Er­de nicht un­ver­hei­ra­tet blei­ben müs­sen, wenn dei­ne Leu­te ihn nicht auf die­se Rol­le fest­ge­legt hät­ten“, sagt sie zu mir, als er weg­geht. Dann geht auch sie.

Spä­ter bringt sie Kua­ra.

Er rennt un­be­hol­fen durch das Gras, das ihm fast bis ans Kinn reicht. „Ma­ma“, schreit er, „Ma­ma, Ma­ma“, und ich fan­ge ihn in mei­nen Ar­men auf, schwen­ke ihn her­um und la­che. Ich le­ge mei­ne Hän­de auf sei­ne Wan­gen; sei­ne Ar­me sind um mei­ne Tail­le ge­schlun­gen. Er ist wirk­lich. Tat­säch­lich. Ganz wirk­lich, mein Kua­ra! Die Trä­nen strö­men mir übers Ge­sicht. Er wirkt hohl­äu­gig, und sein Haar ist ge­scho­ren. Aber ich las­se kei­ne Sor­ge an mein Herz. Ich wei­ne vor Freu­de, nicht vor Kum­mer.

Dok­tor Ste­fan­ko geht, und Kua­ra und ich re­den mit­ein­an­der. Er schwätzt von ei­nem selt­sa­men Schlaf und Dok­tor Ste­fan­ko und Gai, wäh­rend ich ihm das La­ger zei­ge. Wir spie­len mit den Knöp­fen, die Dok­tor Ste­fan­ko mir ge­zeigt hat; ei­ner von ih­nen läßt in dem klei­nen Win­kel zwi­schen dem Him­mel an der Wand und dem Him­mel an der De­cke ei­ne Rei­he von Fens­ter­chen er­schei­nen. Die Fens­ter se­hen aus wie ei­ne Schnur von ecki­gen Per­len. Von dort spä­hen Ge­sich­ter her­un­ter. Kin­der. Al­te Män­ner. Frau­en mit Ge­sich­tern wie Spring­ha­sen. Men­schen vie­ler Ras­sen. Ich sa­ge ihm, er sol­le nie­man­den an­lä­cheln oder zu be­mer­ken schei­nen. Nicht ein­mal die Kin­der. Die Kin­der am al­ler­we­nigs­ten. Es sind be­stimmt Ge­sich­ter von Geis­tern, war­ne ich ihn. Geis­ter, die ger­ne Gwi wer­den möch­ten.

Wir hö­ren der Stim­me zu, die Dok­tor Ste­fan­ko den Mo­ni­tor nennt. Es ist ein ein­schlä­fern­der Sings­ang. Ei­ne Frau­en­stim­me, wie ich glau­be. „U und Kua­ra, die letz­ten Neu­zu­gän­ge in Car­ni­val, An­ge­hö­ri­ge der letz­ten Stam­mes­grup­pe der Gwi, wer­den sich in un­se­ren erst­klas­si­gen Ein­rich­tun­gen bald ein­ge­wöh­nen“, sagt die Stim­me. Sie be­glei­tet uns, wenn wir Wur­zeln und Holz sam­meln ge­hen.

Ein Le­gu­an steckt sei­nen Kopf aus dem Stein­wall und lauscht. Ge­räusch­los le­ge ich mei­ne Holz­last hin. Dann be­wegt sich mei­ne Hand ganz lang­sam. So lang­sam, daß es fast kei­ne Be­we­gung mehr ist. Ich grei­fe zu. Ge­fan­gen! Kua­ra ju­belt und klatscht in die Hän­de. „Be­ach­ten Sie die Haut­fal­ten auf Wan­gen und Ober­schen­keln“, sagt die Stim­me. „Eben­sol­che be­fin­den sich auf dem Hin­ter­teil, je­doch wird U wie je­de Gwi mit Selbst­ach­tung ih­ren Ka­ross nicht in Ge­gen­wart an­de­rer ab­le­gen, es sei denn beim Elen­tanz.“ Ich tra­ge den zap­peln­den Le­gu­an zur Hüt­te. „Wenn sie sich ent­klei­de­te, wür­den Ih­nen die mäch­ti­gen Fett­abla­ge­run­gen am Steiß auf­fal­len. Die­se ana­to­mi­sche Be­son­der­heit, ein Phä­no­men na­mens Stea­to­py­gie, kommt nur bei Buschmän­nern oder viel­mehr Busch­frau­en vor und dient zur Nah­rungs­spei­che­rung. Frü­her glaub­te man …“

Nach­dem ich dem Le­gu­an das Ge­nick ge­bro­chen ha­be, zie­he ich den Ka­ross aus Echt-Oryx aus und bin­de ihn mit Gui-Fa­sern vor mei­ne Hüt­te. Er gibt ei­ne pri­ma Tür ab. Ich ha­be noch nie ei­ne Tür ge­habt. Tu­ka und ich ha­ben im Frei­en ge­schla­fen und das Ts­hus­hi als La­ger­raum be­nutzt. Kua­ra wird ei­ne Tür ha­ben. Ei­ne Tür zwi­schen ihm und den Zu­schau­ern.

Er wird auch Feu­er ha­ben. Ein Feu­er, das Wär­me und Nah­rung gibt und an dem U singt. Ich samm­le Stö­cke von Ka­ne und Ore und schnei­de sie männ­lich und weib­lich zu­recht, dann neh­me ich Gal­li­gras als Zun­der. Wie Tu­ka es im­mer ge­macht hat. „Die Kenn­zei­chen der Gwi sind ein nied­ri­ger, fla­cher Schä­del, sehr klei­ne Brust­war­zen, ge­wölb­te oder senk­rech­te Stirn, bü­sche­li­ges, so­ge­nann­tes Pfef­fer­korn-Haar, ein kaum vor­sprin­gen­der Un­ter­kie­fer …“ Ich dre­he die Stö­cke zwi­schen den Hand­flä­chen. Es scheint ewig zu dau­ern. Mir schmer­zen die Ar­me. Ich will schon auf­ge­ben, da raucht es auf ein­mal. Kua­ra hüpft schnat­ternd im La­ger um­her. Ich schaue auf das Feu­er und lächle vor Freu­de. Aber es ist Furcht in der Freu­de. Ich wer­de Feu­er zum Wär­men und Feu­er zum Ko­chen ma­chen, be­schlie­ße ich, wäh­rend ich den Rauch zur Flam­me ent­fa­che. Kein Fest­feu­er. Nicht oh­ne Tu­ka.

Ich rös­te den Le­gu­an mit Eru-Bee­ren und Ts­ha-Gur­ken, die hier reich­lich vor­zu­kom­men schei­nen. Aber ich bin nicht Tu­ka, der mit Feu­er und La­chen schnell bei der Hand war; das Feu­er­ma­chen hat zu lan­ge ge­dau­ert. Als die Ech­se erst halb gar ist, schnappt Kua­ra sie und reißt sie aus­ein­an­der, in­dem er sie wie hei­ßen Teig von ei­ner Hand in die an­de­re wirft. „Kua­ra!“ schel­te ich und tue, als ob ich är­ger­lich wä­re. Er ki­chert und hebt die Ech­se mit bau­meln­den Ein­ge­wei­den an den Mund, um da­von zu es­sen. Ich lächle weh­mü­tig. Kua­ras la­chen­de Au­gen und Strau­ßen­bei­ne – ge­nau wie Tu­ka!

„Die Gwi sin­gen kei­ne Schlacht­ge­sän­ge oder Hel­den­lie­der“, lei­ert die Stim­me. „In ih­rer Ge­schich­te kom­men kei­ne Krie­ge vor. Doch be­sie­gel­te iro­ni­scher­wei­se der süd­afri­ka­ni­sche Krieg im letz­ten Jahr­hun­dert, an dem die Gwi un­be­tei­ligt wa­ren, ih­ren Un­ter­gang. Zwar sind klei­ne­re Strei­tig­kei­ten durch­aus an der Ta­ges­ord­nung – selbst in ei­ner Ge­sell­schaft, die Ge­walt ab­lehnt, zan­ken sich Ehe­leu­te –, aber Kämp­fen wird als et­was Eh­ren­rüh­ri­ges be­trach­tet. Wer kämpft, dem ist es miß­lun­gen …“ Als ich auf­schaue, sind an den Fens­tern kei­ne Ge­sich­ter zu se­hen.

Schließ­lich färbt die Däm­me­rung das Gras grau. Kua­ra fin­det ei­ne Perl­huhn­fe­der und ein Rohr; er lehnt sich ge­gen mei­ne Bei­ne und macht sich ein Za­ni. Es wird küh­ler. Ich ent­schei­de, daß die Tür bes­ser um un­se­re Schul­tern paßt als vor den Ein­gang des Ts­hus­hi.

Aus der un­ter­ge­hen­den Son­ne kommt ei­ne Ge­stalt. Ich be­schir­me mei­ne Au­gen mit dem Arm. Dok­tor Ste­fan­ko. Sie lä­chelt, nickt Kua­ra zu, der ei­ne Nuß als Ge­wicht an sei­nem Spiel­zeug be­fes­tigt, und setzt sich auf einen Holz­klotz. Sie lä­chelt im­mer noch, aber oh­ne Freu­de. Sie sieht mich streng an.

„Ich hof­fe doch sehr, daß du dich um Kua­ras wil­len nicht noch ein­mal so auf­füh­ren wirst wie heu­te nach­mit­tag“, legt sie los. „Du bist dir doch wohl dar­über im kla­ren, daß er … daß er so­zu­sa­gen auf Pro­be bei dir ist. Wenn du Är­ger machst, müs­sen wir den Jun­gen zu­rück in die Vor­be­rei­tungs­räu­me schi­cken, bis du … bis du dich bes­ser ein­ge­wöhnt hast.“ Sie tippt mit dem Zei­ge­fin­ger ge­gen ih­re Hand­flä­che. „Du mußt dei­ne Im­pul­si­vi­tät im Zaum hal­ten.“ Sie tippt noch ein­mal. „Und das gleich.“

Mit schräg ge­neig­tem Kopf star­re ich sie ver­ständ­nis­los an.

„Wie du dei­nen Ka­ross aus­ge­zo­gen hast, bloß weil der Mo­ni­tor sag­te, du tä­test das nie.“ Sie nickt wis­send. „O ja, wir wis­sen es ganz ge­nau, wann du zu­hörst und wann nicht. Und die­se scheuß­li­che Sze­ne mit der Ech­se!“ Sie ver­zieht das Ge­sicht und schüt­telt sich. „Und dann die Sa­che mit dem Feu­er.“ Sie deu­tet auf die Glut. „Man er­war­tet von dir, daß du hier lebst wie da­mals auf der Er­de. We­nigs­tens tags­über. Es war im­mer Män­ner­ar­beit, das Feu­er zu ent­zün­den.“

„Es wa­ren im­mer Män­ner da.“ Ich zu­cke die Ach­seln.

„Das stimmt. Na ja, wir sind da­bei, et­was zu ar­ran­gie­ren. In der Zwi­schen­zeit hal­te dich an Nah­rungs­mit­tel, die du nicht zu ko­chen brauchst. Und stell die Hei­zung an.“ Sie geht zu dem Stein, läßt sich auf Hän­de und Knie nie­der und dreht an ei­nem der Knöp­fe. Et­was be­ginnt zu sum­men. Sie setzt sich wie­der auf den Holz­klotz, lä­chelt und reibt ih­re Hän­de über dem Feu­er. Dann zieht sie ei­ne Fo­to­gra­fie aus ih­rer Hüft­ta­sche und reicht sie mir. Ich dre­he das Bild rich­tig her­um. Da steht Dok­tor Mor­se mit dem Arm über Gais Schul­tern. Sein lin­ker Arm um­faßt ih­re Tail­le. Im Hin­ter­grund sieht man die Land­ro­ver.

„Im­pul­siv“, sagt Dok­tor Ste­fan­ko, lehnt sich hin­über und schnipst mit dem Fin­ger ge­gen die Fo­to­gra­fie. „Ge­nau­so hat Dok­tor Mor­se dich in ih­ren No­ti­zen ge­nannt. Sie be­trach­te­te das als ei­ne Tu­gend.“ Wie­der hebt sich ih­re Au­gen­braue. „Wir sind da an­de­rer Mei­nung.“ Dann fügt sie stolz hin­zu: „Sie war mei­ne Groß­mut­ter, mußt du wis­sen. Du kannst dir vor­stel­len, daß ich ein mehr als pro­fes­sio­nel­les In­ter­es­se an un­se­rer süd­west­afri­ka­ni­schen Ab­tei­lung hier in Car­ni­val ha­be.“

Ich will ihr die Fo­to­gra­fie zu­rück­ge­ben. Sie hält mich mit er­ho­be­ner Hand zu­rück. „Be­hal­te sie nur“, sagt sie. „Be­trach­te sie als ein Hoch­zeits­ge­schenk. Das ers­te von vie­len.“

In die­ser Nacht schla­fen Kua­ra und ich an­ein­an­der­ge­schmiegt im Ts­hus­hi, in den Ka­ross ein­ge­mummt. Er hält im­mer noch das Za­ni fest, ob­wohl er es nicht ein ein­zi­ges Mal in die Luft ge­wor­fen hat, um es her­ab­se­geln zu se­hen. Viel­leicht wird er es mor­gen tun. Mor­gen. Ein häß­li­ches Wort. Ich star­re die dunkle Er­de an und spü­re Sand zwi­schen mei­nen ge­ball­ten Fäus­ten, wäh­rend ich da­lie­ge. Ich fra­ge mich, ob die Geis­ter in den Him­mels­fens­tern mir mit ir­gend­wel­chen Er­fin­dun­gen, durch die man bei Nacht se­hen kann, beim Schla­fen zu­schau­en. Ob sie in der Nacht zu­schau­en wer­den, wenn Gai auf mei­nen Rücken klet­tert und grunzt, wäh­rend er mit mir macht, was Ver­hei­ra­te­te tun.

Der Schlaf kommt schließ­lich. Ein un­ru­hi­ger Schlaf. Ich mer­ke, wie ich Kua­ra an mich drücke. Er sträubt sich et­was ge­gen die en­ge Um­ar­mung, aber er wacht nicht auf. Im Traum glei­te ich aus mir her­aus, schü­re das Feu­er und tan­ze den Elen­tanz. Mein Kör­per glänzt vor Elen­fett. Mei­ne Au­gen star­ren ge­ra­de­aus ins Dun­kel, und ich hal­te den Kopf hoch und steif. Ich sin­ge und he­be und sen­ke da­bei mei­ne Fü­ße, tan­ze im­mer ums Feu­er her­um. An­de­re Frau­en klat­schen und sin­gen die Kia-Lie­der der Hei­lung. Män­ner spie­len auf der Gu­a­schi und dem Sai­ten­bo­gen. Die Mu­sik schwingt und tril­lert und schwirrt. Der Rhyth­mus wi­der­hallt in mir. Je­der Mus­kel kennt die Me­lo­die. Aus mei­nen Au­gen quel­len Trä­nen. Mei­ne Bei­ne sind bleischwer vor Schmerz. Und im­mer noch tan­ze ich wei­ter.

Dann end­lich steigt das Num auf. Es löst sich aus mei­nem Bauch und bläst mit Feu­e­r­a­tem mein Rück­grat em­por. Ich be­kämp­fe die Furcht. Ich tan­ze ge­gen das Grau­en an. Ich er­zit­te­re im Brand. Mei­ne Au­gen ver­en­gen sich vor Qual. Ich se­he nicht, wie die Frau­en klat­schen und sin­gen. Mein Atem geht flach, heiß und keu­chend. Mei­ne Brüs­te hüp­fen. Ich tan­ze. Das Num steigt wei­ter. Es be­rührt den Ein­gang mei­nes Ge­hirns. Es er­füllt mei­nen Kopf. Mein gan­zer Kör­per ist wach und brennt. Mein Fleisch steckt ganz vol­ler Dor­nen. Mei­ne Brüs­te sind glü­hen­de Koh­len. Ich füh­le, wie Geis­ter, hei­ße Geis­ter, Geis­ter der Ver­gan­gen­heit, sich in mei­nen Schä­del drän­gen. Ich tau­me­le zur Hüt­te; Kua­ra und U, mein al­tes Ich, er­war­ten mich. Ich schlüp­fe in ihr Fleisch wie je­mand, der in die küh­len, schlam­mi­gen Was­ser ei­ner ganz­jäh­rig feuch­ten Pfan­ne glei­tet. Ich schlüp­fe zwi­schen ih­re Angst und Trau­er und ih­re schmerz­li­che Freu­de an Kua­ra, der ne­ben ihr liegt.

Sie be­wegt sich. Ihr Kopf rührt sich im Schlaf. Ein lei­ses Stöh­nen; Ab­leh­nung. Ich glei­te tiefer hin­ein. Ich wer­de wie­der zu ihr. Mein Kopf glüht vor Num und Geis­tern. „U“, flüs­te­re ich, „ich brin­ge dir al­le Geis­ter dei­nes frü­he­ren Ichs und die dei­nes Vol­kes.“ Noch ein­mal stöhnt sie, aber schwä­cher, das lust­vol­le Stöh­nen ei­ner Frau beim Lie­bes­akt. Ihr Kör­per streckt sich und er­starrt. Ih­re Nä­gel schram­men über Kua­ras Rücken. Dann nimmt sie mich, nimmt sich selbst auf. Ich er­fül­le ihr Fleisch.

Und brin­ge ihr das Stil­le, zum drit­ten Mal in ih­rem Le­ben. Tiefer und tiefer si­ckert sie in den Sand und läßt nichts von sich selbst zu­rück; ih­re Hän­de hal­ten Kua­ras Hand­ge­len­ke fest, und sie zieht ihn mit, die Perl­huhn­fe­der des Za­ni weht hin­ter ihm her wie im Wind. Sie kommt durch den Sand, durch die Be­ton­fun­da­men­te von Car­ni­val, durch das Mond­ge­stein, wühlt sich im­mer tiefer wie ein Dachs. Sie bricht durch in ei­ne Dun­kel­heit mit sil­ber­nen Licht­strei­fen: den Kern des Mon­des, wo die ver­stor­be­nen Ah­nen hau­sen, die Geis­ter des Kia. Un­ter Schrei­en von Ent­set­zen und Freu­de fällt sie mit flat­tern­dem Ka­ross zu Bo­den. Im Mit­tel­punkt der Höh­le, wo Was­ser wie kal­tes Sil­ber glänzt, war­tet Tu­ka mit aus­ge­streck­ten Ar­men. Er lacht – ein schril­les, ge­quäl­tes Ki­chern. Nur so kann ein Geist la­chen, der in sei­nem Schlaf ge­stört wur­de. Heu­te nacht wer­den die drei tan­zen: U, Tu­ka, Kua­ra.

Dann wird er ihr das Ge­heim­nis des Oa-Gif­tes bei­brin­gen, das aus der weib­li­chen Lar­ve des Mist­kä­fers ge­preßt wird. Er wird sie leh­ren, Pfeil­gift her­zu­stel­len. Ein Gift, ge­gen das die Buschmän­ner kein Ge­gen­gift ken­nen.

Wenn sie wie­der zu Gai und Dok­tor Ste­fan­ko zu­rück­kehrt, wird sie auf der Jagd sein.

Sie wird kei­ne Tie­re ja­gen.